Kapitel 7
Der bittere Geschmack von Blut
Lange hatte er sich angekündigt, jetzt war er über Nacht gekommen: Der Schnee lag über einen Fuß hoch. Nicht mehr nur über die Bergkuppen gestülpt, inzwischen klebte er auch auf nacktem Fels. Eisfinger, die nach den Tälern krallten. Erstarrte Bäche und Flüsse, weiße Baumwipfel, weiße Pfade, weiß scheinbar auch die Luft, in der der Winter klirrte, in der jeder Atemzug zu einer trüben Wolke gefror.
Gundelfingen war die nächste Ortschaft, bereits nicht mehr allzu weit entfernt. Und das bedeutete, dass auch Teichdorf immer näher an sie herankroch. Ein so harmloser, so vertrauter Name – und doch löste er längst ein Erzittern in Bernina aus. Stumm starrte sie vom Bock aus in die heimatliche Landschaft, die sie umgab, begraben unter dem frischen Schnee.
Obwohl noch nicht einmal die Mittagszeit angebrochen war, wurde der Himmel dunkler, wilder, ein zerklüftetes Meer. Wie schon am Vortag peitschten sich die Wolken gegenseitig auf, der nächste Sturm machte sich bereit für einen Angriff auf die Welt.
Farblosigkeit, so weit das Auge blickte. Bis auf diesen einen dunklen Fleck in der Weite, ein Fleck, der sich bewegte.
Eng nebeneinander saßen sie bereits seit dem ersten Morgenflackern auf dem Bock. »Das ist ein Mensch, oder?« Leise die Stimme Berninas.
Anselmo nickte. »Je weiter wir in unsere Gegend kommen, desto unwohler wird mir. Wahrscheinlich wäre es das Beste, vorerst niemandem zu begegnen.«
»Ja, vor allem wenn man die Umstände bedenkt, unter denen ich damals verschwinden musste. Bestimmt hat Egidius Blum dafür gesorgt, dass ich als Hexe in Erinnerung bleibe, die mit Krähen spricht und Böses im Sinne hat.«
»Wer immer das dort vorn sein mag: Jetzt ist es nicht mehr möglich, ihm auszuweichen.«
Anselmo hatte recht. Es war zu spät – der Schnee zu tief, die beiden Zugpferde mit dem Wagen nicht wendig genug, um schnell in die Wälder abzutauchen.
Der dunkle bewegliche Fleck näherte sich ihnen. Sie starrten ihm entgegen, sich der Anspannung bewusst, die sie erfasste.
Die Konturen gewannen an Schärfe, aus dem Fleck wurde ein Mann, der zu Fuß ein breites, schwerfälliges Pferd an den Zügeln neben sich herzog. Schon viele Meter vor dem Wagen hielt er inne, um die Neuankömmlinge mit offensichtlicher Neugier zu betrachten.
»Gott zum Gruße«, rief er aus. Der Gaul, der ihm gehörte, schleifte an einem Strick ein großes Bündel geschlagenes und zusammengebundenes Holz hinter sich her.
Trotz der Entfernung und den dicken Stoffen, die den Mann vermummten, konnte Bernina die kranken Stellen auf seinen Wangen sehen. Anselmo ließ die Pferde noch einige Schritte zurücklegen, dann brachte er sie zum Stehen.
»Wer seid ihr?« Der Fremde hatte eine helle Stimme. Er war jung, mit Sicherheit keine 20 Jahre alt.
Anselmo nickte ihm zurückhaltend zu und deutete auf das Bündel hinter dem Gaul. »Das ist aber eine mühsame Art, für Feuerholz zu sorgen.«
Der junge Mann lachte kurz auf. »Das stimmt, aber auf dem Hof ist so viel los. Ihr seid zwar anscheinend nicht aus der Gegend, aber habt vielleicht trotzdem von der Hochzeit gehört. Die Vorbereitungen und all das. Unser Wagen wird gebraucht. Und außerdem ist meine Familie wohl ganz froh, wenn ich eine Weile nicht zu sehen bin. Na ja, wegen der Gäste.« Verschämt blickte er zu Boden. »Alle wissen, dass ich mir was eingefangen habe.«
»Wer heiratet?«, meldete sich Bernina zu Wort, um die entstandene, etwas peinliche Stille zu durchbrechen.
»Mein großer Bruder. Der Gute platzt bald vor Stolz.« Nun wieder das Auflachen. »Aber sagt mir doch, wer ihr seid. Ich habe euch noch nie gesehen.«
»Wir sind Durchreisende«, erwiderte Anselmo.
»Keine schöne Zeit für Reisen. Ein Sturm zieht auf. Ein mächtiger Sturm, wie es aussieht.«
»Wir werden schon durchkommen.«
»Besser, ihr begleitet mich auf unseren Hof. Wie gesagt, da ist zwar viel los, aber ein Dach über dem Kopf können wir euch in jedem Fall bieten.«
»Vielen Dank für den Vorschlag.« Anselmo wechselte einen abwägenden Blick mit Bernina.
»Übrigens, wohin soll eure Reise denn gehen?«
Erneut ein zögernder Blick. Dann war es Bernina, die antwortete: »Nach Teichdorf.«
Ein kurzes, aber deutlich wahrnehmbares Erschrecken in den Augen des Fremden. »Teichdorf?« Er sah weg und wieder zu ihnen. »So, so. Mhm.«
»Nun ja«, fuhr Bernina fort, »zunächst einmal liegt Gundelfingen auf unserer Strecke. Es ist ja nicht mehr allzu weit bis dorthin.«
»Zu weit allerdings, wenn ich an den Sturm denke.« Der Fremde deutete zum Himmel, wo die Wolken sich immer stärker verhakten.
»Aber auf dem Hof – da würden wir doch bloß im Wege sein und stören. Gerade jetzt, wo ein Fest ansteht.« Bernina schüttelte den Kopf.
»Aber nicht im Geringsten. Kommt ruhig mit mir. Mein Vater wäre nicht gerade begeistert von mir, wenn ich zwei Reisende bei einem solchen Wetter ihrem Schicksal überlassen würde.«
»Was ist das für ein Hof?«, fragte Bernina.
»Der Zipfner-Hof. Wir sind die Familie Zipfner.« Die Andeutung einer höflichen Verbeugung. »Ich bin Wilfried.«
»Wir sind Anselmo und Bernina«, sagte Bernina mit einem Lächeln. Dieser gutherzige Junge erinnerte sie in seiner Unbedarftheit ein wenig an Irmtraud.
In diesem Moment das erste Brüllen des Sturms. Urplötzlich prasselte eine Mischung aus Hagel und eisigem Schnee auf sie herab. Wind kam auf, eine fauchende Welle aus Kälte.
»Gundelfingen ist wirklich zu weit«, wiederholte Wilfried Zipfner. »Kommt mit zum Hof. Das ist auf jeden Fall das Beste.«
Anselmo und Bernina verständigten sich mit einem raschen Nicken. »Binde dein Pferd hinten am Wagen fest«, sagte Anselmo. »Und dann hoch mit dir auf den Bock.«
»Und herzlichen Dank für die Einladung«, fügte Bernina hinzu.
Der Zipfner-Hof war tatsächlich nicht weit entfernt. Ein schönes Gehöft schälte sich aus dem immer heftiger werdenden Wirbel des Sturmes. Trotz des dichten Schneefalls nahm sich Wilfrieds Vater, Johann Zipfner, die Zeit, die beiden unerwarteten Gäste im Flur des Hauptgebäudes zu begrüßen. Auch er fragte nach ihren Absichten, und Anselmo beließ es bei der wiederum äußerst knappen Erklärung, sie seien einfach nur Durchreisende.
»Aufgescheucht vom Krieg, nehme ich an«, entgegnete Zipfner mit verständnisvollem Nicken. »Auf der Flucht vor Gewalt und Zerstörung. Wie so viele andere auch.«
Sie bejahten nur, recht froh darüber, genaueren Nachfragen zu entgehen. Nach wie vor waren sie beide überzeugt davon, dass es ratsamer war, nicht allzu viel von ihrer wahren Identität preiszugeben.
Zipfner entschuldigte sich, dass im Haupthaus kein Platz für sie frei sei, da im Moment viele Gäste beherbergt würden. »Aber wir haben noch einen zusätzlichen Raum, der an den Kuhstall anschließt. Klingt nicht gerade großartig, aber es ist besser, als ihr denkt.« Er lachte auf, ähnlich wie zuvor sein Sohn. »Dort ist es warm, das Dach ist dicht, und die Wände sind so stark, dass nicht einmal der größte Teufelssturm sie niederzureißen vermag.«
Was er ankündigte, war nicht übertrieben. Angesichts des Wetters waren Bernina und Anselmo nun wirklich äußerst erleichtert, hier Schutz gefunden zu haben. Sie saßen auf Stroh, umhüllt von Decken, die ihnen Zipfner freundlich aufgedrängt hatte. Leise unterhielten sie sich, die Worte immer wieder verschluckt vom Krachen des Unwetters. Mehrere Talgkerzen brannten, sorgsam auf einer Steinplatte aufgestellt. Nebenan blökten hin und wieder die Kühe, erschrocken über die Heftigkeit des Wintereinbruchs. Bernina begann, von dem Mann zu sprechen, den man in Teichdorf Geigenspieler genannt hatte. Doch Anselmo blockte das Thema ab. Sie fragte sich, was geschehen würde, wenn dieser Unbekannte und Anselmo aufeinander träfen. Denn bei dem Mann mit der Geige konnte es sich nur um einen einzigen Menschen handeln, davon war Bernina überzeugt. Sie richtete ihren Blick auf Anselmo, der gedankenschwer in die flackernden Flammen starrte. Er wollte nicht mehr mit ihr darüber reden, das sah sie ihm an. War es ein Fehler zurückzukommen? War es richtig, den Weg fortzusetzen, um den Kreis zu schließen, wie es ihr eine vertraute Stimme in einem Traum zugeraunt hatte? Welche anderen Möglichkeiten gab es, neu anzufangen? Die Gedanken kreisten in Berninas Kopf, immer wieder aufs Neue, während sich Anselmo weiterhin seinem dumpfen Schweigen hingab.
Ein Klopfen und das Quietschen der Tür ließ sie aufblicken. Zwei Gestalten kamen herein, schneebedeckt Kopf und Schultern. Johann Zipfner und sein Sohn Wilfried. Sie hatten weitere Decken für die beiden Gäste dabei und außerdem noch eine große Schüssel mit Bratenfleisch und Brotstücken. »Damit ihr zwei nicht noch auf meinem Grund und Boden verhungert«, sagte Zipfner lachend.
