6
«Was ist mit ‹Krämpfen› gemeint?»
Es war der erste Frühlingstag. Charles Lamb saß mit Tom Coates und Benjamin Milton im Billiter Inn.
«Irgendwo habe ich gelesen, Julius Caesar habe unter ‹Krämpfen› gelitten. Leider habe ich keine Ahnung, was das sein soll.»
«Hast du schon mal einen Krampf gehabt, Ben? Haaatschi!» Tom trank Stingo und nieste geradewegs auf seinen Ärmel.
Benjamin klopfte ihm auf den Rücken. «Gesundheit, mein Bester. Also wirklich, Charles, ich muss mich schon wundern. Du erinnerst dich doch sicher noch an die Stelle im Lear, wo es um ‹den Krampf› geht. Dabei handelt es sich um ‹Hysterica passio›. Wenn man sich in etwas hineinsteigert, krampfen sich die Innereien zusammen und drücken nach oben und schnüren einem das Herz ab.»
«Meine Mutter hat auch Krämpfe. Sie ist immer ganz hysterisch.» Tom trank seinen Krug leer und hob den Arm zum Zeichen, dass er Nachschub haben wollte. «Sie schreit schon beim kleinsten Pieks.»
«Heftige Gemütsbewegungen bringen die Körpersäfte in Wallung.» Benjamin wollte unbedingt weiter seine vom Alkohol benebelten Gedankengänge verfolgen. «Dann steigen die unteren Säfte ins Gehirn. Und das nennt man dann Hysterie.»
Charles musste an seine Schwester denken.
Vor einer Woche hatte Mary in der Küche für das Abendessen Nierchen vorbereitet. Ihre Mutter hatte danebengesessen und gemeint: «Mir ist schleierhaft, warum manche Leute ihre Nieren unbedingt mit Cayennepfeffer bestreuen und auf dem Rost braten müssen. Was spricht eigentlich gegen Schmoren?»
In dem Moment schrie Mary vor Schmerz auf. Sie hatte sich in den Daumen geschnitten. Blut tropfte auf das hölzerne Schneidebrett. Charles hatte ihr gelangweilt und ziemlich desinteressiert beim Zurichten der Innereien zugesehen. Er hätte schwören können, dass sie sich bewusst verletzt hatte. Ihre Hand mit dem Messer war ganz ruhig von den Nierchen zum Daumen gewandert.
Als Mrs Lamb das Blut sah, stieß sie einen spitzen Schrei aus, schoss vom Stuhl hoch und wollte nach der Hand ihrer Tochter greifen, aber Mary drehte ihr einfach den Rücken zu. In einer Schublade fand sie einen Leinenfetzen, den sie sich schnell um den Daumen wickelte. Dann sah sie Charles an. Er glaubte, etwas Triumphierendes in ihrem Blick zu entdecken.
Am selben Abend kam sie später mit der Ausrede zu ihm ins Zimmer, er müsse ihr eine schwierige Stelle bei Lukrez übersetzen. Sie setzte sich ans Fußende seines Bettes. «Weißt du, Charles, ich muss unbedingt aus diesem Haus fort.»
«Warum, Schwesterherz?»
«Siehst du das denn nicht? Es bringt mich um.» Er war verblüfft. Als sie das merkte, brach sie in Tränen aus. Er beugte sich zu ihr, allerdings ohne sie zu berühren. Ihre Tränen versiegten so schnell, wie sie gekommen waren. Sie wischte sich mit dem bandagierten Daumen das Gesicht ab.
«Charles, mir ist es todernst. Ich muss weg, sonst werde ich verrückt.»
«Was willst du denn machen? Wohin willst du gehen?»
«Das ist unwichtig.»
Diese Gefühle hatte ihm Mary bisher noch nie eingestanden. Charles war schockiert und entnervt und wusste keine Antwort. Natürlich bedeutete ihre Bemerkung auch, dass sie bereit war, ihn zu verlassen. Sie wollte ihn einfach im Stich lassen. Aber diesen Gedanken schob er sofort beiseite. Das war unmöglich. Warum war sie so zornig und frustriert? Er konnte es sich einfach nicht erklären. Er hatte angenommen, sie fühle sich in der Gesellschaft ihrer Eltern und in ihrer vertrauten Umgebung wohl. Hatte sie nicht fast zufrieden gewirkt? Sie hatte doch Zeit zum Lesen und zum Sticken. Hatte sie nicht behauptet, sie freue sich immer auf ihre Gespräche am Ende des Tages?
