Kapitel 6
Der Weg zurück ins Dunkel
Der Himmel klebte so tief über dem Mast, dass die schillernde Flagge mit dem Wolfskopf wie ein Blutfleck, wie eine Wunde im endlosen bleiernen Grau wirkte. Ein beständiger Wind riss an dem Stoff, franste seine zerschlissenen Ränder weiter aus. Nur das Rauschen der Böen war zu hören, ansonsten herrschte eine unheimliche Stille, die kommendes Unheil nur umso sicherer erscheinen ließ. Nebelfetzen schwebten dicht über der Erde, erschwerten die Sicht. Mitten hinein in diese Ruhe erklang Flügelschlag, und auf dem hellen Gemäuer erschienen die dunklen, zuckenden Flecken einer Schar Vögel. Vom Fenster im dritten Stock eines Turmes sah Bernina die Krähen, die einen vagen Kreis beschrieben, bevor die Himmelsdecke sie verschluckte. Der viereckige, von einer mehrfach geschwungenen Haube bekrönte Turm schloss sich an den Westflügel des Hauptgebäudes an. Schon bei ihrem allerersten Blick auf die Festung war er Bernina aufgefallen.
Immer noch kein Schuss, kein Trompetensignal, kein gebrüllter Befehl. Nichts von jenen Lauten, mit denen Schlachten und Gewalt für gewöhnlich ihren Anfang nahmen. Bernina ließ den Blick erneut schweifen, über die Mauer hinweg, in die Weite der Landschaft. In Gedanken stellte sie sich Nils Norby vor, der sich irgendwo dort im Verborgenen aufhalten musste. Mit seiner Armee aus Unsichtbaren – offenbar waren sie das tatsächlich.
Langsam drehte sie sich um, und der teure Prunk des Turmzimmers schien sie beinahe zu erdrücken. Polster, Tischchen, Kerzenständer, Spiegel. Der Wind, der durch die beiden geöffneten Fenster eindrang, bauschte hauchfein gewobene Gardinen. Mit vor der Brust gekreuzten Armen stand Elena Isabella Lobo y Alvarado vor ihrem Sohn. Sorgenvoll lag ihre Stirn in Furchen. »Das lasse ich nicht zu«, sagte sie. Zuerst hatten sich die beiden nur in ihrer Muttersprache unterhalten, waren dann aber aus Rücksicht auf Bernina zum Deutschen übergegangen.
»Du wirst es zulassen müssen«, murmelte Anselmo, während er zwei Pistolen mit trichterförmig endendem Lauf in seinen Gürtel schob.
»Ich weiß, dass du dir geschworen hast, nie wieder eine Waffe in die Hand zu nehmen. Belasse es dabei. Wir haben genügend kampferprobte Männer. Über 200. Und nach allem, was wir wissen, stehen uns nicht viel mehr als 100 gegenüber.«
Als er aufblickte, war es nicht Elena, die sein Blick erfasste, sondern Bernina. »Du weißt, dass ich nicht anders kann, nicht wahr?«
Ihr brach es das Herz, diese Worte zu hören. »Ich weiß nur, dass ich dich nicht verlieren will. Bleibe hier bei uns. Du hast keine Gefechtserfahrung, du bist kein Soldat.« Schon als sie es aussprach, spürte sie, dass es sinnlos war.
Anselmo kam auf sie zu, legte seine Arme um sie, küsste ihre Wangen, ihr Haar, ihre Lippen. »Wie könnte ich hier sitzen und einfach abwarten, wie es ausgeht?« Er ließ von ihr ab und legte die Hände auf die Pistolengriffe. »Ihr wisst genau, dass ich gehen muss.« Ganz kurz betrachtete er den Degen, den Bernina von Braquewehr bis hierher gebracht hatte. Die Waffe lag quer über einem Sessel. Doch als er ohne ein weiteres Wort den Raum verließ, nahm er sie nicht an sich. Ohne Erfahrung war der Degen noch weniger wert als Schusswaffen.
Bernina bemerkte, wie sehr seine Mutter mit den Tränen rang, wie schwer es ihr fiel, die Fassung zu wahren. Ihr selbst erging es nicht anders. Hilflos wandte sie sich von Neuem dem Fenster zu. Diese Stille. Dieses leblose starre Bild, das sich vor ihren Augen ausbreitete.
Würde es überhaupt einen Ausbruch der Gewalt geben?
Der nächste Moment beantwortete die Frage. Huschende Gestalten, die ersten Schüsse. Kein Signal, keine Fanfaren. Anders als alle Offiziere der Welt hatte Nils Norby offensichtlich den entscheidenden Schlag geplant. Da war keine Armee, die auf den Feind zumarschierte, sondern viele kleine Gruppen von Soldaten, die auf den ersten Eindruck willkürlich zu handeln schienen, in Wirklichkeit jedoch genau wussten, was sie zu tun hatten.
Bernina erkannte sofort, welchem Zweck die Übungen dienten, die Norby und Feldwebel Meissner ihre Leute auf dem langen Weg hatten absolvieren lassen. Keine starren Reihen, keine klaren Formationen wie sonst üblich, sondern Beweglichkeit. Darauf kam es dem Schweden an. Schnelligkeit und diese verwirrende Beweglichkeit. Überall tauchten Kämpfer auf. Sie hatten den tückischen Nebel genutzt, sie schossen aus Armbrüsten und schleuderten Taue mit großen, eisernen Widerhaken über die Mauer. Doch das war vor allem als Ablenkung gedacht. Denn der Berg, an den sich die Festung drückte, war ihre Schwachstelle. Von dort kamen bereits weitere Angreifer in roten Umhängen. Sie glitten über die Mauerzinnen, ihre Behändigkeit, ihre leise Entschlossenheit, die ohne Befehle auskam, verwirrte die Verteidiger. Noch mehr von ihnen rückten nach, als wären sie nicht 100, sondern 300 oder 600. Schüsse, das Surren von Pfeilen, Degenklingen, die krachend aufeinander trafen. Bernina hielt Ausschau nach Anselmos schlanker, geschmeidiger Gestalt – ohne Erfolg. Auch einen großen, breitschultrigen Mann mit langem blondem Haar suchte sie vergeblich.
Elena erschien an Berninas Seite, das Gesicht deutlich gefasster – offenbar nicht mehr nur eine leidende Mutter, sondern auch wieder die Wölfin. Sie starrte auf das immer größer, immer blutiger werdende Durcheinander unter ihnen, ohne dass Bernina eine Reaktion in den hellen Augen ablesen konnte. Je mehr Angreifer ins Innere der Festungsmauern gelangten, desto schwieriger wurde die Lage für Elenas Männer.
»Dieser Kampf«, flüsterte die Spanierin, »wird noch schlimmer werden, als ich es befürchtet hatte.«
»Ich hoffe nur, dass Anselmo nichts passiert.«
»Ja. So viel steht auf dem Spiel. So viel.« Wie schon an der Tafel glitt Elenas Blick ab in eine Leere. Sie drehte sich um und ließ sich in einen der Sessel fallen. »Geh endlich weg von dem Fenster, mein Kind. Sonst findet dich womöglich noch eine verirrte Kugel.«
»Es ist kaum zu ertragen. Nicht nur, dass das alles geschieht – dass man einfach nur tatenlos herumstehen und nicht eingreifen kann.« Die vielen Degenstunden mit Meissner kamen ihr wieder in den Sinn. Sie fühlte ein Kribbeln in ihrer rechten Hand, als drängte es ihre Finger zu dem Degengriff. Zögernd trat sie zu dem Sessel mit der Waffe. Die Klinge funkelte ihr entgegen.
»Denke nicht einmal daran, Bernina.« Scharf stach die Stimme von Anselmos Mutter in ihr Bewusstsein. »Was immer du auf dem Weg hierher getan und gelernt haben magst – meine Schwiegertochter werde ich nicht in den Kampf schicken. Und wenn ich dich eigenhändig hier festbinden müsste.«
Sie hatte ihre Worte mit so viel Autorität vorgebracht, dass sich Bernina schließlich wieder abwandte und das Blitzen der Klinge ignorierte. »Diese Tatenlosigkeit geht dennoch fast über meine Kräfte«, sagte sie nur, und die Ohmacht, die in ihrer Stimme aufklang, gefiel ihr keineswegs.
Plötzlich das Dröhnen eines Lärms, der nahe bei ihnen ertönte. Zersplitterndes Holz, Schreie, das Trampeln von Stiefeln auf einer steinernen Treppe.
»Sie sind im Turm!« Elena klang nicht ängstlich, auch jetzt noch nicht, und doch war ein Beben in diesen Worten gewesen. Sie erhob sich vom Sessel. Die Blicke beider Frauen hasteten zur Tür des Zimmers.
»Ich werde den Riegel vorschieben«, entschied Bernina.
Aber Elenas Hand auf ihrem Ellbogen stoppte sie. »Nein, Bernina. Juan Alvarado kann mich angreifen, er kann mich sogar auslöschen. Aber er wird mich nicht dazu bringen, mich in meinen eigenen vier Wänden einzuschließen wie ein kleines Mädchen. Und außerdem – das Holz würde diese Kerle kaum aufhalten. Uns bleibt nichts anderes übrig, als dem, was uns erwartet, mit Würde entgegenzusehen.«
Die Hand verschwand von Berninas Arm. Nebeneinander standen die Frauen da, nach wie vor die Tür im Blick.
Der Krach wurde lauter, kam näher. Neuerliche Schreie. Das Klirren der Degenklingen. Und dann wurde die Tür von außen aufgerissen.
Während die Spanierin ganz still stand, zuckte Bernina zusammen – erschrocken, erleichtert, alles auf einmal. Anselmo stürmte hinein, sein Wams von Blutspritzern verschmiert. In den Händen hielt er die Pistolen, jedoch verkehrt herum. Von ihren Griffen tropfte ebenfalls Blut. Also war ihm nach dem Abfeuern keine Gelegenheit zum Nachladen geblieben, er musste die Waffen wie Knüppel benutzen. Schweiß glänzte auf seiner Stirn, der wilde, verzweifelte Ausdruck seiner Augen ließ erahnen, was er in der kurzen Zeit seit dem Verlassen des Zimmers erlebt haben musste.
»Ihr seid hier nicht mehr sicher!«, rief er. »Los! Wir versuchen, die hintere Treppe zu erreichen.«
»Ich flüchte nicht!«, widersetzte sich Elena starrsinnig.
Anselmo steckte eine Pistole weg, ergriff das Handgelenk seiner Mutter und zog sie hinter sich ins enge Treppenhaus. Bernina folgte ihnen dicht auf – und hatte vorher noch, fast unbewusst, ihren Degen gepackt. Von unten hörten sie die Männer kämpfen. Sie rannten die Stufen hinauf und in einen Durchgang, der in einen Flur des Hauptgebäudes führte. »Wie sieht es draußen aus?«, rief Bernina Anselmo zu.
»Ich weiß es nicht. Ich habe nur Blut gesehen und um mein Leben gekämpft.«
Der Flur beschrieb eine Kurve, der sie folgten – bloß um augenblicklich wie versteinert innezuhalten. Ein Soldat. Mit einem roten Umhang. Aus dem weißen, hoch gezwirbelten Schnurrbart perlte Schweiß. Anselmo stellte sich erst schützend vor die Frauen, dann stürmte er auf den Mann los, die Pistole wie eine Keule erhoben. Der andere wich geschickt aus und versetzte ihm einen harten Ellbogenstoß, der ihn auf den Teppich landen ließ.
Bevor der Soldat mit dem Degen zum tödlichen Hieb ausholen konnte, war Bernina da, ihrerseits den Degen kampfbereit in der Hand. Die Klingen kreuzten sich, und für Bernina hatte es etwas Unwirkliches, so unvermutet gegen den Mann zu kämpfen, der ihr alles beigebracht hatte – ihm auf Leben und Tod zu begegnen.