Bernina nahm Wilfried dankend die Schüssel ab, sagte aber, sie hätten bereits genügend Decken.
»Wie Sie meinen.« Zipfner wies Wilfried an, die Decken zu der Unterkunft zu bringen, wo die Mägde und Knechte untergebracht waren, und der junge Mann verschwand sofort wieder.
»Ihr Sohn ist sehr nett«, meinte Bernina, die neben dem Bauern stand. »Er hat uns praktisch überredet, mit auf Ihren Hof zu kommen.«
»Das ist er.« Zipfner verzog das Gesicht. »Manchmal sogar zu nett. Und vor allem zu vertrauensselig. Vor Kurzem hat ihm eine Dame von nicht gerade anständiger Art ein Andenken hinterlassen.«
»Ich weiß. Es ist mir nicht entgangen.«
Zipfner hob die Hände. »Dieser dumme Junge. Da schwänzelt er ein einziges Mal um ein Frauenzimmer herum – und gerät an eine Käufliche. Die Franzosenkrankheit. Ich konnte es nicht glauben. Der dumme Kerl.«
»Der arme Kerl«, betonte Bernina verständnisvoller als der Mann.
»Wir haben alles versucht. Der Arzt in Gundelfingen wusste auch keinen Rat. Jedenfalls keinen, der geholfen hätte. Wir haben sogar dieses bestimmte Holz besorgen lassen. Das angeblich einzige Mittel gegen die Franzosenkrankheit. Teuer war’s! Aber niemand hier hat die geringste Ahnung, was man damit anstellen muss, damit es hilft.«
Bernina kamen sofort Gespräche mit der Krähenfrau in den Sinn. Ihre Mutter war verschwiegen, und so wurde sie oft gerufen, um Geschlechtskrankheiten zu behandeln. »Das Holz?«, murmelte Bernina. »Das wegen der Krankheit Franzosen-Holz genannt wird?«
»Ja, genau.«
»Würden Sie es mir zeigen? Vielleicht kann ich ja helfen. Seine Krankheit ist eine sehr schlimme Sache.«
Erstaunt lag Zipfners Blick auf ihr. »Ich weiß. Umso schöner wäre es, wenn Sie wirklich wüssten …« Er verstummte und schüttelte den Kopf. »Dieser dumme Kerl!«
»Seien Sie nicht zu hart mit ihm. Wir machen ja alle Fehler.« Bernina lächelte, aber mit ernstem Ausdruck. »Seiner jedoch könnte irgendwann tödlich enden.«
»Ach, das ist mir mehr als bewusst. Ich kann schon längst nicht mehr schlafen wegen meines Jungen.«
»Kann ich Ihnen sonst noch irgendwie helfen? Vielleicht bei den Vorbereitungen für die Hochzeit, die Wilfried erwähnt hat?«
»Überaus freundlich von Ihnen, Frau …?«
»Nennen Sie mich einfach Bernina.«
Anselmo, der die ganze Zeit kein Wort gesagt hatte, erhob sich und hielt Zipfner die Hand hin. »Und ich bin Anselmo.«
Die Männer schüttelten einander die Hände.
»Wirklich: Ich helfe gern!«, nahm Bernina den Faden wieder auf.
»Ach, wir haben schon genug fleißige Bienen, die sich in der Küche nützlich machen und das Haus schmücken. Denn von dem Sturm lassen wir uns nicht aufhalten. Morgen wird geheiratet. Ich hole den Pfarrer aus Gundelfingen mit meinem Wagen ab – und dann geht’s los! Mein Ältester muss dran glauben!« Er lachte auf, und Bernina und Anselmo lachten mit.
»Auf jeden Fall«, setzte der Bauer hinzu, »werdet ihr beide mitfeiern! Ihr seid gute Leute, das sehe ich. Und in diesen üblen Zeiten müssen wir feiern, wenn sich schon mal die Gelegenheit ergibt.«
»Das ist überaus großzügig von Ihnen«, erwiderte Bernina, »doch das können wir gewiss nicht annehmen.« Ihr war klar, wie kostspielig eine solche Feier für den Bauern war.
»Nichts da, ihr seid dabei. Das wird ein großartiger Tag. Wir haben sogar einen Narren zur Unterhaltung auftreiben können. Irgendwann später, lange nach der Trauzeremonie, damit unser Pfarrer nicht böse wird. Komischer Kauz, übrigens.« Rasch verbesserte sich Johann Zipfner: »Also, nicht der Pfarrer wohlgemerkt. Dieser Narr. Sein Lohn spricht allerdings für sich: Er darf einfach mitessen, und das war’s an Bezahlung.« Er winkte kurz ab. »Na ja, mal abwarten, ob er es überhaupt bis hierher schafft. Keine Ahnung, wo er haust. Vielleicht weht ihn das Unwetter in eine ganz andere Richtung.«
Bei diesem Stichwort hatte Bernina sofort einen Einfall. »Jetzt weiß ich, wie Anselmo und ich Sie bei Ihrer Feier unterstützen können, Herr Zipfner.«
Sowohl der Bauer als auch Anselmo sahen sie überrascht an.
»Erlauben Sie es doch einfach uns beiden«, meinte Bernina, »morgen für die Unterhaltung zu sorgen. Falls der Narr nicht auftaucht.«
»Und dazu seid ihr zwei imstande?«
Bernina blickte zu Anselmo, der sie anstrahlte.
»Eine wunderbare Idee«, sagte er. Und dann an Zipfner gewandt: »Sie werden zufrieden mit uns sein. Versprochen!«
»Gut, also nehme ich euch beim Wort.«
Gleich darauf begleitete Bernina den Hofbesitzer ins Haupthaus, wo sie von seiner Frau und einigen Gästen herzlich begrüßt wurde. In einer Kammer präsentierte Zipfner das Holz. »Ursprünglich stammt es«, erklärte er, »irgendwo aus einer Neuen Welt. So sagte man es mir zumindest.«
Ganz kurz dachte Bernina an die Palmen vor einem schönen Anwesen in den Weiten Spaniens. »Ich habe schon davon gehört, es aber noch nie mit meinen eigenen Augen gesehen.«
Es waren mehrere Stücke – schwer und fest, von schwarzer Farbe und einem eigenartigen, nicht unangenehmen Geruch. »Leider scheint es schon recht trocken zu sein. Dabei wäre gerade das Harz sehr wichtig für uns.« In Gedanken hörte sie die Stimme ihrer Mutter. Was hatte die Krähenfrau immer gesagt? »Man braucht die Späne dieses Holzes.«
»Keine Sorge, das kriege ich schon klein.«
»Die Späne und am besten noch einen Rest Harz. Das Ganze muss man mit Wasser übergießen, viel Wasser, fünf oder sechs Maß. Ja, ich erinnere mich.«
Und sie schritten zur Tat. Nachdem Zipfner mit dem Holz so verfahren war, wie Bernina es wollte, übergoss sie selbst die breiartige Masse aus groben Spänen mit Wasser. Dann wurde alles zum Sieden gebracht, anschließend im Schnee erkaltet und durch ein Tuch gepresst. Zurück in der Kammer wurde Bernina bereits von Wilfried erwartet. Sogleich begann sie, mit dem vom Tuch abgeschöpften Schaum die Hautflecken und Ausschläge zu bestreichen, die nahezu seinen gesamten Körper befallen hatten.
»Und das hilft?«, fragte Wilfried besorgt.
»Ich kann es bloß hoffen«, antwortete Bernina vorsichtig.
»Zuerst hatte ich nur diese hässlichen Flecken …«
»Auch Fieber, schätze ich.«
»Ja, immer wieder.«
»Schmerzende Gelenke?«
»Und wie!«
»Dann ist es höchste Zeit, dass etwas getan wird. Ich habe von Erkrankten gehört, die nicht mehr ihr Gleichgewicht halten konnten, die ihre Sprache verloren.« Bernina sah ihm in die Augen. »Die völlig verrückt wurden und schließlich starben.«
Wilfried senkte den Blick. »Ich weiß.«
»Aber soweit muss es nicht kommen«, versuchte sie sofort wieder zuversichtlicher zu klingen. »Wiederholt einfach die Anwendung mit dem Holz. Manchmal stecken in der Natur verblüffende Kräfte.«
»Ich bete dafür, dass es hilft.«
Bernina warf ihm einen aufmunternden Blick zu. »Tu das. Und ich gehe jetzt zurück zu meinem Mann.«
»Danke! Vielen Dank für alles!«
»Das ist doch nicht der Rede wert, Wilfried.«
Kurze Zeit später lag Bernina dicht neben Anselmo, begraben unter einem wahren Gebirge aus wollenen Stoffen. Endlich war ihr Haar so weit nachgewachsen, dass es wieder weich um ihre Ohren und in den Nacken floss. Sie lauschte den regelmäßigen Atemzügen ihres Mannes, der schon eingenickt war, und dem wummernden Grollen des hartnäckigen Sturmes. Der Tag glitt noch einmal in kurz aufschimmernden Bildern durch ihre Gedanken, und sie dachte an den armen Wilfried und seine angsterfüllten Blicke vor der Behandlung. Ganz langsam kam er dann doch, der Schlaf, es war angenehm, wie er sie umschmeichelte und unter ihre Haut kroch. Der Lärm des Windes konnte ihm nichts anhaben – doch da war noch ein anderes Geräusch. Bernina drehte dem wiederkehrenden Laut den Rücken zu, wollte ihn abschütteln, aber er ließ sich nicht verdrängen. Ein Klopfen, tock-tock-tock, nicht laut, aber eben nicht leise genug, um es überhören zu können. Irgendein Werkzeug, das an der Wand hing und gegen das Holz schlug? Bernina wühlte sich aus den Decken. Anselmo war nicht aufgewacht. Ihr Blick durchstach das Dunkel um sie herum. Umrisse erkannte sie. Dort hinten war die Tür, an der Wand hingen zwei Dreschflegel.
Das Klopfen allerdings – es war verstummt.