Er konnte ihre Drohung nicht ernst nehmen und sagte lediglich: «Und was wird dann aus Papa?»
Sie warf ihm einen verstörten Blick zu und verließ das Zimmer. Er konnte ihre Schritte auf der Treppe hören. Dann schlug die Haustüre zu. Sie war ohne Schultertuch und Haube ins Freie gelaufen.
Trotz der milden Nacht pfiff ein kräftiger Wind durch die Straßen. Mary Lamb hatte weder ein Ziel noch einen Plan. Sie musste einfach nur fliehen, hinaus an die frische Luft. Rasch ging sie übers Pflaster. Eine Ratte verschwand in einem Wasserrohr, doch dieser Anblick verunsicherte sie nicht. So war nun mal die Welt. Heftige Windstöße trieben Orangenschalen und Zeitungsfetzen raschelnd über die Steine. Sie hatte ihre Haare nicht festgesteckt. Zerzauste Strähnen wirbelten ihr in den Nacken und um die Stirn. Ich bin eine Hexe, dachte sie, ein Mitternachtsgespenst. Ich bin verflucht. Sie fing zu rennen an und bog um eine dunkle Ecke. In ihrer Hast taumelte sie gegen jemanden.
«Miss Lamb?»
Einen Augenblick erkannte sie ihn nicht wieder. «Oh, Mr Ireland. Tut mir leid, ich habe Sie erschreckt.»
«Ganz und gar nicht. Niemand ist zu Schaden gekommen.» Stumm sahen sie einander an. «Ist alles in Ordnung?»
«In Ordnung? Es gibt keine Ordnung.» Vor Schreck und Verlegenheit wusste sie nicht, was sie sagte. «Möchten Sie mich ein Stück begleiten?»
«Gern.»
Sie spazierten zusammen die Straße entlang. Ireland ging ein bisschen voraus, als würde er sie lenken. Nun lachte sie laut. «Wahrscheinlich sehe ich wie eine zügellose Frau aus, so ganz ohne Schultertuch und mit offenen Haaren.»
«O nein, überhaupt nicht.»
Stumm gingen sie weiter. Allmählich fasste sie sich wieder und meinte schließlich: «Ich schaue gern dem Wind zu, wie er sich mit Wucht zusammenballt. Sehen Sie, wie er sich dort drüben auf den Fenstern kräuselt?»
Dunkelheit hüllte die Stadt ein. In ihrem Schutz fühlte sie sich sicher. Die aschgraue Luft tröstete sie.
«Mr Ireland, Sie lieben London auch.»
«Woraus schließen Sie das?»
«Nun ja, Sie haben die Stadt überlebt.»
«Ich habe überlebt.»
«Außerdem gehen Sie nachts spazieren.»
«Ich kann nicht schlafen. Ich bin zu aufgeregt.»
«Darf ich fragen, warum?»
«Eigentlich wollte ich Sie morgen mit meiner Entdeckung besuchen. Jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt – »
«Dafür ist immer Zeit.»
«Ich kann die Sache ganz einfach schildern.» Genüsslich reckte er sein Gesicht in den Wind. «Ich habe ein Gedicht von Shakespeare gefunden. Ein neues Gedicht, das noch niemand gesehen oder gelesen hat.»
«Ist das möglich?»
«Alles ist möglich, Miss Lamb. Ich habe es erst letzte Nacht unter den Papieren entdeckt.»
«Ich würde es gerne sehen. Sofort.»
«Wirklich?»
«O ja.» Hier bot sich ihr ein Zufluchtsort aus ihrer Seelenqual. Das Eintauchen in eine andere Zeit, und sei es noch so kurz, lieferte ihr den Beweis, dass sie sich nicht einsperren oder einschränken lassen musste. Vielleicht war sie deshalb in die Nacht hinausgerannt.