In ihrem feinen Gewand hatte Feldwebel Meissner sie nicht erkannt, er war nur sichtlich überrascht, wie gut sich diese Frau schlug. Wahrscheinlich hätte es ihm die Sprache verschlagen, wenn er gewusst hätte, dass er es hier mit niemand anderem als seinem Schüler Falk zu tun hatte.
Nach und nach gelang es Meissner, sie zur Wand zurückzutreiben. Irgendwo in ihrem Kopf war seine Stimme: Niemals auf die Waffe des Gegenübers achten. Sondern nur auf seine Augen. Die Augen verraten dir seine Absicht, bevor es die Bewegung tut.
Sie parierte zwei weitere seiner Schläge, aber sofort setzte er nach – um im nächsten Sekundenbruchteil in sich zusammenzusacken. Anselmo hatte mit der Pistole zugeschlagen. Ganz kurz umarmte er Bernina, ganz kurz presste er sie fest an sich, dann hasteten sie weiter, Elena in ihrer Mitte. Doch wiederum wurden sie allzu schnell aufgehalten. Abermals von einem einzigen Mann, der sich aufreizend lässig im Flur präsentierte, einem großen, kräftigen Mann mit bis zum Unterkiefer herabgezogenem Schnurrbart. Ebenso aufreizend streifte er sich die einzige graue Strähne seines blonden Haares aus dem Gesicht. Wie zuvor zögerte Anselmo keinen Moment. Aber erneut hatte er es mit einem gewandten Gegner zu tun. Nils Norby sah ihm entgegen, ließ die Hand mit dem blutigen Degen zunächst ruhig herunterhängen, um Anselmo mit der freien einen Schlag zu versetzen, gleich noch einen, um dann doch die Waffe einzusetzen. Mit Wucht und verblüffender Schnelligkeit senkte sich der Degengriff in Anselmos Haar, eine rote Fontäne, und Anselmo sank bewusstlos zu Boden. Elena stürzte mit einem Schrei des Entsetzens zu ihm, nicht allerdings Bernina.
Aufrecht stand sie da, ihre Blicke trafen die grünen Augen des Schweden. Er lächelte. Vielleicht spöttisch, vielleicht auch bewundernd. Wie immer war es nicht leicht, seine Gedanken zu erraten. »Erfreulich, dass du deine Garderobe wieder deiner Schönheit angepasst hast. Das war eine gute Entscheidung.«
Bernina machte einen Schritt auf ihn zu. »Bist du überrascht, mich wiederzusehen?«
Von irgendwo im Haus drang Kampfeslärm zu ihnen.
Unverändert das Lächeln Nils Norbys. »Ich wusste, dass du gehen musstest. Ja, ich habe es dir sogar sehr leicht gemacht, einfach zu verschwinden. Dass unsere Ziele miteinander kollidieren würden, das ahnte ich bereits. Aber dass wir uns einmal als Gegner gegenüberstehen würden …« Er ließ den Satz verklingen, um dann hinzuzusetzen: »Doch selbst dann hätte ich es nicht vermocht, dich aufzuhalten.« Erst jetzt schimmerte etwas anderes in seinem Blick auf. Traurigkeit? »Und nun, Bernina? Willst du mir zeigen, wie viel Meissner dir beigebracht hat? Ob du es wert warst, dass dir mein Feldwebel so viel Zeit und Mühe schenkte?«
Die Spitze seines Degens zischte unglaublich schnell, unsichtbar für jedes Auge durch die Luft und zerfetzte den Stoff ihres Ärmels, ohne jedoch die Haut darunter zu ritzen.
»Na los, Bernina, gewähre mir diesen Tanz. Es könnte unser letzter sein.«
Wieder seine Klinge, die zischende, unsichtbare Schlange, diesmal allerdings parierte Bernina den Schlag. Auch den nächsten und den nächsten. Tatsächlich, es war ein Tanz: Tänzelnd bewegten sie sich, geschmeidig, leichtfüßig. Seine Angriffe wurden forscher, Berninas Abwehren mühevoller. Doch einmal gelang es ihr, ihn zu überraschen – ihre Degenspitze erwischte seinen Oberschenkel, und als ein bisschen Blut floss, lachte Norby auf. »Meine Hochachtung! Meissner hat wahrlich nicht übertrieben mit seinem großen Lob, meine verehrte Bernina. Im Gegenteil, er wäre gewiss stolz auf seinen Lieblingsschüler.«
Bernina versuchte den Augenblick zu nutzen. Mit einem langen Schritt ging sie zum Angriff über, aber diesmal stach ihre Klinge ins Leere. Alles passierte ganz schnell. Norbys zur Seite Gleiten, sein erneutes Lächeln und der Fausthieb mit seiner freien Linken. Funken sprühten vor Berninas Augen wie kleine silberne Sterne und zerstoben sofort. Dunkelheit, nichts als Dunkelheit.
*
Eine Stimme. Geflüsterte Worte. Nur, was gesagt wurde, das verstand sie nicht. Aber die Stimme war voller Wärme, voller Zuneigung. Eine Frau war es, die sprach. Die Krähenfrau. Jetzt erklangen die Worte klarer. »Dein Weg«, hörte Bernina, »ist erst dann zurückgelegt, wenn der Kreis sich schließt. Erst dann ist dein Weg …« Die gewisperten Laute lösten sich auf, dafür – eine Berührung. Bernina erschrak, dann jedoch spürte sie Behaglichkeit. Es waren Lippen, die sie berührten, die sie küssten, ihre Wangen, ihren Mund, vorsichtig, zärtlich, ganz sanft. Für einen Moment glaubte sie, auch den Blick grüner Augen auf sich zu fühlen, eine verwirrende Sekunde erwartete sie schon, den schwedischen Akzent zu hören. Schließlich erkannte sie, dass es blaue Augen waren, die sie besorgt ansahen.
»Anselmo.«
Ihre Stimme war bloß ein Hauchen. Sie erwiderte seine Küsse, und es war so angenehm, sich der wundervollen Illusion hinzugeben, alles wäre bloß ein riesiges Knäuel aus wirren Träumen gewesen. Diese Illusion, dass sie beide noch unbehelligt auf dem Petersthal-Hof leben würden und die Fremden mit den schwarzen Augen und roten Umhängen niemals den Weg nach Teichdorf eingeschlagen hätten. Und die Krähenfrau noch am Leben wäre.
»Bernina«, sagte er leise.
Sie lag auf dem großen Himmelbett, in dem sie die letzte Nacht verbracht hatte. Auf dem Bettrand, dicht bei ihr, saß Anselmo, seine Hand auf ihrer Stirn, in ihrem Haar. Den vom Kampf blutverdreckten Wams trug er nicht mehr.
Voller Erleichterung blickte sie zu ihm auf. »Mein Gott, dir ist nichts passiert. Ich hatte solche Angst um dich.«
»Und ich um dich.«
»Die Schlacht ist vorüber?«
»Ja, sie war es schon fast, als wir diesen Flur entlangliefen.«
»Sind wir Gefangene?«
Er lächelte. »Ganz und gar nicht. Die Wölfin hat die Rose bezwungen. Der Sieg war in großer Gefahr, aber letztendlich war unsere Übermacht doch ausschlaggebend. So geschickt unsere Gegner auch vorgingen – am Ende setzte sich die Gerechtigkeit durch.«
»Deine Mutter?«
»Sie ist wohlauf.« Anselmo richtete sich ein wenig auf. »Ganz im Gegensatz zu meinem Vetter: Pablo starb beim Sturm auf die Festung. Überhaupt haben nur wenige Angreifer überlebt – weniger als ein Dutzend.«
»Und dein Onkel?«, wollte Bernina sofort wissen, obwohl sich jemand anderes in ihre Gedanken drängte.
»Juan war immer schon ein Feigling. Er kämpfte natürlich nicht in vorderster Reihe und entkam mit ein paar Handlangern. Aber zu befürchten ist von ihm nichts mehr. Da bin ich mir sicher.« Er ergriff ihre Hand. »Nach deinem Duell auf dem Flur dauerte es nicht mehr lange, bis Ruhe einkehrte. Bernina, ich bin immer noch völlig sprachlos. Wo hast du nur so zu fechten gelernt?«
Bernina lächelte traurig. »Ich hatte einen guten Lehrer.« Sie sah an ihm vorbei auf den weißen Satinhimmel des Bettes. »Was passierte, als ich ohnmächtig wurde? Was wurde aus den beiden Männern auf dem Flur?«
»Das war merkwürdig«, antwortete er nachdenklich. »Dieser Feldwebel, den ich kurzzeitig außer Gefecht gesetzt hatte, tauchte auf und drängte seinen Hauptmann, uns als Geiseln zu nehmen. Es sah ja schon sehr schlecht für sie aus, viele Kämpfer hatten sie verloren, und das hätte ihnen gewiss noch einmal einen Vorteil verschafft. Der Hauptmann allerdings war dagegen. ›Wir sind keine Geiselnehmer‹, sagte er. ›Wir kämpfen bis zum Ende. Wir sind Soldaten.‹ Und dann ließen sie uns einfach auf dem Flur zurück. Mit dem Rest ihrer Truppe verschanzten sie sich in dem Salon, in dem wir gestern noch unsere Mahlzeit eingenommen hatten. Unser Offizier bot ihnen an, in Ehren die Waffen zu strecken.«
»Aber der Hauptmann ließ sich nicht darauf ein«, sagte Bernina leise. Sie erinnerte sich an den kurzen Moment, als sie Norby zum ersten Mal in Teichdorf gesehen hatte. Damals war Anselmo in ihrer Begleitung gewesen, doch ihm war der Schwede nicht aufgefallen, und auch danach waren sich die beiden Männer nie begegnet.
»Schließlich waren es seine eigenen Leute, die den Hauptmann überwältigten«, fuhr Anselmo fort. »Zu viert oder zu fünft drückten sie ihn zu Boden, damit ein anderer von ihnen ein weißes Tuch schwenken konnte. Das war das Ende. Dieser Feldwebel übrigens, für den kam die Kapitulation zu spät. Er war einer der letzten, der gefallen war.«
Bernina spürte einen Stich in ihrem Herzen. Feldwebel Meissner war ein guter Mann gewesen. Alles erschien ihr auf einmal so trostlos, überwältigend trostlos.
»Und jetzt?«, fragte sie nach einer Weile. »Wo sind die Gefangenen? Was geschieht mit ihnen?« Sie fühlte Anselmos Blick auf sich und erwiderte ihn noch immer nicht.
»Zuerst waren sie voller Zorn auf ihren Anführer, weil er sie beinahe in den Tod getrieben hätte, anstatt aufzugeben. Wir überlegten, ihn vom Rest zu trennen, doch schließlich beruhigten sie sich wieder. In dem Salon, wo alles endete, sind sie eingeschlossen. Sie werden gut bewacht.«
Die Tür sprang auf und Elena platzte herein, zuerst noch mit Sorgenfalten, dann mit erfreutem Ausdruck. »Wie schön, dass es dir wieder gut geht, Bernina.« Sie strahlte. »Ich lasse eine schmackhafte Stärkung zubereiten, und nachher werden wir alle das angenehmste Abendessen seit Langem genießen.«
»Ich will nicht unhöflich sein«, sagte Bernina, »aber …«
»Keine Sorge«, fiel Elena ihr ins Wort, »das bist du nicht. Ich verstehe, dass ihr erst einmal für euch sein möchtet.« Lächelnd verließ sie wieder den Raum.
»Anselmo, ich muss mit dir sprechen.«
Er nickte. »Ich spürte es die ganze Zeit schon.«
Langsam begann Bernina. Mit dem Tag, als Anselmo verschwand. Die Einzelheiten wühlten sich an die Oberfläche. Die Rücksichtslosigkeit der Männer mit der Rose. Die Niedertracht Egidius Blums. Entsetzen spiegelte sich auf Anselmos Gesicht wider. Unbändiger Zorn brachte seine Lippen zum Beben, als Bernina auf das Schicksal der Krähenfrau zu sprechen kam.
