Kapitel 4
Die Armee der Unsichtbaren
Für das kleine abgelegene Braquewehr war es eine lange Nacht gewesen. Eine furchtbare Nacht. Die schlimmste seit Beginn des großen Krieges. Versprengte Truppen gleich zweier Armeen hatten den Ort heimgesucht und jene Schrecken in die Wohnungen getragen, die die Leute bisher nur vom Hörensagen kannten. Blutvergießen und Terror, Plünderungen und Vergewaltigungen.
Erst als die Dunkelheit langsam eine traurige Blässe annahm, wurde es ruhiger. Soldaten suchten nicht mehr mit gezückten Waffen ihre jeweiligen Widersacher, sondern nur noch versteckte Winkel in Häusern und Scheunen, um nach Gewalt und Anspannung endlich Schlaf zu bekommen. Auch die Bürger ließ man endlich in Ruhe. Wie leergefegt die Gassen, eine makellose Stille. Dünner spätsommerlicher Dunst klebte in der Luft, die nicht mehr nach Schießpulver roch. Der Himmel wölbte sich grau und schwer über die Dächer. Die Nachtarbeiter, die um diese Zeit für gewöhnlich ihre Runden drehten, ließen sich nicht blicken. Niemand ließ sich blicken.
Bis auf eine schlanke Gestalt, die langsam einer Gasse folgte und sich dabei im Schutz der Häuserreihe aufhielt. Ein Hut mit Straußenfeder, ein blutverschmierter Wams, ein mehrfach geschlungenes Halstuch, ebenfalls mit Blutflecken, Stiefel, die etwas zu weit waren. Der Degen hing am Gürtel. In den schmalen Händen lag groß und klobig eine Muskete.
So vorsichtig die Gestalt auch ihre Schritte zu setzen versuchte, nicht immer war ein Hall der harten Absätze zu vermeiden. Sie näherte sich dem zweigeschossigen Gebäude in der Mitte der Ortschaft. Zögernd trat sie an die Haustür und stellte sich vor, wie Meister Schwarzmaul und Pierre am Tisch saßen, jeder den eigenen Gedanken und Befürchtungen nachgehend. Aus einer Tasche, die an einem Riemen über der schmalen Schulter hing, holte die Gestalt ein weißes Stoffstück hervor, auf das sie mit Federkiel und Tinte eine kurze Botschaft geschrieben hatte.
Sie wusste, dass es nicht richtig war, einfach so zu verschwinden. Aber dem Goldschmied ihr Vorhaben in aller Offenheit mitzuteilen, das wollte sie auch nicht. Er würde alles daran setzen, um sie aufzuhalten, das war ihr klar. Außerdem drängte die Zeit – jedenfalls wenn das stimmte, was Irmtraud berichtet hatte.
Ein letzter Blick auf die Nachricht:
›Vielen Dank für alles. Eines Tages werde ich Ihnen hoffentlich erklären können, warum ich gehen musste. Und vergessen Sie nicht, Pierre immer gut zu behandeln.
B.‹
Das Stoffstück wurde an dem äußeren Türriegel verknotet. Trotz ihrer Eile hielt Bernina noch einen langen Moment inne. Doch sie hatte sich längst entschlossen. Sie würde Meister Schwarzmauls kleine Welt aus Gold und Silber hinter sich lassen.
Dieser Gedanke, der sie zuvor in diesem winzigen Häuschen überfallen und sie vor dem Tod bewahrt hatte, ließ sie einfach nicht mehr los. Dieser verwegene, unglaubliche Gedanke, der sich auf verrückte Weise sogar noch weiterspinnen ließ und durch den sie plötzlich wieder etwas hatte, auf das sie zusteuern konnte.
Ein Ziel. Endlich. So vage und fern es auch immer sein mochte. So unerreichbar es auch immer sein mochte.
Sie durchquerte die kleine, in der Morgendämmerung wie tot daliegende Stadt in nordöstlicher Richtung. Ihre Füße rutschten in den zu großen Schuhen vor und zurück. Jeder Schritt war ungewohnt. Der Degen in der Scheide schlug fremd an ihr Bein. Alles kam ihr fremd vor.
Kurze Zeit später erhob sich die Mauer vor Bernina. Sie lief den Schutzwall entlang, der sich als nutzlos erwiesen hatte, bis sie eine Treppe erreichte. Stufe für Stufe ging sie nach oben, bis ihr Kopf mit dem Hut über den Zinnen aufragte.
Bei dem Sprung ins Leere schloss sie kurz die Augen. Sie federte den Aufprall ab und rannte los, über die Straße hinweg, die sie mit dem Eselwagen des Goldschmiedes vor Wochen nach Braquewehr geführt hatte, und geradenwegs auf die Wälder zu, die noch nicht vom zaghaft fließenden Licht des Tages erfasst wurden.
Verborgen von Bäumen folgte sie ziemlich genau dem Verlauf der Straße, die sich bald in den Wald hineinziehen würde. Sie fühlte ihren Herzschlag so stark, so unmittelbar, und während sie immer weiterlief, kehrten die Bilder aus der Hütte, in der Irmtraud den Tod gefunden hatte, zurück in ihr Bewusstsein. Dort hatte Bernina rein instinktiv gehandelt, ohne nachzudenken. Mit den hastig übergestreiften Kleidungsstücken des erschossenen Soldaten hatte sie sich genau in dem Moment zu Boden geworfen, als die Männer den Raum betraten.
Zwischen den beiden Leichen der einheimischen Wachmänner lag sie da, steif, reglos, sie roch das Blut, das sie sich dick ins Gesicht geschmiert hatte, sie roch den Tod. Und die Augen geschlossen halten zu müssen, war fast mehr, als sie ertragen konnte.
Die Soldaten durchstöberten rasch das Zimmer und untersuchten dabei auch Irmtrauds leblosen Körper. Nur um die drei auf dem Lehmboden liegenden Leichen kümmerten sie sich kaum. Bernina hörte die Verwunderung aus ihren Stimmen. Sie wussten nicht, ob die Frau, die ihnen aufgefallen war, durch das Fenster entkommen war, oder ob es sich bei ihr um die Tote im Bett handelte. »Sie hat nicht den Eindruck gemacht, als wäre sie so schwer verletzt«, sagte eine verwunderte Stimme. »Jedenfalls nicht so, dass sie kurz darauf ihren letzten Atemzug machen würde. Da ist doch irgendetwas faul.«
Mit einem Gefühl der Befreiung saugte Bernina schließlich die Luft in ihre Lungen, als die Männer hintereinander wieder verschwanden. Sie entspannte ihre Glieder, zwang sich allerdings dazu, zur Sicherheit noch länger liegen zu bleiben. Als sie sich später erhob, sah sie an sich herunter. Ihre Gedanken kreisten, und sie rief sich das in Erinnerung, was Irmtraud ihr berichtet hatte.
Während sie sich das Blut aus dem Gesicht wischte, fiel ihr Blick auf den Tiegel mit der Klebepaste aus zerstoßenen Birnenkernen. Sie schmierte sich davon ein wenig unter die Nase und auf die Kinnspitze. Dann klebte sie ein paar ihrer eigenen Haarsträhnen daran fest. Mit den Fingern strich sie sich über ihre Wange. Da war kein Spiegel, keine Fensterscheibe, um ihr Aussehen zu überprüfen. Unsicher griff sie nach einer der leeren Weinflaschen. Nur ganz verschwommen schimmerte im weißlichen Glas ein Gesicht mit Schnurrbart auf.
Du bist vollkommen verrückt, sagte sie sich.
Auch jetzt noch, auf ihrem Weg durch den Wald, hielt sie das alles für mehr als verrückt. Trotzdem war ihr klar, dass sie diesem inneren Drang einfach nicht widerstehen konnte. Und Irmtrauds Stimme klang noch immer in ihrem Kopf nach.
Arme, arme Irmtraud.
Bernina hatte das schmale, bleiche tote Gesicht der jungen Frau noch vor Augen, als sich zwischen den Bäumen plötzlich der Teufelsfinger aus der Erde bohrte. Sofort ging sie langsamer. Die Muskete wog noch schwerer in ihren Händen. Die Felsnadel war nun ganz nahe.
Auf einmal ein Geräusch – das Wiehern eines Pferdes, anscheinend nicht allzu weit entfernt. Bernina duckte sich und ließ sich von ein paar wild wuchernden Sträuchern aufsaugen. Langsam, Schritt für Schritt setzte sie ihren Weg fort. Einmal hielt sie an, um sich das blutige Halstuch, das sie einem der toten Wachmänner abgenommen hatte, höher in ihr Gesicht zu ziehen. Außerdem griff sie rasch in die Erde, die noch feucht war von den letzten starken Regenfällen. Sie verdreckte sich Wangen und Stirn. Je weniger von ihrem Gesicht zu erkennen war, desto besser. Das redete sie sich wenigstens ein.
Über ihr ein Surren in der Luft. Mit kraftvollem Flügelschlag erhob sich eine Schar Krähen aus den Bäumen. Es waren die ersten Krähen, die Bernina seit jenem verhängnisvollen Tag auf dem Weizenfeld bei Teichdorf sah. Die Vögel zerschnitten den fahlen Himmel und flogen in westlicher Richtung davon. Ich werde euch folgen, dachte sie.
Der Wald lichtete sich, das Gelände wurde abschüssig und verlor sich in einer tiefen Senke, die kaum noch mit Bäumen bewachsen war. Bernina blieb stehen, drückte sich an den Stamm einer Buche.
Verteilt in der Senke – da waren sie. Die geheimnisvollen Soldaten. Etwa 100 Mann schätzte sie, vielleicht mehr. Jeder von ihnen beschäftigte sich mit seinem Reitpferd. Zaumzeug und Sattelgurte wurden gestrafft, Proviantsäcke und Waffen überprüft. In verhaltener Ruhe lief alles ab, nur hier und da ein Pferdeschnauben. Auch eine Herde mit Ersatzpferden war zu sehen. Dann doch ein Befehl, in Berninas Sprache, der sofort weitergegeben wurde, auch in anderen Sprachen. Eine erste Gruppe der Männer saß auf, eine zweite ebenfalls.
Eine Berührung. Ganz kurz. Zwischen ihren Schulterblättern.
Die Mündung einer Waffe, sie wusste es sofort. Und sie erstarrte.
»Jetzt keine dumme Bewegung.« Leise die Stimme, aber äußerst konzentriert. »Wer bist du?«
Bernina hob mit beiden Händen vorsichtig die Muskete über ihren Kopf und drehte sich langsam um. Ein Wachsoldat, der lässig eine Pistole auf sie richtete.
Jetzt kam es darauf an. Überall auf ihrer Haut ein Kribbeln. Sein Blick tastete sie kurz ab. Doch er schien nicht sonderlich misstrauisch zu werden, gar nicht auf den Gedanken zu kommen, dass ihm hier kein Mann gegenüber stand. Dennoch brachte sie es einfach nicht fertig, ihre Stimme erklingen zu lassen.
»Hast du deine Zunge verloren?« Er grinste, wedelte mit der Waffe. »Na los, geh vor mir her. Mal sehen, ob du sie nicht gleich wieder findest.«
Heller war es geworden, die dunstigen Schleier hatten sich aufgelöst, aber noch kam die Sonne nicht durch.
Der Wachposten führte sie mitten ins Lager, und die Blicke der Soldaten prallten geradezu auf Bernina, sie konnte sie spüren wie zuvor die Pistolenmündung. Schweiß hatte sich auf ihrer Stirn gebildet. Sie trug die Muskete noch immer über ihrem Kopf, und in ihren Armen breitete sich unaufhaltsam ein zäher Schmerz aus. Vorbei an den Soldaten auf den Pferden, vorbei an denen, die noch bei ihren Tieren standen. Einige von ihnen traten zur Seite, um einen Mann mit weißem, hoch gezwirbeltem Schnurrbart vortreten zu lassen.
»Halt!«, befahl die Stimme hinter Bernina.
»Was ist los?«, schnarrte der Schnauzbärtige. »Wer ist das?«
»Das wollte der Kleine nicht sagen, Feldwebel Meissner. Vielleicht spricht er ja mit Ihnen.«
Der Feldwebel stellte sich vor Bernina. »Weg mit der Muskete.«
Sie warf die Waffe auf die Erde und ließ die Arme an ihren Seiten herabbaumeln. Die Schmerzen darin blieben.
»Besonders gefährlich siehst du ja nicht aus.« Er runzelte die Stirn. »Also, spuck’s schon aus. Wer bist du und was willst du, Kleiner?«
Bernina deutete mit dem Finger auf das blutige Halstuch. Ihre Lippen waren trocken, in ihrer Kehle setzte sich ein harter Klumpen fest.
Der Mann musterte sie. »Dich hat’s am Hals erwischt? Du kannst nicht sprechen?«
Rasch nickte sie. So, wie Pierre es wohl getan hätte.
»Kommst du aus Braquewehr? Hast du dort von uns erfahren?«
Bernina nickte erneut.
»Da war wohl einiges los heute Nacht.« Sein Blick legte sich auf ihre zerschlissene Kleidung. Er hob die Muskete auf und überprüfte sie. »Und was mache ich nun mit dir?«
»Wie wär’s mit abknallen?«, schlug der Wachposten mit hämischem Ton vor.
»Sicher, das ist eine Möglichkeit.« Der Feldwebel nickte. »Aber vielleicht nicht einmal den Bleiklumpen wert, den es kostet.« Er nahm den Hut ab und strich sein schütteres Haar zurück. »Schnürt den Kleinen fest zusammen und lasst ihn im Wald zurück. Ein Schuss könnte die Truppen in der Stadt alarmieren.«
Als er sich abwandte, ertönte Berninas Stimme, so heiser, so rau es ihr nur möglich war. Und mit einem Flehen, das sie selbst erstaunte: »Ich … will … nach Spanien.«
Überrascht sah der Feldwebel sie an. »Nach Spanien? Du weißt also, wohin wir wollen. Und du willst mit uns kommen?« Er warf einen kurzen Blick zu den Männern, die am nächsten bei ihm standen. »Aber warum willst du das?«
»Ich … bin … ein … Soldat.« Bernina straffte sich, versuchte sich größer zu machen, als sie war. »Ein Soldat ohne Armee. Ich will … weg von hier. Nach Spanien. Ich kann kämpfen.«
Der Feldwebel verschränkte die Arme vor der Brust. »Irgendwie bist du ein komischer Vogel.«
»Ich möchte nach Spanien.«
»So, so. Willst uns also begleiten.« Sein Mund war ein harter Strich. »Die Frage ist nur, ob ich auch will, dass du mitkommst.«
*
Durch Wälder und über felsige Bergkuppen hinweg, dem einen oder anderen Bach folgend, und weiter, immer weiter in westlicher Richtung. Eine stille Ansammlung von Männern, von denen die meisten daran gewöhnt waren, lange Strecken auf dem Pferderücken zurückzulegen. Abenteurer mit hageren, verwegenen Gesichtern. Auch bei den kurzen Pausen entstanden kaum Gespräche. Der Himmel riss auf, die Sonne zeigte sich, und selbst die Wolken schien es nach Westen zu ziehen.
