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Am nächsten Morgen verließ Charles Lamb das Haus in Holborn und machte sich auf den Weg zur Ostindien-Kompanie in der Leadenhall Street. Als er aus der Holborn Passage heraustrat, schloss er sich der gewaltigen Fußgängerschar an, die sich an diesem klaren Herbstmorgen auf die City zubewegte. Allerdings war ihm kurz vorher noch etwas aufgefallen, und so kehrte er wieder um. Er war früh aufgestanden, deshalb hatte er noch mindestens eine Stunde Zeit, bis er an seinem Schreibpult im Dividendenkontor sitzen musste. Die Holborn Passage war lediglich ein etwas breiterer Durchgang, einer jener dunklen Fäden im Geflecht der Stadt, wo sich im Laufe der Jahrhunderte Ruß und Staub abgelagert hatten. Neben einem Pfeifengeschäft gab es hier einen Frauenschneider, eine Schreinerei und eine Buchhandlung. Doch die Läden wirkten heruntergekommen. Die Kleiderstoffe waren ausgeblichen, die Pfeifen im Schaufenster würde nie jemand rauchen, und die Werkstatt wirkte unbenutzt. Im Fenster der Buchhandlung lag ein Dokument, verfasst in einer Sekretärsschrift des sechzehnten Jahrhunderts. Jawohl, genau das hatte er gesehen.
Charles hatte eine Vorliebe für alte Dinge. Überquerte er den Platz, auf dem früher die alte Aldgate-Wasserpumpe gestanden hatte, stellte er sich vor, wie man vor fünfhundert Jahren Wasser aus der Holzröhre befördert hatte. Einst war er auch die alte römische Stadtmauer abgeschritten, und dabei war ihm aufgefallen, dass der heutige Straßenverlauf der früheren Mauerlinie* entsprach. Auch hatte er sich schon einmal lange über die Sonnenuhren im Inner Temple gebeugt und ihre Sinnsprüche mit dem Finger nachgezeichnet. «Die Zukunft ist nichts und doch alles, die Vergangenheit ist alles und doch nichts.» Diesen Geistesblitz hatte er einmal im betrunkenen Zustand an Tom Coates weitergegeben.
Bei dem im Schaufenster liegenden Dokument aus elisabethanischer Zeit handelte es sich anscheinend um ein Testament. Obwohl er kein Paläograph war, konnte er die Worte «Ich vermache» entziffern. Im düsteren Laden stand ein junger Mann und starrte durch das Fenster zu ihm heraus. Sein blasses Gesicht und die flammend roten Haare ließen ihn wie ein Gespenst erscheinen. Doch dann öffnete der junge Mann lächelnd die Tür.
«Mr Lamb?»
«Höchstpersönlich. Woher kennen Sie meinen Namen?»
«Man hat mich im Salutation and Cat auf Sie aufmerksam gemacht. Ich sitze dort manchmal ganz hinten am Tisch. Sie hätten mich unmöglich bemerken können. Bitte, treten Sie näher.»
Schon beim ersten Schritt in den Laden stieg Charles aus den Einbänden der alten Folio- und Quartausgaben ein leicht muffiger Geruch in die Nase. Was er hier einatmete, war der Staub des Wissens, ein ganz besonderer, köstlicher Duft. An zwei Seiten des Raums verlief ein hölzerner Ladentisch, auf dem Manuskripte, lose Blätter und Pergamentrollen ausgebreitet waren. In den Regalen entdeckte er die gesammelten Werke von Drayton, Drummond, Hawthornden und Cowley.
«Je besser ein Buch ist», sagte der junge Mann, der seinen flüchtigen Blick bemerkt hatte, «umso weniger Ansprüche stellt es an den Einband. Ein kräftiger Buchrücken und eine saubere Bindung, das ist alles, was ein Band benötigt.»
«Und eine prächtige Ausstattung käme erst an zweiter Stelle?»
«Wenn überhaupt. Ich heiße Ireland, Mr Lamb. William Henry Ireland.» Sie gaben einander die Hand. «Ich würde beispielsweise keine Journalreihe als Franzband gestalten. Und ein aufgetakelter Shakespeare-Band ist sinnlos.»
Die Fachkunde des jungen Mannes überraschte Charles. «Sie haben völlig recht, Mr Ireland. Der wahre Bücherfreund wünscht abgegriffene Seiten und einen Einband mit Benutzerspuren.»
«Ich kenne den Unterschied, Mr Lamb, und weiß, welche Seiten mit echter Begeisterung umgeblättert wurden und welche nur aus Pflicht.»
«Tatsächlich?» Er hatte hier in der Tat einen außergewöhnlichen jungen Mann vor sich.
Charles schätzte William Ireland auf kaum mehr als siebzehn Jahre. Seine Krawatte, sein Hemd und seine leuchtend gelbe Weste verliehen ihm ein seltsam altmodisches Aussehen. Eigentlich hätte er eine gepuderte Perücke tragen müssen. Und doch besaß er eine starke Ausstrahlung, von der sich Charles angezogen fühlte.