«Ich trage es nicht bei mir.» Er klang fast entschuldigend. «Es liegt zu Hause.»
«Könnten wir hingehen? Bitte.»
«Es ist spät, aber wenn Sie keinen Anstoß daran nehmen – »
«Nicht den mindesten.»
Und so machten sie sich auf den kurzen Weg zur Holborn Passage. «Erst nach sorgfältiger Prüfung war mir klar, worum es sich handelte. Das Gedicht stand auf einem Fetzen Schreibpapier, den man aus einem größeren Bogen gerissen hatte.» Inzwischen redete William sehr schnell. «Die Schrift ist winzig. Anfänglich habe ich sie nicht einmal wiedererkannt. Wissen Sie, das Gedicht war nicht in Versform notiert, sondern in Langzeilen. Um Platz zu sparen. Dann bemerkte ich das eigenwillige ‹s›. Jetzt fiel mir wieder ein, wo ich diesen Buchstaben schon einmal gesehen hatte. Natürlich – es war seine Handschrift. Kein Zweifel.»
«Und worum geht es in diesem Gedicht?»
«Es ist ein kurzes Sonett, wie es Verliebte austauschen. Bitte, warten Sie einen Augenblick, Miss Lamb.» Sie waren an der Buchhandlung angekommen, die im Dunkeln lag. Er sperrte die Tür auf und kam kurz danach mit einer Lampe wieder.
«Wir treffen uns bei Lampenschein», flüsterte sie.
«In der Tat. Es ist ein Abenteuer.» Trotzdem wirkte er im matten Lichtkreis ängstlich und verwirrt. «Mein Zimmer liegt im zweiten Stock. Bitte, ganz leise. Mein Vater schläft über mir.» Er ging voraus über die Holztreppe, durchs Esszimmer und noch ein Stockwerk höher. Es war ein altes Haus mit schiefen Böden und krummen Balken, ein Haus wie ein hölzernes Instrument. Mit zweierlei Schlüsseln sperrte er die Tür zu seinem Zimmer auf. Als er die Lampe absetzte, bemerkte sie, dass die Wände mit Kupferstichen bedeckt waren. Hier waren die Köpfe von Shakespeare, Milton, Spenser, Tasso, Vergil und Dante versammelt.
«Wer ist das?»
«Das ist John Dryden, der Vater der englischen Prosa.»
«Eine mächtige Stellung.»
«Jedenfalls behauptet das mein Vater. Bitte, Miss Lamb, nehmen Sie Platz. Leider ist es hier sehr eng.» Vorsichtig holte er ein Stück Schreibpapier aus einer Schublade. Jetzt fiel ihr auf, dass in dem kleinen Zimmer mehrere Kisten und Truhen herumstanden und fast den ganzen freien Fußboden belegten. Auf eine davon setzte sie sich, während er mit gedämpfter Stimme aus dem Manuskript zu lesen begann. Die Lampe beleuchtete das Papier. Ihr war sehr wohl bewusst, dass Mr Ireland in der Kammer über ihren Köpfen schlief.
«Und ob gefloh’n das Mädchen auch in Eil’, es sucht und trifft mit kühner Hand sein Pfeil. Doch nicht auf Beute sinnt der Jäger mehr, gezähmt das scheue Wild, der Köcher leer. Er löst der Tugend Kranz mit zartem Kosen Wie Zephyrs Hauch die duftend weißen Rosen.»
Er stellte die Lampe ab. «Das klingt doch ganz nach Shakespeare, finden Sie nicht auch?»
«Wer da?», rief sein Vater vom oberen Stock herunter.
«Bin nur ich, Vater. Ich lese.»
«Lösch ja die Lampe aus.»
«Selbstverständlich, Vater.» Er wartete kurz mit geschlossenen Augen, als wollte er Mary die darin aufblitzende Wut nicht sehen lassen. «Nun, wirkt das auf Sie wie ein echter Shakespeare?»
«O ja, daran besteht kein Zweifel.» Sie hatte nur einen Wunsch: seine Begeisterung zu verstärken und in seiner Hochstimmung aufzugehen. Dadurch könnte sie vielleicht ihrem eigenen Leben entfliehen.