Dennoch richtete Bernina sich auf. Irgendetwas an diesem Geräusch war ihr komisch vorgekommen. Langsam ging sie zur Tür. Mit einem leisen Quietschen öffnete Bernina sie. Niemand zu sehen. Da war nur das Toben des Sturmes, der Schneewehen zwischen den Gebäuden herumwirbelte. Sie schloss die Tür und legte sich wieder hin, eine der Decken bis an die Nasenspitze hochgezogen. Wieder gewann der Schlaf die Oberhand, kein Geklopfe mehr, auf einmal jedoch eine Stimme, die durch die kalte Luft trieb, auf Bernina zu, eine Stimme, die sie erschreckte, ihr aber auch vertraut erschien, sehr vertraut, und merkwürdige Worte erreichten Berninas Ohr: »Vergiss deine Feinde nicht! Aus einem Feind kann immer auch ein Freund werden.«
Erneut wollte Bernina aufstehen, erneut kämpfte sie gegen die immer stärker werdende Müdigkeit, doch die Stimme hatte sich bereits wieder aufgelöst, nichts übrig von ihr. Feind und Freund, dachte sie, was soll das? Nils Norby? Ging es um ihn? Ein Feind zunächst, dann ein Freund, in Spanien wieder auf Feindesseite, nun aber längst weit entfernt von Bernina, irgendwo, wo auch immer … So schwerfällig Berninas Gedanken, so bleiern ihr Kopf, so übermächtig das Bedürfnis nach Ruhe. Dieser Sturm. Er tobte immer noch. Doch sie konnte nicht einmal mehr ihn hören. Nichts hörte sie, gar nichts.
Die Stille am Morgen war beinahe unwirklich. Auch die Helligkeit, die sich durch die Bretterritzen zwängte, mit einer bezwingenden Kraft, als wäre es der erste Tag nach langen Jahren tiefster Finsternis. Bernina schlug die Augen auf, und Anselmos Blick ruhte bereits auf ihr. Lächelnd strich er ihr das Haar aus der Stirn. Er gab ihr einen Kuss.
»Hast du gut geschlafen?«, erkundigte er sich.
»Eigentlich schon.« Nur flüchtig dachte sie an den Traum, an die Einbildung, an … Was immer es gewesen sein mochte.
»Ich auch. Nicht einmal von dem Unwetter habe ich noch viel mitbekommen. Ich fühle mich gut. Besser als seit Langem.«
»Schön, dass du wieder ganz gesund bist.«
»Und ob ich das bin.«
Ein Klopfen ließ sie die Decken von sich werfen – kein geisterhaftes Geräusch wie in der Nacht, sondern schlicht und einfach Fingerknöchel, die auf Holz trafen.
Sie machten die Tür auf und begrüßten Johann Zipfner, der für sie ein Frühstück dabei hatte. Ihm bleibe nicht viel Zeit, erklärte der Bauer, da er noch den Pfarrer holen müsse. »Wilfried spannt schon das Pferd vor den Wagen.«
»Ist er wohlauf?«, forschte Bernina fürsorglich.
Zipfner nickte. »Er wirkte recht munter, muss ich sagen. Und er war davon überzeugt, dass die Ausschläge zurückgegangen wären. Ich kann bloß hoffen, er bildet sich das nicht ein.«
»Ich habe ihm schon erklärt, dass die Anwendung mehrmals wiederholt werden muss.«
»Keine Bange, meine Frau und ich, wir werden uns gemeinsam darum kümmern.«
»Dann ist er in besten Händen«, erwiderte Bernina mit einem Lächeln. Doch ihr war nicht entgangen, dass der Mann ernster wirkte als am Vortag. »Ist alles in Ordnung, Herr Zipfner? Oder plagen Sie irgendwelche Sorgen?«
Etwas befangen hob er seine breiten Schultern. »Ich weiß nicht, wie ich es sagen soll. Schließlich geht mich das ja auch nichts an, es ist allein Ihre Sache, Sie beide müssen wissen, was Sie …« Er verstummte.
»Sprechen Sie ruhig offen zu uns, Herr Zipfner.«
»Wilfried erwähnte irgendetwas davon, dass Teichdorf Ihr Ziel sein soll. Stimmt das?«
Bernina und Anselmo sahen sich kurz an. Dann nickten sie.
»Was haben Sie beide dort zu tun, wenn ich fragen darf?«
Bernina blickte ihn an. »Wir kennen Leute, die da leben …«
»Ein Besuch?«
»Nun ja, gewissermaßen.«
»Ich wollte wirklich nicht neugierig sein«, entschuldigte sich der Bauer. »Es ist nur so, dass in Teichdorf …«
»Ja?«
»Gehen Sie nicht dorthin. Gerade so rechtschaffene Leute wie Sie beide. In Teichdorf hat sich der Satan eingenistet. Das Böse regiert in diesem Ort.« Ein beschwörender Klang mischte sich in seine Worte. »Macht einen weiten Bogen um Teichdorf. Je weiter, desto besser.«
»Danke für die Warnung«, war alles, was Bernina darauf antwortete.
»So, nun bin ich aber endgültig in großer Eile«, sagte Zipfner mit veränderter, wieder leichterer Stimme. »Ich muss los! Und ihr beiden, ihr denkt heute nicht mehr an Teichdorf. Genießt einfach nur den großen Festtag mit uns.«
»Das werden wir, Herr Zipfner.«
Am Nachmittag, lange nach der Trauungszeremonie und dem Übergeben vieler kleiner Geschenke, verteilte sich die Familie mit ihren Gästen in dem größten Raum, den der Zipfner-Hof zu bieten hatte – die Wohnküche mit dem gemauerten Kamin, die fast das gesamte Erdgeschoss des Wohnhauses einnahm. Das Feierliche des Ja-Wortes war einer ausgelasseneren Stimmung gewichen, man hatte gegessen, Brühen, Bratenfleisch, Gemüse, eingemachte Sommerfrüchte, und man hatte einem dunklen, würzigen Bier zugesprochen, das Wangen ebenso rot färbte wie die aus dem Kamin züngelnden Flammen. Die Leute kosteten die Ausnahme ihres ansonsten kargen, arbeitsreichen, mit Furcht vor marodierenden Kriegssöldnern ausgefüllten Alltags aus. Ihre Herzlichkeit sorgte dafür, dass sich auch die beiden unerwarteten durchreisenden Gäste, die der Sturm hierher geweht hatte, überaus wohlfühlten inmitten der großen, heiteren Runde.
Bernina und Anselmo taten ihrerseits alles, um den besonderen Tag für die Menschen auf dem Zipfner-Hof noch angenehmer zu gestalten. Zumal der Narr bisher nicht aufgetaucht war, wie Bauer Zipfner es schon befürchtet hatte. Die Braut mit einem Kranz aus getrockneten Kräutern und der mit einem schmucklosen schwarzen Wams bekleidete Bräutigam, Johann Zipfner junior, der dem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten war, saßen am Kopf der Tafel und freuten sich am meisten von allen über Berninas Flötenspiel. Das kleine, geschickt geschnitzte Instrument hatte sich in einer Truhe auftreiben lassen, und Bernina war überrascht, wie leicht fast schon vergessene Melodien wie aus dem Nichts zurück zu ihr kamen. Den lautesten Applaus erntete allerdings Anselmo, der mit Stöcken jonglierte, auf den Händen lief, allerlei akrobatische Kunststücke vollführte. Sie spannten sogar ein Seil, in etwa drei Schritt Höhe, zwischen Küchen- und Außentür. Es fehlte ihnen an Übung, aber wie die Musik hatte auch das Balancegefühl irgendwo in ihnen geschlummert. Ganz leicht konnte es geweckt werden, sie glitten über das Seil, erst hintereinander, dann in entgegengesetzter Richtung, um sich in der Mitte zu treffen. Es war wie ein Schweben, und nur ganz kurz sah Bernina nicht Anselmo vor sich, sondern Feldwebel Meissner, den Degen erhoben, Anerkennung im Blick angesichts ihrer Geschicklichkeit.
Auch andere Erinnerungen umschmeichelten sie: die lange zurückliegenden Darbietungen mit den übrigen Gauklern, die vom Krieg in alle Himmelsrichtungen vertrieben worden waren. Überfüllte Dorfplätze im Sonnenschein, klatschende Zuschauer, leuchtende Augen, vor Faszination wie gelähmt dastehende Kinder, die nie zuvor Akrobaten und Feuerschlucker und Tänzer gesehen hatten. So schön, diese Erinnerungen.
Überhaupt war das ein Tag für Bernina, um zurückzudenken, die Vergangenheit aufleben zu lassen. Denn dieses ganze Haus mit seinen freundlichen, rechtschaffenen Menschen machte ihr erst so richtig bewusst, was sie verloren hatte. Sie hörte den vielen alltäglichen Unterhaltungen zu, geführt in dem vertrauten Zungenschlag, den sie in Spanien, wie ihr jetzt erst klar wurde, vermisst hatte. Eine leise Wehmut breitete sich in ihr aus, und in Gedanken sah sie den Petersthal-Hof vor sich, an Festtagen, die dort gefeiert worden waren, doch auch an gewöhnlichen Arbeitstagen. Der Krieg wütete schon so lange, dass sich das Böse nicht nur in Teichdorf eingenistet hatte, wie Zipfner es ausdrückte, sondern überall in der Welt. Aber es gab eben auch immer wieder kleine Flecken der Friedfertigkeit wie dieser Hof hier. Berninas Petersthal-Hof war auch so ein Flecken gewesen. Auf einmal sehnte sie sich ganz stark nach der Behaglichkeit, nach diesem Gefühl, an einem Ort zu Hause zu sein. All die Jahre in der Abgeschiedenheit ihrer eigenen kleinen Welt des heimischen Tals – es waren gute Jahre gewesen.
Nach ihrer Vorführung mit Anselmo hörte sie gedankenverloren der Musik zweier Lautenspieler eines benachbarten Hofes zu. Paare begannen zu tanzen, zunächst noch zurückhaltend, sich der strengen Blicke des Gundelfinger Pfarrers bewusst. Die Kirche sah es nicht gern, wenn Männer Frauen in aller Öffentlichkeit anfassten und durch die Luft wirbelten, bezeichnete Tanz gar als Unzucht. Doch ihr Vertreter auf dem Zipfner-Hof war mit viel Bier und den saftigsten Stücken des Bratens milde gestimmt worden, sodass das bunte Treiben weitergehen konnte. Der Pfarrer war der Nachfolger jenes Geistlichen, der Bernina und Anselmo damals in der Gundelfinger Kirche vermählt hatte – wie unendlich lange jener schöne Tag zurückzuliegen schien, als hätte sich ihre Trauung in einem anderen Leben ereignet.
Etwas später am Nachmittag hieß es auf einmal, der Narr sei doch noch erschienen, erschöpft von dem mühsamen Weg, den er auf einem geliehenen Esel bewältigt hatte – aber nichtsdestotrotz gewillt, das Festpublikum mit seiner Kunst zu unterhalten.
Alle Augen waren auf die offen stehende Tür gerichtet, der erste Moment der Stille, sogar die Musikanten hielten inne. Aus dem Flur drangen Geräusche hinein, abgehackt klingende Schläge. Als sich der Türrahmen füllte, war klar, dass die Laute von den Stelzen kamen, auf denen der Narr seine Bühne erobern wollte. Außerdem war ein Klingeln zu hören.