»Sie ist tot?« Fassungslosigkeit in seinen Worten.
»Ja, das ist sie. Aber so verrückt es klingt: Irgendwie ist sie auch noch bei mir. Manchmal spüre ich ganz stark ihre Anwesenheit.«
»All das tut mir so leid, Bernina.«
Sie sah ihm an, dass er es ernst meinte. Und dass das schlechte Gewissen, das er seit seinem Verschwinden aus Teichdorf mit sich trug, noch größer wurde.
»Mein Gott, wie sehr ich dich im Stich gelassen habe. Du hättest …« Er verstummte.
»Du konntest ja nicht wissen, wie sich die Dinge in Teichdorf entwickeln würden.«
»Wissen nicht. Aber ich ahnte es …« Anselmo senkte den Blick. »Das kann ich nie wieder gutmachen.« Er stand auf und starrte auf die Wand.
»Anselmo …«
»Das kann ich nie wieder gutmachen.«
»Anselmo …«
Kurz darauf ließ er Bernina allein, damit sie sich noch etwas erholen konnte. Gedankenschwer trat sie ans Fenster. Überall in der Festung herrschte bittere Umtriebigkeit. Verletzte wurden versorgt. Die Leichen waren wohl schon fortgeschafft worden. Doch trotz der Schrecken dieses Tages war auch ein Gefühl der Erleichterung spürbar. Bernina allerdings dachte an Nils Norby. Daran, dass sie Anselmo endlich von ihm erzählen musste. Daran, dass nicht nur ihr Mann von einem schlechten Gewissen belastet wurde.
Unbewusst kam ihr die Schönheit des Salons in den Sinn. Ausgerechnet dort befanden sich jetzt Norby und der kleine Rest der Armee der Unsichtbaren. Auf was für einen Wahnsinn sich diese Männer eingelassen hatten. Welch langer mühevoller Weg, nur um dasselbe vorzufinden wie in der Heimat – Gewalt und Blut, das Gefühl, zu den Verlierern des Lebens zu zählen. Welche Gedanken mochten dem Schweden durch den Kopf gehen? Er hatte Bernina zum Duell gefordert, halb im Scherz, halb in kaltem Ernst. Dann wiederum hatte er sie verschont, ebenso ihren Ehemann und die Besitzerin der Festung, jene Wölfin, die seine Feindin war. Dieser Mann … Dieser Mann und seine Absichten und Ziele. Wonach mochte er sich in Wirklichkeit sehnen? Er war so rätselhaft.
Auf den Innenhof tat sich etwas, und sofort riss sich Bernina aus ihren Grübeleien. Die Gefangenen. Einer nach dem anderen, die Hände auf den Rücken gefesselt, durch Ketten an den Fußgelenken jeweils mit dem Vorder- und Hintermann verbunden. Die roten Umhänge bestanden bloß noch aus Fetzen. Am Kopf der schweigenden Schlange: Norby. Aufmerksam beäugt von den nach wie vor schwer bewaffneten Soldaten der Wölfin marschierten sie Schritt für Schritt über den Platz hinweg auf das Tor zu. Auf dem Weg in dieses Land hatte Bernina jeden einzelnen von ihnen kennengelernt. Ehemalige Soldaten, Gescheiterte, Verlorene. Unsichtbare, wie Norby sie nannte. Wie gewissenlose Verbrecher allerdings waren sie Bernina niemals vorgekommen. Außer dem Rasseln der Ketten war nichts zu hören, eine geisterhafte Szenerie, von der untergehenden Sonne in düsteres Licht getaucht. Bernina verspürte unwillkürlich ein kaltes Erschauern.
Gleich darauf erschien der Offizier, der, wie Bernina inzwischen wusste, Padilla hieß. Ihm folgten Elena und Anselmo. Unter den Blicken der drei näherte sich die Schlange der Geschlagenen dem Tor, das sogleich geöffnet wurde. Die Kälte in Bernina wurde immer stärker, einnehmender. Was sie sah, löste qualvolle Erinnerungen aus. War das eine Prozession des Todes? Wie in Teichdorf, als die Scheiterhaufen brannten? Sie zögerte keinen Moment länger.
Die Flure des Gebäudes schienen kein Ende zu nehmen. Bernina hatte den Eindruck, nie in ihrem Leben so schnell gerannt zu sein. Ihre Schritte hallten laut und fremd in ihren Ohren nach, doch das Eingangsportal kam einfach nicht in Sicht. Sie schien jeden Herzschlag, jeden Atemzug viel deutlicher wahrzunehmen als jemals sonst. Endlich – sie war da. Der Platz empfing sie mit einer neuen Welle dieses eigenartigen, langsam sterbenden Lichts. Alle Augen richteten sich auf sie, der kurze Zug der gerade einmal zehn Aneinandergeketteten kam zum Stehen.
Erst als sie Anselmo, Elena und Padilla erreichte, hielt auch Bernina inne. »Bernina«, rief Anselmo erstaunt aus. »Was willst du denn hier?«
Um Atem ringend, sah sie ihn unverwandt an. »Was passiert mit diesen Männern?«
Elena meldete sich zu Wort: »Sie werden ihre gerechte Strafe erhalten.«
Bernina drehte sich zu ihr. »Gerechte Strafe? Wer kann schon sagen, was gerecht ist? Man kann doch nicht einfach den Befehl geben, sie töten zu lassen.« Sie spürte, dass die Gefangenen, dass alle sie beobachteten. Auch Nils Norby.
»Niemand erteilte einen solchen Befehl. Ich habe dir schon einmal gesagt, dass wir keine Mörder sind. Die Männer werden nach Valencia gebracht. Dort wird man sie der Staatsgewalt zuführen. Und dann steht ihnen gewiss eine lange Zeit im Kerker bevor. Oder der kurze Besuch beim Henker.«
»Das will ich nicht«, entfuhr es Bernina – und sie war selbst verwundert darüber.
»Wie bitte?« Elenas Augenbrauen hoben sich kurz.
»Das sind keine üblen Kerle«, entgegnete Bernina rasch. Ihr wurde bewusst, dass die Gefangenen in ihr mittlerweile den schweigsamen Soldaten Falk erkennen würden, aber das war ihr egal. »Das sind keine gemeinen Verbrecher. Was sie getan haben, war nicht richtig. Und tatsächlich, sie hätten dafür eine Strafe verdient. Aber ich kenne sie, und ich weiß, dass sie für niemanden in La visitación mehr eine Gefahr darstellen. Ich will, dass sie begnadigt werden.«
»Aber Bernina.« Anselmo betrachtete sie zweifelnd. »Wir können uns nicht das Recht herausnehmen …«
»Weshalb denn nicht?«, unterbrach sie ihn. »Ich bin überzeugt davon, Elena wird sich als würdige, ehrenvolle Siegerin erweisen. Die Staatsgewalt hatte mit dieser Auseinandersetzung nichts zu tun. Es liegt allein an Elena zu entscheiden, was mit diesen Männern geschehen soll.«
Während sich von Neuem Stille über den Festungshof senkte, spürte Bernina seinen Blick ganz stark auf sich, so wie damals in den Wäldern rund um Teichdorf, den Blick aus diesen grünen Augen.
*
Zerrissene Wolken musterten das Schwarz des Nachthimmels, der nur vereinzelten Sternen ein Funkeln erlaubte. Nicht mehr bedrohlich, eher beruhigend wirkte die Stille auf einmal, wie eine Einladung, durchzuatmen und an nichts Bedrückendes zu denken. Der Kampfeslärm, das Aufbrüllen der Gewalt, die Todesschreie schienen länger zurückzuliegen als lediglich ein paar Stunden. Bernina allerdings fiel es schwer, einfach nur durchzuatmen.
Es war kalt, die Luft endgültig erfüllt von herbstlicher Strenge. Der Sommer hatte sich so rasch davongeschlichen, dass er fast nur wie eine Einbildung nachwirkte. Bernina zog die gemusterte Decke, die sie zuvor im Gebäude ergriffen hatte, enger um ihre Schultern. Allein zu sein, keine Stimmen hören zu müssen, tat ihr gut. Sie hatte sich mit kaltem Fleisch und Obst stärken können, aber ihr Kopf fühlte sich seltsam müde an. Immer wieder kehrten ihre Gedanken zurück zu Nils Norby und seinem stark geschrumpften Gefolge. Ein merkwürdiges Bild, wie diese Männer ihre Freilassung hinnahmen, irgendwie emotionslos. Immer noch hintereinander, obwohl man ihnen Fesseln und Fußketten abgenommen hatte, durchschritten sie das Festungstor, wortlos. Nicht als wären sie gerade eben noch einmal davon gekommen. Eher als würde sie der Henker erwarten. So waren sie aus Berninas Blickfeld verschwunden, der Schwede vorneweg, der sich nun endgültig aus ihrem Leben entfernte – den sie wohl niemals wiedersehen würde. Und sie hatte sich in jenem Moment lieber nicht die Frage gestellt, was sie dabei empfand.
Licht aus einem Fenster des nahen Hauptgebäudes warf Berninas Schatten auf die Schutzmauer, und sie betrachtete ihr eigenes Abbild mit unschlüssigem Blick. Welcher Schritt wird dein nächster sein?, fragte sie die langgezogenen, unscharfen Umrisse. Welche Richtung wirst du jetzt einschlagen?
Worte, die sie an diesem Tag schon einmal zu glauben gehört hatte, kehrten zurück zu ihr. Gesprochen von einer Stimme, die ihr so vertraut war: Dein Weg ist erst dann zurückgelegt, wenn der Kreis sich schließt. Hier und jetzt, in der Einsamkeit dieser spanischen Herbstnacht, wusste sie, was damit gemeint war. Und sie erkannte, wie wahr dieser Satz war.
Als eine Hand unvermittelt ihre Schulter berührte, zuckte sie zusammen. Anselmo trat vor sie und gab ihr einen Kuss. »Verzeih mir, ich wollte dich nicht erschrecken.«
»Schon gut.« Bernina schmiegte sich in seinen Arm. »Deine Mutter hat vorhin sehr viel Großmut bewiesen.«
»Großmut ja. Köpfchen vielleicht nicht.«
»Es war richtig, diese Männer gehen zu lassen«, beharrte Bernina.