«Bei Shakespeare bevorzuge ich die Volksausgaben. Ich bin entzückt über die Ausgaben von Rowe oder Tonson. Dagegen kann ich Beaumont und Fletcher nur im Folioformat lesen. Finden Sie nicht auch, dass bereits der Anblick der Oktavausgaben schmerzt? Dafür fehlt mir jegliches Verständnis. Sie sind mir einfach zuwider.» Irelands blassgrüne Augen weiteten sich im Takt seines Tonfalls, und er verschränkte beim Sprechen die Hände, als würde er heftig mit sich ringen. «Mr Lamb, schätzen Sie Drayton?»
«Ungemein.»
«Dann dürfte Sie das hier interessieren.» Er holte einen sorgfältig in Kalbsleder gebundenen Quartband aus dem Regal. «Das hier ist Greenes Pandosto. Aber beachten Sie die Widmung.» Er schlug das Buch auf und reichte es Charles. Auf der Frontispizseite standen in mittlerweile verblichener Tinte die Worte: «Ein Geschenk von Will Sh. an mich. Mich. Drayton.»
Charles wusste nur zu gut, dass Pandosto als Quelle für Das Wintermärchen gedient hatte. Und genau dieses Buch hatte Shakespeare in Händen gehalten, so wie er heute. Allein die wechselseitige Beziehung dieser Geste ließ ihm schier die Sinne schwinden.
William Ireland musterte ihn eindringlich und zwang ihn förmlich zu einem Kommentar.
«Hierbei handelt es sich um etwas höchst Bemerkenswertes.» Charles klappte das Buch zu und legte es vorsichtig auf den Ladentisch. «Wie sind Sie dazu gekommen?»
«Es stammt aus einer herrschaftlichen Bibliothek. Der Besitzer verstarb letztes Jahr. Vater und ich sind nach Wiltshire gereist. Dort gab es Schätze, Mr Lamb, wahre Schätze.» Er stellte das Buch ins Regal und sagte dann, wobei er ihm den Rücken zukehrte: «Dieser Laden gehört meinem Vater.»
Drei Wochen zuvor war William mit seinem Vater per Kutsche Richtung Salisbury gereist. Da sie ihre Fahrkarten erst zwei Tage vorher gelöst hatten, bat man sie als späte Mitreisende, auf den offenen Sitzplätzen hinter dem Kutscher und seinem Dreigespann Platz zu nehmen.
«Nein, nein», hatte Samuel Ireland gemeint, «ich muss unbedingt im Wageninneren reisen. Diese Septemberkühle dringt durch Mark und Bein.»
«Wie soll das gehen, Sir?» Der Kutscher beugte sich wie alle, die die Bekanntschaft des älteren Ireland machten, dessen herrischem Auftreten.
«Ich werde dir sagen, wie das geht. Indem ich es tue.» Mr Ireland kletterte in die Kutsche und wandte sich dabei an seinen Sohn: «William, du kannst ruhig aufs Dach klettern. Das wird dir gut tun.» Er zog seinen Kastorhut, erwies der einzigen Dame im Gefährt ausführlich seine Reverenz, zwängte sich wie ein Korken, den man wieder in die Flasche schiebt, zwischen die beiden männlichen Mitreisenden und meinte dann abwechselnd zu ihnen: «Bitte um Verzeihung, Sir. Nur noch einen winzigen Zentimeter, wenn’s genehm ist. Bitte untertänigst um Entschuldigung.»
Kaum hatte William Ireland die Leiter erklommen und sich auf einen Sitz gekauert, da rasselte die Kutsche auch schon den Cornhill und die Cheapside hinunter, auf St. Paul’s zu. Während die Pferde die Kathedrale passierten, richtete William seinen Blick nach oben. Seine Phantasie konnte weder die Konstruktionsprinzipien ermessen noch den heiteren Seelenzustand des Architekten, der sie ersonnen hatte. Die mächtige Kuppel war ihm zutiefst fremd.
Über die Jahre hatte er sich an den Egoismus seines Vaters einigermaßen gewöhnt, auch wenn er dieses Wort nie benutzt hätte. Sein Vater war gebieterisch, herrisch und wortgewandt, aber doch nur ein Buchhändler, ein Krämer eben. Und darunter litt er ungemein, das wusste William. Die einzige Lebensgrundlage seines Vaters war die hohe Meinung, die er von sich selbst hatte. Sie machte ihm das Dasein erträglich.
Am Ludgate Hill hatten sich mehrere Fahrzeuge ineinander verkeilt. Langsam kam die Postkutsche zum Stehen. William warf einen Blick zurück auf die Kuppel. Nie würde er etwas so Einzigartiges wie diese Kuppel erschaffen. Er war, was er war, weiter nichts. Während dieser kurzen Pause konnte er aus dem Wagen die Stimme seines Vaters hören, die sich über die Geräuschkulisse Londons legte. Er dozierte gerade über die Vorzüge von Trüffeln.
In Bagshot hielt die Postkutsche an einem Wirtshaus, damit sich die im Freien sitzenden Reisenden aufwärmen konnten. William hockte neben dem kleinen Kohlefeuer in der Gaststube und umklammerte mit beiden Händen einen heißen Becher Porter. Bei ihm saß Beryl, eine Kammerzofe, die ihre Stelle verloren hatte und jetzt zu ihrer Familie aufs Land zurückfuhr. So viel hatte er bereits erfahren.