«Ihm habe ich bisher noch nichts davon gesagt.» Er deutete mit dem Kopf nach oben. Damit war klar, wer gemeint war. «Er würde den ganzen Ruhm für sich beanspruchen. Angenommen, ich würde einen Artikel über diese Entdeckung schreiben und Ihrem Bruder geben; könnte er für eine Veröffentlichung sorgen? Was meinen Sie?»
«Natürlich könnte er das. Charles wäre davon begeistert. Es wäre ihm eine Ehre.»
«Würden Sie ihm mit einem schönen Gruß von mir ausrichten, dass ich bereits mit dem Artikel begonnen habe? In einer Woche werde ich den Essay vorlegen.»
Plötzlich schien ihm bewusst zu werden, in welch schwieriger Situation sie sich befanden – zu zweit allein in seiner Schlafkammer.
«Miss Lamb, ich glaube, ich sollte Sie nach Hause begleiten.» Seine Stimme klang sehr tief und fest. «Hoffentlich habe ich Sie nicht in irgendeiner Weise beleidigt.»
«Ganz und gar nicht, Mr Ireland. Ich fürchte, ich habe mich Ihnen aufgedrängt und Ihre Gastfreundschaft ausgenutzt.»
«Die Nacht und der Wind sind uns zu Kopf gestiegen. Wir werden uns möglichst leise entfernen.»
Mit diesem Satz brachte er sie in die Holborn Passage hinaus. Anschließend ging er mit ihr in die Laystall Street und wich bis zur Haustüre nicht von ihrer Seite. Dort drehte sie sich lächelnd um.
«Es war ein bemerkenswerter Abend.»
«Für mich auch.»
Als sie eintrat, stand Charles mit verstrubbelten Haaren in der Diele. «Mary, wo bist du gewesen? Ich habe dich überall auf der Straße gesucht.»
«Ich habe Shakespeare gelauscht.»
«Ich verstehe dich nicht.»
«William Ireland hat ein Gedicht gefunden. Ich habe es eben gehört.»
«Er hat es dir auf der Straße vorgelesen?»
«Nein, ich bin mit ihm in die Buchhandlung gegangen.»
«Mitten in der Nacht? Hast du den Verstand verloren?»
Sie betrachtete ihn einen Augenblick wie einen Fremden, als bestünde zwischen ihm und ihr keinerlei Verbindung. «Was willst du damit andeuten? Was hätte mir schon zustoßen können?»
«Mary, hier geht es nicht darum, ob dir etwas zustößt.»
«Worum dann? Um Anstand? Um Schicklichkeit? Vertraust du mir so wenig, dass du mir Verhaltensregeln auferlegen möchtest?»
«Ich weiß, Ireland ist ein ehrenwerter – »
«Aber deine Schwester kennst du nicht. Du siehst in diesem Haus lediglich eine Schlafwandlerin. Ich habe hier kein echtes – kein wahres – Leben. Warum sehne ich mich wohl jeden Abend so sehr danach, dass du heimkommst? Was glaubst du? Natürlich nur, wenn du nicht wieder elendiglich betrunken bist.» Charles sagte nichts. «Wen sehe ich denn schon? Mit wem unterhalte ich mich? Was heißt hier Anstand? Dass man mir die Luft abschnürt? Welche Konvention schreibt vor, dass ich bereits zu Lebzeiten begraben werde?»
«Pst, Mary, du weckst sie noch auf.»
Sie wurde noch lauter. «Die werden nie aufwachen! Ich sterbe hier.»
Er packte sie am Arm und zerrte sie schnell nach oben in sein Zimmer. «Mary, willst du vielleicht, dass dich die ganze Welt hört?»
Erschöpft setzte sie sich auf sein Bett. «Mr Ireland hat mir seine jüngste Entdeckung vorgelesen. Ich habe zugehört. Das ist alles. Dann hat er mich wieder hierher gebracht. An der Haustür haben wir uns verabschiedet. Er ist ein Ehrenmann, wie du gesagt hast. Allerdings habe ich ihm etwas versprochen.»
«Und das wäre?»