»Sprechen wir einfach nicht mehr von ihnen.« Er sah sie an. »Sprechen wir von dir.«
»Von mir?«
»Ich spüre doch, wie sehr dich deine eigenen Gedanken vor sich hertreiben.«
Bernina nickte kaum merklich. »Ja, ich muss mir endlich über vieles klar werden. Etwas ist mir erst heute bewusst geworden. Es war nicht allein die Suche nach dir, was mich in Bewegung hielt, nicht diese verzweifelte Ungewissheit, was dir zugestoßen sein mochte. Es war auch eine Flucht. Meine Flucht vor den Dingen, die mir zugestoßen waren. Vor dem Unglück, vor den Schrecken in der Heimat.« Behutsam löste sie sich von ihm. »Wir haben noch nicht darüber geredet, was nun geschehen soll. Ich weiß nicht, was du vorhast, Anselmo, aber ich – ich kann nicht hierbleiben. Ich weiß, dass ich zurück muss. So weit der Weg auch sein mag, so wenig ich dort auch eine Zukunft haben mag. Ich muss zurück.«
»Aber das ist mir doch klar«, beeilte er sich zu antworten. »Ich bin ja nicht aus freien Stücken hierher zurückgekommen.« Er breitete kurz die Arme aus. »Bernina, was für Gedanken du nur hast! Natürlich muss auch ich zurück. Denn auch meine Heimat ist der Petersthal-Hof. Falls du je daran Zweifel hattest …«
Sie hob die Schultern. »Ich war so durcheinander. Bin es noch.«
»Wenn wir wirklich zurückgehen, erwartet uns wahrscheinlich … Wenn du Gerechtigkeit willst …« Er brach ab. »Eines steht fest: Es wird verdammt schwer werden.«
»Und ob ich Gerechtigkeit will.« Ein verlorenes Lächeln huschte über Berninas Gesicht. »Leider habe ich nicht die geringste Ahnung, wie wir diese Gerechtigkeit erreichen könnten.«
»Wir sind nicht allein«, versuchte er ihr Mut zuzusprechen. »Denn das einzige Gute an der ganzen Sache ist ja, dass ich meine Mutter wiedergesehen habe. Wir sind beide sehr dankbar für diese Tage, so groß der Druck auch gewesen ist. Und eines ist gewiss: Du und ich, wir werden nicht allein zurückkehren. Mutter war von Anfang an klar, dass ich nicht in Spanien bleiben werde. Hier gelte ich nach wie vor als Mörder. Hier interessiert sich nach wie vor niemand für die Umstände der Tat. Sie weiß, dass ich wieder in mein neues Leben zurückkehren muss. Aber sie hat uns angeboten, für den Fall der Fälle einen Teil ihrer Soldaten zur Verfügung zu stellen. Was immer auf uns warten mag – ein paar schlagkräftige Männer wären uns eine große Unterstützung.«
»Nein«, wehrte Bernina sofort ab. »Das möchte ich nicht.«
»Aber weshalb denn nicht?«
Sie drehte sich um und blickte wieder auf ihren eigenen Schatten an der nackten Wand, zu dem sich nun Anselmos gesellt hatte. »Ich kann dir nicht einmal genau sagen, warum. Ach, Anselmo. Ich will einfach nicht mit einer kleinen Armeetruppe irgendwo einfallen, ich will keinen neuen Kleinkrieg. Das kann nicht der einzige Weg sein.«
Nach einer kurzen Stille meinte er schließlich: »Gut. Wenn es das ist, was du möchtest, dann ist es in Ordnung so.« Er trat noch näher zu ihr. »Wann willst du aufbrechen?«
»Sobald du bereit bist. Falls du mich wirklich begleiten möchtest – obwohl wir mit Sicherheit nichts Schönes vorfinden werden.«
»Natürlich will ich das. Wir gehören doch zusammen, Bernina.« Seine Hand umschloss ihre. »Gib mir noch ein oder zwei Tage, um ein wenig Zeit mit Mutter verbringen zu können.«
Aus dem Gebäude drang Musik zu ihnen – keine ausgelassenen, sondern schwermütige Klänge, mit denen die Soldaten ihre gefallenen Kameraden betrauerten. Unwillkürlich fiel Bernina der Geigenspieler in Teichdorf ein. »Du hast recht, Anselmo: Es wird verdammt schwer werden. Vor allem, wenn man bedenkt, auf wen wir in Teichdorf treffen könnten.«
Ihre Blicke trafen sich. »Ja, ich weiß, wen du meinst, Bernina.«
»Ich frage mich, ob wir es überhaupt dorthin schaffen.« Nachdenklich ließ sie ihren Blick durch die Nacht wandern. »Das Jahr ist schon weit vorangeschritten. Ein früher Wintereinbruch könnte alle unsere Absichten zunichte machen.«
»Da ist durchaus was dran. Aber Mutter und ich, wir haben auch dafür bereits Überlegungen angestellt.«
Bernina sah überrascht auf. »Und welche sind das?«
Er lächelte. »Lass dich überraschen.«
Nach drei Tagen auf der Festung der Wölfin rückte der Moment des Abschiednehmens heran. Drei Tage, in denen Bernina sich Ruhe gönnte, sich dazu zwang, nicht mehr ständig über die düstere Vergangenheit und die völlig offene Zukunft nachzusinnen. Tage mit gutem Essen und kurzen Spaziergängen mit Anselmo rund um das Mauerwerk, wobei sie die Blicke immer wieder aufmerksam in die Ferne schweifen ließen. Doch alles war ruhig, niemand ließ sich am Horizont sehen, ein harmloses Bild der Stille und des Friedens.
Ganz lange drückte Elena Bernina an sich. Und noch länger ihren Sohn. Tränen standen in ihren schönen Augen, doch wie immer gelang es ihr auch diesmal, Haltung zu bewahren. Natürlich war sie dagegen gewesen, Anselmo und Bernina ohne gebührenden Schutz die Heimreise antreten zu lassen, und sie bestand darauf, ihnen Padilla und weitere Männer an die Seite zu stellen. Letztlich jedoch hatten sich die beiden durchgesetzt. Von einem anderen Gedanken hatte sich Elena hingegen nicht abbringen lassen: Diesmal wurde der Seeweg gewählt. Längst war ein Kurier mit einem Schreiben unterwegs, durch das alle Vorbereitungen für eine Fahrt übers Meer getroffen wurden. Elena ließ alte Verbindungen spielen – so würden Anselmo und Bernina in Valencia von einem Schiff erwartet, das zwar schon seit Langem nicht mehr in See gestochen war, sich aber angeblich dennoch in so gutem Zustand befand, dass es die Überfahrt an die französische Küste meistern konnte. In Frankreich wären Anselmo und Bernina dann zwar auf sich allein gestellt – aber man war zu der Überzeugung gekommen, dass der Seeweg zunächst einmal viel Zeit und Mühen sparen würde.
Immer wieder schauten sie von ihren Pferderücken zurück zur Festung, wo Elena einsam und aufrecht vor dem Tor stand, um ihnen so lange wie möglich hinterherzuwinken. Anselmo hatte ihr versprechen müssen, sie eines nicht allzu fernen Tages wieder zu besuchen, doch beiden war klar, welch beeindruckende Entfernung sie voneinander trennte. Begleitet wurden sie von dreien jener Soldaten, die den Angriff der Alvarado-Rose erfolgreich niedergeschlagen hatten. »Wenigstens bis Valencia«, hatte Elena heftig hervorgebracht, »wenigstens bis ihr das Schiff besteigt, werdet ihr nicht schutzlos unterwegs sein. Und dieses Mal lasse ich mich gewiss nicht umstimmen.« Und dabei blieb es auch.
Weiterhin herrschte eine bissige Kälte, die durch einen beständig rauschenden Wind Nachschub erhielt. Doch davon abgesehen, ließ sich der erste Abschnitt ihres weiten Weges gut angehen. Sie legten immer wieder kurze Pausen ein, und Bernina gestand Anselmo, wie aufgeregt sie angesichts ihres ersten Schiffsabenteuers war. »Es wird dir bestimmt gefallen«, lachte er auf. »Und übrigens: Für mich ist es auch etwas ganz Neues. Bin schon gespannt, wie es sein wird.«
»Dann ist dir also auch nicht mehr unwohl bei dem Gedanken, dass die Angreifer begnadigt wurden.«
»Nein.« Er winkte ab. »Von ihnen haben wir wohl tatsächlich nichts mehr zu befürchten.«
Die Wälder wurden dichter, unwegsamer, und nun kamen sie nicht mehr ganz so schnell voran. Aber dadurch ließen sie sich nicht ihre Zuversicht rauben. »Wir haben diesen weiten Weg ja schon einmal bezwungen«, erklärte Bernina, »warum also nicht ein zweites Mal?«
»Da waren wir aber nicht zusammen unterwegs«, erwiderte Anselmo.
»Umso sicherer bin ich, dass es uns auch jetzt gelingt!«
Das Laub knisterte unter den Hufen der Pferde. Über den kahler werdenden Baumwipfeln riss das Grau des Himmels erstmals seit Tagen auf. Als sich der Wald lichtete, wurden sie von gleißendem Licht empfangen, das ein wenig der verlorenen Wärme zurückbrachte. Sie zügelten die Pferde, und Bernina betrachtete Anselmo, dessen schwarzes Haar die Sonnenstrahlen widerspiegelte. Sie lachten einander an, ein sorgloser Moment, der Bernina alle Mühsal vergessen ließ, der ihr einfach einen großen Schub Hoffnung gab.
Und genau in diesem Moment krachten die Schüsse. Berninas Pferd bäumte sich wild auf. Im Fallen nahm sie voller Entsetzen wahr, dass auch Anselmo aus dem Sattel gerissen wurde – und sein Schmerzensschrei drang ihr durch Mark und Bein. Der harte Aufprall dagegen wurde ihr kaum bewusst, auch nicht, wie sie in fieberhafter Eile wieder auf die Beine kam. Zwei ihrer Begleitsoldaten lagen regungslos auf der Erde, Blut auf ihren Lederwämsern. Ein Dritter focht verbissen gegen zwei plötzlich aufgetauchte Männer, deren rote Umhänge mit Staub und Schmutz bedeckt waren. Eine weitere Gestalt erschien, schlank, hoch gewachsen, erhaben ihr Schritt. Doch auch ihre dunkle elegante Kleidung war staubig. In der Hand der Degen: Juan Alvarado.
Bernina stürzte zu Anselmo, der auf dem Rücken im Laub lag, die Augen geschlossen. Blut. Anselmos Blut. Noch in der Bewegung musste sie mitansehen, wie der dritte Soldat einen Widersacher mit kaltblütigem Degenstich ausschaltete, bevor auch er tödlich getroffen zu Boden sank. Die Pistole, die Anselmo im Gürtel getragen hatte, war nicht zu sehen – anscheinend war sie beim Sturz verloren gegangen. Kniend blickte sie auf, die Schatten der zwei Männer fielen auf sie. »Ihr Sohn ist tot«, sagte Juan Alvarado. In Deutsch, sodass Bernina ihn verstehen musste. »Elena wird die nächste sein.«
Ohne ein Wort zu äußern, hielt Bernina seinem erbarmungslosen, von blinder Rachsucht durchdrungenen Blick stand.
Dann das knisternde Geräusch schwerer Schritte im Laub – erneut jemand, der scheinbar wie aus dem Nichts erschien. Jemand, der den Degen eines der toten Soldaten ergriff. Entschlossen, doch auch mit verblüffender Lässigkeit ging er geradewegs auf Alvarado und dessen Helfer zu.
»Sie?«, entfuhr es dem Spanier zischend. »Sie haben versagt! Jetzt brauche ich Ihre Unterstützung gewiss nicht mehr.«
Der andere Mann hob die Waffe und grinste schmal. »Ich bin nicht mehr hier, um Sie zu unterstützen.« Die langen blonden Haare wehten im leichten Wind. »Sondern um das zu tun, was ich schon früher hätte tun sollen – um Sie unschädlich zu machen, Señor Alvarado. In den letzten Tagen habe ich mich in Valencia umgehört – über Sie. So kurz die Zeit war, habe ich doch vieles über Sie erfahren. Es war ein Fehler, mit Ihnen gemeinsame Sache zu machen.«
»Wie Sie meinen, Norby. Bringen wir es also hinter uns.« Dann sagte Alvarado etwas auf Spanisch zu seinem Helfer – und sofort näherten sie sich beide dem Schweden. Jeder von einer Seite versuchten sie, ihn in die Zange zu nehmen.
Bernina erhob sich und rannte zu einem der anderen gefallenen Soldaten. Blitzschnell nahm sie seinen Degen an sich, ebenso rasch wandte sie sich den Kämpfern zu, um einzugreifen – doch das war nicht mehr nötig. Nils Norbys Klinge drang tief in den Brustkorb Juan Alvarados ein, der mit einem Röcheln in die Knie ging, den Blick verklärt. Tot fiel er nach vorn. Der zweite Spanier warf einen raschen Blick auf den Schweden – und der Kampfeswille erlosch mit einem Wimpernschlag.
»Hau ab«, war alles, was Norby sagte. Und wenn der Spanier auch nicht die Sprache verstand, so war ihm doch die Bedeutung der Worte klar. Er ließ den Degen fallen und lief in den Wald, wohl zurück zu seinem Pferd.