«Mir geht es weniger um den Rauswurf», sagte sie, «sondern um die Art, wie ich weggejagt wurde.» Sie war zutiefst empört. «Hier hast du zwei Guineen, und jetzt raus.»
William verspürte nicht den Wunsch, die näheren Gründe für ihre Entlassung zu erforschen. Aus ihrem Verhalten schloss er auf eine Hintertreppenliebelei.
«Jedenfalls habe ich ihr Schultertuch mitgehen lassen. Sie wird es nie vermissen. Wo hast du eigentlich dein Halstuch her?»
«Von meinem Vater.»
«Ist das der, der die ganze Zeit redet?» Als einzige Passagiere auf dem Kutschdach hatten sie sich stillschweigend gegen die Mitreisenden auf den bequemeren Plätzen verbündet.
«Leider.» Just in dem Moment gab Samuel Ireland zur Erheiterung seiner Reisegefährten die wahren Bestandteile eines Getränks namens «Stingo» zum Besten. Genauso gut hätte er die Vorzüge Shakespeares erörtern können. Aus seinem Munde klang zwangsläufig alles wichtig. «Woher wusstest du, dass er mein Vater ist?»
«Er sieht dir ähnlich. Aber du hast ein hübscheres Gesicht. Wie heißt du?»
«William.»
«Bill? Oder Will? Oder etwa Willy?»
«Eigentlich William.»
«William der Eroberer.» Ihr Blick wanderte kurz zu seinen Hosenknöpfen hinunter, doch das genügte schon, ihn zu erregen. Er fühlte sich innerlich so angespannt, als könnte ihn jeden Moment ein ungeheurer Schlag treffen. Seine Hände zitterten. Er umklammerte seinen Becher, damit man es nicht mehr merkte.
«William, steht er?»
«Ja.»
«Ist er groß?»
«Ich weiß nicht. Ich habe keine – »
Einen solchen Annäherungsversuch hatte er noch nie erlebt. Sogar die Prostituierten auf den Straßen ließen ihn links liegen. Er war noch ein Knabe und obendrein arm. Er hatte sich mit sich selbst vergnügt, wie er es nannte, aber zum Letzten war es noch nie gekommen.
Die übrigen Reisenden taten sich an allem gütlich, was das Gasthaus zu bieten hatte, als wären sie Mitwirkende eines Theaterstücks mit dem Titel Die Gaststube. Sie waren fröhlich, aufgekratzt und zu Scherzen aufgelegt. Samuel Ireland spielte inzwischen mit hoch erhobenem Arm bescheiden auf seine Freundschaft mit Richard Brinsley Sheridan an.
Der Kutscher, dem der Wirt zwei Shilling zugesteckt hatte, trat an die Stubentür und bat die Reisenden, wieder in der Postkutsche Platz zu nehmen. William stürzte hinaus, ehe ihn einer der anderen sehen konnte, und stieg über die Leiter aufs Kutschdach. Als er Beryl langsam über den Hof schlendern sah, steckte er seine Hand zwischen die Beine. Sie kletterte aufs Dach und setzte sich lächelnd an den äußersten Rand. Der Kutscher sprang auf seinen Bock, hob die Peitsche und feuerte die Pferde an. Während sie zum Hof hinausfuhren, rückte Beryl zu William hinüber, legte ihre Hand auf seinen Hosenschlitz und begann, die Innenseite seiner Schenkel zu massieren.
Die Kutsche rumpelte unsanft über die unebene Bagshot High Street. Eigentlich handelte es sich nur um eine bessere Landstraße, die man auf Kosten des Gastwirts gepflastert hatte. Von der Straße aus konnte niemand Beryls Hand sehen. Der Kutscher blickte nach vorne. Immer heftiger rieb sie seinen Schwanz. Als sie in die freie Landschaft kamen – Bäche, Baumgruppen, Felder und Hecken zogen vorbei –, schürzte sie ihren Rock und machte es sich auf dem Kutschdach bequem. Über ihnen flogen ein paar Wildgänse dahin. Er knöpfte seine Hose auf und legte sich auf sie. Er konnte spüren, wie der kalte Wind gegen sein Gesicht anbrauste, und seufzte verzückt. Sachte bewegte er sich in ihr, dann wurde er kräftiger und fordernder. Als der Kutscher laut «Ho!» rief, kam er in ihr. Soeben fuhren sie durch den Weiler Blackwater. Damit niemand sie bemerkte, blieben beide ganz still liegen. Er fummelte an seiner Hose herum und knöpfte sie fest zu, bevor er sich aufrichtete. Sie lag immer noch auf dem Dach und blickte zum vorüberziehenden Himmel hinauf.
Zunächst empfand William nur tiefste Erleichterung. Er hatte das Unbekannte ohne Zaudern getan. Beryl zog ihre Unterhose hoch, dann kletterte sie auf ihren Platz und streckte mit einer unmissverständlichen Geste lächelnd ihre Hand aus.
«Ich habe nur ein paar Sixpence», sagte er.
«Das wird dann wohl reichen.»
Er durchsuchte seine Hosentasche und gab ihr die Münzen. Auf der Weiterfahrt nach Stonehenge und Salisbury betrachteten sie gemeinsam versonnen die vorüberziehende Landschaft.