Die Stelzen waren kurz, und er war so klein, dass er mit seiner Kopfbedeckung die Decke nur ganz leicht streifte. Dabei handelte es sich um eine Mütze mit mehreren Zipfeln, an deren Enden Glöckchen befestigt waren, die für das Geklingel sorgten. Wie an den Schuhen der Bediensteten in der spanischen Festung, dachte Bernina kurz. Im nächsten Augenblick erkannte sie den Narr – und eine völlige Verblüffung erfasste sie wie eine Woge.
Das Kostüm des Narren bestand aus unzähligen, schrillbunten Flicken, als wäre es gelungen, damit alle Farbtöne der Welt zu vereinen. Er stelzte in die frei gewordene Mitte des großen Raumes, hüpfte dann auf die Füße und begann zu singen. So falsch, dass Bauer Zipfner ihn zum Aufhören brachte – mit belustigter Höflichkeit, aber ohne Zweifel an seinem Wunsch zu lassen. Der Narr versuchte mit Grimassenschneiden und einigen Purzelbäumen Spaß zu bereiten, doch auch das gelang ihm nicht gerade mit sonderlichem Erfolg. Was zur Verwunderung der Leute beitrug, war vor allem sein kurzer, verwachsener Körper, auf dem ein zu groß wirkender Kopf saß.
Schließlich war es an Bernina und Anselmo, sich mit einem entschlossenen Blick zu verständigen. Natürlich hatte auch Anselmo den Narren erkannt. Sie sprangen auf und unterstützten den Buntgekleideten, indem sie ihn in ihre Mitte nahmen, als wäre er ein Teil ihres Programms. Noch einmal führten sie, auf kurios linkische Weise begleitet von dem hüpfenden kleinen Kerl, die Dinge vor, die dem Publikum schon zuvor so viel Freude bereitet hatten.
Und während der ganzen Zeit fühlten sie, wie der Narr sie ansah. Erleichtert aufgrund ihrer Hilfe. Und vor allem mit ungläubiger Überraschung. Als wären es Gespenster, mit denen er hier tanzte. Schließlich hatte er mit Bernina und Anselmo ebenso wenig rechnen können wie sie mit ihm.
*
Es wurde ein langer Abend im feuerwarmen Wohnhaus der Zipfners, einer, der als schönster überhaupt in die Geschichte des Hofes eingehen sollte. Angesichts der vergnügten Stimmung fiel es niemandem sonderlich auf, dass sich die drei einzigen Fremden nach ihren schwungvollen Vorführungen in eine ruhigere Ecke zurückzogen, um auf kurzbeinigen Hockern eng beisammen zu sitzen und miteinander zu sprechen.
Baldus konnte es noch immer nicht fassen, wer dafür gesorgt hatte, dass seine wenig gelungenen Darbietungen nicht in einem Fiasko endeten. Die Ungläubigkeit sprach noch aus seinen Augen, als er immer wieder abwechselnd auf Bernina und Anselmo starrte. Noch bevor er dazu gekommen war, Fragen über ihren Verbleib in den vergangenen Monaten zu stellen, hatte sich Bernina nach seinen eigenen Erlebnissen erkundigt.
Der Gnom rollte mit seinen gewitzten Augen und beschrieb vage Gesten mit seiner Rechten. »Ich verschwand schon bald nach Ihnen beiden aus Teichdorf. Der Boden wurde dort zu heiß für mich. Als Knecht des Petersthal-Hofes stand man, ehrlich gesagt, nicht in bestem Ruf.«
»Man sprach noch über mich in Teichdorf«, schloss Bernina aus diesen Worten.
»O ja.« Er nickte heftig. »Man nannte Sie Krähenhexe und Krähentochter. Man sagte, Sie wären nur durch schwarze übernatürliche Kräfte dem Turmgefängnis entkommen. Alle wussten, dass Sie das gleiche Schicksal erwartete wie Ihre Mutter.«
»Das vermutete ich bereits. Damals allerdings auf dem Weizenfeld, als ich die Krähen vertrieb, da spürte ich Dankbarkeit bei vielen Menschen.«
»Die Leute haben einfach Angst. Sie sehen in jedem Schatten etwas Böses. Die Spanier haben immer rücksichtsloser geherrscht. Manchmal hatte man fast schon den Eindruck, die Teichdorfer würden eine der Armeen, die nichts als Verwüstung bringen, diesen Männern vorziehen.«
»Aber es kam keine Armee?«, fragte Anselmo, während um sie herum von Neuem die Klänge der Lautenmusik und das Gelächter der Feiernden aufbrandeten.
»Nein. Als bekannt wurde, dass Arnim von der Tauber tot war und dieser d’Orville besiegt schien, bedauerte man endgültig, die Spanier ins Herz des Dorfes eingelassen zu haben.«
»Wie wir hörten, schlägt d’Orville wieder zurück.«
»Ja, er hat neue Truppen. Sie halten sich schon wieder in Baden auf. Die Furcht lässt sich nicht vertreiben, die Gewalt lässt sich nicht vertreiben. Jeden Tag beginnen die einfachen Leute mit einem angstvollen Zittern, und jeden Abend gehen sie mit einem Zittern zu Bett. In Gundelfingen ist es so, gewiss auch in Teichdorf und den anderen Ortschaften ringsum.«
»Dieser Krieg …«, flüsterte Anselmo.
»Ich hörte die Leute sagen, dieser Krieg ist das Werk des Teufels. Er wird so lange dauern, bis bloß noch verbrannte Erde zurückbleibt und die ganze Menschheit ausgelöscht ist. Über 20 Jahre schon! Und kein Ende in Sicht.«
»Wie erging es dir, nachdem du Teichdorf verlassen hast, Baldus?«
»Ach.« Er winkte ab. »Sie wissen ja, wie ich aussehe, Frau Bernina. Und trotzdem gaben Sie mir eine Chance. Sie stellten mich ein, hatten Zutrauen in mich. Aber die Menschen sind nicht so wie Sie. Es war nicht leicht für mich. Ich musste mir jede Mahlzeit hart verdienen. Mit allen möglichen und unmöglichen Arbeiten. Ich musste das ergreifen, was sich mir bot. Durch Zufall erfuhr ich, dass ein Narr gesucht wird. Also stibitzte ich mir diese Mütze, nähte mir aus Stofffetzen mein albernes Kostüm und sprach Bauer Zipfner in Gundelfingen an. Nun ja …« Er zeigte ein kurzes peinlich berührtes Lächeln. »Sie sahen ja, was herauskommt, wenn man etwas tun muss, das man nicht beherrscht.«
Anselmo schlug ihm kurz auf die Schulter und grinste, allerdings nicht allzu spöttisch. »Ein wenig Übung täte dir wahrlich gut.«
Alle drei lachten.
»Und was ist mit dem Petersthal-Hof?«, schlug Bernina gleich wieder ein ernsteres Thema an.
Baldus hob die Schultern. »Ich habe nie wieder einen Fuß auf den Grund des Hofes gesetzt.« Unschlüssig sah er sie an. »In Gundelfingen versuchte ich stets, so viel wie möglich aufzuschnappen. In den Gasthäusern wurde und wird einiges geredet. Aber ob das auch wirklich immer der Wahrheit entspricht …«
»Was hörtest du?«
»Die Spanier haben Höfe in Besitz genommen. Und andere, deren Besitzer nicht zu Abgaben bereit waren, einfach dem Erdboden gleichgemacht. Wieder andere Güter und Orte wurden von Söldnern besucht. Söldner, die zu Korth oder d’Orville gehörten. Das gleiche traurige Ergebnis: Vergewaltigungen, Diebstahl und auch Folter, um mögliche versteckte Habseligkeiten aufzuspüren.«
»Und unser Hof?«
»Ich weiß es nicht. Aber ich hörte, er wäre auch ein Opfer der Flammen geworden.«
»Zerstört? Unser Hof?«
»Das ist möglich. Doch ich weiß es nicht mit letzter Sicherheit. Alles, was ich wirklich sagen kann, ist Folgendes: Teichdorf besteht endgültig nur noch aus nackter Angst.«
»Die Spanier sind also nach wie vor die Herren des Ortes«, sagte Bernina nachdenklich, mehr zu sich als zu den anderen.
Der Gnom bestätigte es mit einem erneuten heftigen Nicken.
In Gedanken sah sie den Petersthal-Hof vor sich. So, wie sie ihn kannte. Was mochte inzwischen geschehen sein? Bestand ihr Zuhause bloß noch aus Trümmern? Sie verdrängte die Sorge und sah erneut zu Baldus. »Aber eigentlich ist es etwas ganz anderes, was mir am Herzen liegt.«
Aufmerksam erwiderte er ihren Blick.
»Baldus, du weißt, was ich fragen will, oder? Schon die ganze Zeit über.«
Er lächelte schmal. »Ich kann es mir denken.«
»Warum hast du damals so viel für mich riskiert? Wenn jemand entdeckt hätte, dass du mir geholfen hast, dann – das hätte dein Todesurteil bedeutet.«
Sein Lächeln blieb, hatte beinahe etwas Verschämtes. »Sie kennen die Antwort bereits, Frau Bernina. Ich erwähnte es zuvor: Sie gaben mir eine Chance. Als einziger Mensch, den ich je traf, sahen Sie mich nicht als eine verrückte Laune der Natur an.« Nun wich er ihrem Blick aus. »Für Sie war ich immer ein Mensch, ein vollwertiger Mensch. Dieses Gefühl haben Sie mir jedenfalls gegeben, und zwar von Anfang an. Danke dafür.«
»Ich habe dir viel mehr zu verdanken. Ohne dich …« Berninas gedämpfte Stimme musste ein wenig gegen den Feierlärm um sie herum ankämpfen. »Ohne dich hätte ich mein Ende auf dem Scheiterhaufen gefunden.«
Wieder dieses Lächeln. »Ohne mich … und ohne irgendjemand anderen.«
Bernina setzte sich kerzengerade auf. »Ohne irgendjemand anderen?« wiederholte sie. »Erzähl mir, was sich damals zugetragen hat, Baldus. Wie bist du an den Schlüssel gekommen, mit dem ich mich von der Kette befreien konnte?«
Bedächtig nickte der Gnom. »In der Tat, das war eine sonderbare Geschichte.« Er schüttelte den Kopf. »Ich kann mir bis heute keinen Reim darauf machen. Immer, wenn ich daran zurückdenke, kommt es mir vor, als hätte ich es mir nur eingebildet. Nie habe ich jemandem davon berichtet. Ich fürchte, es wird wie ein Märchen klingen.«
»Und ich fürchte, ich platze fast vor Neugier«, warf Bernina drängend ein. »Wenn du wüsstest, wie oft ich darüber gegrübelt habe. Der Schlüssel für meine Kette, Baldus, was hat es mit ihm auf sich?«
»Also, ich beobachtete den Turm, in den man Sie eingesperrt hatte, schlich mich herum, überlegte, ob es nicht eine Möglichkeit gäbe, etwas für Sie zu tun. Ich versuchte immer wieder, Sie auf mich aufmerksam zu machen, traute mich allerdings auch nicht zu weit vor. Immerhin – das Gasthaus liegt sehr nahe, und da waren ja ständig diese Männer mit den roten Umhängen.« Baldus zog eine Grimasse. »So achtete ich darauf, im Verborgenen zu bleiben, bis vielleicht der Zufall mir eine Möglichkeit schenken würde, Ihnen irgendwie in Ihrer misslichen Lage zu helfen.« Er lachte trocken auf. »Doch so ganz gelang es mir nicht, meine Anwesenheit geheim zu halten.«
»Was passierte mit dir?«, fragte Anselmo, der ebenso gebannt zuhörte wie Bernina.