Eine merkwürdig verhaltene Stimmung haftete diesen Soldaten an, die entweder ziemlich jung oder bereits äußerst erfahren zu sein schienen. Sie strahlten etwas aus, das nicht zu fassen war, etwas Geheimnisvolles, Düsteres. Bernina fiel es nicht leicht, sich einerseits betont unauffällig zu geben und andererseits ihre Aufmerksamkeit angesichts der Fremden, die sie umgaben, ein wenig zu zügeln. Armeeeinheiten, die sie früher in Ippenheim und Offenburg erlebt hatte, waren anders gewesen, ganz anders. Allein schon deswegen, weil sie von Musikanten begleitet wurden, von Trommlern und Pfeifern, aber auch von einigen Handwerkern wie Zimmerleuten, Schmieden und Fuhrknechten. Manchmal zogen den Kämpfern sogar Gruppen von Huren hinterher. Hier nicht, so wie es ja schon Irmtraud berichtet hatte. Bloß eine Handvoll Knappen und ein einziger Büchsenmeister gehörten zur Armee, die, wie Bernina geschätzt hatte, aus gerade einmal 100 Männern bestand, vielleicht auch ein paar mehr. Besonders fiel Bernina die Tatsache ins Auge, dass keine Flagge über den Köpfen wehte, wie es sonst üblich war. Ein Wappen war überaus wichtig, diente es den Truppen doch im Schlachtengetümmel als Orientierungspunkt, da sie keine einheitliche Kleidung trugen und es oft nicht einfach war, Freund von Feind zu unterscheiden.
Was die Fremden mit anderen Armeen verband, waren die kunterbunten, oft in schreienden Farben gehaltenen Wämser, die kunstvollen Spitzenkrägen und die Fußbekleidung: gewaltige Stulpenstiefel oder derbes Schuhwerk, aus dem dicke Socken hervorschauten. Die leichten Kettenhemden und die Harnische mit zusammenknüpfbaren eisernen Vorder- und Rückenteilen sowie Sturmhauben und Federhüte waren Bernina ebenfalls bestens vertraut.
Bernina befand sich im hintersten Teil der Kolonne. Sie saß auf einer kleinen, dürren Stute, deren Kopf weit nach unten hing und konnte es noch immer nicht glauben: Weder ihre Verkleidung war aufgeflogen, noch hatte man sie einfach zurückgelassen.
Alles war so unheimlich schnell gegangen, so rasch, dass Bernina kaum hatte folgen können. Die Befragung durch Feldwebel Meissner, der wissen wollte, ob dieser junge Kerl mit den schmalen Schultern schon Erfahrung habe sammeln können. Ohne ihm Antworten zu geben, nur durch Nicken auf alles, was er fragte, bestand sie diese kuriose Aufnahmeprüfung. Sie achtete gar nicht darauf, als der Mann mit Schnauzbart auf die Besoldung von sechs Gulden und 40 Kreuzern zu sprechen kam. »Und dazu alles, was du kriegen kannst«, wie er bei einem weiteren prüfenden Blick auf ihre Muskete anfügte. Das war es auch schon.
Wie Bernina bei Unterhaltungen während der Rastpausen mit anhörte, war es dieser Truppe nicht gelungen, so viele Kämpfer anzuwerben, wie man sich das erhofft hatte. Wohl deshalb hatte der Feldwebel sie nicht einfach zurückgelassen. Hier schien jede Waffe gebraucht zu werden.
Unablässig achtete sie seither darauf, keinem Blick zu begegnen und Gesprächen auszuweichen. Dabei erwies sich der Einfall mit der vorgetäuschten Halsverletzung als hilfreich – niemand erwartete, dass sie einen Laut von sich gab. So hielt sie die Lippen geschlossen, und nur bei dem einen oder anderen aufmunternden Klaps auf den Hals der müden Stute ließ sie sich zu einer kurzen Bemerkung hinreißen. Das ausgemergelte Pferd schien Zuspruch gebrauchen zu können. Wie Bernina bemerkte, hatte es schon einiges hinter sich gebracht: Narben von Kugeln und Klingen hatten sich ins Fell gebrannt. Was für die meisten der anderen Tiere genauso galt. Schlachten waren ihnen offensichtlich gleichsam vertraut wie ihren schweigsamen Reitern. Und es gab noch etwas, das die Männer miteinander verband, jedenfalls viele von ihnen – Berninas aufmerksamem Blick waren die Krankheitsnarben nicht entgangen.
In einem abgelegenen Tal wurde das Kommando zum Halt gegeben. Hohe Gräser und wild wuchernde Sträucher, in denen sich das leise Rauschen des Windes verfing. Es sah aus, als hätte sich seit Ewigkeiten kein Mensch hierher verirrt. An dieser Stelle sollte die Nacht verbracht werden.
Wachen wurden aufgestellt. Mit schnellen, geübten Handgriffen wurden ein paar Holzpfähle in die Erde gerammt, über denen sich gleich darauf Zeltplanen spannten. Jeder kümmerte sich um sein Pferd, und einige Soldaten sorgten dafür, dass schon bald mehrere Feuer ihre Flammen dem dunkler werdenden Himmel entgegenspuckten. Eine Gruppe von vier Mann wurde zur Jagd ausgeschickt in die nahen Wälder, deren Eichen, Hainbuchen und Erlen sich dicht aneinander schmiegten.
Kreisförmig hockten die Männer um die Feuer und um die hier nur vereinzelt stehenden Bäume. Man plauderte leise, schnitzte, kaute an Brotstücken herum und wartete darauf, frisches Fleisch an Spießen rösten zu können. Als Lederschläuche mit Wein von Hand zu Hand wanderten, unterband Meissner das unverzüglich. »Haltet eure Augen auf«, schnarrte er laut durch das Lager. »Nicht euren Schlund.«
Hier und da wurde gemurrt, doch nur kurz, und der Wein verschwand wieder in Satteltaschen. Einer der Soldaten erhob sich und lehnte sich mit dem Rücken lässig an den Stamm einer Schwarzerle. »Warum sind wir schon aufgebrochen, Feldwebel? Das ist mir immer noch nicht klar.«
Bernina stand bei ihrem Pferd und fütterte es aus dem Haferbeutel, den sie beim Aufbruch erhalten hatte. Es war ihr angenehm, immer mal wieder irgendeinen Grund zu finden, um sich aus der Mitte der fremden Männer zurückzuziehen. Ihre Augen ruhten auf dem Soldaten, der eben gesprochen hatte – wie auch die Blicke aller übrigen.
»Mir scheint«, fuhr er, an Meissner gerichtet fort, »das haben Sie uns immer noch nicht gesagt.« Schwer zu erkennen, ob einfach nur Faulheit aus seiner Stimme sprach – oder eher Provokation.
Der Feldwebel ging ein paar Schritte auf ihn zu und antwortete so laut, dass er im gesamten Lager zu verstehen war. »Doch, das habe ich. Wir sind aufgebrochen, weil es in Braquewehr langsam zu heiß wurde, um es mal so auszudrücken. Am Ende wären wir noch in die Kämpfe verwickelt worden. Und außerdem«, sein Blick kreiste die Männer ein, »wurde es ganz einfach Zeit. Wir haben schon zu viele Tage verloren, ohne dass wir unser Kontingent wesentlich aufstocken konnten.«
Der Soldat an der Erle winkte geringschätzig ab. »Ach?« Er war ein Hüne mit massigen Schultern, grau durchsetztem Vollbart und hohem Federhut. »Hieß es vor Kurzem nicht noch, wir würden erst aufbrechen, wenn dieser sagenumwobene Offizier bei uns eingetroffen wäre?«
»Keine Sorge, der wird noch zu uns stoßen«, betonte Meissner. »Es war ja gerade sein Befehl, dann aus Braquewehr zu verschwinden, wenn die regulären Truppen die Stadt erreichen. Und genau daran habe ich mich gehalten.«
Also seid ihr keine reguläre Armee, dachte Bernina. Aber das war ihr auch schon vor diesen Worten klar gewesen.
»Langsam glaube ich«, meinte der Vollbärtige, »man will uns hier zum Narren halten. Wenn ich schon meinen Kopf riskieren soll, dann will ich wenigstens wissen wofür.«
»Du wirst fürs Kämpfen bezahlt. Nicht fürs Wissen.«
»Verdammt noch mal, was soll das mit Spanien? Meissner, wenigstens soviel kannst du doch verraten. Was erwartet uns dort?«
Das Gemurmel, das darauf entstand, drückte Zuspruch aus. Die Männer starrten Meissner an. In ihren Augen schimmerte der gleiche herausfordernde Glanz wie bei dem Kerl mit dem Bart. Ganz plötzlich war diese Situation entstanden, eine Situation, in der es zur Explosion kommen konnte – Bernina spürte das.
»Was erwartet uns in Spanien?«, rief der Soldat, nun noch ermutigt durch die unübersehbare Zustimmung der übrigen. »Warum erzählst du uns das nicht, Meissner?« Er lachte spöttisch auf. »Oder willst du das lieber dem großen Offizier überlassen, den du nicht müde wirst anzukündigen? Ich halte jede Wette, dass der Mann nur ein Geist ist. Und unser Sold auf geisterhafte Weise verschwinden wird.«
Plötzlich ein Aufblitzen im farblos dämmrigen Himmel – und ein Surren. Fast zu schnell für das menschliche Auge durchschnitt ein silbern schimmernder Gegenstand die träge Luft und riss dem Vollbärtigen den Hut vom Schädel, sodass die Kopfbedeckung zusammengeknautscht an den Stamm der Schwarzerle gepresst wurde.
Der Hüne stand wie erstarrt.
Der Gegenstand war kein Wurfmesser, sondern ein gezacktes Eisen. Bernina kannte es. In den Wäldern bei Teichdorf hatte sie es schon einmal gesehen.
»Die Wette verlierst du!«, hallte eine Stimme hart über den Lagerplatz hinweg.
Nicht das Eisen, sondern diese Stimme war es, die Bernina ihrerseits zum Erstarren brachte. Ihr Atem setzte aus, ihr Blick suchte den Mann, der wie aus dem Nichts aufgetaucht war. Seine Gestalt schob sich breitschultrig zwischen den angeleinten Pferden hindurch, nicht einmal weit von Bernina entfernt, die er nicht beachtete. Sein linkes Auge wurde von einer Klappe bedeckt. Ohne jegliche Hast durchschritt er einen jener Kreise aus Soldaten, die auf dem Boden hockten und zu ihm aufstarrten, im Blick seines rechten Auges der Mann an der Erle, den er sogar noch um einen halben Kopf überragte.
»Denn ich bin alles andere als ein Geist«, rief er und blieb vor dem Soldaten stehen. »Ich bin aus Fleisch und Blut.« Mit raschem Griff riss er seine Wolfsangel aus dem Baum und der Hut fiel auf die Schulter des Soldaten, dann auf die Erde. Das blitzende Eisen noch in der Hand, drehte sich der so überraschend aufgetauchte Mann wieder zu allen anderen herum.
»Ich wollte schon wesentlich früher zu euch stoßen, aber eine Verletzung hat mich länger in einer Stadt namens Ippenheim aufgehalten. Und ich kann durchaus verstehen, dass ihr mehr erfahren wollt. Vor allem, wenn es um eure Bezahlung geht.« Mit gelassenem Spott grinste er in die große Runde erwartungsvoller Männergesichter. »Falls alles so läuft, wie wir uns das vorstellen, der überaus fähige Feldwebel Meissner und ich, dann werden wir mit Rosen entlohnt.« Er genoss sichtlich die Überraschung, die sich breitmachte. »Allerdings mit Rosen aus purem Gold. Doch jetzt noch ein wenig Geduld. Lasst mich erst einmal richtig ankommen. Ach ja, eine Sache noch: Wir sollten schleunigst damit anfangen, unsere Aufgaben als Wache ernst zu nehmen. Ich habe mich noch nie so mühelos in ein Lager voller Soldaten schleichen können wie heute.« In seinem grünen Auge blitzte es.
Wer ist das? Die Frage wurde flüsternd weitergegeben wie zuvor noch die Weinschläuche – ohne dass einer eine Antwort darauf gehabt hätte.
Bernina stand nach wie vor von niemandem beachtet bei ihrem Pferd. Sie wusste, um wen es sich bei diesem groß gewachsenen Mann handelte. Auch wenn sie es immer noch nicht glauben konnte, dass er es tatsächlich war. Zuletzt hatte sie ihn gesehen, als ihn eine spanische Degenklinge erfasste.
»Ihr seid neugierig, mit wem ihr es zu tun habt?«, wandte sich jetzt wieder Feldwebel Meissner an die weiterhin verdutzten Männer. »Darf ich vorstellen? Das ist unser Hauptmann. Das ist Nils Norby.«
Das Gemurmel erstarb. Ein Moment knisternder Stille.
Wiederum mit leicht spöttischem Gesichtsausdruck verneigte sich der große Mann, und unter seinem Hut wallten die blonden Haare mit der einzelnen grauen Strähne darin.
»Wie ich sehe«, fuhr der Feldwebel fort, »ist euch sein Name ein Begriff.« Er trat zu dem Schweden und schüttelte ihm die Hand. »Und ich kann euch eines sagen: Was immer ihr über ihn gehört habt – es war noch reichlich untertrieben.«
Mit den letzten Worten löste sich die Spannung. Einige der Soldaten lachten, ein paar ließen sogar Hochrufe ertönen.
Bernina war überrascht, welche Wirkung der Name Nils Norby auszulösen vermochte. Er war offenbar bekannter, als er ihr bei der Flucht aus Teichdorf zu verstehen gegeben hatte. Sie betrachtete ihn, wie er sich jetzt davonmachte, um offenbar sein Pferd zu holen. Er trat mit festem Schritt auf – so schwer seine Verletzung auch gewesen sein mochte, an diesem frühen Abend in dem versteckten Tal war zumindest äußerlich nichts mehr davon festzustellen. Neu an ihm war allein die Augenklappe.