«Welche Schätze?», wollte Charles von ihm wissen, als sie in der Buchhandlung beieinander standen.
«Eine Originalausgabe von De Sphaeraaus der Manutius’schen Druckerpresse. Eine in Frankreich gedruckte Zweitausgabe von Erasmus.»
Solche Bücher stachelten Charles’ Phantasie nicht an. Er fühlte sich unter den alten englischen Dichtern wohler und holte deshalb Greenes Pandosto aus dem Regal, wo es William abgestellt hatte. «Ist dieses Buch eigentlich sehr teuer?»
«Drei Guineen.» Williams schroffer, impulsiver Ton machte Charles stutzig. Wollte er andere dadurch zum Widerspruch reizen?
«Für drei Guineen kann man eine Menge Bücher kaufen.»
«So einen Vorbesitzer hat keines.»
Ein ganzer Wochenlohn. Andererseits war ein Buch aus Shakespeares ehemaligem Besitz mehr wert als eine Woche seines Lebens.
«Eine Guinee kann ich Ihnen überlassen. Den Rest bezahle ich beim Abholen.»
«Dazu müssen Sie sich wirklich nicht selbst herbemühen, Mr Lamb. Ich bringe es Ihnen gerne vorbei.»
William Ireland trat hinter den Ladentisch und zog ein in Leder gebundenes Hauptbuch hervor. Charles staunte nicht wenig, als er danach aus seiner Westentasche ein Tintenfass samt Federkiel holte und sich daranmachte, eine Quittung auszustellen. William hatte eine saubere Kanzleischrift, die ganz anders aussah als die Sekretärsschrift, die Charles in den Geschäftsbüchern der Kompanie verwendete. Charles machte ihm dafür ein Kompliment.
«Das habe ich von meinem Vater gelernt, Mr Lamb. Diese Schrift bereitet mir großes Vergnügen. Für gewisse Geschäfte bediene ich mich der Fraktur und für die alltäglichen Belange der Kurrent.»
«Sie werden meine Adresse brauchen.»
«Ich kenne das Haus.» Er blickte nicht auf.
Es war William Ireland gewesen, der Charles vor zwei Nächten vom Salutation and Cat nach Hause gebracht hatte. Charles hatte dort nach dem Weggang seiner Freunde allein an einem alten Ebenholztisch in einer Ecke getrunken. An der Wand hinter ihm hing unter Glas ein besticktes Tuch mit einem längst verblassten Spruch. Man konnte nur noch die Worte «macht den Kuchen gel» entziffern.
Charles starrte Löcher in die Luft und kratzte sich dabei mit dem Zeigefinger am Kinn. Schon oft hatte er mit der Möglichkeit gespielt, seine flüchtigen Gedanken einzufangen und in die richtige Reihenfolge zu bringen. So viele Eindrücke und Assoziationen, so viele Geistesblitze. Leider war es ihm noch nicht gelungen. Er kippte noch ein Glas Curacao hinunter. Allmählich verklumpte der süße Likör in seinem Magen. Trotzdem verspürte er nicht den Wunsch, in die Laystall Street zurückzukehren. Nachts konnte er den Geruch im Haus nicht leiden, er erinnerte ihn an Küchenabfälle. Auch nach einem Wiedersehen mit seinen Eltern sehnte er sich nicht. Sie schienen sich gegen die Möglichkeiten, die ihnen das Leben bot, abzuschotten. Und was Mary betraf – nun ja, gewiss, er genoss ihre Gesellschaft. Allerdings stießen ihn ihre überschwänglichen Bemühungen hin und wieder ab. Sicher, er war auf sie angewiesen, um geistig aufzublühen, um er selbst zu werden. Sie applaudierte ihm, weil sie ihn verstand. Doch wenn sie ihn zu sehr mit Beschlag belegte – wenn sie sich beispielsweise allzu eindringlich nach seinen Freundschaften erkundigte –, zog er sich von ihr zurück und verstummte. In solchen Fällen fühlte sie sich ihrerseits gedemütigt und zurückgewiesen. Also gab es Abende, an denen er trank.
Er hielt es für töricht, Alkohol als Quelle der Inspiration zu betrachten. Alkohol engte seine Phantasie auf die begrenzte Wahrnehmung eines Betrunkenen ein. In diesem Zustand nahm er weder Details noch Perspektive wahr. Und doch begrüßte er ihn, ja, er suchte ihn sogar bewusst. Aber wovor fürchtete er sich? Vor dem Versagen, vor seiner Zukunft. Einer seiner Kommilitonen, Tobias Smith, hatte Christ’s Hospital ohne feste Anstellung, ohne Beschäftigung verlassen. Eine Weile hatte er bei seiner Mutter in Smithfield gelebt. Wenn man ihn in der Taverne oder im Schauspielhaus traf, wirkte er genauso fröhlich und lebhaft wie eh und je. Und doch verlotterte er nach und nach. Seine Kleidung wurde immer fadenscheiniger. Nach dem Tod seiner Mutter warf man ihn aus dem Gemeinschaftsquartier hinaus. Daraufhin schien ihn der Erdboden verschluckt zu haben. Aber dann hatte ihn Charles vor drei Wochen an der Ecke Coleman Street betteln gesehen und war an ihm vorbeigegangen, ohne sich zu erkennen zu geben. Er hatte Angst gehabt. Deshalb trank er jetzt Curaçao.