»Es war in dem Pferdestall des Gasthauses. Hände ergriffen mich, schleuderten mich in einen Strohhaufen, und ich wurde mit einem Gegenstand bewusstlos geschlagen.« Mit den Fingern fuhr Baldus sich über den Hinterkopf. »Als ich erwachte, lag ich in einem kleinen Raum, der nichts enthielt außer nackten Wänden, einem winzigen Gitterfenster und einem Steinfußboden. Meine Hände waren auf den Rücken gefesselt, auch meine Füße hatte man zusammengeschnürt. Ich konnte nicht einmal aufstehen. Ach du lieber Gott, dachte ich nur. Jetzt sitzt du genauso in der Klemme wie Frau Bernina.«
»Wer hat dich im Stall überwältigt?«
»Das weiß ich nicht.« Er sog die Luft ein.
»Die Spanier?«
»Ja, höchstwahrscheinlich. Aber das ist es gar nicht, was mich wirklich beschäftigt.«
»Wie meinst du das?« Berninas Blick lag mit ganzer Konzentration auf dem ehemaligen Knecht. »Was geschah?«
»Zunächst einmal überhaupt nichts. Nicht das Geringste. Ich lag da. Mit Angst, Hunger und Durst. Die Zeit verging, im Zimmer wurde es immer dunkler.«
»Moment mal«, unterbrach ihn Bernina. »Jetzt wird mir erst klar: Das war, bevor du mir den Schlüssel durchs Fenster geworfen hast.«
»Sicher, das war am Tag davor. Es war jene Nacht, in der Ihre Mutter starb, Frau Bernina.« Leise hatte er das gesagt. Und er ließ eine kurze Pause folgen, ehe er fortfuhr: »Jene schlimme Nacht verbrachte ich in diesem Raum. Wach und dann wieder dösend. Die haben dich vergessen, sagte ich mir. Aber daran glaubte ich nicht, und meine Furcht wurde immer größer. Jeder wusste ja, dass ich zum Petersthal-Hof gehörte, und das war gewiss kein Vorteil. Ich hatte wirklich schlimme Alpträume, in denen ich tausend Foltertode starb. Es muss bereits im Morgengrauen gewesen sein, als meine Nerven endgültig verrückt spielten. Die Tür öffnete sich. Zumindest glaubte ich das. Ich wusste tatsächlich nicht mehr, was Wirklichkeit war und was nicht.«
»Wer kam herein?«
»Eine Gestalt. Sie trug einen langen schwarzen Umhang mit einer großen Kapuze. Vom Gesicht war nichts zu entdecken. Es herrschte sowieso Dunkelheit, das Tageslicht war noch ganz schwach. Die Gestalt kam auf mich zu, drehte mich auf den Rücken.«
»Du hast wirklich nichts erkennen können?«
»Nein, nichts«, versicherte Baldus. »Nur diesen Umhang. Zuerst dachte ich, es wäre der Henker, der den Raum betrat. Und mein Todesurteil wäre beschlossene Sache.«
»Der Henker?« Bernina dachte nach. Nils Norby konnte es nicht gewesen sein. Er musste um diese Zeit Teichdorf doch schon längst verlassen haben. Sonst hätte er ihr ja nicht kurz darauf in den Wäldern beistehen können. Oder etwa doch? Das machte alles keinen Sinn. »Merkwürdig«, murmelte sie nur leise vor sich hin.
»Die Gestalt durchschnitt meine Fußfesseln mit einem Messer und half mir auf die Beine«, sprach der Gnom mit selbst jetzt noch erstaunter Stimme weiter. »Dann führte sie mich nach draußen. Ich war benommen, erschrocken, ich war überzeugt, dass mein Ende gekommen wäre.«
»War die Gestalt auffallend groß? Kräftig?«
»Ich weiß nicht – ich weiß bloß, dass sich in meinem Schädel alles drehte.« Baldus hob und senkte unschlüssig die Achseln. »Draußen führte mich die Gestalt eine Gasse entlang, bis wir den Pferdestall des Gasthauses erreichten. Ein Tuch wurde mir über den Kopf gestülpt. Herr im Himmel, meine Beine zitterten wie Laub an den Bäumen. Dann raunte mir eine Stimme etwas zu.«
»Eine männliche Stimme«, mutmaßte Bernina.
»Es tut mir sehr leid, doch ich kann nicht einmal das mit Sicherheit sagen. Da war nur ein Flüstern, ein Zischen. Und die Worte lauteten: ›Die Gefangene im Turm ist angekettet.‹ Daran erinnere ich mich komischerweise. An genau diese Worte.«
Bernina wechselte einen Blick mit Anselmo. »Und dann?«
»Eine eiskalte Hand drückte mir etwas zwischen die Finger, sodass ich es festhalten musste. Die Hand zwang mich in die Knie. Es ist soweit, dachte ich, willkommen in der Hölle. Aber …«
»… es kam ganz anders«, sagte Bernina und konnte kaum ihre eigenen Worte hören. Das Lachen und die Musik um sie waren noch lauter geworden, die Feier wurde immer ausgelassener, die Hochzeitgäste stimmten gemeinsam ein altes Bauernlied an.
Baldus nickte. »Ja, ganz anders. Meine Handfesseln wurden zerschnitten. Ich erhielt einen Stoß mit dem Fuß und fiel in den Staub. Als ich ein paar bange Momente später wagte, das Tuch von meinen Augen zu ziehen, war ich allein. In einer Hand hielt ich einen Schlüssel. Es dauerte ein wenig, bis ich begriff, dass die gezischte Bemerkung, der Schlüssel und Sie, Frau Bernina, zusammengehörten. Diesen Schlüssel warf ich Ihnen dann später zu.«
»Ein ziemlicher Aufwand, um dir Hilfe zukommen zu lassen, Bernina«, meldete sich Anselmo wieder zu Wort.
»Der Unbekannte hätte mir selbst den Schlüssel zuwerfen können, gerade in der Dunkelheit der Nacht«, setzte sie Anselmos Gedanken fort.
»Womöglich war er ja zu beschäftigt dazu«, gab Baldus zu bedenken. »Immerhin war das ganze Dorf auf dem Weidenberg.«
»Stimmt.« Berninas Stirn legte sich in Falten. »Auf jeden Fall wollte er unter allen Umständen vermeiden, in der Nähe des Turmes gesehen zu werden.«
»Vermeiden«, fügte Anselmo rasch an, »dass Egidius Blum ihn in der Nähe des Turmes sieht.«
»Ja, natürlich hatte er Angst, dass Blum ihn entdecken könnte. Aber – wer kann das gewesen sein?« Sie blickte von Anselmo zu Baldus. »Wer hätte an diesen Schlüssel herankommen können?«
»Man darf auch nicht vergessen«, meinte Anselmo, »dass der Schlüssel zwar eine wertvolle Hilfe, aber noch keine Garantie darstellte, dass du entkommen würdest.«
»Mehr wollte der Unbekannte wohl einfach nicht riskieren«, vermutete sie. »Er hatte vor zu helfen – aber nicht unter allen Umständen. Deshalb mied er selbst den Turm. Seine Furcht, dass ein Verdacht auf ihn fallen könnte, muss zu groß gewesen sein.«
»Ja«, stimmte Baldus zu. »Wahrscheinlich sah er, dass ich mich in der Nähe aufhielt. Und er wusste, ich stamme vom Hof, das war ja jedem in Teichdorf bekannt. Er benutzte mich als Werkzeug, um Sie zu befreien, Frau Bernina.«
»Die Frage ist nur: Wer ist dieser Er?«
Das Lied endete, und wiederum setzte Gelächter ein. Neuerliche Glückwünsche wurden dem Paar mit auf den Weg gegeben, Trinksprüche aufgesagt.
»Eine Antwort auf diese Frage«, fügte Bernina hinzu, »kann ich nur in Teichdorf finden.«
»Sie dürfen nicht dorthin!«, beschwor Baldus sie sofort. »Ich bitte Sie beide: Gehen Sie nicht wieder nach Teichdorf. Man wollte Sie schon einmal loswerden, Frau Bernina. Man wird es nicht mögen, wenn Sie auftauchen und alte Geschichten aufrühren.«
»Ich muss zurück nach Teichdorf, Baldus.«
»Aber man spricht über Sie, selbst heute noch.«
»Und was spricht man?«
»Ach, die eigenartigsten Dinge. Es heißt, seit Sie den Ort verließen, ist dort keine einzige Krähe mehr gesehen worden. Die Ereignisse auf dem Feld wurden immer wieder erzählt, in immer wieder anderen Versionen.«
»Das ist doch nichts als dummes Gerede.« Bernina hob die Augenbrauen. »Das kann man ja nicht ernst nehmen.« Doch in ihrem Inneren verspürte sie plötzlich eine Kälte. Was würde sie vorfinden? Dort, wo sie aufgewachsen war und gelebt hatte. Bloß den Tod, einen einsamen Tod, wie ihn Krähen sterben? Welchen Ratschlag hätte ihre Mutter jetzt für sie? Den Weg bis zum Ende zu beschreiten?