«Du würdest dafür sorgen, dass sein Essay veröffentlicht wird.»
«Wirklich, ich verstehe kein einziges Wort. Welcher Essay?» Es hatte ihn verwirrt, dass seine Schwester offen ihre Wut und ihre Seelenqual zeigte. Unter diesen Umständen hielt er es für das Beste, sich neutral und ungerührt zu geben. «Schwesterherz, noch einmal von vorne. Was will Ireland?»
«Mr Ireland hat ein kurzes Shakespeare-Gedicht entdeckt. Es ist höchstens sechs oder sieben Zeilen lang. Und das hat er mir, wie gesagt, heute Abend vorgelesen. Seit zweihundert Jahren ist es das erste neue Gedicht, das entdeckt wurde. Es ist bemerkenswert. Einfach wunderschön.»
«Ich habe den Essay seines Vaters im Gentleman’s Magazine gelesen. Er erwähnt lediglich einen unbekannten Wohltäter. Hat dir sein Sohn mehr erzählt?»
«Keineswegs.» Das Lügen fiel ihr leicht.
«Und an dieser Sache gibt es keinen Zweifel?»
«Keinen.»
Plötzlich klang sie zu seiner Überraschung ganz entschlossen und ruhig. Hoffentlich konnte er sie weiter darin bestärken.
«Und was wünscht Mr Ireland nun von mir?»
«Da es sich um eine große Entdeckung handelt, hegt er natürlicherweise den Wunsch, sie höchstpersönlich der Öffentlichkeit zu enthüllen. Wenn er einen Essay schreiben würde, würdest du ihn für ihn unterbringen?»
In Wahrheit wollte Charles Lamb mit William Ireland nichts, aber auch gar nichts zu tun haben. Ireland war Händler, ein Ladengehilfe, dem das Glück eine Entdeckung zugespielt hatte. Doch deshalb besaß er noch lange nicht die Gabe, phantasievolle Aufsätze zu verfassen.
«Bist du sicher, Schwesterherz, dass das der klügste Weg ist?»
«Welche Alternative gibt es sonst? Es handelt sich um eine bemerkenswerte – um eine erstaunliche Entdeckung – »
«Ganz genau. So etwas muss man ordentlich beschreiben und dokumentieren.»
«Ich verstehe. Du glaubst nicht, dass Mr Ireland einen ordentlichen Schreibstil beherrscht.»
«Das kann ich so nicht behaupten, aber kann man es voraussetzen? Schließlich hat er nach eigenen Aussagen keinerlei Bildung genossen. Sein Vater ist sein einziger Lehrer gewesen.»
«Hatte Shakespeare eine ordentliche Erziehung genossen? Wirklich, Charles, du überraschst mich.»
«Er ist kein Shakespeare.»
«Vermutlich besitzt nur du die Begabung, literarische Notizen zu verfassen. Charles, du bist ganz schön eingebildet.»
Jetzt war Mary offensichtlich wieder wütend. Sie biss sich auf die Unterlippe und drehte ihm den Rücken zu. Inzwischen nahm er sich vor ihr in Acht. Diese plötzlichen Stimmungswechsel hatte er noch nie zuvor erlebt. Man musste sie beschwichtigen, das wäre am besten.
«Vergib mir, Schwesterherz, es ist schon spät. Er ist zwar kein Shakespeare, aber vielleicht entpuppt er sich als zweiter Lamb. Ich werde ihn jedenfalls tatkräftig unterstützen, so weit es in meiner Macht steht.»
«Charles, kann er uns besuchen und den Inhalt seines Essays erklären? Ich würde mich so freuen.»
«Natürlich. Er soll kommen, wann es ihm passt.»
Auf eine kurze Nachricht von Mary hin fand sich William am nächsten Sonntagvormittag in der Laystall Street ein. Offensichtlich machte ihn Charles’ Anwesenheit nervös. Immer wieder suchten seine Blicke bei Mary Unterstützung, während er die Shakespeare’schen Verse vorlas.
«Sie sind sehr elegant», meinte Charles.
«Ganz genau. Elegant.» Er griff das Wort auf. «Mr Lamb, darf ich Ihnen den ersten Entwurf meines Aufsatzes vorlesen?»