Wie vorhin ging Norby zwischen den Pferden hindurch. Ohne zu Berninas schmaler Gestalt herüberzublicken, rief er ihr zu: »Was ist los, Soldat? Bist du da festgefroren?«
Sie biss sich auf die Unterlippe und merkte, wie sie sich unwillkürlich noch tiefer in den Wams zu vergraben versuchte. Im nächsten Moment war der Schwede bereits verschwunden.
Noch bevor die Jäger zurück waren, brach die Nacht an, ein schlagartiger Überfall von Dunkelheit, in die grell die Feuer stachen. Nach dem Abendessen wurde Ruhe befohlen, und schon mit dem ersten Morgengrauen rief man zum Wecken. Nils Norby ritt auf einem prächtigen schwarzen Hengst mit strahlend weißer Blesse ins Lager, gefolgt von drei Planwagen. Auf den Böcken saßen Soldaten, die angesichts ihrer grimmigen Ausstrahlung bestens zu den anderen passten. In den Wagen befanden sich, wie sich sofort herumsprach, ein Nachschub an Proviant und Schießpulver sowie weitere Waffen.
Ehe es Frühstück gab, erfolgte eine kurze Ansprache Nils Norbys, der die Männer in Dreierreihen antreten ließ.
»Als ich vor 15 Jahren der schwedischen Flotte König Gustav Adolfs angehörte, standen Disziplin und Kameradschaft über allem.« Seine Stimme beherrschte den Lagerplatz, seine Blicke stachen. »Auf meinen Nebenmann konnte ich mich so felsenfest verlassen, wie er sich auf mich verlassen konnte. Für Fluchen wurde Kielholen verhängt. Beim kleinsten Diebstahl wurde ein Ohr abgeschnitten. Wenn einer mit dem Messer drohte, wurde ihm eben dieses Messer durch die Hand gerammt.«
Er ließ die Worte wirken, bevor er fortfuhr. »Die Flotte Gustav Adolfs war die am besten organisierte der Welt. Stolz war ich, ein Teil davon zu sein: meine Einheit zu beleidigen, hieß mich zu beleidigen. Ich kam von der Flotte zum Heer, und dort war es genauso. Ich war ein Offizier des Königs. Vergesst das nicht. Ich werde von keinem von euch etwas verlangen, das ich nicht auch von mir selbst verlange. Aber denkt immer daran: Ich war ein Offizier von König Gustav II. Adolf von Schweden.« Lässig verschränkte er die Arme vor der Brust. »Alles andere, was zu sagen ist, werdet ihr zu gegebener Zeit erfahren.«
Beim anschließenden Frühstück wurde der Auftritt des neuen Anführers ausgiebig besprochen. Bernina saß am Rande einer Gruppe Soldaten, stumm wie immer, und lauschte den Gesprächen. Nils Norby war es gelungen, mit ein paar rasch vorgetragenen Sätzen Eindruck zu wecken, das war nicht zu überhören. Die Männer schienen bereits jetzt viel von ihm zu halten – das, was sie mit seinem Namen verbanden, war offenbar mit seiner Erscheinung bestätigt worden.
Noch während das Essen eingenommen wurde, verkündete Feldwebel Meissner, dass die gesamte Truppe länger an diesem Lagerplatz bleiben würde. »Hauptmann Norby möchte sich ein genaueres Bild von eurer Leistungsstärke machen. Anscheinend ist er von eurem Erscheinungsbild nicht gerade beeindruckt. Er meint«, der Feldwebel ließ seine Stimme zischen, »viele von euch haben noch einiges zu lernen. Und er wird nach und nach jeden von euch begutachten.«
Die letzte Ankündigung traf Bernina bis ins Mark. Bis jetzt war sie mit ihrer Maskerade durchgekommen, doch das Auftauchen Norbys hatte alles verändert. Während sie wortlos weiteraß, dachte sie an ihren gemeinsamen Ritt bis an den Stadtrand von Ippenheim. An die Situation beim Teich, an ihre Gespräche mit diesem Mann, der als Henker und Wolfsjäger nach Teichdorf gekommen war. Trotz ihrer Nähe war Norby ein Rätsel für sie geblieben. Doch oft hatten sich ihre Blicke in diesen schnell vorübergezogenen dramatischen Tagen getroffen. Und sie erinnerte sich an jenen Moment, als seine Hand sie gestreichelt und mit erstaunlicher Sanftheit aus einem bösen Traum gelöst hatte. Ein Moment verwirrender Vertrautheit zwischen ihnen.
Nach dem Essen sortierte Meissner die jüngsten und augenscheinlich unerfahrenen Soldaten des bunten Haufens aus. Bei Bernina benötigte er keinen Wimpernschlag, um sie auszuwählen. In knappen Worten kündigte er an, dass in den beiden folgenden Tagen Übungen anstehen würden, die auch aus den Grünschnäbeln halbwegs passable Soldaten machen sollten.
Bernina fühlte sich äußerst unwohl in ihrer Haut. Die fremde Kleidung, der Degen, das große Halstuch, das vorgeblich als Verband einer Verletzung diente: Alles drückte sie. Der schwere, zu große Hut, die Stiefel. Am schlimmsten war es für sie, das eigene Haar nicht mehr zu spüren. Seit sie zurückdenken konnte, schmiegte es sich erstmals nicht in sanften Wellen um ihre Schultern. Der angeklebte Bart reizte ihr Gesicht. Und die kurzen, irgendwie seltsam von ihrem Kopf abstehenden und gleichzeitig vom Filz des Hutes niedergedrückten Haarbüschel juckten auf ihrer Kopfhaut. Oder kam dieses Jucken von dem Bewusstsein, auf welch irrwitzige, vage, aussichtslose Idee sie sich eingelassen hatte? Am liebsten hätte sie sich unsichtbar gemacht inmitten all dieser Fremden.
Zum ersten Mal wurde ihr wirklich bewusst, was sie getan hatte – zum ersten Mal fragte sie sich, was passieren würde, wenn ihre Verkleidung plötzlich entlarvt würde. Hier, im Nichts dieser unwirtlichen, offenbar kaum bewohnten Gegend? So unbegreiflich es ihr auch vorkam: Bis jetzt hatte sie keinen einzigen Gedanken daran verschwendet. Dazu hatte sie das, was sie von Irmtraud erfahren hatte, mit zu großer Macht beherrscht. Der Augenblick war da gewesen, und Bernina hatte nur auf ihr Gespür, nur auf einen Impuls vertraut. Und alles auf eine Karte gesetzt.
Unauffällig ließ sie ihren Blick über die Soldaten wandern. Was hast du bloß getan?, fragte sie sich.
Und da war noch ein anderes Dilemma, in dem sie sich befand. Die vorgespielte Verletzung verhinderte zwar, dass sie, abgesehen von einem Ja oder Nein, allzu viel sprechen musste. Dafür konnte sie allerdings auch nicht die Fragen stellen, die sie so sehr plagten. Fragen nach den Zielen dieser rätselhaften Truppe. Sicher, Irmtraud, hatte erwähnt, dass die Männer nach Spanien ziehen würden. Sogar der Name der Stadt Valencia war gefallen, genau wie bei Irmtrauds Bericht über die Fremden, die Anselmo angeblich gefangen genommen hatten. Aber mit welcher Absicht war diese merkwürdige Truppe überhaupt gebildet worden? Welches Ziel verfolgten die Soldaten? Sie schienen es ja selbst nicht zu kennen, wie der Wortwechsel zwischen Feldwebel Meissner und dem Bärtigen gezeigt hatte.
Doch selbst wenn Bernina sich dazu durchringen konnte, Fragen zu stellen: Wen hätte sie fragen sollen? Sie hatte ja schon genug damit zu tun, ihre Tarnung aufrecht zu erhalten. Also galt es zunächst einmal, weiterhin aufmerksam zu bleiben, Gesprächsfetzen aufzufangen und Andeutungen richtig zu verstehen. Und nach wie vor von der weniger werdenden Klebepaste auf die Oberlippe zu schmieren, um den kuriosen Schnurrbart nicht zu verlieren.
Feldwebel Meissner postierte sich auf einmal mitten im Lager und rief jene unerfahrenen Soldaten zu sich, die er zuvor bestimmt hatte. Etwas abseits der Zelte, umgeben von hohem Gras, fand sich die Gruppe unter Meissners strengen Augen zusammen. Er sprach nicht viel, sondern schritt die Männer einzeln ab. Jeder sollte die eigene Muskete blitzschnell aufnehmen, an die Schulter legen, so tun, als würde er laden und schießen, und das Ganze wieder von vorn. Er benötigte nicht lange, um zu sehen, wem die Handhabung mit der Waffe vertraut war und wem nicht. Bernina gehörte zu den letzteren – die Muskete lag massig in ihren schmalen Händen und schien mit dem beträchtlichen Gewicht von mehr als zehn Kilogramm immer wieder ihrem Griff zu entgleiten.
Mit knarrender Stimme befahl der Feldwebel, die Schusswaffen im Gras abzulegen und zum Degen zu greifen. Jeder einzelne musste ihm vorführen, wie er sich im Fechtduell verhalten würde. Erneut schritt er die lange Reihe der Männer ab, und die Zweifel in seinem Blick wurden immer größer.
»Ach, du meine Güte«, meinte er. »Da muss ich ja bei Adam und Eva anfangen. Jedenfalls bei einigen von euch.«
Anschließend wurde gefochten. Langsam, Schritt für Schritt, wie eine Tanzgruppe ahmten die Soldaten nach, was Meissner ihnen vorgab. Für Bernina war der Degen ebenso fremd wie die Muskete. Doch er war leichter, eleganter, und es war für sie nicht so schwer, damit zu hantieren und wenigstens nicht sonderlich aufzufallen.
Meissner beobachtete konzentriert die kleinsten Bewegungen und korrigierte sofort mit scharfer Stimme. Doch es war ein anderer Blick, den Bernina fühlte, der sie aufsehen ließ. In einiger Entfernung stand Nils Norby. Auch sein Auge verfolgte die Übungen der Männer, und Bernina fühlte Erleichterung in sich, als er sich herumdrehte und davonging.
Die Sonne kroch am Horizont entlang, der Befehl zum Aufbruch wurde allerdings nicht gegeben. Während die erfahrenen Kämpfer müßig Schutz vor der aufwallenden Mittagshitze im Schatten der Zelte suchten, trieb der Feldwebel Berninas Gruppe nach wie vor unermüdlich an. Immer wieder dieselben Anweisungen, dieselben Schrittfolgen, dieselben Degenhiebe.
Eine kurze Pause, als die Sonne am höchsten stand, ein paar Schlucke Wasser, ein paar Bissen, und es ging weiter.
Meissners Stimme dröhnte. Seine Augen sahen alles, ihm entging nichts. Ständig war er in Bewegung, er trat von einem zum anderen, redete auf jeden ein.
Nach einiger Zeit mussten sich die Männer doch wieder der Muskete zuwenden. Jeder Schritt der Handhabung wurde unermüdlich wiederholt, damit er in Fleisch und Blut übergehen sollte. Schwarzpulver in den Lauf, eine mit Stoff umwickelte Bleikugel hinterher, Schwarzpulver auf die Zündplatte, Spannen der Lunte in die Zündvorrichtung. Nur der Abschluss, das Feuern, bis das Pulver verschossen ist, der wurde nicht vollzogen. Alles stand im Zeichen der Übung. Das Pulver existierte nur in Gedanken, und der Stoff umhüllte keine Bleikugel, sondern lediglich ein Kieselsteinchen.
»Wir können es uns nicht leisten, wertvolle Munition zu vergeuden«, erklärte Meissner. »Und zu Meisterschützen kann ich euch in der kurzen Zeit sowieso nicht machen. Im Ernstfall müsst ihr einfach so nahe an den Feind herankommen, dass ihr gar nicht vorbeischießen könnt. So nahe, dass ihr den Dreck in seinen Nasenlöchern seht.«
Bernina spürte, dass sich Blasen an ihren Fingern bildeten. Die Waffe lag noch schwerer als zuvor in ihren Händen, wie Gestein. Sie sehnte das Ende herbei, doch erst als sich der Nachmittag dem Ende entgegen neigte, wurde sie erlöst. Nur um von Neuem zum Degen greifen zu müssen. Noch während sich der Himmel über dem Lager schwarz verfärbte, wurden die Übungen fortgesetzt. Der Duft zweier über den Feuern gerösteter Rehe, die mit Glück erlegt worden waren, schwebte in Wolken über den verschwitzten Soldaten. Kurz bevor Meissner den Befehl gab, das Abendessen einzunehmen, stand er plötzlich neben Bernina. »Morgen früh werde ich mich eine Zeitlang um dich allein kümmern.«
Mit müdem Blick sah sie ihn unter der Hutkrempe hinweg an. Fragend deutete sie auf den Degen.
»Ja«, nickte der Feldwebel. »Wir beide werden morgen fechten. Die Muskete vergisst du am besten fürs Erste. Mit deinen Weiberhänden brauchst du noch eine ganze Weile, bis du sie hältst – und nicht die Waffe dich.«
Also war sie ihm doch aufgefallen. So viel schlechter als die anderen bin ich doch gar nicht, dachte Bernina. Der Gedanke an den nächsten Morgen gefiel ihr ganz und gar nicht. Worauf hast du dich da bloß eingelassen?, fragte sie sich erneut.
An diesem Abend ging es beim Essen lauter, ausgelassener zu. Das seltsame Schweigen, das die Männer beherrscht hatte, schien sich zu verlieren. Zwar wussten sie immer noch nicht, was sie erwartete, doch offensichtlich lag es an Nils Norbys Auftauchen, dass man nun eher den lärmenden, schwatzenden Kampfeinheiten glich, die Bernina aus der Vergangenheit kannte. Wenn Norby durch die Reihen schlenderte, ruhten viele Blicke auf ihm; mit einer Bewunderung, die nicht zu übersehen war. Allein Bernina senkte bei seinem Erscheinen die Augen.
Am nächsten Morgen neuerliche Kampfübungen. Nachdem der Feldwebel die Männer eingewiesen hatte, beschäftigte er sich allein mit Bernina. Ein wenig abseits der übrigen wiederholte sie unzählige Male die Bewegungen, die er vorführte. Mittags erfolgte der Aufbruch. Obwohl Meissner gern noch weiter exerziert hätte, deutete er doch an, dass die Zeit drängte und man sich schon in Braquewehr recht lange aufgehalten habe.
Auch an diesem Tag herrschte strahlender Sonnenschein. Die Kolonne schlängelte sich durch felsige Täler und dunkle Wälder. Hatte Bernina anfangs noch das Reiten zu schaffen gemacht und die Innenseiten ihrer Oberschenkel wund gerieben, kam sie mittlerweile gut damit zurecht. Erst am Nachmittag, während den Pferden Ruhe gegönnt wurde, gab es wieder Übungen mit Degen und Muskete. Für Bernina nur mit dem Degen.