Bernina achtete schon nicht mehr auf den Mann. Auch sie warf den Degen ins Gras und stürzte wie zuvor zu Anselmo, der sich noch immer nicht geregt hatte. Jetzt erst fiel ihr der Stein auf, gegen den sein Kopf beim Sturz geprallt war. Eine Beule hatte sich unter seinem Haar gebildet. Noch mehr Blut war aus der Schusswunde ausgetreten. Sie musste sich endlich um ihn kümmern.
Doch ein Schatten, der so auf sie fiel wie vorhin der von Juan Alvarado, ließ sie aufblicken. Nils Norby betrachtete sie. In seinen Augen war ein Ausdruck, den sie nicht recht zu deuten wusste.
Ein Moment eindringlicher Stille.
»Ich war zufällig in der Nähe«, meinte er schließlich, ganz lapidar, mit seiner typischen Ironie, und ein Lächeln umspielte seine Mundwinkel.
Bernina sah ihn an. »Zum Glück warst du das.«
Und dann wandte sie sich rasch wieder Anselmo zu.
*
Etwas abseits der Stelle, an der vier Männer gestorben waren, beschattet von einer kleinen Baumgruppe, untersuchte Bernina Anselmo gründlicher. Norby hatte ihn dorthin getragen, während Bernina die Pferde an den Zügeln führte. Anselmos Ohnmacht war tatsächlich auf den Stein und den Aufprall zurückzuführen. Als er langsam daraus erwachte, dauerte es ein bisschen, bis er wusste, wo er war und was sich zugetragen hatte. Unterdessen war es Bernina gelungen, die Blutung der Schusswunde zu stoppen. Außerdem hatte sie mit Geschick einen Verband angelegt. Eine Kugel war vorn in Anselmos Oberschenkel eingedrungen und seitlich wieder ausgetreten. Der Knochen allerdings schien nicht in Mitleidenschaft gezogen worden zu sein – also eine Fleischwunde, zwar sehr schmerzhaft, aber wie Anselmo sofort nach seinem Erwachen klarstellte, würde er sich durch sie nicht beirren lassen. »Ich setze meinen Weg fort«, versicherte er Bernina.
»Bist du sicher? Es schadet nichts, noch etwas zu warten und dir somit Erholung zu verschaffen.«
Doch er wollte davon nichts wissen. Auch über den Tod seines Onkels äußerte er sich so gut wie gar nicht. »Er hat das Ende bekommen, das er verdiente.« Das waren die letzten Worte, mit denen Juan Alvarado noch bedacht wurde. Ja, es schien sogar, dass gerade dieser neuerliche Gewaltausbruch Anselmo nur umso mehr darin bestärkte, den Rückweg in die Heimat anzutreten. »Wir müssen etwas zu Ende bringen«, sagte Anselmo. »Und das können wir offenbar nur in Teichdorf.«
Dann allerdings erstarrte Anselmo. Erst jetzt hatte er den Schweden bemerkt, der sich während des Gesprächs im Hintergrund und bei den festgebundenen Pferden aufgehalten hatte. Nur mühsam vermochte Bernina Anselmos Zorn auf den Hauptmann zu besänftigen. Nicht einmal die Tatsache, dass sie es letzten Endes Norby zu verdanken hatten, überhaupt noch am Leben zu sein, vertrieb den Argwohn aus seinen Augen.
»Norby hat angeboten, uns zu begleiten und uns Schutz zu geben«, flüsterte Bernina Anselmo zu.
»Hast du etwa eingewilligt?«
»Ich weiß, dass du Schmerzen hast. Du wirst nicht einmal richtig auftreten oder reiten können. Anselmo, er hat mir schon einmal geholfen. Ohne ihn hätte ich Teichdorf niemals lebend verlassen können.«
»Wo sind die Männer, die mit ihm die Festung verließen?«
»Er erwähnte kurz, es hätte sie schnell in alle Winde zerstreut. Sie waren froh, mit dem Leben davongekommen zu sein.«
In Anselmos Augen blitzte es auf. Er erwiderte nichts darauf, sah nur an ihr vorbei auf den Schweden.
»Anselmo, wir sind völlig auf uns allein gestellt. Und du bist verwundet. Uns steht eine lange ungewisse Reise bevor.«
»Ich halte nicht viel von Verrätern und Überläufern.«
»Norby hat eingesehen, dass er sich für die falsche Seite entschieden hatte. Aber es war für ihn die Chance, seinem Leben eine neue Richtung zu geben.« Sie strich sich das Haar aus der Stirn. »Anselmo, er ist kein schlechter Mann, davon bin ich überzeugt.«
»Du scheinst sehr viel Verständnis für ihn zu haben.« Jetzt sah er sie doch an, und sie musste den Blick senken.
»Er hat mir das Leben gerettet. Sogar schon zum zweiten Mal.«
»Na gut, einverstanden.« Dumpf, wie er das aussprach. »Wenn du dich so sehr für ihn einsetzt …«
»Er hat sich vorhin sehr für uns eingesetzt.«
Darauf sagte er nichts mehr.
Wie sich rasch herausstellte, hatte Bernina recht gehabt. Die Verletzung behinderte Anselmo erheblich. Zwar gelang es ihm, mit Berninas Hilfe das Pferd zu besteigen, doch jeder Schritt, den das Tier zurücklegte, löste brennende Schmerzen in ihm aus. Sein Gesicht war verzerrt, sein Oberkörper war ununterbrochen angespannt.
Nils Norby wusste eine Lösung. Er ritt davon und kehrte kurz darauf mit einem einachsigen Wagen zurück, den er irgendwann in den letzten Tagen auf einem verlassenen Gehöft entdeckt hatte. Das Gefährt lag schief auf seiner Achse und war ziemlich verlottert, doch es ließ sich noch gebrauchen. Anselmo verweigerte sich der helfenden Hand des Schweden, aber gestützt von Bernina, schob er sich schließlich auf die von Heuresten bedeckte Ladefläche. Sein Pferd wurde davor gespannt, und Bernina führte es von ihrem Sattel aus an einem Lederriemen.
»Bevor wir den Hafen von Valencia erreichen, wird der Wagen sicher nicht auseinanderfallen«, ließ Norby sich vernehmen.
Anselmo maß ihn mit einem langen Blick. »Ich nehme an, Sie werden uns auch auf das Schiff begleiten wollen?« Zum ersten Mal hatte er das Wort an Norby gerichtet.
»Das werden wir sehen, wenn es soweit ist.«
Sie brachen auf, eine kleine merkwürdige Gruppe, vorneweg der große Mann, dann die Reiterin, dicht gefolgt von dem altersschwachen Vehikel mit dem Verletzten. Der Überfall ausgangs des Waldstückes hatte sie aufgehalten, aber sie nahmen sich vor, etwas von der verlorenen Zeit aufzuholen, indem sie auch die Nacht über ihren Weg weiterverfolgten. Anselmo war eingeschlafen, erschöpft vom Blutverlust und den dauernden Schmerzen, und Bernina und der Schwede vermieden zumeist Blickkontakt. Auch sprachen sie nur das Nötigste.
Als die Sonne am folgenden Tag ihren höchsten Punkt erklommen hatte, sah Bernina das Meer unwirklich in der wieder milden Herbstluft schimmern. Auch die Silhouetten dieses riesigen Bienenkorbs mit dem Namen Valencia waren aus der Ferne auszumachen. »Weißt du noch«, wandte sich der Schwede mit leiser Stimme an sie, »wie es war, als wir uns vor Kurzem zum ersten Mal der See und dieser Stadt näherten?«
»Ja«, erwiderte sie ebenso verhalten. »Vieles ist seitdem geschehen. Gutes wie Böses.«
Durch den Lärm der Straßen und Seitengassen erwachte Anselmo, der erschöpft vor sich hingedöst hatte. Als sie den Hafen erreichten, erkundigte er sich vom Wagen aus bei vorbeilaufenden Seeleuten nach dem Schiff, mit dem sie laut Elena auslaufen sollten. Es hieß Isabella, und in Bernina rief der Name selbst jetzt noch ein eigenartiges Gefühl hervor. Jener Moment im Wald von Teichdorf, als sie fassungslos auf das spanische Schreiben mit der schön geschwungenen Unterschrift geblickt hatte, war nach wie vor gegenwärtig. Und sie wiederholte in Gedanken dieselben Worte, die sie zuvor dem Schweden gegenüber geäußert hatte: Vieles ist seitdem geschehen.
Eine schlanke, kunstvoll geschnitzte Galionsfigur zog rasch ihre Blicke auf sich: Der Körper war einer Meerjungfrau nachempfunden, der Kopf allerdings gehörte einem Wolf. Die Segel waren nicht gesetzt, und die Masten mit ihren Gestängen, Verspannungen und Seilzügen wirkten kahl, wie abgenagte Fischgräten. Sie näherten sich der Galeone, die recht imposant wirkte – zumindest auf Bernina. Das Vorderschiff war eine Etage höher als das hintere, der mittlere Teil völlig ohne Aufbauten. Ein Kapitän namens Mendoza war von Elenas Kurier unterrichtet worden und erwartete sie bereits. Als Bernina den humpelnden Anselmo stützte und sie Arm in Arm über die Planken schritten, wurde ihr bewusst, dass schon wieder ein neuer Abschnitt begann. Hinter sich hörte sie die hart auftretenden Stiefelsohlen Nils Norbys. Sie roch das Salz, und mit Bangen fragte sie sich, ob sie es schaffen würde, irgendwann wieder in Frieden auf dem Petersthal-Hof leben zu können, so wie in den vergangenen Jahren. Das Schiff schwankte leicht im Wind, und mit ihrem ganzen Leben war es seit Langem ebenso – es war ins Schwanken geraten. Allerdings nicht nur leicht, sondern so stark, dass es ihr die Luft zum Atmen raubte, sie nicht mehr klar zu denken vermochte.
Bernina ließ ihren Blick über das Deck gleiten. Würde das Meer freundlich zu ihnen sein? Ein komisches Gefühl, keine Walderde oder Felsgestein unter den Füßen zu haben. Kapitän Mendoza, gehüllt in eine dunkelblaue Uniform mit roten Aufschlägen und Armstulpen, empfing sie so militärisch, wie sein Äußeres verhieß. Seine Mannschaft hingegen lief in unterschiedlichsten Jacken und Hosen umher.
Schon am selben Abend stach die Isabella in See. Bernina und Anselmo hatten eine Kajüte, eher einen winzigen Verschlag, für sich erhalten, in dessen finsterem Innenraum sie sich aneinanderschmiegten. Wo Norby untergekommen war, wusste Bernina noch nicht. Sie lauschte dem gleichmäßigen Atmen ihres Ehemannes und den fremden Geräuschen des Schiffes und des Meeres – den Rufen der Seeleute, dem Wind, der in die Segel klatschte, dem Wasser, das den Rumpf umrauschte.
Müdigkeit breitete sich in ihr aus, immer wieder fielen ihr die Augen zu. Das Schaukeln hatte etwas Sanftes, Einlullendes. Erst eine Stimme ließ Bernina wieder aufmerksam werden. Sie blinzelte in die Dunkelheit. Der Geruch der Planken kroch in ihre Nase. »Was hast du gesagt?«, fragte sie flüsternd.
»Ach, ich habe nur laut gedacht. Laut gegrübelt«, antwortete Anselmo ebenfalls leise.
»Worüber?«
»Über alles und nichts. Über das Leben und den Tod. Über den Irrsinn, dem man manchmal ausgeliefert ist.« Er rückte näher an sie heran. »Früher war die Welt für mich endlos, eine Weite ohne Grenzen. Dabei ist sie viel kleiner, als ich annahm. Sie ist nicht einmal groß genug, um seiner eigenen Herkunft, seiner eigenen Familie zu entkommen. Und den Taten, derer man sich vor langer Zeit schuldig gemacht hat. Alles holt einen irgendwann ein. Ganz egal, wie weit man davongelaufen ist.«
»Aber das bedeutet nicht, dass man nie wieder neue Chancen bekommt. Wir müssen eben einfach von vorn anfangen.«
»Möchtest du das?«
»Natürlich. Das, was uns zusteht, werden wir uns zurückholen. Jedenfalls werden wir alles daransetzen.«
Trotz der Dunkelheit spürte Bernina seinen Blick auf sich.