Sie saßen im Salon. Mary beobachtete den Schwebetanz der unzähligen Staubkörnchen in den Strahlen der Frühlingssonne. William zog ein Bündel Blätter aus seiner Rocktasche.
«Die Einleitung habe ich noch hintangestellt. Darf ich mich ‹in medias res› wagen?»
«Unbedingt.»
William Ireland begann: «Und noch eine Begabung zeichnete Shakespeare aus, in der es ihm kein anderer Dichter gleichtat: das Wesen seiner Sprache. Sie war so genau, dass wir uns in jedem seiner Worte wiederzuerkennen meinen. Außerdem verfügte er über einen derart typischen Sprachstil, dass man bei jedem Satz sofort merkt: Das hat Shakespeare geschrieben.»
Charles Lamb hörte aufmerksam zu. Irelands Ausdruckskraft überraschte ihn wirklich. Der junge Mann beschrieb das Wesen des von ihm entdeckten Gedichts, ordnete es in einen Zusammenhang mit bereits bekannten und anerkannten Stellen aus Shakespeares poetischem Gesamtwerk ein und schloss dann mit dem schwungvollen Satz: «Da wir Shakespeare sämtliche genialen Eigenschaften zugestehen, die uns Bewunderung abnötigen, sehen wir uns durch dieses Gedicht veranlasst, ihm den bereits von Milton verliehenen Titel zuzuerkennen: ‹unser holdester Barde›.»
Mary klatschte Beifall.
Charles hatte die unbeholfene Sprache eines literarischen Neulings erwartet. Stattdessen hatte man ihm ein gelungenes Stück Prosa präsentiert. «Ich bin sehr beeindruckt», sagte er. «Ich habe kaum – »
«Geglaubt, dass ich dazu fähig sei?»
«Das möchte ich so nicht sagen. Allerdings klingt dieser Text ungemein flüssig.»
«Unsinn, Charles, in Williams Alter hat Milton bereits Oden gedichtet.»
«Ach, Oden habe ich auch geschrieben!» Ireland bot Charles die Stirn. «Das verdanke ich teilweise Ihnen, Mr Lamb. Ich bewundere Ihre Essays in den Westminster Words. Ich würde nicht wagen zu behaupten, dass ich Ihren Stil getroffen habe, aber inspiriert hat er mich.»
«Das ist ein großes Kompliment, Charles. Bedanke dich bei William dafür.»
Charles streckte ihm seine Hand hin. William ergriff sie schwungvoll.
«Sir, glauben Sie also, dass man diesen Essay einreichen kann?»
«Natürlich. Außerdem bin ich überzeugt, dass Mr Law ihn annehmen wird. Darf man das ganze Gedicht zitieren?»
«Etwas anderes ergäbe keinen Sinn.»
Mary setzte sich neben Charles auf den Diwan, umarmte ihn und rief: «Das ist ein Sonnentag in unser aller Leben.»
Bei diesem merkwürdigen Ausdruck nahm Charles sie näher in Augenschein. Mary wirkte heiter, ja beinahe selbstvergessen, und bedachte William mit seltsam inbrünstigen Blicken.
Genau dieses Bild spukte Charles im Kopf herum, während er in Gesellschaft von Tom Coates und Benjamin Milton im Billiter Inn saß. Inzwischen machte er sich mehr denn je Sorgen um Marys Gesundheit. Seit ein paar Tagen hatte sie starke Hustenanfälle und war danach jedes Mal ganz schwach und rang nach Luft. Obendrein hatte sie Fieber bekommen. Ihre Augen glänzten, ihr Gesicht war heiß und trocken. Charles schob es auf den bevorstehenden Wechsel der Jahreszeiten.
Vor ihnen standen drei Krüge Stingo.
«Hollaho, Herr Watteau!» Tom Coates hob seinen Krug und stieß mit Benjamin Milton an.
«Auf euer ganz Spezielles, meine Herren.» Charles hob seinen Krug. «Und jetzt verratet mir mal, womit wir uns die nächste Zeit vertreiben sollen.»