So stahl sich ein Tag nach dem anderen an ihnen vorbei. Das Gelände wurde hügeliger. Schließlich ragte vor ihnen ein Gebirge auf, wie eine riesige Wand, auf das sie unter der Führung Nils Norbys unverdrossen zuhielten. Noch war es warm, deutlich wärmer als zuletzt in Braquewehr. Langsamer kamen sie nun voran, eine lange Einzelreihe von wieder schweigsamen Männern, die von Zeit zu Zeit absteigen mussten, um die Pferde am Zügel zu führen. Steil und steinig, immer weiter nach oben, wo sie von scharf gezackten grauen Felsen und frischen, schnell über sie hinfort zischenden Windböen erwartet wurden.
Irgendwann mussten die drei Wagen zurückgelassen werden. Einen Teil ihrer Ladung gab man einfach auf, der Rest wurde auf die Rücken der Zugpferde verteilt, die aneinandergebunden in der Mitte der Kolonne weiterhin mitgeführt wurden.
Selbst während des Anstiegs verzichtete Feldwebel Meissner nicht, wenigstens kurze Übungen durchzuführen. In der kommenden Nacht wurde zweimal kurz gerastet, ansonsten kämpfte sich der Trupp weiter und weiter. Auch am Tag darauf – nur vereinzelte Pausen. Dann erreichten die Männer ein Felsplateau, das die Sicht auf das Gebiet eröffnete, das sie hinter sich gelassen hatten. Das Elsass war bereits ein ganzes Stück entfernt, wie Bernina erst jetzt so richtig bewusst wurde.
Gerade auf dem Plateau wehte der Wind besonders heftig, aber angesichts der völlig ermüdeten Pferde entschied sich Nils Norby dafür, hier die nächste Nacht zu verbringen. Im etwas unterhalb gelegenen Wald beschaffte man sich Feuerholz. Ein gleichzeitig durchgeführter Jagdabstecher blieb erfolglos. Spätestens hier zeigte sich, wie mühsam es war, sich selbst versorgen zu müssen und nicht wie reguläre Armeen auf Nachschub zurückgreifen zu können. Dennoch gab es keinen Rückfall in die düstere Stimmung, die den Aufbruch in Braquewehr begleitet hatte.
Die Absätze ihrer Stiefel tönten hart auf dem felsigen Grund, als sich Feldwebel Meissner und Bernina am Rand des Lagers trafen und mit den Degenspitzen in die kühler gewordene Luft stachen. Mittlerweile vollführten sie nicht mehr synchron bestimmte Schritte, sondern begegneten sich frontal mit gekreuzten Klingen, wobei Meissner noch ankündigte, wie er angreifen würde, um dann Berninas Verteidigung überprüfen zu können.
Sie hatte längst gemerkt, dass der Feldwebel mehr von ihr forderte und sich schneller und unberechenbarer bewegte. Anstrengend war es, viel anstrengender als noch zu Beginn. Als Meissner das Zeichen für eine Pause gab, atmete Bernina tief durch. Sie ließen sich auf einem Felsblock nieder, und plötzlich nahm Bernina den merkwürdigen Ausdruck wahr, mit der er sie bedachte. Er zupfte seinen weißen Schnurrbart und grinste sie dabei offen, fast herausfordernd an.
Einen schwindelerregenden Moment befürchtete sie, er hätte ihre Maskerade durchschaut.
»Was ist mit deiner Stimme, Soldat?«, fragte er aber nur. »Immer noch nicht besser?«
Wachsam starrte sie ihn an. Sie entschloss sich zu einem gekrächzten Räuspern und schüttelte den Kopf.
»Vielleicht sollte ich mir die Verletzung mal ansehen?«
Rasch ein erneutes Kopfschütteln Berninas. Dann zwang sie sich doch zu einer leisen Antwort: »Besten Dank, nicht nötig. Es wird schon.« Sie achtete darauf, dass ihre Stimme ähnlich verhalten und rau klang wie bei der ersten Begegnung mit dem Feldwebel im Wald von Braquewehr.
»Schon komisch«, erwiderte Meissner. »Dass sich das einfach nicht bessern will.« Wieder sein kurzes Grinsen. »Na ja, aber das gilt ja nicht für alles bei dir, nicht wahr?«
Unwillkürlich wurde sie noch wachsamer. »Wie meinen Sie das?«
»Wie ich das meine?« Er lachte auf. »Das fragst du allen Ernstes, nachdem ich für dich so viel Zeit opfere? Soldat, du enttäuschst mich.«
»Es tut mir leid, dass ich kein besserer Fechter bin.«
Diesmal lachte er nicht nur, er schlug sich sogar auf die Schenkel. »Kein besserer Fechter? Oh, Junge, ich frage dich noch mal: Was glaubst du, warum ich so viel Zeit mit dir und deinem Degen verbringe?«
Ein Verdacht glimmte in Bernina auf – ein wahrlich überraschender Verdacht. »Sie meinen also …«, begann sie und hätte dabei fast das Krächzen in ihrer Stimme verloren.
»Genau das meine ich.«
Ihr verwunderter Blick amüsierte ihn noch mehr, und nun wurde ihr klar, weshalb er immer wieder die Gelegenheit nutzte, allein mit ihr zu üben. Nicht weil sie schwächer als die übrigen war – sondern besser.
»Jetzt aber genug gequatscht.« Meissner erhob sich flink. »Sonst werden unsere Knochen noch morsch.«
Einander gegenüber stellten sie sich auf.
»Da fällt mir ein, Junge, wie heißt du eigentlich?«
Verdutzt sah Bernina auf. Daran hatte sie noch keinen einzigen Gedanken verschwendet. Sie biss sich auf die Lippe.
»Du wirst doch deinen verdammten Namen wissen.«
»Falk«, rutschte es aus ihrem Mund heraus. »Ich heiße Falk.« Die Familie, der sie entstammte, die Falkenbergs, hatte schon so manchen Soldaten hervorgebracht, aber gewiss noch keinen mit angeklebtem Bart. Ein leichtes Lächeln huschte über ihre Lippen.
»Dann mal los, Falk.« Meissner hob seinen Degen.
Das unausgesprochene Lob des altgedienten Feldwebels tat Bernina auf verrückte Weise gut. Und das Absurde ihrer Situation war nicht mehr ganz so bedrückend. Sie schwang den Degen fast schon mit dem gleichen Eifer, den sie vor Kurzem noch in Meister Anton Schwarzmauls Werkstatt an den Tag gelegt hatte. Wenn man in der Luft hing, brachte es ein wenig Erleichterung, sich an etwas festhalten zu können. Und bei Bernina war das offensichtlich der Degen.
Sie lernte Finten und Angriffe, sie federte in den Knien, sie entwickelte noch mehr Geschmeidigkeit, eine ganz eigene Geschmeidigkeit, die jeder ihrer Bewegungen etwas Fließendes gab. Und dabei war sie auch noch unheimlich schnell. Meissners Worte hatten ihr nicht nur Zuspruch gegeben, sondern ihr vor allem bewusst gemacht, wie sehr sie sich innerhalb kurzer Zeit verbessert hatte.
»Niemals auf die Waffe des Gegenübers achten«, schärfte Feldwebel Meissner ihr ein. »Sondern nur auf seine Augen. Die Augen verraten dir seine Absicht, bevor es die Bewegung tut.« Immerzu wiederholte er das.
Häufig erinnerte sich Bernina beim Fechten an die Tage, als sie mit Anselmo und den anderen Gauklern durch die Lande gezogen war und Seiltanz geübt hatte. An die faszinierten Blicke der Leute in den Dörfern bei den Vorführungen. Damals wie auch jetzt war Balance gefragt, und während sie Meissners Angriffen geschickt auswich, stellte sie sich ein Seil vor, über das sie mit leichtem Schritt, nur auf den Zehenspitzen hinwegglitt, auf dem sie regelrecht tänzelte. Es war, als würde sie die Erde gar nicht mehr berühren.
Während sich die Truppe höher und höher in das Gebirge wand, sich über Pässe schob und dem inzwischen hin und wieder fallenden Regen trotzte, gewann Bernina eine immer höhere Sicherheit mit der Fechtwaffe.
»Selten habe ich jemanden gesehen, der sich beim Duell mit so erstaunlicher Gewandtheit bewegt wie du, Falk«, äußerte sich der Feldwebel einmal während ihrer gemeinsamen Übungen. »Gegen dich wirken diese anderen Grünschnäbel wie Holzböcke.« Mit Komplimenten hielt er sich längst nicht mehr zurück. Es verwirrte Bernina noch immer, wenn er sie mit diesem Namen ansprach. Aber die entstandene Vertrautheit zwischen ihnen hatte sie dazu veranlasst, nun doch öfter selbst das Wort zu ergreifen.
»Ich weiß überhaupt nicht, woran das liegt«, erwiderte sie schließlich bescheiden. »Manchmal kommt es mir vor … ja, beinahe wie ein Tanz.«
»Wie ein Tanz«, prustete Meissner los. »Ich werde einfach das Gefühl nicht los, dass du ein ganz eigenartiger Junge bist.« Belustigt schüttelte er den Kopf. »Aber ein verteufelt guter Fechter, das steht fest.«
Es war ein früher Abend, und die Truppe lagerte an einer langgezogenen Felsspalte, die den Blick in ein fernes, von Nebel verhangenes Nichts freigab. Regen hatte eingesetzt und sich wieder in der kühlen Luft verloren. Der Feldwebel und sein Soldat namens Falk gingen langsam zurück zum Rest der Männer. Hier konnte keinerlei Holz aufgetrieben werden, und so würde man sich einmal mehr mit kaltem, getrocknetem Fleisch begnügen müssen. Noch war die Stimmung in Ordnung, doch es wurde erwartet, Nils Norby würde endlich seine Ankündigung wahrmachen und mehr über ihre Ziele berichten.
»Es würde mich durchaus reizen«, fuhr Meissner fort, »zu sehen, ob du das, was du erlernt hast, bereits in einem richtigen Kampf einzusetzen wüsstest.« Seine Hand berührte kurz Berninas Schulter, und sie blieben stehen.
»Schwer zu sagen«, wich sie aus.
Abschätzend betrachtete er sie. »Du bist sogar Hauptmann Norby aufgefallen.«
Bernina spürte, dass sie fast unmerklich zusammenzuckte. »Ist das wahr?«
»Zuerst wunderte er sich, dass ich mir so große Mühe mit dir gebe. Als er dann jedoch sah, wie du zu fechten imstande bist, da schien er mir nicht unbeeindruckt zu sein.«
Aus einem Impuls heraus versuchte Bernina, die Situation zu nutzen. »Sie kennen Nils Norby schon lange, Herr Feldwebel?« Ganz leise war ihre Stimme zu Meissner geflirrt, der kurz die Augenbrauen hob.
»Es ist zwar noch nicht lange her, dass er und ich einander vorgestellt wurden, aber gehört habe ich bereits viel früher von Norby.«
Sie fühlte die Neugier in sich und ertappte sich dabei, wie ihr Blick den großen, breitschultrigen Schweden suchte, der in einiger Entfernung mit einem kleinen Gefolge aus erfahrenen Männern den Zustand der Pferde überprüfte. »Und was hörten Sie über ihn?«
»Vieles hörte ich. Beeindruckendes.« Meissners Blick schweifte in die Weite. »Ein Mann mit außergewöhnlichen Fähigkeiten. Wie er selbst schon sagte, war er ein Offizier Gustav Adolfs. Mit seinem König kam er in unser Reich. Doch wie ich hörte, war er bereits wesentlich früher hier. Er entstammt keiner adligen Familie, sondern aus recht einfachen Verhältnissen, ein gewöhnlicher Soldat der Flotte, mehr nicht. Aber seine Courage und sein messerscharfer Verstand blieben nicht unbemerkt. Wichtige Männer wurden auf ihn aufmerksam, er lernte sogar den König höchstpersönlich kennen, und der war ebenfalls äußerst angetan von dem jungen Nils Norby.«
»Woher wissen Sie das alles über ihn?«, erkundigte sich Bernina nach einer kurzen Pause leise.
»Ach, in den Armeen hört man so einiges im Laufe der Zeit. Seit 20 Jahren lebe ich mit dem Krieg. Und dieser Krieg, so grausam er auch ist, bringt immer wieder große Persönlichkeiten hervor. Wahre Legenden. Und Norby hätte eine dieser Legenden werden können.«
»Hätte?«, betonte Bernina fragend.
»Zunächst lief alles gut für ihn. Vielleicht weißt du das ja, aber der schwedische König litt sehr unter der Tatsache, dass seine Frau ihm keinen Thronfolger geboren hatte – nur eine Tochter. Gustav Adolf nahm sich Norbys auf besondere Weise an. Er war offenbar ein junger Mann, der es wert gewesen wäre, der Sohn des Königs zu sein. Gustav Adolf hatte Hochachtung vor den Schulen unseres Reiches, und er sorgte dafür, dass Norby im Collegium Illustre in Tübingen ausgebildet wurde. Hast du schon einmal davon gehört, Falk?«
Bernina schüttelte den Kopf.
»Das war eine Ritterakademie von beachtlichem Ruf. Nur die besten jungen Männer erhalten die Gelegenheit, sich an einem solchen Ort zu beweisen. Der Lehrplan umfasst Hof- und Staatsdienst, vor allem aber Heeresdienst. Der Kampf wird gelehrt, in jeglicher Ausprägung. Mannhaftigkeit in der Gefahr, rascher Entschluss zum Handeln, Schnelligkeit in der Ausführung. Das ist es, was zählt. Aber auch Sprachen, Naturwissenschaften, Recht und Geschichte werden den jungen Männern nahegebracht. Und sogar der Tanz.« Der Feldwebel lachte verhalten, ehe er weitersprach. »Ein neuer Typ des Edelmanns wurde in Tübingen geformt, gewandter, gepflegter und anspruchsvoller. Und trotz dieser Geschliffenheit und all der Bildung dennoch ein Typ, der so verwegen kämpfen konnte wie der wildeste Wikinger vor ein paar Jahrhunderten. Später wurde das Collegium Illustre wegen der Pest geschlossen. Nur vorübergehend, wie es hieß. Doch ich glaube, die dortigen Pforten werden sich nie wieder öffnen. Der Krieg selbst ist längst der größte Ausbilder geworden.«
»Und was wurde aus Norby?«
»Für ihn lief weiterhin alles bestens. Er reiste und kämpfte Seite an Seite mit seinem König im Reich. Er lernte viele Gegenden kennen. Er lernte den Krieg kennen. Und sein Name gewann an Gewicht. Er sollte Oberst werden, und sein Weg zum General schien klar vorgezeichnet.«
»Aber dazu kam es nicht«, schloss Bernina, die beobachtete, wie Nils Norby mit seinem Gefolge von den Pferden zurückkam. Die Männer ließen sich auf Felsen nieder und schienen in Gespräche vertieft zu sein.