»Das meinte ich nicht«, sagte Anselmo leise. »Die Frage ist eher, ob du willst, dass ich bei diesem Vorhaben an deiner Seite bin.«
»Wie kannst du nur daran zweifeln?«
»Es gibt nichts, das du mir erzählen willst?«
»Nein«, sagte sie nur, und sie merkte, wie sich ihre Lippen sofort schlossen.
»Gut.« Anselmo holte tief Luft. »Wenn deine Enttäuschung über mich immer noch so groß …« Dann verklangen seine Worte einfach. Erneut ein Luftholen. »Ich glaube, ich weiß gar nicht, was ich eigentlich sagen will.«
»Anselmo, wir sollten versuchen zu schlafen. Wir haben so einiges durchgemacht. Und die Zukunft wird gewiss ebenso beschwerlich.«
»Wie du meinst«, erwiderte er mit müder Stimme.
Warum kannst du es ihm nicht einfach sagen?, fragte sich Bernina. Du bist feige. Zum ersten Mal im Leben bist du feige. Ganz kurz nur tauchte Nils Norbys Gesicht vor ihr auf, bloß um gleich wieder von Schwärze überdeckt zu werden. Die Finsternis wurde tiefer, die Geräusche an Deck lösten sich auf. Erleichtert fühlte Bernina, wie der Schlaf sie nach und nach überwältigte, wie ihre Gedanken zur Ruhe kamen.
Im Nachhinein hätte sie kaum sagen können, wie die Tage auf See an ihr vorübergezogen waren. Zwar war es zumeist kalt auf der Galeone, aber immerhin suchte sie kein Sturm heim, Meile um Meile trieb sie der Wind vor sich her, hinweg über den grün flirrenden Teppich, der über den Horizont hinauszureichen schien. Anselmo ging es schlechter, seine Stirn war heiß, und Bernina befürchtete bereits, die Wunde hätte sich trotz mehrfachen Reinigens entzündet. Doch das Fieber hielt sich glücklicherweise nicht allzu lange, wenn es ihn auch zusätzlich schwächte, sodass er die enge Schlafstelle so gut wie nie verließ. Bernina blieb ebenfalls beinahe die gesamte Zeit über in der kleinen Kajüte, um ihm Gesellschaft zu leisten. Oder der Gegenwart eines anderen Mannes auszuweichen, da war sie sich nicht so ganz sicher.
Gelegentlich, an ruhigen Nachmittagen, wenn der Wind abnahm, oder kurz bevor die Nacht den Himmel schwärzte, suchte sie sich eine unauffällige Stelle am Rand der Reling, wo sie allein sein konnte und das Salz in der kristallenen Luft auf den Lippen schmecken konnte. Diese Fahrt hatte etwas sonderbar Unwirkliches. Als wäre sie der Welt für eine Weile entschlüpft. Etwas, das ihr das Gefühl vermittelte, endlich einmal ausruhen zu können. Nicht nur ihr Körper, vor allem ihr Geist wirkte zuweilen bleischwer angesichts der hinter ihr liegenden Entbehrungen.
Ein einziges Mal nur wurde sie in diesen Augenblicken schwereloser Einsamkeit gestört. Eine Stimme umschwirrte sie wie aus dem Nichts, die Stimme des Schweden – so urplötzlich wie er selbst auf dem Weg nach Valencia in einem dramatischen Moment aufgetaucht war, als hätte ihn der Erdboden ausgespuckt. »Hatte ich nicht recht?«, fragte er. »Das Meer ist etwas Besonderes. Es lässt einen einfach nicht los, nicht wahr?«
Bernina drehte sich zu ihm um. »Ja, du hattest recht.« Gleich wich sie seinem Blick aus, ihre Augen suchten rasch wieder die Weite der im Abendlicht funkelnden Wasseroberfläche.
»Fast könnte man meinen, das Schicksal hätte uns beide irgendwie aneinandergekettet. Findest du nicht, Bernina?«
»Ich bin sehr vorsichtig, wenn es um das Schicksal geht«, erwiderte sie verhalten. »Falls es wirklich eines gibt, dann sollte man ihm nicht unbedingt trauen.«
Norby lachte leise. »Immerhin scheinst du Gutes in mir hervorzuholen, von dem ich nicht wusste, dass ich es noch habe. Wegen dir habe ich nie wieder die Henkerkapuze übergestreift. Wegen dir habe ich letzten Endes in Spanien die Seiten gewechselt. Übrigens zum ersten Mal in meinem Leben. Beinahe wie ein lausiger Verräter. Aber so fühle ich mich nicht. Im Gegenteil, es war richtig, was ich tat – und gerade noch rechtzeitig.«
»Zum ersten Mal?«, wiederholte sie leise – obgleich sie eigentlich gar nichts hatte sagen wollen.
»Ja, natürlich. Wie ist die Frage gemeint?«
»Ach …« Sie winkte ab. »Ich weiß auch nicht, das war nur so dahergesagt.«
»Mhm. Mir ist aufgefallen, dass du niemals nur so etwas dahersagst.« Sein Blick ruhte aufmerksam auf ihr. »Also – was beschäftigt dich? Hast du irgendetwas über mich erfahren, das nicht sehr eindrucksvoll klang? In der Festung vielleicht?«
»Nein, sondern lange bevor ich dort ankam. Feldwebel Meissner sprach über dich. Du hast ihm imponiert, so wie all den anderen Männern. Aber eine Geschichte aus deiner Vergangenheit, die schien nicht recht zu dir zu passen.«
Norby stieß einen knappen Laut aus, den sie nicht zu verstehen oder durchschauen vermochte. »Eine Geschichte, die mit dem Tod meines Königs zusammenhing, wie ich vermute. Gustav Adolfs Tod stellte auch für mich ein Ende dar. Aber nicht mit dem Hintergrund, den du möglicherweise gehört hast.« Er ließ ein paar Sekunden verstreichen, ehe er fortfuhr: »Vorhin benutzte ich die Worte ›lausiger Verräter‹. Du kannst mir eines glauben, Bernina, ein Verräter war ich nie.«
»Was passierte damals, als Gustav Adolf starb? Wie kam es, dass du danach …«
»… in der Versenkung verschwandest?«, setzte er ihren Satz fort.
»Es tut mir leid«, sagte sie rasch. »Das geht mich nichts an. Es war nicht richtig von mir, so unverblümt nachzufragen.«
»Eines Tages werde ich es dir erzählen. Eines Tages. Dir, als erstem Menschen überhaupt. Weißt du, wann das sein wird?«
Sie warf ihm nur einen ganz kurzen Blick zu und erwiderte nichts darauf.
»Wenn ich dich endlich für mich gewonnen habe, Bernina.« Offen und unverblümt flogen die Worte ihr zu. »Dann kannst du alles über mich erfahren.«
»Dieser Tag wird niemals kommen.«
»Aber du kannst mir nicht verbieten, weiter um dich zu kämpfen.«
»Es war ein Fehler, dass wir zu dritt …«
»Mit mir sind eure Chancen besser, falls sich Gefahren ergeben«, fiel er ihr erneut ins Wort. »Und je näher ihr dem Schwarzwald und Teichdorf kommt, desto sicherer sind Gefahren. Ihr geht dorthin, wo dir viel Leid angetan wurde – und seid auf euch allein gestellt. Ich werde es sein, der euch in die Heimat bringt. Als Dank dafür, dass du mir immer wieder die Augen geöffnet hast. Nicht nur mit deinem Augentrostkraut. Deine Medizin ist stets eine gute Wahl, das sagt mir mein Herz.«
Erneut zog sie es vor, ihm keine Antwort zu geben. Während sie weiterhin die Wellen betrachtete, die am Rumpf der Galeone brachen, lauschte sie den Schritten, mit denen sich Nils Norby schließlich entfernte.
*
Als das Schiff vor Anker ging, vom Wind hin und her geworfen, spürten sie, dass die zuletzt über Spanien hinwegziehende Kühle nur ein schwacher Vorgeschmack war. Das Festland empfing sie mit einem Wolkenbruch, der ihnen eisigen Schneeregen entgegenschleuderte. Im Hafen einer kleinen französischen Stadt verabschiedeten sie sich von Kapitän Mendoza, der mit militärischem Gruß vor Nils Norby die Hacken zusammenschlug. Ein letzter Blick zurück galt der Isabella, die auf dem wild gewordenen Wasser regelrecht zu hüpfen schien.
Auch beim Verlassen des Schiffes musste Anselmo gestützt werden. So gut sich auf der Isabella die Heilung seiner Verletzung entwickelt hatte – jetzt machten sich plötzlich Anzeichen einer neuen Entzündung bemerkbar. Während sich Anselmo und Bernina im engen Mietzimmer eines dunklen, muffigen Gasthauses fürs Erste einzurichten versuchten, machte sich der Schwede auf ins Zentrum des kleinen Ortes, um die Vorbereitungen für ihre Weiterreise in die Wege zu leiten. Mit einem Lederbeutel voller Münzen, die ihnen von Elena aufgedrängt worden waren, kümmerte er sich darum, neue Pferde, einen Planwagen und wärmende Kleidung zu beschaffen. Außerdem legte er sich neue Waffen zu, denn er trug nach wie vor nichts bei sich als den Degen, den er einem der Toten abgenommen hatte.
»Du siehst, dass Norby uns auf verschiedene Weise helfen kann«, sagte Bernina unterdessen zu Anselmo. »Ich finde es gut, dass wir ihn haben. Vor allem, wenn man bedenkt, dass es dir nicht gut geht.«
»Mir geht es bestens«, entgegnete er.
Sie sah, dass das nicht zutraf. Von Neuem kam das Fieber, er wirkte schwach. Bernina brach auf in die umliegenden, von Kälte und Wind kahl gewordenen Wälder. Doch ihre Suche nach Heilkräutern war nicht sonderlich erfolgreich. Zwar versuchte sie ihn mit dem wenigen, auf das sie stieß, so zu behandeln, wie es ihre Mutter ihr einst beigebracht hatte, das Brennen in Anselmos Stirn allerdings ließ sich kaum mildern.
Ungeachtet seines Zustandes setzten sie ihren Weg fort. Anselmo, in Decken eingewickelt, unter der Plane des Wagens, Bernina auf dem Bock und Norby als Führer auf einem Hengst, der nicht halb so eindrucksvoll war wie jener, auf dem er vor langer Zeit urplötzlich ins Lager der Armee der Unsichtbaren geritten war. Diesmal würden sie sich an den Gebirgen und deren unvorhersehbaren Gefahren vorbeischleichen. Norby hatte sich offenbar schon während der Schiffsfahrt, anhand einiger Landkarten Kapitän Mendozas, über sinnvolle Strecken Gedanken gemacht. Zielstrebig ließ er sein Pferd vorantraben, den Blick nach Norden gerichtet, dorthin, wo irgendwo das Ende Frankreichs und der Beginn des Schwarzwaldes lagen.
Sie folgten nicht den großen Routen und Straßen, sondern vertrauten sich abgelegenen Tälern und Wäldern an. Norby verschwand in regelmäßigen Abständen für kurze Zeit, um mit toten Wildhasen und einmal sogar einem erlegten Reh zurückzukehren, deren Fleisch sie am Spieß braten oder trocknen und als Vorrat anlegen konnten für die Zeit, in der sich nichts mehr aufspüren lassen würde. Wenn sie sich in der Abenddämmerung zu dritt um ein stets klein gehaltenes Lagerfeuer kauerten, hätte man in ihnen eine gewöhnliche Reisegruppe sehen können – und nicht drei Menschen, die von einem Ziel angezogen wurden, das sie mit Ungewissheit und düsterer Bedrohung erwartete. Leise unterhielten sie sich, während die Flammen winzige Funken in die frostige Luft schossen und der Duft von Bratenfleisch sie umwehte. Anselmo und Norby begegneten sich weiterhin mit Zurückhaltung und wählten äußerst knappe Worte füreinander, während Bernina sich um Anselmo mit viel Zuneigung kümmerte und Norby mit bewusster Nüchternheit ansprach. Nein, eine gewöhnliche Reisegruppe waren sie ohne Zweifel nicht. Aber auf eigenartige Weise schien das Leben sie zumindest für diesen Abschnitt einander zugeführt zu haben.