Er genoss das Gefühl, langsam in die Trunkenheit abzugleiten. Vermutlich hatte er als Kleinkind ein ähnliches Bewusstsein gehabt, auch wenn er daran keine Erinnerung mehr hatte: die gleiche selige Wahrnehmung der Gegenwart, dieses glückliche Hinnehmen aller Dinge. Er ging zur Theke, bestellte noch ein Glas und erkundigte sich beim Wirt nach den Gästen des heutigen Abends. Er hatte das Bedürfnis zu reden. Er wollte unbedingt Neuigkeiten über seine eigene Person preisgeben und lauthals über die witzige Bemerkung fremder Leute lachen.
«Das wäre dann das letzte Glas, Mr Lamb.»
«Selbstverständlich. Jawohl.»
Und dann fand er sich voll bekleidet auf seinem Bett wieder. Das Einzige, was ihm von letzter Nacht geblieben war, waren Bilder: ein Handgemenge riesiger Schatten, ein ausgestreckter Arm, ein geflüstertes Wort. An William Ireland, der neben der Tür zum Salutation and Cat gesessen hatte, konnte er sich nicht mehr erinnern. Eine Holzsäule mit verschiedenen Plakaten – für ein Kasperltheater, für eine Seiltanzvorführung – hatte ihn teilweise verdeckt.
Charles war von der Theke wieder auf seinen Platz gegangen, hatte den Kopf zurückgeworfen und das letzte Glas Curaçao geleert. Dann war er unsicher aufgestanden, hatte mit weit aufgerissenen Augen die Türe angepeilt und dabei laut gerufen: «Ihr dorthin, wir dahin.»
Da hatte sich William Ireland von seinem Platz erhoben und Charles sehr behutsam auf die Straße hinausgeholfen. Er hatte den Betrunkenen aus Lincoln’s Inn Fields fortgeschafft, sonst hätten ihn sofort Taschendiebe oder noch schlimmere Gestalten ins Visier genommen.
«Sir, wo logieren Sie?»
Charles lachte über diese Frage. «Ich logiere in der Ewigkeit.»
«Die könnte schwierig zu finden sein.» Und doch strebte Charles instinktiv seinem Zuhause zu und lief über King Street und Little Queen Street Richtung Laystall Street.
«Sie haben soeben Shakespeare zitiert. ‹Ihr dorthin, wir dahin.› Aus Verlorene Liebesmüh.»
«Wirklich? Jetzt dahin.»
Ein Nachtwächter kam vorbei und leuchtete William mit einer Lampe ins Gesicht.
«Mein Freund ist müde», sagte William. «Ich begleite ihn nach Hause.»
Er hatte Charles als seinen Freund bezeichnet, das gestattete ein gewisses Maß an Intimität. Beim Einbiegen in die Laystall Street hakte er sich bei ihm ein und stützte ihn.
William hatte ihn schon früher im Salutation and Cat gesehen. Charles saß hier oft in Gesellschaft. Man unterhielt sich lautstark über die neuesten Theaterstücke und Publikationen, debattierte über Philosophie oder die Vorzüge gewisser Schauspielerinnen. Ireland, der stets allein auf seinem Stammplatz neben der Tür saß, lauschte begierig. Immer wieder drangen laute Gesprächsfetzen zu ihm herüber. Besonders hatte ihn eine feierliche Rede beeindruckt, in der Charles Dryden über Pope gestellt hatte. Außerdem hatte William erfahren, dass Charles für die Journale schrieb. Er hatte gehört, wie dieser ein geplantes Essay zum Thema «arme Verwandte» erörterte.
«Immer lächeln sie nur und sind stets verlegen», hatte Charles zu Tom Coates und Benjamin Milton gesagt. «Obendrein sind sie für die Dienerschaft ein Rätsel, denn diese muss immer befürchten, entweder zu unterwürfig oder zu unhöflich zu sein.»
«Aber ihr habt doch gar keine Bediensteten.»
«Ist Tizzy etwa nichts? Ein Hoch auf Tizzy! Ein Hoch auf Herrn und Frau Niemand!»
Auch William hatte bei der Pall Mall Review ein Essay eingereicht, über Bucheinbände zur Zeit der Renaissance. Leider hatte man es mit der Begründung abgelehnt, es handle sich um «ein viel zu spezielles Thema für eine breite Leserschaft». Diese Antwort hatte ihn nicht überrascht. Sein Ehrgeiz kannte nur ein Pendant: sein Misstrauen gegenüber der eigenen Person. Er strebte nach Erfolg und erwartete doch nur Scheitern. Deshalb lauschte er Charles voller Neid. Auch bewunderte er dessen Begleiter, die offensichtlich in der Welt der Literatur und des Journalismus voll und ganz zu Hause waren. Eine Bekanntschaft mit Mr Lamb könnte für ihn die Eintrittskarte in diese verlockende Gemeinschaft sein.