»Bei der Schlacht von Lützen fiel Gustav Adolf. Nils Norby überlebte. Aber danach hat er nicht mehr viel von sich Reden gemacht. Im Gegenteil, es kamen sogar Gerüchte auf, dass er mit dem Tod seines Königs etwas zu tun hätte. Der Makel des Verräters klebte plötzlich an ihm. Mit seiner Karriere war es vorbei. Er verschwand in der riesigen Pulverdampfwolke des Krieges. Für viele Jahre. Manche hielten ihn längst für tot.«
»Wie stieß er zu Ihnen, Feldwebel Meissner?« Bernina war sich sicher, dass der Feldwebel nichts über Norbys Aufenthalt in Teichdorf, über seine Zeit als Henker und Wolfsjäger wusste.
»Die Zufälle des Lebens haben uns aufeinander zu getrieben. Ich versuchte, eine Weile ohne den Krieg auszukommen. Doch das war nicht so einfach. Zwar war ich ohne Armee, aber auch ohne Einkünfte. Jemand machte mir ein merkwürdiges Angebot. Ich sollte eine schlagkräftige Truppe zusammenstellen. Für guten Sold – und für eine Aufgabe weit fort von meiner Heimat.«
»Woher stammen Sie?«
»Eigentlich aus Karlsruhe. Aber der Krieg hat mich so lange in der Hand, dass ich mich kaum an mein Zuhause erinnern kann.«
»Sie nahmen also das Angebot an.«
»Und auch das hängt mit unserem Anführer zusammen. Denn mir wurde eröffnet, dass der einstmals berühmte Nils Norby das Oberkommando innehaben würde. Ich schlug ein. Weil ich nichts anderes zu tun hatte, weil ich Geld brauchte. Und wegen Norby.«
»Aber wer war dieser Jemand? Wer hat Ihnen das Angebot unterbreitet?«
»Sieh mal einer an: Du bist ja auf einmal recht neugierig. Bisher dachte ich, in dir steckt nur Leben, wenn du fechtest.« Meissner musterte sie mit plötzlich erwachter Aufmerksamkeit. »Habe ich mich da getäuscht?«
Sie wich seinem Blick aus. »Ich wunderte mich nur, wer …«
»Schon gut, Falk. Ist doch klar, dass du mehr wissen willst. Das gilt für dich nicht weniger als für die anderen. Bloß keine Sorge: Norby hat versprochen, euch mehr zu sagen, und das wird er auch tun.«
»Wann?« Schlicht hing das Wort in der Luft.
Meissner zeigte ein Schmunzeln. »Morgen.«
»Wirklich?« Bernina konnte ihr Erstaunen nicht verbergen.
»Morgen«, bekräftigte er. »In aller Frühe.«
*
Wie ein schweres Tuch legte sich die Dunkelheit über das Gebirge, dessen hart gezogene Umrisse etwas Bedrohliches und Unwirkliches ausstrahlten. Als wäre es ein riesenhaftes, bösartiges Lebewesen, das die kleine Armee plötzlich unter Felsbrocken, klaffenden Vorsprüngen und natürlichen Wänden aus nacktem Stein zermalmen könnte. Diese Nacht war die bislang kälteste. Der Wind verbiss sich in die Stoffe, in die sich die Soldaten einwickelten, und peitschte mit immer neuen Böen auf die Truppe ein.
Bernina zitterte unter der Decke und dem Umhang, den sie auch tagsüber, selbst beim Fechten, über dem ledernen Wams trug. Sie fror so sehr, dass sie nicht einmal vorübergehend von Schlaf erlöst wurde. Ihre Gedanken jagten hin und her, und gleichzeitig zwang sie sich dazu, nicht nachzudenken. Manchmal, wenn sie die Augen schloss und der Wind besonders laut aufheulte, hörte sie die Stimme der Krähenfrau. Ihre Mutter summte, ganz entspannt, so wie früher in der kleinen Hütte, in der diese eigenwillige Frau ihr zurückgezogenes Leben gelebt hatte. Und je stärker Bernina die Augen zupresste, desto deutlicher sah sie die Flammen der Scheiterhaufen auf dem Weidenberg. So weit fort das alles, und doch ganz nahe. Das Summen ihrer Mutter blieb die ganze Nacht über bei ihr, als versuche die Frau, aus dem Jenseits zu Bernina durchzudringen, um ihr Trost zuzusprechen, ihr Kraft zu geben. Bernina lauschte den melodiösen Tönen, die immer wieder vom Wind hinweggefegt wurden. Und sie rief sich den Klang von Anselmos Stimme in Erinnerung, seinen Akzent, sein Lachen. Es war für immer verloren. Oder doch nicht? Bernina konnte ihre Augen nicht mehr geschlossen halten. Sie starrte in das Grauschwarz der Nacht. Hier und da die Silhouette eines Felsens, sonst nichts, überhaupt nichts. Nicht nachdenken, sagte sie sich erneut, einfach nicht nachdenken. Einmal hörte sie einen der Wachposten fluchen. Sie selbst war erst gegen Morgengrauen zum Wacheschieben eingeteilt, aber hier tatenlos liegen zu müssen, kam ihr schlimmer vor. Diese Nacht. So kalt, so endlos. Derartig hoffnungslos hatte Bernina sich seit ihrem verwegenen Aufbruch von Braquewehr noch nie gefühlt.
Als sie irgendwann von einem der Soldaten mit der Stiefelspitze angestoßen wurde, stand sie geradezu erleichtert auf. »Zeit für deine Wache«, meinte der Mann mit einem Gähnen. Sie griff nach dem Gürtel mit dem Degen und ihrer Muskete. »Ich bin bereit«, sagte sie flüsternd. Und im selben Moment fragte sie sich in Gedanken: Bist du das wirklich? Bereit? Für das, was auf dich wartet? Was immer es sein mochte.
Der Morgen schaffte es nicht, sich gegen dieses bleierne Grauschwarz durchzusetzen. Kaum Tageslicht. Die Berge ebenso bedrohlich wie am Abend zuvor, ihre Felsspitzen wie tödliche Waffen.
Völlig durchgefroren, schob sich Bernina am Ende ihrer Wache ein paar getrocknete Apfelstücke zwischen ihre rissig gewordenen Lippen. Sie erinnerte sich an Meissners Worte und fragte sich, ob sich der Feldwebel mit der Ankündigung nur einen Scherz mit ihr erlaubt hatte. Im Lager wurde schon alles für den Aufbruch bereit gemacht. Die Pferde standen gesattelt in einer Reihe.
Der Wind brachte Regentropfen mit, die sich in Schnee verwandelten. Bernina spürte die kleinen Flocken wie Nadelstiche auf den Wangen. Während sie auf das Signal zum Aufsitzen wartete, ertönte auf einmal der Befehl Meissners, dass sich alle am Rand des Lagers versammeln sollten. Die Wagenfahrer erhielten den Auftrag, auf die Pferde aufzupassen.
Mit sichtlicher Anspannung wurde der Anweisung Folge geleistet. Alle Blicke ruhten auf Nils Norby, der an den angetretenen Soldaten vorüberschritt und mit Leichtigkeit auf einen großen Felsbrocken sprang. Von dort erfasste sein Auge die Truppe, und sofort erstarb das kaum hörbare Gemurmel der Männer. Windumpeitscht stand der Hauptmann da, auf einer Bühne aus Stein, im Hintergrund Regen und Schnee wie ein grauer Seidenvorhang.
»Wenn man sich umblickt«, rief er klar und deutlich, »dann sieht es aus, als stünde der Weltuntergang bevor.« Er vermittelte den Eindruck, als nehme er weder Wind noch Kälte wirklich wahr. »Und doch ist das ein Moment des Triumphs. Eures ersten Triumphs. Ihr habt es geschafft. Höher hinaus müssen wir nicht mehr. Wir haben eine Schneise erreicht, durch die wir heute mit dem Abstieg in südlicher Richtung beginnen können. Noch haben wir das Gebirge nicht überwunden. Doch von nun an werden wir besser vorankommen. Wir werden zu den Ebenen gelangen, bevor der nächste Gebirgszug und damit die nächste Herausforderung auf uns wartet. Aber ich habe gesehen, wie ihr diese Berge überwunden habt – das wird euch wieder gelingen.«
Er ließ seine Blicke von einem zum anderen der Männer wandern, und Bernina merkte, wie sie ihr Gesicht sofort tiefer unter das Halstuch zu schieben versuchte. Bislang war es ihr gut gelungen, seine unmittelbare Nähe zu meiden. Bis auf den kurzen Moment, als er so plötzlich aufgetaucht war, hatte er nie wieder das Wort an sie gerichtet. Und abermals verscheuchte Bernina den Gedanken daran, was passieren mochte, würde er in dem Soldaten Falk die Frau erkennen, deren Leben er in Teichdorf gerettet hatte.
»Sicher«, fuhr Norby fort, »wir haben Zeit verloren. Ein paar Wochen, womöglich nur ein paar Tage später, und das Wetter hier oben wäre noch wesentlich schlechter gewesen – die Pässe schneebedeckt und unüberwindbar.« Ein Lächeln umspielte seine Mundwinkel. »Jetzt aber haben wir die Aussicht, doch noch unseren Weg in das Land zu finden, in dem fast immer Sommer ist. Allerdings sind es nicht sommerliche Tage, was wir gewinnen wollen.«
Er ließ eine wohlüberlegte Pause folgen, bevor er seine Stimme wieder dem Wind entgegenschleuderte: »Natürlich wollt ihr endlich wissen, was euch erwartet. Natürlich wollt ihr wissen, was ihr am Ende in den Händen haltet. Ich sage euch: nicht nur den Lohn, den Feldwebel Meissner euch zugesichert hat. Mehr als das. Gold. Ich erwähnte es ja bereits vor euch allen. Gold.« Wiederum eine Pause, in der Norby das zufriedene Grinsen in den Gesichtern seiner Zuhörer betrachtete. »Der Weg zu einer bestimmten Gegend in Spanien ist noch weit, sehr weit. Aber da wir das erste Gebirge so gut wie bezwungen haben, bin ich zuversichtlich, dass wir noch weitaus mehr schaffen können. Und dass mehr in euch steckt, als ihr vielleicht selbst vermutet. Gewiss habt ihr von Aufständen in Spanien gehört, in Katalonien etwa, von blutigen Fehden, von Schwierigkeiten, in denen der spanische König steckt. Aber deswegen ist unsere Armee nicht unterwegs. Deswegen sind wir nicht hier.«
»Weshalb dann?«, wagte einer der Soldaten in die entstehende Stille zu brüllen. Es war der bärtige Mann, der sich viele Tage zuvor ein Wortgefecht mit Meissner geliefert hatte.
Norby lächelte kurz. Statt einer Antwort zog er unter seinem Wams ein schillernd rotes Stoffstück hervor. Ohne Eile begann er es auseinanderzufalten. Der Stoff schien aus Seide zu sein.
Eine Flagge?, fragte sich Bernina, die dem Schweden ebenso gespannt zusah wie die übrigen.
Er hielt sich den roten Stoff vor die Brust. Auf dem leuchtenden Rot prangte ein Symbol, und Bernina spürte auf einmal ihren Herzschlag ganz stark. Das Symbol war der Kopf eines Wolfes.
»Merkt euch dieses Zeichen, Männer«, rief Norby. »Dieses Zeichen gilt es zu besiegen.«
Bernina hatte sich den Wolfskopf schon seit Langem gemerkt. Er hatte sich ihr ins Gedächtnis gebrannt, seit sie ihn zum ersten Mal gesehen hatte – gestickt auf einem Seidentuch, das einem Brief beigelegt worden war. Ein Brief, den eine gewisse Isabella ihrem Mann Anselmo geschrieben hatte.
»Wer den Wolf besiegt«, drang Norbys Stimme mit Verzögerung wieder in ihr Bewusstsein, »wird reich entlohnt. Mit viel mehr Reichtum, als wenn ihr weiterhin durch die Städte des Reiches ziehen würdet, die seit Jahren bluten. Entlohnt mit Gold! Mit viel Gold …«
Aufbrandende Jubelrufe unterbrachen ihn kurz.
»… mit mehr Gold, als in eure Taschen passt!«
Noch lauter der Jubel.
»Seid ihr bereit, mit mir eine Festung zu stürmen?«
»Ja!«, schallte es ihm entgegen.
»Eine Festung, für die man eigentlich doppelt so viele Männer bräuchte? Oder fünfmal so viele?«
»Ja!«
»Dann werden wir sie stürmen«, sagte Nils Norby mit auf einmal ganz ruhiger Stimme. »Und wie wir sie stürmen werden.«
Hochrufe wurden angestimmt, ausgelassen warfen viele Männer ihre Hüte in die Luft.
»Lasst uns nicht noch weitere Zeit verlieren«, fügte ihr Anführer unverändert ruhig hinzu. »Wir werden erwartet. Von einem Wolf. Von einem Wolf, den es zu stellen gilt.« Und mühelos zerriss er den Stoff der roten Flagge in Fetzen, die er vom Wind davontragen ließ.
Den ganzen Tag über hielt sich die merkwürdig erregte Stimmung, die während der Ansprache in der Luft gelegen hatte. Bernina fühlte sie so klar wie die Böen des Bergwindes, der einfach nicht nachließ. Im Gegensatz dazu lösten sich Schnee und Regen allmählich auf. So kam es den Männern nicht mehr ganz so kalt vor. Während sie die Pferde einen Abhang nach dem anderen, ein Teilstück nach dem anderen hinunterführten, sprachen sie über das, was der Hauptmann ihnen mitgeteilt hatte. Obwohl er immer noch nicht alle Einzelheiten vor ihnen ausgebreitet hatte, wirkte keiner der Männer missmutig. Im Gegenteil, sie alle schworen sich ein auf das große Unbekannte, das vor ihnen lag.
Zum ersten Mal wurden sogar Soldatenlieder angestimmt, die hier und da in den etlichen Armeen dieses Krieges aufgeschnappt worden waren. Zunächst in deutschen Dialekten, dann in fremden Sprachen. Jeder einzelne wurde dazu angehalten, ein Lied vorzutragen, und keiner konnte sich davor drücken. Nur dieser stille, unauffällige Soldat namens Falk, der sich durch die vielen Fechtübungen, für die Meissner ihn einspannte, gewissen Respekt erworben hatte, wurde dank seiner langwierigen Halsverletzung davon befreit.