»Bitte, gehen Sie nicht nach Teichdorf, Frau Bernina.« Erneut mischte sich dieser beschwörende Ton in Baldus’ Stimme. »Gehen Sie nicht zurück.«
*
Das Hochzeitsfest neigte sich dem Ende entgegen, die Nacht kam, und mit ihr war plötzlich der Sturm wieder da. Eisige Luft, wilde Schneewirbel und ein fauchender Wind, der an den Wänden riss. Bernina und Anselmo boten Baldus an, ihnen in ihrem Refugium an der Seite des Stalls Gesellschaft zu leisten, und er nahm gern an. Eine Rückkehr nach Gundelfingen wäre angesichts des neuerlichen Wetterumschwungs ohnehin unmöglich gewesen. Erleichtert brachte er seinen geliehenen Esel bei den Kühen unter. Und noch erleichterter war er, endlich aus seinem bunten Kostüm schlüpfen zu können. Er verkroch sich in einer Ecke, durch Decken der Familie Zipfner gegen die beißende Kälte geschützt. Nach dem langen Gespräch während der Feier blieb jeder der drei mit dem eigenen Schweigen, mit den eigenen Gedanken allein. Der Sturm hatte das Sagen, auch in den nächsten beiden Tagen, an denen der dunkelgraue, aufgewühlte Himmel tief und unheilvoll über den Dächern des Hofes festsaß, als könne nie wieder die Sonne scheinen.
Wilfried kämpfte sich hin und wieder durch Schnee und Wind hindurch, um den drei Gästen des Hofes einen Plauderbesuch abzustatten und sie mit Stärkungen zu versorgen. Er freute sich, Bernina verkünden zu können, dass es ihm weitaus besser gehe. »Der Ausschlag verschwindet tatsächlich immer mehr. Das ist fast zu schön, um wahr zu sein.«
»Was für eine großartige Nachricht!«
»Ja, es sieht wohl ganz gut für mich aus – wer hätte das gedacht? Und das ist allein Ihr Werk, Bernina. Wenn ich nur wüsste, wie ich das gutmachen kann.«
»Du und deine Familie, ihr habt das schon mehr als gutgemacht«, erwiderte sie mit einem Lächeln. »Noch einmal unser herzliches Dankeschön für die Unterkunft.«
Wilfried winkte ab. »Ach, das ist doch nicht der Rede wert.«
Erst am dritten Morgen legte sich das Unwetter. Wärmer wurde es, und die obersten Verwehungen des Schnees schienen bereits wieder zu schmelzen. Die Wolkendecke riss, und es kam ein wunderbares Blau zum Vorschein, das man beinahe schon für immer verloren zu haben glaubte. Das Eis über dem Bach neben dem Hof brach, und darunter begann es zu plätschern. Der Winter versprach streng zu werden, doch offenbar war er bereit, der Gegend fürs Erste eine Verschnaufpause zu gönnen.
Noch zur Mittagszeit desselben Tages verabschiedeten sich Bernina, Anselmo und Baldus von der Familie Zipfner, die ihnen eine gute Reise wünschte und ihnen zusah, wie sie sich zu dritt, Bernina in der Mitte, auf den Bock setzten. Den Esel, auf dem der Gnom zum Hof geritten war, hatten sie hinten am Wagen festgebunden. Noch als sie sich auf dem Grund und Boden der Familie Zipfner befanden, rief sich Bernina Baldus’ eindringliche Warnungen ins Gedächtnis. Lediglich einmal hatten sie und Anselmo darüber gesprochen, und auch nur kurz. »Ich nehme an«, hatte er zu ihr gesagt, »du bist noch ebenso entschlossen wie zuvor, nach Teichdorf zu reisen?«
»Ja, das bin ich«, war ihre Antwort gewesen.
»Das gilt auch für mich.«
»Wir setzen unseren Weg fort«, bekräftigte Bernina. »Notfalls bis zum bitteren Ende.«
Etwa eine halbe Stunde, nachdem sie den Zipfner-Hof hinter sich gelassen hatten, erreichten sie die befestigte, aber ebenfalls verschneite Straße, die nach Gundelfingen führte. Schweigend legten sie einen Kilometer nach dem anderen zurück. Der Himmel war noch blau, die Luft noch so klar wie bei ihrem Aufbruch. Niemand begegnete ihnen, nirgendwo am Horizont ein Zeichen von Leben.
Irgendwann erwuchsen aus diesem Bild der Starre die Ruinen mehrerer Gebäude. Ein einsamer Bauernhof, ähnlich dem der Zipfners. Wohnhaus, Stallungen, ein Vorratsschuppen. Holz, das gebrannt hatte, bis wohl der Sturm die Flammen gelöscht haben musste. Verkohlte Bretterwände, aus den Angeln gerissene Türen. Anselmo zügelte die Pferde, und in diesem Moment stieg eine Schar Krähen auf. Der Wagen hatte sie wohl aufgeschreckt. Die Vögel warfen misstrauische, beinahe menschlich wirkende Blicke auf sie, bevor sie sich auf den Ästen einer Buche niederließen, um abzuwarten. Bis eben hatten sie an Leichen gepickt, toten Männern und Frauen, deren Körper teilweise unter Schneeverwehungen begraben waren. Die Sonnenstrahlen dieses Mittags vermittelten eine Behaglichkeit, die in schrecklichem Gegensatz zu dem Anblick des Todes stand.
»Das ist wohl einer jener zerstörten Höfe, von denen Wilfried erzählt hat«, bemerkte Bernina, nur um etwas zu sagen und die düstere Stille dieses hellen Tages zu zerbrechen.
»Manchmal glaubt man«, erwiderte Anselmo leise, »dass all diese Schrecken niemals aufhören. Gab es schon mal einen Krieg, der länger andauerte, der noch mehr Menschenleben gekostet hat?«
»Bestimmt nicht«, meinte Baldus mit angewidertem Gesichtsausdruck.
Bernina hatte nicht richtig zugehört. Ihre Aufmerksamkeit galt den Krähen, die ihren Blick auf verrückte Weise zu erwidern schienen. Das Gefieder der Vögel war von einem tiefen Schwarz. Oder leuchteten hier und da blaue Schimmer darin auf?
»Lass uns wenigstens diese armen Leute begraben«, sagte sie schließlich. »Und anschließend werden wir von hier verschwinden.«
»Der Boden könnte gefroren sein«, gab Anselmo zu bedenken. »Dann wäre es gewiss alles andere als einfach.« Er verstummte und schob sich vom Bock. »Mal sehen, ob wir irgendwo eine oder zwei Schaufeln auftreiben können.«
»Danke, Anselmo.« Bernina glitt ebenfalls vom Wagen und umarmte ihn kurz.
Das Ausheben von vier Gräbern nahm viel Zeit in Anspruch, aber gemeinsam erledigten sie die trostlose Arbeit mit stummer Ergebenheit, bevor sie erneut aufbrachen. So war es dann auch fast schon wieder Abend, als sie endlich die Silhouetten von Häusern und einer Kirche erblickten. »Gundelfingen«, sagte Anselmo schlicht. »Wir sind so gut wie da.«
Eine kleine Ortschaft, die noch genauso aussah wie damals, als Bernina und Anselmo hier getraut worden waren. Und die doch eine andere war. Die Siedlung schien den Atem anzuhalten, die Unmittelbarkeit des Krieges schwebte regelrecht in der Luft. Enge Gassen aus Kopfstein, von zertretenem, schmutzig gewordenem Schnee bedeckt. Nur vereinzelt Menschen, die sich beeilten voranzukommen und die Neuankömmlinge nur mit kurzen, aber unzweifelhaft misstrauischen Blicken bedachten. Hier und da waren Söldner zu sehen, Waffen tragende Männer, die vom Krieg lebten oder zumindest eine Zeitlang gelebt hatten. Aber sie gehörten derzeit offenbar keiner regulären Armee an, waren vielleicht sogar eher Deserteure oder Ganoven.
Immer wieder spähten Bernina und Anselmo nach vertrauten Gesichtern. Zu ihrer Erleichterung jedoch erkannten sie niemanden – und niemand erkannte sie. Was Bernina nur recht war. Wer hätte schon ahnen können, wie man hier auf heimatlichem Boden auf sie beide reagieren würde, angesichts der dramatischen Umstände, die damals Berninas Verschwinden begleitet hatten. Der Winter verhalf ihr und ihrem Mann zu einer wirksamen, unauffälligen Verkleidung, machte er es doch erforderlich, sich noch tiefer unter Stoffen zu verstecken und das Gesicht fast vollständig unter wärmender Wolle verschwinden zu lassen.
Sie kamen in einem Gasthaus unter, Zum Grünen Baum, das größer war als jenes in dem französischen Dorf. Doch mehr als ein winziges zugiges Zimmer war nicht für sie beide frei, und Baldus musste mit einem Bretterverschlag Vorlieb nehmen, der sich an den hinter dem Gebäude liegenden Stall anschloss. Direkt daneben konnten sie auch ihren Wagen abstellen. Baldus machte sich gleich auf, den Esel zurückzubringen, den man ihm ausgeliehen hatte, und seine wenigen Habseligkeiten aus einer halbverfallenen Hütte zu holen. Darin hatte er seit seiner Ankunft in Gundelfingen die Nächte verbracht.
Später im Schankraum, als sich die Nacht mit undurchdringlichem Schwarz über den Ort wölbte, bei einer Mahlzeit aus steinhartem Brot und einer faden Gemüsebrühe, hörten sie alle drei aufmerksam, was um sie herum gesprochen wurde. Baldus wurde vom Wirt erkannt, sonst allerdings von keinem der Anwesenden. Bernina und Anselmo ernteten von Zeit zu Zeit neuerliche Blicke des Argwohns. Aber sie ließen sie an sich abprallen. Die Unterhaltungen der anderen Gäste waren für sie von großer Bedeutung. So erfuhren sie, dass in der Nähe Soldaten gesichtet wurden. Offenbar keine kleinen versprengten Einheiten, sondern große Truppenteile, die bestens ausgerüstet waren und einen kampfbereiten Eindruck hinterließen. Allem Anschein nach rückten kaiserliche Soldaten unter General von Korth aus Nordosten heran, während sich d’Orvilles Männer aus westlicher Richtung näherten. Irgendwo in dieser Gegend würden diese beiden Todeskeile aufeinanderprallen. Und das wohl schon sehr bald.
Als die Nacht voranschritt, kam Baldus mit einem älteren, sichtlich angeheitertem Herrn ins Gespräch, und mit Geschick gelang es dem Gnom, dem Fremden etwas Überraschendes zu entlocken. Während eines zunächst noch harmlosen Geplauders stellte sich heraus, dass der Mann bei den Arbeiten an der Teichdorfer Kirche mitgeholfen hatte. So kam das Gespräch auf Pfarrer Egidius Blum. »Der ist ja weg«, verkündete der trinkfreudige Herr.