Ferner hegte er die Hoffnung, vielleicht selbst auf den Spuren von Charles Lamb zu wandeln. William hatte zwei ehrgeizige Ziele: Schreiben und Publizieren. Sein Essay für die Pall Mall Review war sein einziger journalistischer Versuch gewesen. Im Übrigen hatte er einige Oden und Sonette verfasst. Besonders schätzte er seine «Ode an die Freiheit. Anlässlich Napoleons Rückkehr aus Ägypten nach Frankreich». Gleichzeitig war er sich jedoch bewusst, dass man diese Ode unter den gegenwärtigen Umständen nicht in englischen Journalen abdrucken konnte. In anderen Oden hatte er gegen Englands «Schlamm der Unwissenheit» und seine «tristen Grenzen» gewettert. Seine Sonette setzten sich mit persönlicheren Gefühlen auseinander. Ein Zyklus hatte die Geschichte eines «Empfindsamen» nachgezeichnet, der von «der rohen Masse Mensch» ignoriert oder ausgelacht wurde. Diese Arbeiten hatte er niemandem gezeigt, sondern sie in seine Schreibschatulle eingeschlossen. Manchmal holte er sie hervor und las sie wieder durch. Obwohl er diese Gedichte als Zentrum seines wahren Lebens erachtete, gab es auf der ganzen Welt keinen Menschen, mit dem er sie teilen konnte. Wie hatte er einmal geschrieben?
«Still verharr’n die Geisteskräfte mein,
wenn sie nicht trifft ein Funke Sympathie.»
Charles Lamb und seine Freunde könnten ihn verstehen, daran glaubte er. Und doch hätte er nie den ersten Schritt gewagt. Zwischen ihnen klaffte ein viel zu tiefer Abgrund, der Abgrund der Selbstverleugnung.
William hatte Charles durch die enge Straße gelenkt, hatte ihn um die Wasserpumpe herumgeführt und dafür gesorgt, dass er bei der Bäckerei Stride an der Ecke nicht gegen die feuchte, schmutzige Ziegelmauer prallte. Hier kaufte sich Charles jeden Werktag – er nannte es Schultag – morgens ein Milchbrötchen und verspeiste es auf dem Weg zur Leadenhall Street. Jetzt war er vorbeigelaufen, ohne den Laden wiederzuerkennen. Nur sein Instinkt hatte ihn die Treppe vom Kopfsteinpflaster zu seiner eigenen Haustür hinaufklettern lassen. Während er ungeschickt nach seinen Schlüsseln gesucht hatte, war William hinter ihn getreten. Doch dann hatte eine junge Frau die Tür geöffnet. William war rasch die Laystall Street hinuntergegangen. Aus irgendeinem Grund hatte er Angst, von ihr gesehen zu werden.
Aber Mary Lamb hatte ihn gar nicht bemerkt. Sie war einzig und allein darauf bedacht gewesen, ihrem Bruder wieder einmal über die Schwelle ihres kleinen Hauses zu helfen.
«Woher kennen Sie meine Adresse?»
«Woher, Mr Lamb? Ich habe Sie vorgestern nach Hause begleitet. Doch das ist belanglos. Daran müssen Sie sich nicht mehr erinnern.» Mit dieser kunstvollen Anspielung schob er die Gedächtnislücke mehr auf seine eigene unbedeutende Person und weniger auf den Umstand, dass Charles betrunken gewesen war.
«Vom Salutation?»
William nickte.
Wenigstens besaß Charles so viel Anstand zu erröten. Trotzdem klang er gefasst. Er pflegte zu seinem betrunkenen Ich eine merkwürdige Beziehung. Er betrachtete es als flüchtige Bekanntschaft, die ihm das Schicksal unglücklicherweise beschert und an die er sich gewöhnt hatte. Dieses Ich würde er nie verteidigen und sich auch nicht dafür entschuldigen. Er erkannte einfach seine Existenz an. «Nun ja, ich bin Ihnen zu Dank verpflichtet. Könnten Sie heute Abend vorbeikommen?»
Sie gaben sich die Hand. Charles verließ die Buchhandlung. Ein Blick nach links, einer nach rechts, dann trat er aus der dunklen Passage auf die High Holborn hinaus, wo sich Kutschen und Fußgänger drängten. Alles strebte in östliche Richtung, der City zu. Er schloss sich ihnen an. Das Ganze wirkte auf ihn wie eine bunte Parade, halb Leichenzug, halb Pantomime, in der sich ihm die ganze Fülle des Lebens zeigte, ehe es von der City verschluckt wurde. In seinen Ohren mischten sich die Schritte auf den Pflastersteinen, das Rumpeln der Kutschenräder und der Widerhall der Pferdehufe zu einer einzigartigen Geräuschkulisse: dem Klang der Stadt. Es war die Musik der Bewegung an sich. In der Ferne wippten Kappen, Hauben und Hüte auf und ab. Er steckte mitten in einem Gewimmel aus purpurnen Gehröcken, grünen Jacken, gestreiften Überziehern, karierten Mänteln, Schirmen und großen, wollenen, bunten Schultertüchern. Charles trug immer nur Schwarz. Wegen seiner ungemein knochigen Figur erinnerte er an einen jungen, staksigen Geistlichen. Ein Straßenhändler kannte ihn vom Sehen und verkaufte ihm ein Fleischpastetchen.