Je weiter sie ihren Abstieg fortsetzen, desto wärmer wurde es. Das Grau des Himmels blieb irgendwo in den Höhen haften, und die ersten Sonnenstrahlen seit Tagen erreichten die Männer. Das Land breitete sich grün und waldreich und offenbar nur von vereinzelten kleinen Ortschaften besiedelt unter ihnen aus, doch im Süden wartete wohl schon der nächste Gebirgszug. Irgendwo in südöstlicher Richtung versteckte sich das Meer, und der Gedanke daran löste ein Kitzeln in Bernina aus. Wie gern hätte sie einmal in ihrem Leben das Meer gesehen.
Der Untergrund wurde weicher, die Felsen wichen Bäumen und Sträuchern. Bäche sprudelten, Obsthaine und Felder wechselten einander ab. Die Armee tauchte ein in einen dichten Wald und zog den ganzen Tag weiter, unterbrochen nur von der einen oder anderen kurzen Rast. Abends wurden einige Soldaten zur Jagd ausgeschickt. Auf einer großen Lichtung entfachte man Feuer. Das faulig gewordene Wasser wurde aus den Trinkschläuchen geschüttet und durch neues aus einem Fluss ersetzt. Die Jäger brachten ein paar Hasen und ein Wildschwein mit – sie wurden mit Jubel empfangen. Es würde ein Festmahl sein! Die Stimmung stieg weiter.
Anschließend mussten alle in Reihe und Glied antreten. Doch an diesem Abend wandte sich nicht Nils Norby an die Truppe, sondern Feldwebel Meissner. »Auf dem Weg hierher«, rief er den Männern zu, »habe ich versucht, aus euch bessere Soldaten zu machen. Aus jedem einzelnen von euch. Von jetzt an geht es darum, aus euch eine bessere Einheit zu machen. Hauptmann Norby wird mich unterstützen, er wird uns führen, und wir alle werden durch seine Erfahrung gewinnen. Wir werden die Ebenen nutzen, um rascher voranzukommen und gleichzeitig das zu erlernen, was Gustav Adolf einst seinen Soldaten beigebracht hat. Wir sind keine große Armee, aber wir werden eine schnelle, bewegliche, für keinen Gegner berechenbare Armee sein. Eine Armee, die siegreich ist.«
In den folgenden Tagen setzten Norby und Meissner diese Ankündigung in die Tat um. Nach dem Aufbruch war man bis zum Mittag unterwegs, um dann nach einer Verschnaufpause rasch unterschiedliche Kampfsituationen zu simulieren und das Verhalten der Truppe als Kampfeinheit zu verbessern. Norby erklärte immer wieder, warum Gustav Adolf vielen seiner Gegner überlegen war: »Der schwedische König«, hallte die Stimme des Hauptmanns, »hat auf die Tercios, die nach dem Vorbild spanischer Truppen gebildet wurden, ganz einfach verzichtet. Dadurch waren seine Einheiten weniger schwerfällig. Er führte lockere Kampfaufstellungen ein, bewegliche Dreierreihen. So schaffte er es, seine Widersacher immer wieder zu überraschen. Und genau das werden wir auch.«
Danach wurde der Weg noch bis zum Einbruch der Dunkelheit fortgesetzt. Erst dann errichtete die Armee ihr Lager. Die ausgelassene Stimmung war einer gespannten gewichen. Je weiter man kam, desto näher rückte der Kampf. Desto näher rückte die Gefahr. Selbst an den Lagerfeuern richtete sich die Aufmerksamkeit auf die bevorstehenden Auseinandersetzungen. Man nutzte die Flammen, um mit bestimmten Zangen Bleikugeln zu gießen. Immer öfter wurde über die Festung gerätselt, die es laut Nils Norby eines Tages zu erstürmen galt. Über ihre Entlohnung, auch über ihre Gegner, die unter dem Banner des Wolfskopfes kämpften.
Bernina spürte die Anspannung ringsum, hörte sie in jeder beiläufig hingeworfenen Bemerkung der Männer. Sie betrachtete die Waffen eingehender als zuvor: Pistolen, Musketen, Säbel, Degen, Dolche. Manche Soldaten führten auch einen Pallasch mit sich, eine Waffe mit gerader einschneidiger Klinge und korbförmigem Handschutz, die angeblich aus der Türkei stammte. Andere vertrauten auf Hellebarden und die längeren Piken, auf Streitkolben, Morgenstern und den ähnlich aussehenden Kriegsflegel. Wie die Männer selbst waren auch ihre Waffen ein zusammengesetztes Abbild vieler Armeen, zahlloser Schlachterlebnisse und unterschiedlicher Kampftaktiken.
Kräfte zehrende Tage waren es, doch die kleine Armee kam ohne größere Schwierigkeiten voran. Sie mied Ansiedlungen und befestigte Straßen, folgte dem inzwischen gewohnten Ablauf aus langsamem Ritt und Kampfübungen, ruhte in den Nächten nicht allzu lange und verlor bei der Jagd in den wildreichen Gegenden recht wenig Zeit. Aber selbst jetzt noch legte Feldwebel Meissner Wert darauf, den einen oder anderen Moment der Muße auszunutzen, um Berninas Fähigkeiten mit dem Degen dank seines geübten Auges und seines immer treffsicheren Rats weiter zu verbessern. Noch geschmeidiger ihre Bewegungen, noch schneller ihre Klinge, die durch die Luft stieß. Der zwischenzeitliche Verdacht, Meissner habe ihre Verkleidung durchschaut, hatte sich längst wieder verflüchtigt. Wenn auch ihr Haar Bernina Sorgen bereitete – es wuchs unglaublich schnell. An einem der zurückliegenden Abende hatte sie die Spitzen mit der Schere, die noch aus Braquewehr stammte, zum wiederholten Male nachschneiden müssen.
Während es in Berninas Heimat gewiss schon recht kühl geworden sein musste, brachte hier vor allem die Mittagszeit noch eine angenehme Wärme, die auch von dem selten einsetzenden Regen kaum gestört wurde. Dann jedoch zeichneten sich nahe im Süden die Umrisse der angekündigten Berge ab, der Pyrenäen, die noch mächtiger zu sein schienen als der zuletzt überwundene Gebirgszug. Immer wieder spähten die Männer in die Richtung dieses Hindernisses, das ihnen die Natur in den Weg gesetzt hatte.
Am letzten Abend, bevor man die Berge erreichte, wurde der Befehl zum Antreten ausgegeben. Die Männer lagerten in einem kleinen düsteren Waldstück. Norby und Meissner erschienen vor der Truppe, im Rücken der beiden Offiziere die Gipfel, die über die Baumwipfel ragten und scheinbar in den sich verdunkelnden Himmel stachen. Nicht der große Schwede, sondern der Feldwebel war es, der alle auf den beim nächsten Morgengrauen beginnenden Anstieg einstimmte. Nils Norby schwieg so lange, bis Meissner endete und die Soldaten wegtreten lassen wollte.
»Eine Sache noch«, merkte der Hauptmann mit irgendwie ausdrucksloser Miene an. »Unter euch gibt es einen Mann namens Falk.«
Der Klang des Namens traf Bernina mitten ins Herz. Sie schluckte so laut, das die neben ihr stehenden Soldaten es hören mussten.
Der Blick des Schweden tastete die Reihen ab. »Dieser Mann soll vortreten. Jetzt!«
»Hey!«, zischte einer der Soldaten Bernina zu. »Worauf wartest du noch, Junge?«
Vögel hockten auf Ästen, und ihr Zwitschern war das einzige, was die Stille im Lager störte.
»Falk!«, verlangte Norby abermals nach ihr. »Ich hörte, mit deiner Stimme sei etwas nicht in Ordnung, nicht jedoch mit deinen Ohren!«
Bernina erhielt einen Schubs von hinten, und schon stand sie einen Schritt vor den übrigen.
»Na also.« Ganz kurz nur fiel Norbys Blick auf sie. »Soldat, ich erwarte dich zu einem Gespräch unter vier Augen. Das heißt, unter drei Augen.« Einige Soldaten lachten über den kleinen Scherz. »Und zwar sofort!« Der Hauptmann drehte sich abrupt um und ging auf sein Zelt zu, das nur aus einer Plane bestand, die man über fünf hohe zugeschnitzte Holzstöcke geworfen hatte.
Bernina beobachtete, wie sich sein Körper ins Innere des Zeltes schob. Tief in ihr verspürte sie nur noch den jähen Drang, einfach loszurennen und diese sonderbare Armee für immer hinter sich zu lassen. Diese Armee und Nils Norby.
*
Eine Talgkerze zauberte einen Ring gelblichen Lichts an die farblose Stoffplane, vor der sich die Gestalt des Mannes dunkel abhob. Sein eigener Schatten schien auf ihn herabzustarren. Er hatte dem Eingang des Zeltes den Rücken zugekehrt und hielt die Hände über dem Kreuz verschränkt.
Zwei Schlafstellen, die zweite für Meissner, eine Reisekiste, auf der der Kerzenstummel und ein Zinnkrug platziert worden waren. Der Krug verströmte den vollen Geruch von Wein. Es waren solche Einzelheiten, die Bernina wahrnahm, als sie die Plane zurückschlug – der Blick auf Nebensächliches half ihr, die Gedanken zu ordnen, sich besser im Griff zu haben. Mit einem vorsichtigen Schritt glitt sie nun ins Zelt, um sogleich stehenzubleiben.
Nie war sie sich ihrer Verkleidung so sehr bewusst gewesen wie in diesem Moment. Der angeklebte Bart juckte noch stärker als sonst, die Kleidung hing schwer an ihren schmalen Schultern. Froh war sie nur über den Hut, dessen breite, von Regen und Wind rissig gewordene Krempe ihr gesenktes Gesicht verdunkelte. Ohne ihn offen anzusehen, war sie sich der Gegenwart Nils Norbys ganz stark bewusst. Sie meinte sogar, das Leder seines abgewetzten Wamses riechen zu können, den er über einem offenen hellen Leinenhemd mit ausladendem Kragen trug.
Er drehte sich um, und auch den Blick seines Auges spürte sie ganz deutlich.
»Feldwebel Meissner sagte mir«, begann der Hauptmann, »du wärst nicht nur ein verblüffend starker Degenfechter. Er meinte auch, die Verletzung behindere deine Stimme nicht mehr allzu stark.«
Bernina nickte, weiterhin mit gesenktem Haupt. Und sie fühlte sein Lächeln, ohne dass sie es mit den eigenen Augen sehen musste.
Von draußen hörte man ein wenig gedämpft die Unterhaltungen der Männer, die an den Feuern saßen. Pferde wieherten, ein Soldat hackte zusätzliches Feuerholz. Die Kerzenflamme flackerte.
»Hmh«, murmelte Nils Norby. »Ich weiß gern, was meine Männer denken. Also, was denkst du, Soldat? Wie gefällt dir deine Einheit?«
»Gut.« Mehr ein Räuspern denn ein Wort. Worauf will er nur hinaus?, fragte sich Bernina und fühlte sich zusehends unwohler in ihrer Haut.
»Gut«, wiederholte Norby ironisch und trat einen Schritt näher auf Bernina zu. »Hast du schon Erfahrung in der Schlacht sammeln können, Soldat?«
Sie schüttelte ihren Kopf.
»Warum hast du dich gerade für diese Truppe entschieden, Soldat?«
»Ich wusste nicht, wohin ich sollte.« Jede Silbe ein kleiner innerer Kampf für Bernina. Sofort räusperte sie sich wieder.
»Immerhin eine ehrliche Antwort. Du bist aus Braquewehr, nicht wahr?«
Abermals nickte sie lautlos. Nach wie vor erwiderte sie seinen Blick nicht. Was hat er bloß vor?, fragte sie sich erneut, und ihre Wachsamkeit wuchs noch mehr.
»Na ja, die Fortschritte, was deine Stimme betrifft, scheinen ein wenig übertrieben zu sein.« Leise lachte er, um gleich darauf mit ernsterer Stimme zu sagen: »Soldat, sieh mich an.«
Sie hob ihr Kinn. Ihr Blick traf seinen. Aus der Nähe änderte sie ihre Meinung. Die Verletzung, die er am Rande Ippenheims erlitten hatte, war ihm doch anzumerken. Bleicher seine Haut, tiefer sein Auge in der Höhle, und auch seine Wangenknochen sprangen noch härter aus seinem markanten Gesicht hervor. Allerdings nahm sie das nur im Unterbewusstsein wahr. Ein anderer Gedanke durchzuckte sie wie ein Blitz, hämmerte hinter ihrer Stirn: Meissner hat dich doch durchschaut! Und dann hat er natürlich seinen Hauptmann eingeweiht. Norby weiß es!
»Ich wette, das ist dein erster Bart, Soldat.«
Sie nickte und sah wieder auf die nackte Erde unter ihren Füßen. »Ja.«
»Und ich wette auch, du wirst einmal mit dem Degen so gut sein, dass du selbst mir Schwierigkeiten bereiten könntest. Ich habe dich hin und wieder mit Meissner beobachten können, zumindest kurz.« Ein flüchtiges Heben seiner breiten Schultern. »Aber das ist nicht alles, was zählt. Weißt du, was meine Männer vor allem können müssen?« Auf einmal war er noch ein Stück näher bei ihr. »Weißt du das, Soldat?«
»Nein«, flüsterte sie. Oder war ihre Aufregung etwa doch unbegründet? Hatte Meissner letzten Endes nicht entdeckt, dass sie …
Norbys Stimme zerschnitt den Gedanken: »Meine Soldaten müssen küssen können.«
Berninas Kopf ruckte hoch. Völlig verdutzt blickte sie ihn geradewegs an.
Schon hatte er seine Arme um sie gelegt. Er presste seine Lippen auf ihre, und nach einem Augenblick des Erschreckens gelang es ihr, sich aus seinem Griff zu winden. Ohne dass sie abzuwägen, ohne dass sie sich selbst aufzuhalten vermochte, traf das Leder ihres Handschuhs auf seine Wange. Ein trockner, klatschender Laut. Und wieder konnte sie nur verdutzt aufblicken.
Seine Reaktion war ein lautes Auflachen. Dann trat er einen Schritt nach hinten.