»Blum? Nicht mehr in Teichdorf?«
»Richtig. Schon seit einiger Zeit. Ich denke mir, dass er in einer größeren, wichtigeren Gemeinde Verantwortung übernehmen wird. Ist ja auch ein fähiger Kerl, der Herr Pfarrer. Der hat aufgeräumt in Teichdorf.«
»Das kann man wohl sagen«, warf Baldus ein und konnte bei diesen Worten kaum seinen bitteren Sarkasmus verbergen. »Aber wo er im Moment ist, das wissen Sie wohl nicht?«
»Ich hörte, dass es ihn ins Kloster Murnau verschlagen hat. Schon mal gehört davon?«
»Der Name kommt mir bekannt vor«, murmelte Baldus.
»Ein altes, höchst angesehenes Kloster. Zugleich ein für uns gewöhnliche Leute sehr geheimnisvoller Ort. Wissen wird dort gehütet, der Glaube gepflegt. Nur wichtige Vertreter der Kirche machen Station in Murnau, soweit es mir bekannt ist. Ehrenwerte Männer wie Pfarrer Blum eben.«
Bernina hatte, ebenso wie Anselmo, schweigend zugehört. Die unerwartete Neuigkeit übte eine seltsame Wirkung auf sie aus. Irgendwie verspürte sie eine dumpfe Enttäuschung. Obgleich Egidius Blum nackte Furcht in ihr auslöste: Sie hätte es genossen, ihm in die Augen zu sehen. Ihm zu zeigen, dass sie stark war, sich nicht vertreiben ließ. Dass sie nicht aufgab. Wie hätte er wohl reagiert? Sie erinnerte sich an die eigenartigen, nicht zu durchschauenden Blicke, mit denen er sie so häufig bedacht hatte. Ganz kurz schloss Bernina die Augen, und für einen Sekundenbruchteil meinte sie im Stimmengewirr des Gasthauses das leise Rascheln von Blums einfachen Bastschuhen hören zu können.
Nach und nach verabschiedeten sich die Gäste aus dem ›Grünen Baum‹, der Wirt gähnte vor sich hin, und so zogen sich auch Bernina, Anselmo und Baldus zurück. Nach einer kurzen Nacht machten sie sich früh bereit, die Reise ins Ungewisse fortzusetzen. Draußen, vor dem Wagen, legten sie Baldus nahe, dass er wie bisher in Gundelfingen bleiben könne. »Baldus«, wandte sich Bernina an ihn. »Du musst dich nicht verpflichtet fühlen, weiterhin bei uns zu bleiben. Wir können dir nichts bieten und nichts versprechen, nicht einmal eine neue Arbeit. Außer, dass es sehr gefährlich werden könnte.«
Statt eine Antwort zu geben, setzte sich der Gnom demonstrativ auf den Bock. Bernina musste lächeln und nahm neben ihm Platz. Der Wirt, ein gutmütiger Kerl mit einem Wust aus grauen Bartstoppeln, verabschiedete sie. Ohne allzu neugierig zu wirken, fragte er, welche Richtung sie einschlagen würden. Anselmo, der sich eben zu den anderen beiden gesellte, machte nur vage Angaben.
Der Wirt kratzte sich am Kopf. »Wo immer es euch hinziehen mag, meidet eine Ortschaft, die hier ganz in der Nähe ist.«
»Teichdorf, nehme ich an.« Anselmo sah vom Bock zu ihm hinunter. »Wir hörten schon, dass es dort nicht gastlich zugeht.«
»Nicht gastlich?« Der Wirt lachte spöttisch. »Die Teichdorfer haben sich vor einiger Zeit bewaffnete Truppen angeheuert, die ihnen Schutz bieten sollten. Damit allerdings haben sie das Übel geradezu ins eigene Nest eingeladen. Ein rätselhafter Mann ist der Herrscher über den Ort, ein Mann, der Geige spielt. Er und seine Handlanger führen sich anscheinend auf wie Könige, als wäre Teichdorf ihr Land. Allerdings bösartige Könige.«
Bernina und Anselmo warfen sich einen stummen Blick zu.
Der Wirt spuckte aus. »Also, haltet euch fern von dem Ort.«
»Danke für den Hinweis«, erwiderte Anselmo leise.
»Kennen Sie den Petersthal-Hof?«, hörte sich da auf einmal Bernina eine Frage stellen.
»Sicher.« Ein langsames Nicken. »Das heißt nicht, dass ich je dort gewesen wäre. Aber jeder hier hat von dem Hof gehört. Soviel ich weiß, ist er auch zerstört worden. Muss ein schöner Hof gewesen sein. Na ja, das waren viele Höfe.« Er spuckte aus. »Bevor der Krieg kam.«
Bernina nickte, als wäre mit keiner anderen Antwort zu rechnen gewesen.
»Ruinen«, fuhr der Mann fort. »Irgendwann wird das ganze Reich bloß noch aus Ruinen bestehen.«
»Noch eine Frage«, fügte Bernina hinzu. »Kloster Murnau. Wissen Sie, wo das ist?«
Er kratzte sich an seinem Stoppelkinn. »Ja, so in etwa.« Etwas umständlich erklärte er, dass man das Kloster ein ganzes Stück weiter im Norden finden würde. Ein paar weitere Angaben folgten, bevor er schloss: »Murnau liegt noch auf badischem Grund, da bin ich mir sicher. Aber man braucht gute Pferde, um schnell dorthin zu gelangen.«
Bernina bedankte sich für die Auskünfte, und mit einem Zungeschnalzen brachte Anselmo die Pferde dazu, sich in Bewegung zu setzen. »Schon wieder die Warnung, Teichdorf am besten zu umgehen«, meinte sie zu ihm, und in ihrer Stimme schwang Galgenhumor mit.
Nach einer Weile, sie befanden sich schon auf der Hauptstraße, sagte Anselmo auf einmal ganz unvermittelt: »In all den Jahren, seit ich Spanien verließ, wollte ich ihm nie wieder begegnen. Er war es, der das Unheil über unsere Familie brachte. Sicher, auch Juan, mein Onkel. Aber hauptsächlich er. Wäre er nicht gewesen, er und seine hinterhältigen verbrecherischen Intrigen, wäre es auch nie zu dem Zwischenfall gekommen, der mich dazu zwang, meine Heimat zu verlassen.« Er blickte geradeaus und nickte kaum merklich. »Ja, niemals wieder wollte ich ihn treffen. Nun ist es genau umgekehrt. Nun will ich in seine Augen sehen und ihm sagen, wie sehr ich ihn verachte.«
»Als du noch in Teichdorf warst und mit Pablo gesprochen hast, da wusstest du nicht, dass er sich ebenfalls in Teichdorf aufhält.«
Anselmo schüttelte den Kopf. »Nein, wahrscheinlich haben er und Pablo beschlossen, dass ich nichts davon erfahren sollte. Sie hatten ja vor, mich zu Juan zu bringen, damit er Druck auf Mutter ausüben konnte. Ich denke, er wollte mich nicht einmal aus der Entfernung sehen.«
Sie passierten gerade die letzten Häuser des Ortes, als Baldus sich mit zurückhaltender Stimme zu Wort meldete: »Darf ich etwas fragen? Wer ist mit ›er‹ gemeint? Ich verstehe nicht, um wen es geht.«
Bernina überließ es Anselmo zu antworten: »Es geht um meinen Vater.« Ein kurzes, kaum vernehmbares Seufzen. »Seit Jahren lebt er ein Leben auf der Flucht. In Spanien, im Kaiserreich, in den Niederlanden. Das Leben eines Verbrechers, unterstützt von Galgenvögeln, die für Geld alles tun.«
»Dir ist erst in Spanien klar geworden«, meinte Bernina zu ihm, »dass dein Vater der Anführer der Männer mit den roten Umhängen ist, oder?«
»Ja, erst da kam mir der Verdacht. Auf den Straßen Teichdorfs hatte er sich ja nie sehen lassen. Außerdem hatte ich immer schon das Gefühl gehabt, er wäre längst tot. Oder vielleicht war es einfach mein Wunsch gewesen. Als jedenfalls die Männer in Teichdorf erschienen, hielt ich sie für eine Gruppe, die irgendwie mit meinem Onkel Juan in Verbindung stehen musste. Ehrlich gesagt wollte ich gar nicht wissen, wer sie waren. Dann allerdings tischte mir Pablo seine Lügen auf und …« Seine Hand strich schnell durch die Luft. »Ach, lassen wir das lieber.« Er sah Bernina an: »Du hast dich nach dem Kloster erkundigt. Mit welcher Absicht?«
Etwas unschlüssig hob sie die Schultern. »Ich weiß selbst nicht so recht, weshalb. Wohl einfach nur so, aus irgendeinem komischen Gefühl heraus.«
Danach schwiegen sie. Begleitet nur von ihren ungewissen Gedanken, setzten sie ihren Weg fort. Die Sonne ließ sich sehen, es war ebenso angenehm wie am Vortag. Der Schnee bedeckte nicht mehr das ganze Land, hier und da kamen Flecken braunen Grases zum Vorschein. Immer wieder spürte Bernina, wie ihr Blick fast unbewusst die Umgebung abtastete. So vertraut war ihr diese Gegend, hier hatte sie ihre ersten Schritte zurückgelegt, zum ersten Mal das Aroma des Schwarzwaldes eingeatmet. Sie sah Rottannen und Fichten, Wälder, die selbst in ihrer winterlichen Kargheit dicht und undurchdringlich wirkten. Die Berggipfel erstrahlten unberührt im Weiß des Schnees, und die engen Täler waren wie die Schießscharten riesiger Wesen, wie von mächtiger Klinge in die Erde gegraben.
Sie nahmen versteckte Wege, Pfade, die selbst vielen Einheimischen unbekannt waren. Nur langsam kamen sie voran, bisweilen mussten sie sich regelrecht durch Schnee und Matsch kämpfen, durch finstere kleine Waldstücke. Doch als der Abend begann, sich über die einsame Gegend zu senken, waren sie Teichdorf ganz nahe. In einem jener Täler hielten sie den Planwagen an und verbargen ihn an der Seite einer klaffenden Felswand, die den Vorhang aus Bäumen mit ihrem nackten Granit durchbrach. Sie beschlossen, noch etwas abzuwarten, bevor sie sich dem Ort nähern würden. Den Schutz der Nacht wollten sie sich zunutze machen. Anselmo schlug vor, ein Feuer zu entfachen, Bernina allerdings war unsicher. »Man kann den Qualm womöglich bis nach Teichdorf sehen. Selbst so spät am Tage noch.«
»Aber es wird bestimmt kalt werden. Außerdem sind wir hier recht gut versteckt.« Er lächelte schmal.