Er war ein Teil dieser Menge. Dieser Gedanke tröstete ihn manchmal, besonders wenn er sich als Teil alles Lebendigen empfand. Gelegentlich verstärkte er in ihm ein Gefühl des Scheiterns, aber meistens spornte er seinen Ehrgeiz an. Er malte sich jene Tage aus, an denen er von seiner behaglichen Bibliothek oder von seinem Schreibzimmer aus der vorübergehenden Menge lauschen könnte.
Die Straße selbst beachtete er kaum, dazu kannte er sie zu gut. Er wurde an Snow Hill und Newgate vorbeigetrieben, die Cheapside entlang und den Cornhill hinauf. Endlich fand er sich in der Leadenhall Street wieder. Er kam sich vor, als hätte man ihn mit einer Kanone in die säulengekrönte Vorhalle des Hauptsitzes der Ostindien-Kompanie geschossen. Es war ein altes Herrenhaus aus den Tagen von Königin Anne. Eine mächtige Kuppel krönte das Gebäude aus Ziegel und Stein und warf einen Schatten über die an und für sich schon dunkle und düstere Leadenhall Street. Charles drückte im Vorbeigehen den Arm des Türhüters und flüsterte: «Rustika mit Viertelstab.» Vergangenen Samstag hatten sie über den Namen der wurmähnlichen Verzierungen am Gebäudesockel direkt über dem Straßenverlauf diskutiert. Der Türhüter legte die Hand an die Stirn und tat so, als würde er vor Erstaunen umkippen.
Charles betrat die Eingangshalle. Seine raschen Trippelschritte hallten zwischen den Marmorsäulen wider. Er lief die mächtige Prunktreppe hinauf, immer zwei Stufen auf einmal.
Im Dividendenbüro, wo Charles arbeitete, saßen sechs Kontoristen. Ihre Pulte waren in umgekehrter V-Form angeordnet, an der Spitze saß der Oberkontorist. «Wie eine Schar Gänse im Flug», spottete Charles oft. In der Mitte dieser Formation stand ein langer, niedriger Tisch, auf dem verschiedene in Leder gebundene Rechnungsbücher und Register standen. Jeder Kontorist saß auf einem hochlehnigen Stuhl hinter seinem Pult und hatte vor sich fein säuberlich Feder, Tinte und Sandbüchse aufgereiht. Benjamin Milton saß vor Charles, dahinter Tom Coates.
Als Benjamin das vertraute Kratzen des Stuhls hörte, drehte er sich um. «Einen wunderschönen guten Morgen, Charlie. Bis zur Stunde deiner Geburt hatte England keinen Grund zum Fröhlichsein.»
«Ich weiß. Die Spottdrossel spottet jeder Beschreibung.»
Benjamin war ein klein gewachsener, schlanker junger Mann mit dunklen Haaren. Er sah gut aus. Charles nannte ihn «Westentaschen-Garrick», nach dem verstorbenen Schauspieler und Theaterdirektor, denn wie Garrick machte Benjamin stets einen fröhlichen Eindruck.
Tom Coates traf ein und summte das neueste Bänkellied. Er war immer verliebt und immer verschuldet. Er konnte über eine Schnulze in den Straßentheatern hingebungsvoll weinen und sich im nächsten Moment über seine eigene Sentimentalität schieflachen.
«Ich liebe meine Mutter», sagte er gerade. «Sie hat mir diese Handschuhe gestrickt.»
Charles drehte sich nicht um, um sie zu bewundern. Der Oberkontorist Solomon Jarvis hatte sich von seinem Platz erhoben und machte sich daran, ein- und zweispaltige Hauptbücher zu verteilen. Jarvis war ein ernster Mensch, der selbst nach vierzig Jahren die Arbeit als Kontorist bei der Ostindien-Kompanie als Ehre empfand. Seine ehrgeizigen Ziele hatten sich nicht erfüllt, falls er je welche gehegt haben sollte. Und doch war er nicht enttäuscht. Er war ein ernsthafter und gravitätischer Mann, aber Enttäuschung war ihm fremd. Er gehörte zu den letzten Kontoristen, die sich wie in alten Zeiten die Haare puderten und seitlich zu Schillerlocken aufdrehten. Warum frönte er der Mode einer versunkenen Herrschaftsepoche? Wollte er stur an allem Alten festhalten, oder fühlte er sich dadurch vage an seine Zeit als Beau erinnert, wie man damals einen Stutzer nannte? Niemand wusste es. Jedenfalls glich er einem lebenden Obelisken, wie Benjamin zu sagen pflegte. Außerdem war Jarvis süchtig nach Schnupftabak, den er laufend in großen Mengen aus den Taschen seiner uralten rostfarbenen Weste förderte. Charles behauptete sogar, Jarvis würde sich die Haare mit Schnupftabak pudern. Leider war diese Theorie noch nie überprüft worden.
«Meine Herren», hob Jarvis soeben an, «in Bälde steht uns eine Dividendenausschüttung bevor. Wollen wir rechnen? Wollen wir die Optionsscheine bearbeiten?»