»Entschuldige«, sagte er schließlich. Doch erneut musste er lächeln. »Unser erster Kuss. Und ich muss gestehen: Selbst ein ungehobelter Kerl wie ich hätte ihn sich etwas romantischer vorgestellt. Wenn du wüsstest, wie sehr es mich schon während unserer gemeinsamen Tage zwischen Teichdorf und Ippenheim gereizt hat, dir nahe zu kommen. So verdammt gereizt.«
Bernina spürte, dass ihr das Blut in die Wangen geschossen war. In ihr wütete ein wahres Durcheinander an Gefühlen. Scham. Wut. Hilflosigkeit. Und doch tat es auf sonderbare Weise gut, einmal die eigene Verkleidung abzustreifen. Ganz offen erfassten ihre Augen den Schweden. »Es freut mich, dass du auf meine Kosten so viel Spaß hast.« Sie war froh, dass sie es fertigbrachte, Gefasstheit in ihre Stimme zu legen. Sogar eine gewisse Kühle.
»Ich muss nochmals um Verzeihung bitten. Ohne etwas über die Situation zu wissen, die dich zu der Maskerade veranlasste, hätte ich nicht lachen dürfen. Das ist mir durchaus klar.« Der Spott war völlig aus seinem Blick gewichen. »Aber die Versuchung war einfach zu groß. Ich konnte wohl nicht widerstehen.«
Sie streifte den Hut vom Kopf, den sie sonst nur zum Schlafen abnahm. Dass sein Blick ihr kurzes, unordentlich und wild abgeschnittenes Haar streifte, war ihr gleichgültig. Auf einmal war da eine dumpfe Müdigkeit in ihr. »Die Ohrfeige hast du jedenfalls verdient«, meinte sie.
»Kein Widerspruch.«
»Dabei hat es mir so sehr Kummer bereitet, dass ich mich bei dir nicht einmal bedanken konnte.« Bernina schüttelte den Kopf, und ein verhaltenes, vielleicht sogar trauriges Lächeln schlich über ihre Lippen. »Das lastet wirklich sehr auf meinem Gewissen.«
»Wovon sprichst du?«
»Wovon schon? Du wolltest mich retten und fandest dabei den Tod. Das dachte ich jedenfalls. Und ich habe mich schuldig gefühlt. Sogar geträumt habe ich von dir. Diese Sache nagte unaufhörlich an mir, seit ich dich zum letzten Mal sah. Seit du – wie ich annahm – wegen mir sterben musstest.«
»Eine begehrenswerte Frau, die von mir träumt? Was könnte ich mir Schöneres vorstellen?« Seine Stimme schwankte zwischen Heiterkeit und Ernst, als hätte er sich nicht schnell genug entscheiden können, ob er ein Kompliment machen oder wieder anzüglich werden wollte.
Bernina erwiderte nichts darauf.
»Aber allzu viel«, fuhr er fort, »darf ich mir wohl nicht darauf einbilden. Denn es ist ja eher ein junger Mann, der von mir träumt.« Jetzt war er es, der sich räusperte. »Schon wieder ein alberner Scherz. Ich verspreche dir, das war der letzte dieser Art.«
»Du brauchst mir überhaupt nichts zu versprechen.«
Norby sah sie an – erneut mit Ernsthaftigkeit. »Doch neugierig geworden, das bin ich in der Tat. Wie kam es dazu, dass du zu einem Soldaten wurdest?«
Sollte sie offen sein und ihm alles erzählen? Oder noch nicht? Sie war verwirrt, diese ganze Situation hatte etwas unendlich Verwirrendes.
»Irgendwie bin ich da wohl …«, entgegnete sie zögernd, »… tja, hineingeschlittert.«
Er betrachtete sie weiterhin voller Aufmerksamkeit. »Ja, das ging mir wohl ähnlich. Hineingeschlittert.«
»Du bist also wieder Wolfsjäger geworden?«
»Du sprichst die Flagge an, die ich zerriss. Wolfsjäger. Könnte man durchaus so sagen. Aber ich sehe es eher so: Vor allem bin ich wieder Soldat geworden. Zumindest etwas, das an das Soldatsein erinnert. Ein Offizier bei einer Armee der Unsichtbaren.«
»Armee der Unsichtbaren?«
»Eine Truppe von Gescheiterten und Verzweifelten. Irgendwie geschlagen, jeder von ihnen. Weder der Krieg noch die zivile Welt scheint sie noch haben zu wollen. Eine Armee der Gespenster, der Unsichtbaren. Flüchtende, Grünschnäbel. Und Kranke. Wie ich dich kenne, ist dir das aufgefallen, oder? Wie viele Kranke es unter diesen Männern gibt. Ich meine nicht nur die, die eine schwere Verletzung aus dem Krieg mitbrachten.«
Bernina nickte. »Ja, die Kranken sind mir sofort ins Auge gestochen.«
Viele der Männer waren übersät von hässlichen verkrusteten Narben, die von eitrigen Pusteln stammten. Pocken. Eine bösartige Erkrankung. In schweren Fällen konnte sie zu Erblindung, Gehörlosigkeit, Lähmungen und sogar Hirnschäden führen. Oft genug kam der Tod.
»Es ist klar, dass wir nur solche Soldaten kriegen«, erklärte Norby. »Allein schon deswegen, weil wir alles im Dunkeln lassen müssen. Unser Auftraggeber ist ein Mann, der im Hintergrund bleiben möchte. Wir können nicht mit offenen Karten spielen. Deshalb triffst du in unserem Lager nur auf junge Männer, die bei anderen Armeen oft bloß als Träger und Hilfsjungen verpflichtet werden. Oder auf ältere. Die, die in den besten Jahren sind, finden sich zum Beispiel bei d’Orville, Arnim von der Tauber oder Benedikt von Korth. Und hier gibt es auch mit Sicherheit genügend Herumtreiber, die schon öfter auf der falschen Seite des Gesetzes gestanden haben. Verbrecher auf der Flucht.«
»Du und Meissner, ihr habt sie trotzdem aufgenommen.«
»Ja. Männer, die andere Offiziere nicht mehr wollten. Darum muss ich ihnen hin und wieder schmeicheln. Wie gesagt: eine Armee der Gescheiterten. Ich weiß das. Aber umso besser, wenn sie es nicht wissen. Das ist auch der Grund, warum hier militärische Ränge nicht viel zählen. Meissner wird nicht anerkannt, weil er Feldwebel ist, sondern weil er der Mann ist, der er ist.«
Bernina musterte ihn lange. »Wer ist dieser geheimnisvolle Auftraggeber?«
»Ein Mann, den ich schon lange kenne. Ich gab ihm mein Wort, seinen Namen gegenüber niemandem zu nennen. Vor Kurzem traf ich ihn wieder. In Ippenheim, rein zufällig. Ich musste mich von meinen Verletzungen erholen, und in dem Gasthof, in dem ich unterkam, lief er mir über den Weg. Er war in großer Sorge. Ich willigte ein, ihm zu helfen. Er sagte, er kenne einen fähigen ehemaligen Feldwebel, den er unter Umständen ebenfalls für den Plan gewinnen könne. Und dieser Feldwebel …«
»Meissner«, warf Bernina ein.
»… begann rasch damit, Leute zu rekrutieren. Mit den ersten davon schlug er bereits den Weg nach Westen ein. Ich sollte nachkommen.«
»Worum sorgte sich dein Auftraggeber?«
»Um sein Leben, seine Familie, seinen Besitz. Und so war er auf der Suche nach jemandem, der verrückt genug war, für ihn einen weiten Weg auf sich zu nehmen und ein großes Wagnis einzugehen.«
»Jemanden wie dich.«
Nils Norby lächelte. »Hineingeschlittert, wie du es so schön nanntest. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Ich war am Ende. Nicht nur aufgrund der Verletzungen, die mir Kugel und Degen der Spanier zufügten, sondern weil es mir nicht gelungen war, dich zu beschützen. Das einzige Ziel, das ich mir in vielen Jahren setzte, hatte ich nicht erreicht. Denn auch ich war überzeugt davon, dass du tot sein musstest. Und ich wollte es nicht wahrhaben. Übrigens auch, weil ich dir unbedingt noch etwas sagen wollte. Die ganze Zeit schon. Ohne dass ich jedoch irgendwie den richtigen Moment dafür finden konnte.«
»Und was war das?«
Sein Lächeln erhielt etwas Ausweichendes. »Heute erscheint es mir nicht mehr wichtig zu sein. Bloß eine Kleinigkeit, unbedeutend. Und so blieb ich ohne dich zurück. Die Spanier nahmen an, dass ich nicht mehr am Leben war. Oder es reichte ihnen aus, mich außer Gefecht gesetzt zu haben. Ihnen ging es ja um dich. Verwundet schleppte ich mich in die Stadt. Anständige Leute fanden mich und halfen mir. Und bald ging die Nachricht durch die Straßen Ippenheims, dass vier Spanier eine junge schöne Frau mit blondem Haar und einen unbekannten Mann in den Tod gehetzt hätten. Da war mir klar, dass ich nie wieder etwas zu dir sagen würde. Ich kurierte meine Verletzungen aus und hielt mich zurück: Niemanden klärte ich darüber auf, dass zumindest der Mann mit dem Leben davon gekommen war.«
»So haben wir also beide das gleiche angenommen: dass der jeweils andere tot wäre.«
»Ja, womit wir unweigerlich wieder bei dir wären, Bernina.« Der Klang seiner Stimme war begleitet worden von einigen Windböen, die gegen den Zeltstoff prallten. Noch immer hörten sie gedämpft, wie sich die Männer im Schein der Feuer unterhielten. »Wie kam es, dass du zu einem Soldaten wurdest?«
Nach wie vor hatte Bernina nicht entschieden, wie sie das Ganze erklären sollte. Und noch ehe sie einen Laut hervorbringen konnte, stellte ihr Norby die nächste Frage. »Hat es etwas mit deinem Mann zu tun?«
Beinahe noch verblüffter als bei dem Kuss traf ihn ihr Blick. »Wie kommst du darauf?«
Eine vage Geste seiner Rechten. »Du hast mir über deine Mutter, niemals jedoch über deinen Mann berichtet. Dabei hörte ich in Teichdorf, dass er ganz plötzlich verschwunden wäre.« Norby schien in ihrem Gesicht zu forschen. »Ich habe öfter daran denken müssen. Und auch jetzt fiel es mir wieder ein.«
Bernina wunderte sich insgeheim über sein Gespür. Anselmo war tatsächlich nie ein Thema zwischen ihnen gewesen.
»Du willst nicht darüber reden?«, fragte er nach.
»Doch«, erwiderte sie spontan. In kurzen Worten schilderte sie ihm, wie sie zufällig einen Hinweis darauf erhielt, dass Anselmo sich in der Gewalt von einer Gruppe mysteriöser, gefährlicher Männer befinden würde – Spaniern, die angeblich den Weg in ihre Heimat eingeschlagen hätten. »Den Weg nach Valencia«, setzte Bernina hinzu.
In Norbys Auge war ein kurzes Aufflackern. Er erfasste sofort den Hintergrund dessen, was sie getan hatte, und pfiff durch die geschlossenen Lippen. »Du hast erfahren, dass auch meine kleine, merkwürdige Streitmacht dieses Ziel hatte und bist …« Leise ließ er die Worte verklingen.
Sie sah ihn nur an. Eine Bestätigung wäre auch nicht nötig gewesen.
»Deswegen also dieser Aufzug? Deswegen all die Strapazen und der Aufbruch in ein fernes Land?«
»Nun hältst du mich gewiss für närrisch, für übergeschnappt«, meinte sie mit abwartendem Ton.
»Vielleicht.« Auf seiner Stirn bildeten sich Falten. »Vielleicht halte ich dich aber auch für eine Frau, in der viel Liebe steckt.«
»Wahrscheinlich habe ich mich an etwas geklammert, das es gar nicht gibt. Etwas, das ich einfach hören wollte. Die Worte jagten durch meinen Kopf. Gefangener, Spanien, Valencia. Und dann war da diese Armee … Ich weiß nicht, welcher Teufel mich ritt, aber …« Diesmal beendete sie den Satz nicht.
Der Hauptmann lachte. Allerdings alles andere als spöttisch. Eher anerkennend. »Als ich dich zum ersten Mal sah, war mir bereits klar, dass du anders bist als andere Frauen. Ich kann mich genau an den Moment erinnern: Du warst auf dem Weg zu dem Platz vor der Kirche. In Begleitung eines schwarzhaarigen Mannes. Deines Ehemannes.«
Ohne ein Wort nickte sie.
»Es war der Morgen des großen Festes. Und schon da, in diesem Augenblick wusste ich, dass du über einen Mut verfügst, den es selten gibt.« Ein sanftes Lächeln auf seinen Lippen. »Seit diesem Tag ist viel geschehen, nicht wahr, Bernina?«
Irgendwie war es merkwürdig für sie, nach Wochen wieder den eigenen Namen zu hören. »Ja, sehr viel.«
»Und heute stehen wir beide uns irgendwo in diesem Niemandsland gegenüber.«
»Sag mir bitte eines.« Bernina bemühte sich um einen wieder nüchternen Tonfall. »Seit wann wusstest du, dass ich der Soldat Falk bin?« Sie verschränkte die Arme vor ihrer Brust. »Meissner. Oder? Er hat etwas gemerkt, habe ich recht?«
Erneut zeigte der Schwede sein Lächeln. »Ja und nein. Dass du eine Frau bist, also auf diesen Gedanken ist er nicht gekommen. Du hast offenbar überzeugend geschauspielert. Aber irgendwie wurde er nicht schlau aus dir. Er schilderte mir, was für ein guter Fechter du geworden bist – und dass da auch noch etwas anderes an dir ist. Etwas Ungewöhnliches. Also beobachtete ich euch hin und wieder.« Norby schlug die Handflächen ineinander. »Und dann war es, als würde ein Tuch von meinen Augen weggezogen. Ich konnte es nicht glauben. Deine Anmut beim Fechten. Die Art, wie du die Erde fast nicht zu berühren scheinst. Ich sah sofort die Bilder aus Teichdorf. Du und ich, zusammen auf der Flucht.« Weich klangen diese Worte, weicher als alles, was er je von sich gegeben hatte.
Bernina blickte ihn an. »Und nun? Was denkst du? Was soll mit mir passieren?«
Er schien seine nächste Antwort gut abzuwägen. »Was können wir tun? Hier, fernab jeder Ortschaft. Fürs Erste lassen wir alles, wie es ist. Du bist ja bislang damit durchgekommen. Und ab morgen früh beginnt der Aufstieg. Aber wenn wir das nächste Gebirge hinter uns haben, weiß ich ehrlich gesagt noch nicht, wie es weitergehen soll.«
»Ich möchte nur nach Valencia. Dort hoffe ich, die Spur meines Mannes irgendwie wieder aufnehmen zu können.«
»Meiner Meinung nach hast du keine großen Chancen …«
»Dennoch werde ich es versuchen«, fiel sie ihm rasch ins Wort.