Je weiter sie nach Norden vordrangen, desto mehr nahm die Kälte zu. Neuerlicher Schneeregen zwang nicht mehr nur Bernina und Anselmo, sondern auch den Schweden über Nacht in den Planwagen. Norby lehnte das zunächst noch rundweg ab, doch das Wetter ließ ihm letztlich keine andere Wahl, wenn er sich nicht Erfrierungen zuziehen wollte. Seltsam diese Atmosphäre im Wagen. Das Paar in einer Ecke, der große Mann mit den blonden Haaren in der gegenüberliegenden. Während Anselmo zumeist sofort in den Schlaf sank, noch immer geplagt von Fieber und Schüttelfrost, lag Bernina lange wach. Sie lauschte der Stille und rätselte, ob Norby ebenfalls mit offenen Augen die Dunkelheit anstarrte. In Gedanken sah sie zuweilen ein bestimmtes Bild des Schweden vor sich: er auf dem Schiffsdeck, das Gesicht mit innerer Ruhe dem Wind zugewandt, unmerklich lächelnd, die Augen geschlossen. Er hatte die Tage auf See ausgekostet. Und wohl auch die damit verbundenen Erinnerungen an frühere, für immer verlorene Zeiten.
Doch natürlich war es nicht allein Nils Norby oder die Sorge um Anselmo, was Bernina den Schlaf raubte, sondern auch das, was vor ihr liegen mochte. Was würde sie in der Heimat vorfinden? Die gleichen Schrecken wie damals, als sie dazu gezwungen war, die Flucht zu ergreifen? Was mochte sich in der Zwischenzeit ereignet haben? Egidius Blum. Der Geigenspieler. Das Gefolge mit den roten Umhängen. In Spanien war die goldene Rose von Alvarado besiegt worden. Das galt nicht jedoch für die Männer, die Teichdorf mit Angst und Gewalt überflutet hatten. Die Rose von Alvarado lebte noch. Jedenfalls gab es nichts, was gegen diese Möglichkeit sprach. Bernina hörte, wie stürmische Böen an der Wagenplane rissen, und irgendwo im schwarzen Nichts um sie herum sah sie die Feuer auf dem Weidenberg. Sie vernahm jedoch auch etwas anderes. Eine ferne und zugleich nahe Stimme, die ihr flüsternd einschärfte: Dein Weg ist erst dann zurückgelegt, wenn der Kreis sich schließt.
Bernina verspürte ein unerschütterliches Vertrauen in diese Stimme. Ja, sie wollte den Weg zurück ins Dunkel beschreiten und den Kreis schließen. Zumindest versuchen würde sie es. Was auch immer das für Konsequenzen haben mochte.
Eine Nacht verbrachten sie in einer einsamen, offenbar seit Langem nicht mehr genutzten Scheune mit undichtem Dach, und bald darauf kampierten sie im Gasthaus eines kleinen Dorfes, die trockene Wärme des Gemäuers und die von geübter Hand zubereitete Abendmahlzeit genießend. Auch Anselmo saß an dem Tisch des Schankraums, noch immer geschwächt, mit nassen, wirr in der Stirn klebenden Haarsträhnen, aber seine spanische Zunge machte sich bezahlt. Denn der Zufall schickte zwei Händler aus Sevilla in entgegengesetzte Richtung durch diese Siedlung, und dank dieser beiden Männern erfuhren er und die anderen, dass der Krieg während ihrer Abwesenheit weiter sein Unwesen getrieben hatte. Schon die erste Neuigkeit, die sie zu berichten wussten, hatte etwas Gewichtiges. Der große, längst legendär gewordene Arnim von der Tauber war tot. Gefallen in der Schlacht, wie es bei einer der wichtigsten Figuren dieses ewigen Krieges wohl vorhersehbar gewesen war. Seine Truppen waren vom kaiserlichen General Benedikt von Kort aufgerieben worden. Sein Verbündeter jedoch, der gefürchtete französische Anführer d’Orville, war dem mächtigen Arm Benedikt von Korths gerade noch entkommen. Und das, obwohl d’Orvilles Armee im Elsass beinahe zerschlagen worden wäre. Korth hatte sich nach seinem Erfolg, in offenbar allzu sicherem Gefühl des Sieges, wieder über den Rhein ins Reich zurückgezogen. D’Orville allerdings war es gelungen, neue Söldner um sich zu scharen. Er hatte seinerseits den großen Fluss überquert, um abermals ins Reich einzufallen und ebenso unerwartet und kalt zuzuschlagen wie bei seinem ersten Angriff. Neuerliche Kämpfe und Gemetzel waren die Folge, und weitere standen bevor. Besonders die ohnehin schon blutenden Gegenden Badens waren betroffen. Und der Bevölkerung blieb nicht viel mehr übrig, als auf den letzten Verbündeten zu hoffen, den sie noch hatte: den Winter. Aber selbst wenn Schnee, Eis und schneidende Kälte das Blutvergießen aufhalten würden, wäre es doch bloß für eine Weile. D’Orville, ausgestattet mit neuen Kämpfern, Waffen und Ausrüstung, wollte Rache für seine schmähliche Vertreibung aus den Kampfgebieten des Reichs. Er und Korth würden es noch einmal ausfechten müssen. Zum letzten Mal. Danach würde es nur noch einen von ihnen geben, da waren sich die beiden Spanier einig. Die entsetzten Mienen der freundlichen Händler offenbarten etwas von dem Grauen, das sie in den zurückliegenden Wochen und Monaten mitangesehen hatten.
Für Bernina, Anselmo und den Schweden bedeuteten diese Nachrichten nichts anderes, als dass sie sich wiederum mitten hinein in einen großen Kessel aus Tod und Verwüstung begaben. Aber keiner von ihnen äußerte den Gedanken, ob es ratsamer wäre, erst einmal abzuwarten. Unverdrossen setzten sie am folgenden Morgen ihren nordwärts gerichteten Weg fort.
Zwei Tage vergingen, zwei Nächte, und dann war es ein weiterer Aufruhr des Wetters, der sie stoppte. Regen und Schnee peitschten auf sie ein, das Rauschen des Windes wurde mit jedem Wimpernschlag gewaltiger. Ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt brach die Hinterachse des Wagens. Doch glücklicherweise war ein anderes jener vielen, weit von den Hauptrouten gelegenen Dörfern in der Nähe. Die Einheimischen sprachen einen wilden Dialekt, aber erwiesen sich als überaus freundlich. Mit Gesten und gutem Willen verständigte man sich, und Bernina, Anselmo und Norby wurde eine Hütte angeboten, die von Wanderarbeitern genutzt wurde, zurzeit allerdings leerstand. Außerdem bestand die Möglichkeit, das Gefährt von einem Wagenmacher reparieren zu lassen. Vorerst jedoch regierte allein der Sturm, der den Himmel zerriss und immer neue bissige Windböen über das Land wehen ließ. Die ganze Nacht lang tobte das Unwetter, auch den folgenden Tag über. Sie versuchten, in der notdürftigen Behausung zurechtzukommen und warteten darauf, dass sich das Wetter beruhigen würde.
Das geschah erst im Laufe des zweiten Morgens. Stille kehrte ein, zwar noch kalt und durchweicht die Erde, doch milder die Luft, und sogar die Sonne ließ sich sehen. Bernina war froh, der Enge der Hütte endlich wieder entkommen zu können. Sie durchstreifte den Wald, der gleich am Dorfrand einsetzte, alles in allem eine dunkle, einsame Gegend, die in kahler Kargheit der frostigen Jahreszeit entgegensah. Noch kräftiger die Sonnenstrahlen, sogar noch etwas mehr Wärme, die sich um Berninas Gestalt schmiegte. Auf ihrem unbestimmten Weg beschrieb sie einen Bogen, der sie bald zurück zur Hütte führen würde. Ihre Gedanken waren bei Anselmo. Nässe, Kälte und die Unbequemlichkeiten der Reise, all das sorgte dafür, dass er sich kaum zu erholen vermochte. Seine Schussverletzung sperrte sich gegen die Heilung, egal mit welchen mühsam am Wegesrand aufgespürten Kräutern Bernina auch versuchte, ihm Hilfe zu leisten und Erleichterung zu verschaffen.
Tatsächlich, es war wärmer geworden. Ein letzter Rest Behaglichkeit waberte in der Luft, bevor das Eis kommen würde. An einem kleinen Weiher wagte es Bernina sogar, sich mit dem Wasser zu erfrischen. So kalt das Nass auch war, es tat ihr gut, es ließ sie ihre Lebendigkeit fühlen. Sie streifte sich den wärmenden Umhang ab, auch ein wenig das Gewand darunter, sodass ihre Schultern und der Ansatz ihrer Brüste freilagen. Ja, das Wasser hatte etwas Kraftvolles, Belebendes.
Und plötzlich ein seltsames Gefühl – als würde sie aus dem Verborgenen beobachtet. Sie bedeckte sich rasch wieder ordentlich und ließ den Blick zwischen den Bäumen umherschweifen, die wie tot dastanden und sie einkreisten. Nein, da war niemand. Dafür wurde Bernina von einer Erinnerung überrascht – an jenen Tag, als sie nackt aus dem Wasser gewatet war, auf ihrer Flucht aus Teichdorf. Kaltes Wasser an einem kalten Tag auf ihrer Haut, auch damals, und die bange und zugleich kribbelnde Erwartung, Nils Norbys Blicken zu begegnen.
Diese Blicke, die dann allerdings nicht auf sie trafen. Was hast du an jenem Abend gedacht?, fragte Bernina sich jetzt. Warst du damals erleichtert, dass er sich zurückgezogen hatte? Oder etwa enttäuscht? Eine weitere Erinnerung an den Schweden kam, ganz unwillkürlich, ohne dass Bernina sie hätte aufzuhalten vermocht – an einen anderen Tag, an eine verwirrende Stunde im Niemandsland von Spanien.
Sie riss sich los von diesen Gedanken, diesen Bildern, und ging los, weg von dem Weiher, zurück zur Hütte. Der Boden war noch immer nass. Durchspülte Erde, Steine, Wurzelstränge, und auf einmal ein Schlupfloch, das Berninas Fuß packte und sie umknicken ließ. Schmerz durchfuhr sie, und sofort versuchte sie sich wieder zu ihrer vollen Größe aufzurichten. In ihrem Knöchel war ein dumpfes Pochen. Plötzlich die Hand, die ihren Oberarm ergriff, kräftig, doch nicht gefühllos half sie ihr nach oben. Bernina erschrak, und als sie aufsah, blickte sie in die grünen Augen.
»Alles wieder in Ordnung?«
»Ja, ja«, beeilte Bernina sich zu sagen, und die Befangenheit in ihrer Stimme fiel gewiss nicht nur ihr auf.
»Sicher?«
»Aber gewiss.« Sie löste sich aus seinem Griff. »Ich bin bloß umgeknickt. Wirklich: Es ist nichts passiert.«
Erneut trafen sich ihre Blicke. Seine Augen waren ihr so nah wie schon lange nicht mehr, wie seit jener Stunde an dem Teich, als sie sich auf dem Weg nach Valencia befanden.
Ein Rascheln irgendwo in den vertrockneten Büschen ließ ihre Köpfe herumwirbeln.
Anselmo. Nur ein paar Meter entfernt. Gestützt auf einen Stock, an dem er noch im Planwagen herumgeschnitzt hatte.