Sie schrieben ihre Zahlenreihen unter einem Fresko von Sir James Thornhill. Darauf wurden Industria und Prosperitas am Strand der Bucht von Kalkutta von drei indischen Prinzen mit verschiedenen exotischen Früchten begrüßt. Industria bedankte sich dafür mit einer Feldhacke, während ihnen Prosperitas eine goldene Waagschale präsentierte. Charles interessierte sich mehr für das gemalte Meer und die Landschaft. Immer wieder verschränkte er die Hände hinter dem Kopf, sah zur Decke auf und ließ den Blick zwischen den Blau- und Grüntönen dort oben herumwandern. Er stellte sich vor, wie sich der Ozean donnernd an fremden Küsten brach und eine warme Brise flüsternd durch die hängenden Bäume streifte, bis ihn das Kratzen der Federn aus seinen Träumen riss.
Gerade als er mit drei runden Os eine Berechnung abschloss, verkündete die Glocke das Ende dieses Arbeitstages.
Tom Coates stand bereits neben seinem Stuhl. «Charlie, was meinst du? Kommst du auf einen Schluck mit?»
Zu ihnen gesellte sich Benjamin Milton, der die Hände an die Lippen legte und wie ein Horn tutete.
«Fein», erwiderte Charles, «aber nur auf einen.»
Die drei jungen Männer polterten auf die Leadenhall Street hinaus und liefen rasch über das Kopfsteinpflaster. Ihre Hände hatten sie in den Taschen vergraben, die Schöße ihrer schwarzen Gehröcke flatterten hinter ihnen her. Sie bogen in die Billiter Street ein, tätschelten im Vorbeigehen die Flanken der Pferde und stolzierten schließlich in die verheißungsvolle Wärme des Billiter Inn, wo sie bereits dumpfes Gemurmel und der süße Duft nach Porter erwartete. Sie fanden eine Nische und warfen sich auf die Sitzbank. In solchen Momenten empfand sich Charles durch und durch als Glied in einer langen Kette. Dieses Gasthaus hatte schon alles endlos oft erlebt, jede menschliche Bewegung, jede menschliche Geste. Das dumpfe Gemurmel und der süße Getränkegeruch verschmolzen zur Vergangenheit schlechthin, die ihn einhüllte und auf ihn Anspruch erhob. Er konnte sagen, was er wollte, alles war schon einmal gesagt worden.
«Ich weine an Wiegen und lächle an Gräbern. Auf dein Wohl, Ben.» Er nahm den Zinnbecher, den ihm sein Kollege reichte, und trank einen tiefen Schluck Ale. «Ich trinke nur aus Pflichterfüllung.»
«Natürlich.» Tom Coates hob seinen Becher. «Reine Notwendigkeit. Ohne einen Funken Vergnügen.»
«Ich grüße untertänigst mein Schicksal.» Benjamin stieß mit ihnen an.
«Ach ja, die Schicksalsgöttinnen. Die Schwestern. Heil, Atropos!» Charles trank aus und blickte sich suchend nach dem Kellner um, den alle immer nur «Onkel» riefen. Er war ein ernsthafter alter Mann, der immer noch Kniehosen mit Wollstrümpfen trug.
«Vom Besten, Onkel, wenn’s beliebt.»
«Sogleich, Sir. Sogleich.»
«Dieser Spruch wird noch auf seinem Grabstein stehen», murmelte Charles den anderen zu. «Sogleich, Sir. Sogleich. Gott wird es ihm lohnen.»
Eine Stunde oder auch mehr saßen die drei zusammen und zechten. An den Inhalt ihrer Gespräche hätten sie sich später nicht mehr erinnern können. Es ging einzig und allein um das Gemeinschaftserlebnis, in dem sich die Stimmen nahtlos aneinanderreihten, um Zuruf und Antwort, um geteilte Empfindungen. All das wirkte anregend und beruhigend auf sie. Eigentlich hätte sich Charles an diesem Abend mit William Ireland treffen sollen, aber das hatte er restlos vergessen. Schließlich trennte er sich an der Ecke Moorgate von seinen Freunden. Während die anderen nach Norden spazierten, Richtung Islington, machte er sich Richtung Holborn auf den Heimweg.
Plötzlich bekam er einen heftigen Schlag ins Genick.
«Was hast du in der Tasche? Her damit.»
Auf diesen Zuruf hin drehte er sich um, doch er bekam noch einen Hieb. Er taumelte gegen die Wand und spürte, wie jemand seine Taschen durchsuchte. Man riss seine Uhr von der Kette und entwendete ihm mit schnellen, fast ungeduldigen Bewegungen die Geldbörse. Dann hörte er den Dieb wegrennen, die Ironmonger Lane hinunter. Seine Schritte hallten zwischen den hohen Häusern nach. Charles lehnte sich an der Straßenecke gegen die Mauer, rutschte seufzend aufs Pflaster hinunter und griff nach seiner Uhr. Jetzt fiel ihm wieder ein, dass man sie ihm gestohlen hatte. Ernsthaft verletzt war er nicht, aber plötzlich merkte er, dass er sehr müde war. Restlos erschöpft. Mit einem Mal gehörte auch er zur großen Sippe all derer, die nach einem Überfall genau hier – an der Ecke Ironmonger Lane und Cheapside – beschlossen, sich auf die Straße zu setzen. Noch immer hörte man das Echo der Schritte, die sich schnell vom Tatort entfernten.