Sie maßen sich mit Blicken. Bernina sah die winzigen Fältchen in seinen Augenwinkeln und den verschmutzten Stoff der Augenklappe, an deren Rand sich Nässe gebildet hatte. Die Haut um die Klappe herum schien verkrustet zu sein.
»Eigentlich wollte ich dich die ganze Zeit schon fragen, wie du dein Auge verloren hast. Aber …«
»Aber?«
»Du hast es überhaupt nicht verloren.«
»Nein, es ist nur … irgendwie krank. Ich weiß auch nicht.«
»Darf ich es mir ansehen?«
»Wenn du meinst.«
Behutsam schob Bernina die Klappe hoch auf seine Stirn. Entzündet. Rot. Ganz feucht. »Kannst du damit noch sehen?«
»Ja, doch leider nicht sehr gut. Alles ist verschwommen. Wind brennt wie Feuer. Und selbst wenn es windstill ist, spüre ich immer einen Schmerz.«
Sie nickte leicht. »Vielleicht kann ich dir helfen.«
»Du?« Erstaunen sprach aus seinem Blick, während er das Auge wieder verdeckte.
»Lass dich überraschen.«
»Du bist zu mancher Überraschung fähig, wie ich längst weiß.« Er ließ ein kurzes Lachen folgen. »Wichtiger jedoch als mein Auge ist vor allem eines: Du musst dich weiterhin so geschickt verhalten wie bisher. Ich will auf keinen Fall, dass die Männer die Wahrheit über dich herausfinden. Gerade weil die Truppe bis jetzt einen überraschend ordentlichen Eindruck hinterlassen und so gut wie keine Schwierigkeiten gemacht hat. Den Kerlen würde das Blut überkochen, wenn sie wüssten, dass du …«
»Ich werde vorsichtig sein«, unterbrach sie ihn erneut.
»Dann sehen wir uns morgen früh. Es warten harte Tage auf uns alle.«
Ohne ein weiteres Wort drehte Bernina sich um. Sie fühlte seinen Blick auf sich, als sie das Zelt durch die Plane verließ. Die meisten der Soldaten streckten sich gerade auf ihren Schlafstellen aus. Es stand womöglich die vorerst letzte warme Nacht bevor, doch das war es nicht, woran Bernina dachte. Ihre Gedanken waren bei dem frechen Kuss, den Nils Norby ihr aufgezwungen, mit dem er sie überfallen hatte, irgendwie spielerisch und doch mit Leidenschaft. Selbst wenn sie es sich nicht recht eingestehen mochte: Einen ganz kurzen verrückten, unerklärlichen Moment hatte sie seinen Kuss erwidert. Ohne es zu wollen. Und doch hatte sie es zugelassen. Diesen einen verrückten Moment lang.
*
Der Schrei des Vogels durchschnitt die dunkle Stille. Berninas Blicke strichen über die Wipfel der Bäume hinweg. Groß, scheinbar unendlich groß, türmte sich das Gebirge jenseits des Waldes auf. Sie vernahm schnellen Flügelschlag und sah die Umrisse des Vogels, ein Schemen, der sich kaum von der Schwärze der allmählich zerfallenen Nacht abhob. Eine Krähe?, fragte sie sich. Doch der Vogel war bereits nicht mehr zu entdecken.
Bernina atmete die Luft ein, deren kristallene Reinheit sie in ihren Lungen zu spüren glaubte. Sie hatte so gut wie gar nicht geschlafen und sich mit dem zaghaften Einsetzen des Morgengrauens in das nahe gelegene, wild wuchernde Dickicht aus Sträuchern und Büschen geschlichen. Nicht einmal die Wachen, die das Lager immerfort mit langsamem Schritt umkreisten, hatten etwas davon bemerkt. Allein sein, endlich einmal, wenn es auch nicht für lange sein würde – das war angenehm, sehr angenehm. Zumal noch das Gespräch mit Nils Norby in Bernina gegenwärtig war und seine Worte unverändert klar um sie herumschwirrten.
Auch der Anblick seiner Augenklappe und der Hautpartie darunter beschäftigte Bernina. In ihrem Gedächtnis hatte sie gewühlt und gewühlt, bis sie auf eine bestimmte Erinnerung gestoßen war. So viel hatte sie über Kräuter, Pflanzen und deren heilende Wirkung von ihrer Mutter gelernt, und in ihr war die Hoffnung, dass dieses Wissen, wie früher schon oft, auch diesmal von Wert sein konnte. Nachdenklich betrachtete sie die kleine unauffällige Pflanze mit weißen Blütenblättern, die sie gesucht und schließlich gefunden hatte. In dieser Gegend schien alles Mögliche in geradezu verschwenderischem Ausmaß zu wachsen und zu gedeihen. Gern hätte sie noch mehr davon gesammelt, aber womöglich reichte auch das schon. Sie hörte, wie im Lager zum Wecken gerufen wurde, und beschloss, sich auf den Rückweg zu machen. Es musste ja nicht unbedingt auffallen, dass sie sich entfernt hatte. So ersparte Bernina sich neugierige Fragen. Und darauf achtete sie sowieso die ganze Zeit: Fragen und Gespräche zu umgehen. Rasch verstaute sie die Pflanzen noch in einer Hemdtasche unter dem Wams.
Auf einmal ein Geräusch – Zweige, die unter Sohlen knackten. Sie wirbelte herum. Nicht die Wachposten, wie sie angenommen hatte.
Ihre Blicke trafen aufeinander. So wie am Abend zuvor im Zelt.
»Ich habe gesehen, wie du im Unterholz verschwunden bist«, sagte Nils Norby.
»Du bist sehr früh auf den Beinen.«
»Immer.«
»Dachtest du, ich wollte türmen?«
Ihr ironischer Tonfall brachte ihn zum Lächeln. »Türmen? Bei dir wäre ich kaum auf diesen Gedanken gekommen. Du bist jemand, der eher den Weg nach vorn sucht. Ist es nicht so?«
»Gut möglich.« Bernina spähte an ihm vorbei zwischen den Sträuchern hindurch. Das Lager erwachte geräuschvoll zum Leben. »Übrigens, eine Sache hast du mir gestern nicht mehr gesagt. Und im Nachhinein bin ich doch neugierig darauf.«
»Ja?«
»Auf unserem Weg nach Ippenheim, da hattest du mir unbedingt etwas mitteilen wollen. Eine Kleinigkeit. Was war das?«
»Wirklich nur eine Kleinigkeit.« Er nickte mit nun wieder ernster Miene. »Zum ersten Mal sahst du mich auf dem Weidenberg, nicht wahr? In der Nacht, als die Scheiterhaufen brannten.«
Sie wartete, dass Norby weiter sprach.
»Ich war nie zuvor ein Henker gewesen. Das war das erste Mal, dass ich mich dafür hergab. Und das letzte Mal.« Er wich ihrem Blick aus, was ungewöhnlich für ihn war. »Wie ich gestern schon sagte, es ist nur eine Nebensächlichkeit. Ohne Bedeutung.«
»Es ist nicht ohne Bedeutung«, widersprach Bernina leise. Sie erinnerte sich daran, dass er die Leiden der Gequälten damals zumindest verkürzt hatte. »Und ich finde es gut, dass du mir es doch noch gesagt hast. Es ist schön zu hören, dass du niemals zuvor oder danach …«
»Sprechen wir einfach nicht mehr davon«, unterbrach er sie mit zurückhaltender Stimme.
Jetzt war es Bernina, die lächelte. »Ja, ganz wie du möchtest.«
Eine Mischung aus Befangenheit und Vertrautheit herrschte in diesem Augenblick zwischen ihnen, mehr noch als am Vorabend. Ganz plötzlich wurde das Bernina bewusst. Sie senkte den Blick und holte die Pflanzen, die sie gesammelt hatte, aus ihrer Tasche.
»Übrigens, bei starken Augenentzündungen«, erklärte sie, »greift man oft auf Kamille zurück.« Sie bemühte sich, wieder Nüchternheit in ihre Stimme zu legen.
Ohne etwas zu äußern, betrachtete Norby die kleine, unauffällige Pflanze mit den weißen Blütenblättern in ihrer Hand.
»Doch davon habe ich nichts gefunden. Was aber nicht schlimm ist, denn soweit ich mich erinnere, hat meine Mutter einmal gesagt, dass in Kamille etwas sei, das das Auge noch mehr reizen könne.«
»Und was ist das für eine Pflanze?«
»Ein Kraut, von dem man hier recht viel findet. Den richtigen Namen kenne ich nicht. Aber nicht zufällig wird es auch Augentrost genannt. Du kannst dich in den nächsten Tagen damit behandeln.«
Er hob kurz die Schultern. »Sehr gut. Danke.«
»Man muss es mit heißem Wasser aufgießen, dann durch ein Sieb geben. Mit der Flüssigkeit wird ein Tuch getränkt, das dann auf das geschlossene Auge gelegt wird.«
»Bestens, das kriege ich hin.«
»Ich hoffe, es wird dir helfen.« Bernina wandte sich ab von ihm, um zurück zum Lager zu gehen. Doch seine Hand legte sich auf ihren Oberarm.
»Hast du nicht auch Herztrostkraut für mich?«
»Ist etwas nicht in Ordnung mit deinem Herzen?«
»Nur von Zeit zu Zeit. Dann scheint es plötzlich wie wild zu schlagen. Als würde es aus der Brust springen.«
Nils Norbys lässiges Lächeln zeigte ihr, auf was er halb scherzend, halb im Ernst hinauswollte. Rasch löste sie sich aus seinem Griff, um sich zwischen zwei Büschen hindurchzuschieben.
»Möchtest du wissen, wann mein Herz so heftig schlägt, Bernina?«
»Nein.«
Schritt für Schritt ging sie weiter, und die Stimme des Schweden drang noch einmal zu ihr: »Immer, wenn du in der Nähe bist.«
Bernina drehte sich nicht mehr zu ihm um. Doch seine Worte ließen sie nicht los, hielten sie auch noch fest, als sie sich wieder unter die Soldaten mischte, die dabei waren, ein rasches Frühstück zu sich zu nehmen.
Kurz darauf setzte sich die Truppe in Bewegung. Sie wand sich aus dem Wald und kroch die ersten Anhöhen hinauf, ein Wurm, der langsam, aber stetig vorankam. Am frühen Nachmittag brandete ein Unwetter auf und stoppte den Anstieg ziemlich abrupt. Die Soldaten wurden mit ihren Reit- und Lastpferden in den Schutz eines großen langgezogenen Felsvorsprungs gedrückt. Regengüsse und zum ersten Mal auch wieder die Nadelstiche des Schnees. Der Wind brüllte, zerrte an den Männern, der Himmel war auf einmal so schwarz wie in der Nacht.
Auf dem bisherigen Weg nach oben hatte man durch Unachtsamkeiten zwei Männer eingebüßt. Sie waren mit ihren Pferden in eine tiefe Schlucht gestürzt. Ihre gellenden Todesschreie schienen selbst jetzt noch in der kalten Luft zu liegen. Zuvor war es nie zu einem solch schlimmen Zwischenfall gekommen, und der hilflose Blick in den Abgrund, der zum Grab wurde, lastete noch schwer auf den meisten der Soldaten. Zum ersten Mal seit dem Aufbruch machte sich eine wirklich schlechte Stimmung breit. Einzelne waren gereizt, Streit brach aus, beinahe überall Murren und Stänkern.
Sowohl Norby als auch Meissner erfassten die veränderte Situation sofort. Der Hauptmann stellte sich vor die Männer, mitten in das Wüten des Sturms. Seine Stimme kämpfte gegen das Trommeln des Regens: »Männer, hört mir zu!«
Die Blicke suchten ihn, die Soldaten erwarteten seine Worte.
»Vor Kurzem habe ich euch den Wolf gezeigt, gegen den wir kämpfen werden. Und euch von der Festung berichtet, die es zu erstürmen gilt. Ihr Name lautet La visitación. Ein Wort, das für mich Heimsuchung bedeutet. Denn genau das werden wir tun: Wie werden diesen Ort heimsuchen und besiegen.«
Feldwebel Meissner schob eine Holzkiste heran und ließ sie zu Norbys Füßen stehen. Die Kiste war beim Zurücklassen der Wagen einem Packpferd auf den Rücken gebunden worden. Er öffnete sie, und die Soldaten versuchten vergeblich, einen Blick auf den Inhalt zu werfen.
Norby holte etwas aus der Kiste heraus und hob es über sein Haupt in den peitschenden Regen. Es war ein Stoffstück. Von derselben schillernd roten Farbe wie die Flagge mit dem Wolf, jedoch nicht aus Seide, sondern aus einem derberen Gewebe.
Eine Windböe brach krachend am Fels, und im nächsten Moment faltete der Schwede den Stoff auseinander. Es handelte sich um einen Umhang. »Wir sind eine Einheit geworden, Männer. Und dieser Stoff wird das für jeden Fremden, für jeden Feind auf den ersten Blick sichtbar machen.«
In der Kiste befanden sich viele dieser Umhänge, und Meissner hatte bereits begonnen, sie den Männern zu übergeben. Jeder griff sich einen und reichte die anderen weiter.
»Ihr seht die goldenen Blumen darauf«, fuhr Norby fort und wies auf die gestickte goldene Rose an jeder Kragenecke der Kleidungsstücke. »Das ist die Rose von Alvarado. Und sie bedeutet für euch pures Gold. Münzen, schwer wie eure Muskete, mit der geprägten Rose von Alvarado darauf.«
Es war nur ein Umhang, nichts weiter. Und doch war die Wirkung, die er auf die Männer ausübte, nicht zu übersehen. Jeder warf sich den Stoff sofort über die Schultern. In den Stimmen war kein Murren mehr, plötzlich wurden sogar wieder Scherze gemacht. Die Soldaten schlugen sich gegenseitig auf die Schultern und lachten.
Nur Berninas Mund war ein schmaler zusammengepresster Strich. Sie starrte auf den roten Stoff, der ihr in die Hand gedrückt worden war. Die gestickte Rose schimmerte ihr golden entgegen, und die Schrecken, die sie in Teichdorf durchlebt hatte, waren wieder bei ihr, krochen unter ihre Haut, ließen sie in Kälte erstarren. Die Männer um sie herum jubelten Nils Norby zu, doch Bernina hörte die Rufe ebenso wenig wie den Lärm des Unwetters. Stumm blickte sie auf die Rose von Alvarado.