Sein Blick lag auf Norby, allein auf ihm.
Schlagartig erkannte Bernina, dass dieser Moment unausweichlich gewesen war. Es war töricht gewesen, sich nicht früher darauf einzustellen und ihn zu verhindern. Sie war töricht gewesen.
Der Stock entglitt der Hand. Langsam schritt Anselmo auf den Schweden zu, mit einem Funkeln in den Augen, getrieben von Wut, grenzenloser Wut, die seine Schwäche überdeckte und seinen Gang geschmeidiger werden ließ. Das Humpeln war kaum noch bemerkbar, er bestand aus nichts anderem als aus Zorn.
Die Bewegung seines rechten Arms, blitzschnell, der kurze trockene Laut, als die Faust das Kinn des anderen traf.
Nils Norby ging zu Boden.
Anselmo ragte über ihm auf, das Gesicht noch immer von Zorn erfüllt.
Eine Stille, die man ertasten konnte.
Bernina war wie erstarrt.
So etwas hatte sie kommen sehen, die ganze Zeit über, und sie wusste, dass es ihre Schuld war. Sie hätten nicht zu dritt reisen dürfen, Bernina hätte es verhindern müssen. Stattdessen hatte sie es auch noch in die Wege geleitet, entgegen aller Bedenken Anselmos. Der Frieden, der die Reise begleitet hatte, war ein trügerischer gewesen. Wie hatte sie nur annehmen können, dass alles gutgehen würde? Ja, so töricht.
Anselmo verharrte nach wie vor an Ort und Stelle, während der Schwede nun ohne Hast auf die Beine kam, mit dieser aufreizenden Art, sich zu bewegen, die Bernina an ihm kannte. Gleichmütig sein Blick, als hätte es den Gewaltausbruch gar nicht gegeben.
Was würde er tun?
Ein Lächeln umspielte seinen Mund, aus dem kein Ton drang.
Dafür war es Anselmo, der sprach: »Ich will, dass du verschwindest, Norby.«
Der Blick des Schweden fiel auf Bernina. »Willst du das auch?«
Ihre Lippen klebten aufeinander. Gerade eben hatte die Überraschung sie noch vollkommen im Griff gehabt, nun fühlte sie eine klamme Verzweiflung in sich, eine Unsicherheit, die ihr fremd war, die sie verwirrte.
»Ich will, dass du verschwindest«, wiederholte Anselmo.
Erneut diese Stille, die man mit den Händen packen konnte.
Dann ein ganz leichtes Nicken Norbys. »Wenn Bernina möchte, dass ich euch verlasse, dann bin ich weg.«
Sie wich seinem Blick aus und starrte auf die Hütte, auf die tristen Häuser des Dorfes. »Es ist besser so.« Leise sagte sie es, aber sie bemerkte, wie Anselmo bei diesen Worten aufatmete.
»Gut«, erwiderte Norby nach einer kurzen Pause.
Sie fühlte, wie er sie taxierte.
»Ich werde gehen«, fuhr er fort. »Aber du kannst mir nicht verbieten, weiter um dich zu kämpfen.«
»Doch, das kann ich«, antwortete sie so schnell, dass es sie fast selbst überraschte. »Weil es sinnlos wäre.«
»Mit sinnlosen Unterfangen kenne ich mich aus.« Er lachte leise. »Vielleicht endet eines davon ja mal glücklich für mich.«
Er drehte sich um. Bernina sah es nicht, sie hörte lediglich seine Schritte.
Nur kurz darauf, Bernina und Anselmo standen noch immer an derselben Stelle, ritt der Schwede davon, aufrecht wie immer im Sattel sitzend, den Hut tief ins Gesicht gezogen. Er blickte nicht mehr zu ihnen.
Wieder einmal verschwand er aus Berninas Leben. Erleichterung verspürte sie, aber doch auch etwas anderes, etwas, das für sie irgendwie nicht zu fassen war, worüber sie nicht weiter nachzudenken wagte.
Die Hufschläge des Hengstes waren gerade erst verklungen, als Anselmo erneut aufatmete – diesmal hörbar, ganz offen. »Einen Moment lang«, meinte er mit ruhiger Stimme, »zweifelte ich schon, ob deine Antwort nicht anders ausfallen würde.«
Bernina sah ihn an. »Ich muss mit dir sprechen.« Sie lächelte, aber mit einem traurigen Ausdruck. Während sie auf die Hütte zugingen, begann sie zu erzählen. Von einem namenlosen Teich irgendwo inmitten einer namenlosen spanischen Einöde, von sich, von Nils Norby, doch sie kam nicht weit. Noch vor der Hüttentür unterbrach Anselmo sie, indem er ihr den Arm auf die Schultern legte, sanft, zugleich auch bestimmend. Sie blieben stehen. Seine Fingerspitzen fuhren ganz leicht über ihre Lippen. »Nein«, sagte er. »Du musst dich nicht gezwungen sehen, mir etwas zu berichten. Oder gar zu beichten. Es ist besser, wenn ich nicht alles weiß. Sieh mal, Bernina, ich habe mich ja selbst nicht richtig verhalten. Nicht nur, dass ich damals, ohne ein offenes Wort für dich zu haben, mit Pablo nach Karlsruhe aufbrach.« Er nickte. »Ja, ich sage ›nicht nur‹. Denn ich war in jenen Tagen nicht ehrlich zu dir.«
Bernina betrachtete ihn, wartete ab.
»Du hattest damals nicht unrecht mit deinen Vermutungen, ich gebe es zu. Zum ersten Mal fühlte ich mich auf dem Petersthal-Hof nicht mehr so glücklich. Gedanken spukten in meinem Kopf herum, Erinnerungen an die Zeit, in der wir Gaukler waren. Die Freiheit, der Sonne entgegen zu fahren. Die Worte, die du gebraucht hast, Bernina, trafen in Wirklichkeit ziemlich genau das, was ich damals dachte.« Er beobachtete, wie sie reagierte. Als sie weiterhin schwieg, fuhr er fort. »Dann auch noch die Geschichte mit Pablo. Zu einem anderen Zeitpunkt hätte ich womöglich nicht so gehandelt, wie ich es tat. Aber … Aber jetzt ist mein dummer Schädel wieder klar.«
»Es ist gut, Anselmo«, ließ sie nun doch ihre Stimme ertönen, ruhig, in ihren Augen ein Glanz. »Das ist doch nur normal. Wichtig ist, dass wir wieder lernen, gleich miteinander zu sprechen.«
Er nickte. »Du hast recht.« Er lächelte. Zum ersten Mal seit Langem mit dem schelmischen Ausdruck unbeschwerter Zeiten. »Wie immer.«
Sie umarmten sich, sie küssten sich. Und dann wiederholte Anselmo noch einmal: »Ja, ich bin wieder klar. Ganz klar.«
Das hoffe ich, dachte Bernina, ohne einen Laut zu äußern, das hoffe ich so sehr – wenn doch alles nur wieder so wie früher sein könnte …
Den Abend verbrachten sie in der Hütte, begleitet vom sanften Klopfen des Regens, der mit der Dunkelheit eingesetzt hatte. Berninas Knöchel war ein wenig angeschwollen, aber das bereitete ihr keinerlei Sorgen. Zwei Tage darauf war die beschädigte Achse des Wagens ersetzt worden, und sie verließen das Dorf, so leise und unauffällig, wie sie hier eingetroffen waren. Anselmos Laune war seit Norbys Verschwinden sichtlich gestiegen. Und nicht nur das. Die Verzögerung in dem französischen Dorf hatte seinem Oberschenkel geholfen. Die Entzündung war abgeklungen, er trat mit festerem Schritt auf als zuvor, und seine Stirn hatte ihr Glühen verloren. Womöglich war es ja der Schwede gewesen, der das Fiebrige in ihm ausgelöst hatte. Er selbst hatte eine Bemerkung in diese Richtung gemacht, natürlich scherzhaft gemeint. Der Blick jedoch, den er darauf mit Bernina wechselte, ließ erkennen, was beide dachten: Darin konnte durchaus ein Körnchen Wahrheit stecken.
Trotz des schweren, nassen Untergrundes und der Kälte, die sich mittlerweile auch von zeitweiligem Sonnenschein nicht mehr vertreiben ließ, kamen sie recht gut voran. Nebeneinander saßen sie auf dem Bock des Wagens, sodass sie sich berührten, lediglich getrennt durch den wollenen Stoff ihrer Umhänge. Sie erreichten den südlichen Rand des Elsass, und unwillkürlich musste Bernina an Meister Anton Schwarzmaul denken, an Pierre, an Menschen, die ihr in Braquewehr begegnet waren. Vor allem an Irmtraud, diese arme junge Frau, der sich das Leben so unnachgiebig und brutal gezeigt hatte. Der nie eine Chance gegeben worden war. Und ohne die auch Berninas Leben gewiss eine andere Richtung genommen hätte.
Schnee wirbelte durch die Luft, kleine feine Rüschengebilde von makellosem Weiß, die sich von dem Hintergrund der dunklen Wälder abhoben. Die Gipfel am Horizont waren ebenfalls weiß, und an jedem Morgen bedeckte eine Kruste die Erde, die bei jedem Schritt knisternd zerbrach. Die Räder des Wagens ächzten, um die Mäuler der Pferde wehten Atemwölkchen.
Die Menschen einer kleinen Siedlung, die sich noch auf elsässischem Grund befand, duckten sich tief in ihre Gewänder. Angst sprach aus ihren Augen, die noch vor nicht allzu langer Zeit Schreckliches gesehen haben mussten. Schutzgräben, zerstörte Häuser, von Kanonenkugeln aufgerissenes Straßenpflaster zeugten gleichermaßen von dem Unheil, das vorübergezogen war. Die Namen d’Orville und Korth konnte man aufschnappen, die Leute bekreuzigten sich und gingen eilig ihrer Wege.
Bernina und Anselmo gönnten den Pferden etwas Ruhe und stockten ihre Vorräte auf, bevor sie der Beklommenheit dieses Ortes wieder entflohen. Schon ein ganzes Stück südlich ihres eigentlichen Zieles überquerten sie an einer versteckten, unbewachten Brücke den Rhein, auf dem kleine scharfkantige Platten aus Eis trieben.
Es roch, wie nur die Heimat riechen konnte. Bernina erblickte Landschaften, die ihr vertraut waren, sie sah Wälder, die sie kannte, und die Berge, die sich noch etwas entfernt vor ihnen erhoben, hatten schon auf sie herabgestarrt, als sie noch ein kleines Mädchen war. Ja, der Geruch hatte etwas Heimisches. Doch in ihn hatte sich etwas gemischt, das neuer war. Das sie aber auch aus den Tagen kannte, als sie in einer wilden Flucht diesen Landstrich verlassen hatte: Angst war es, was sie roch und fühlte, was sich in jeder Pore ihrer Haut festsetzte. Das Aroma der Gewalt und der Schrecken, die hier um sich gegriffen hatten.
Wolken verkeilten sich am Himmel, warfen die ersten Schatten der nahenden Dunkelheit. In der Nähe heulte ein Wolf. Lang hatte Bernina dieses Geräusch nicht mehr gehört, sehr lange. Sie fühlte einen eiskalten Schauer auf ihrem Rücken. Ein verrückter Zufall ließ ausgerechnet in diesem Augenblick einen Stofffetzen vor dem Wagen vorbeiwehen. Nein, kein Fetzen, ein Umhang, schmutzig und an den Rändern ausgefranst, doch noch immer von schillerndem Rot. Punkte flimmerten in dieser unverkennbaren Farbe auf, Punkte aus Gold. Die Rose von Alvarado. Dieses Symbol des Bösen, das Bernina offenbar immer wieder aufs Neue heimsuchte.
Abermals das Heulen des Wolfes.
Bernina und Anselmo sahen sich lange an, dann betrachteten sie erneut ihre Umgebung.
»Es wird Nacht«, sagte Anselmo leise.