«Wir können uns unterhalten.»
«Nein, nicht hier und heute. Ich meine damit die müßigen Sommermonate. Die Hundstage. Die Tage voller Wein und Rosen, wie Horaz sie nennt.»
«Du sagst es. Wein trinken und Rosen genießen. Hauch aus den duftenden Atem Arabiens.»
«Wir könnten einen Ballon mieten.»
«Wir könnten Wedgwood-Teller bemalen.» Tom und Benjamin wollten einander unbedingt übertrumpfen.
«Wir könnten brennbare Gase furzen.»
«Wir könnten mit Marionetten spielen.»
«Dazu brauchen wir wohl kaum Marionetten.» Langsam dämmerte in Charles ein vager Plan. «Wisst ihr noch, wie die Abteilung für Investorenbetreuung letztes Jahr das Theaterstück Jedermann auf seine Art aufgeführt hat? Das war ein Riesenerfolg. Man hat sogar Eintritt verlangt.»
«Und den Erlös in Schnaps umgesetzt. Wie gewonnen, so zerronnen.»
«Nein, das Geld ging ans Städtische Waisenhaus. Ich erinnere mich noch genau an den Brief, den ihnen Sir Alfred Lunn geschrieben hat.» Er trank einen tiefen Schluck Stingo. «Ich habe einen Plan: Wir werden ein Theaterstück geben.»
«Was hat dich denn auf diese Schnapsidee gebracht?» Tom Coates konnte es nicht fassen.
«Der liebe Gott.»
«Charles, ich kann unmöglich mit Perücke und falschem Bart auf der Bühne herumspazieren. Das geht einfach nicht.» Benjamin Milton strich sich die Haare zurück. «Ich würde lächerlich aussehen. Außerdem kann ich nicht Theater spielen.»
«Zugegeben, Ben, das ist ein Problem.» Charles war immer noch von seiner Idee begeistert. «Aber weißt du was? Das könnten wir uns zunutze machen.»
«Und wie?»
«Ich komme gleich darauf. Warte ein bisschen.» Er starrte zur Decke, als rechnete er jeden Augenblick damit, dass an der Stuckkante eine kleine Fee erschien. «Also, ich hab’s. Warum habe ich nicht schon früher daran gedacht?»
«Wann hast du schon jemals an irgendetwas gedacht?»
«Pyramus und Thisbe. Und die Mauer.»
«Erkläre dich, Herzallerliebster mein.»
«Die Handwerker aus dem Sommernachtstraum. Squenz. Zettel.» Er sah Benjamin an. «Du gibst einen prächtigen Schnauz ab. Diese Handwerker sind wahre Schmierenkomödianten. Wir werden ihr Rüpelspiel aufführen. Das wird phantastisch.»
«Stimmt, das ist reine Phantasterei.» Benjamin rieb sich die Nase. «Daran besteht kein Zweifel.»
«Merkst du denn nicht, wie witzig das ist?» Charles liebte Laientheater. Er besuchte häufig Straßentheater und Dramenaufführungen in den Häusern seiner Freunde und hatte selbst bereits den Volpone und den Blaubart gespielt.
«Dass es Spaß macht, merke ich», erwiderte Tom, «aber wie können wir so ein Stück umsetzen? Schließlich sind wir keine Schauspieler.»
«Hast du denn nicht zugehört?», fragte ihn Charles.
«Vermutlich nicht.»
«Das ist doch gerade der Witz daran, lieber Tom. Auch Squenz und Zettel konnten nicht spielen.»
«Trotzdem handelt es sich um Bühnenfiguren. Wir sind echte Menschen, oder etwa nicht?»
«Ben, was macht das schon? Der Text bleibt doch derselbe, oder? Wir können Siegfried und Selwyn dazuholen.» Auch Siegfried Drinkwater und Selwyn Onions arbeiteten als Kontoristen im Dividendenbüro. «Beide gäben perfekte Athener ab. Wir können das Stück im Verkaufsbüro aufführen. Am Abend des Johannistages. Was meint ihr dazu?»
Tom Coates und Benjamin Milton blickten einander todernst an, dann brachen sie in schallendes Gelächter aus.