»Wie du meinst.«
Während Baldus sich um die Pferde kümmerte, behalf sich Anselmo mit Reisig, Tannenzapfen und Krüppelholz, und es gelang ihm, ein paar züngelnde Flammen zum Leben zu erwecken. Zu dritt bildeten sie dann einen kleinen Kreis um das wärmende Feuerchen.
»Mir ist aufgefallen«, sagte Bernina irgendwann zu dem Knecht, »dass du dir einen neuen Lederbeutel zugelegt hast. Mit so einem Beutel hast du mir einmal sehr geholfen.« Fröstelnd erinnerte sie sich kurz an ihre Flucht aus dem Turm in Teichdorf.
Baldus lachte leise. »Ja, darin befindet sich auch wieder die gleiche Mischung. Man kann ja nie wissen, wem man begegnet.«
Ansonsten wurde kaum gesprochen. Die Nacht schritt voran, das Feuer brannte herab. Bevor der Morgen graute, entschieden sich Bernina und Anselmo dazu, aufzubrechen und die Lage in der Ortschaft zu erkunden. Gern hätte Bernina auch den Petersthal-Hof wiedergesehen. Abermals verspürte sie große Sorgen um ihren Besitz, abermals sah sie ihn in Trümmern vor sich liegen.
Doch der nächste Schritt würde ein anderer sein – das Ziel war Teichdorf.
Überrascht blickte Bernina auf, als Anselmo plötzlich eine Pistole aus seiner Tasche im Wagen hervorholte, um sie sich in den Gürtel zu schieben. »Ich hatte keine Ahnung, dass du eine Waffe besitzt.«
Ohne sie anzusehen, entgegnete er knapp: »Ich habe sie schon bei mir, seit wir die Festung in Spanien verließen.«
Darauf sagte sie nichts.
Baldus wurde angewiesen, zurückzubleiben und auf den Wagen und die Tiere aufzupassen. Zuerst protestierte er, dann aber willigte er ein. Bernina spürte den bangen Blick des Knechts auf sich liegen, als sie sich mit Anselmo auf den Weg machte. Ein fahles graues Flackern erhellte den Himmel über den Gipfeln des Schwarzwaldes ganz schwach. Kalte Luft wogte um sie herum, der neue Tag war noch nicht da, jedoch nicht mehr fern.
Nahe beieinander gingen sie, Bernina manchmal einen kurzen Schritt voraus, da sie die Gegend noch besser kannte als Anselmo. Gemeinsam schoben sie sich aus dem Wald ins Freie, und die Sicht, noch erschwert durch die knisternde Nachtschwärze, wurde frei auf die Häuser, in deren Hintergrund sich der Weidenberg erhob. Ein eigenartig ergreifendes Gefühl beschlich Bernina bei diesem Anblick. Teichdorf. Von der Welt eigentlich nicht beachtet und doch immer wieder von den Schrecken der Zeit ebenso heimgesucht wie die großen Städte. Der Krieg wühlte sich in den letzten Winkel, der Krieg und die Männer, die er hervorbrachte. Männer wie jene, die die roten Umhänge mit der Rose trugen.
Die Gebäude waren dunkel, ein Geisterdorf schien sich vor ihnen auszubreiten, kein Fenster erleuchtet. Bis auf ein einziges. Das große Fenster unter der Giebelspitze des Gasthauses. Nur dahinter schimmerte Kerzenlicht. Als würden wir erwartet, dachte Bernina erschauernd. Langsamer als zuvor gingen sie weiter.
»Anscheinend haben sie keine Wachen aufgestellt.« Berninas Stimme klang in der Stille ringsum verloren. »Und das, obwohl die Armeen wieder so umtriebig sind.«
Anselmo deutete zu einem Gebäude am westlichen Ortsausgang, gleich darauf zu einem Schuppen, der sich am Nordende befand. Das Nichts des Dunkels verschleierte die Umrisse. Berninas Augen wurden zu Schlitzen. Erst jetzt nahm sie die Schemen einiger Männer wahr.
»Unglaublich, was du alles zu entdecken vermagst, Anselmo.«
»Wir müssen vorsichtig sein.«
Schritt für Schritt näherten sie sich dem Ort, geduckt, immer wieder einen Blick über die Schultern werfend. Ein Windstoß begleitete sie, als sie zu den ersten Häusern gelangten. Stille, nur ihr Atmen war zu hören. An die Wand einer Scheune gelehnt, hielten sie inne. Keine der Wachen zu sehen, überhaupt niemand. Sie folgten einer schmalen Gasse, die zwischen einer Bäckerei und Wohnhäusern hindurchführte.
In die Ruhe mischten sich Laute, eine Melodie, irgendwie kratzend und einschmeichelnd in einem. Leise ließ sie sich von einer weiteren Windböe durch Teichdorf tragen. Bernina spürte eine Gänsehaut auf ihren Armen.
»Ich will ihn sehen«, sagte Anselmo, im genau gleichen Tonfall wie am Tag zuvor. »Ich will ihm in die Augen sehen.«
An der Ecke eines Fachwerkhauses stoppten sie erneut. Die Geige schwieg bereits wieder. Und im nächsten Augenblick zerfetzten Hufgetrappel und aufgeregte Rufe die unheimliche Stille. Eine Gruppe Reiter galoppierte die Hauptstraße entlang, während weitere Männer aus dem Gasthaus stürmten. Die Reiter zügelten ihre Pferde, sofort entbrannten hitzige Diskussionen. Spanische Stimmen dröhnten in der Nacht.
»Worum geht es?«, fragte Bernina flüsternd. Ihre Hand hatte Anselmos Arm gesucht. Nur etwa 20 Meter trennten sie von den Männern, deren rote Umhänge die einzigen Farbpunkte im Dunkel zu sein schienen.
»Eine Meinungsverschiedenheit. Einige sind dafür, Hals über Kopf das Weite zu suchen. Andere möchten lieber im Ort bleiben, um sich zu verschanzen.« Kurz drückte er ihre Hand. »Ihre Spähreiter haben französische Soldaten gesehen, die sich auf Teichdorf zubewegen. D’Orvilles Männer haben schon mehrere Dörfer überfallen. Jetzt, da Gefahr nahen könnte, würden sie sich am liebsten sofort aus dem Staub machen. Genauso habe ich sie eingeschätzt.«
»Wo ist ihr Anführer? Warum lässt er sich nicht sehen?«
»Sie meinen offenbar, dass er es nicht schaffen würde, Teichdorf rechtzeitig zu verlassen. Er ist verletzt oder krank, jedenfalls behindert ihn etwas.«
»Bei seiner Ankunft wurde er in einer Sänfte getragen.«
»Stimmt. Das haben die Leute im Dorf erzählt. Und danach hat er sich ja nicht mehr gezeigt.« Er blickte auf. »Sieh nur!«
Einer der Männer ließ sein Pferd aufbäumen, dann preschte er davon, gefolgt von mehreren anderen. Noch mehr der Spanier tauchten auf. Sie rannten zu dem Stall hinter dem Gasthof, um ihre Pferde zu holen und dem ersten Reiter zu folgen.
»Das sind die, die lieber Fersengeld geben«, flüsterte Anselmo.
»Und der Rest wird die Stellung halten.«
»Die Soldaten scheinen schon ziemlich nah zu sein – wenn man bedenkt, wie schnell das auf einmal alles ging.«
»Ja, offenbar der schlechteste Moment für eine Heimkehr«, erwiderte Bernina ironisch.
Anselmo lächelte sie an. Sein Gesicht war ganz nah an ihrem. »Ich hätte allein hierher kommen müssen. Niemals hätte ich dich mitnehmen dürfen.«
»Du weißt genau, dass ich das nicht zugelassen hätte. Ich hätte dich nicht allein gehen lassen.«
»Ja, das weiß ich, Bernina.«
»Dann lass uns dem Mann einen Besuch abstatten, der gemeinsam mit Egidius Blum so viel Schrecken über uns alle gebracht hat.«
Er lächelte wieder, ganz kurz nur. »Die Frage ist bloß, wie wir das schaffen können. Gerade jetzt werden die Männer wachsamer und gewalttätiger sein denn je. Wie ich es mir denke, halten die meisten von ihnen den Schankraum, ja das ganze Erdgeschoss besetzt. Wir können nicht einfach durch die Vordertür hineinspazieren.«
»Ich habe mir schon etwas ausgedacht«, flüsterte Bernina. »Allerdings wird es nicht einfach sein.«
Sie umrundeten das Fachwerkgebäude, das ihnen Schutz geboten hatte, und näherten sich von hinten dem Gasthaus. In Teichdorf herrschte wieder die geisterhafte Stille von vorhin. Doch mit Sicherheit hatte jeder einzelne Bewohner den Disput auf der Hauptstraße mitbekommen, da war Bernina sich sicher.
Jeden Schritt setzten sie mit äußerster Bedachtsamkeit, jedes noch so leise Geräusch versuchten sie zu vermeiden. Im Stall fanden sie, was sie suchten: eines jener Seile, mit denen oft mehrere Pferde aneinander gebunden wurden. Anselmo rollte es zusammen und warf es sich um die Schulter. Wieder draußen angekommen, bückte er sich. Er faltete die Hände, um Bernina so eine Trittstufe zu bieten. Vorsichtig nutzte sie die Hilfe, um sich auf das flache, von einigen tückisch rutschigen Schneeflecken bedeckte Bretterdach des Schuppens zu ziehen. Eines der untergestellten Pferde wieherte laut auf, aber ansonsten blieb alles ruhig. Anselmo stemmte sich mit Berninas Hilfe ebenfalls nach oben.
Vom Schuppendach gelangten sie ohne Schwierigkeiten auf das Schrägdach des Gasthauses. Noch rutschiger war es hier, noch gefährlicher. Anselmos Hand schloss sich um Berninas, und Schritt für Schritt führte er sie nach oben. »Deinen Plan in die Tat umzusetzen, könnte uns Kopf und Kragen kosten«, flüsterte er.
Bernina sagte nichts. Sie fühlte die kalte Luft auf ihren Wangen, und im Unterbewusstsein nahm sie wahr, wie der Horizont an Helligkeit gewann. Nacheinander überwanden sie die Kuppe des Daches. Anselmo ließ Bernina los, um das eine Ende des Seils am Schornstein festzubinden. An der Giebelspitze, genau über dem darunterliegenden, nach wie vor erleuchteten Fenster, hielt er kurz inne. Er legte den Arm um Berninas Hüften. »Halt dich gut an mir fest.« Seine Stimme war nur ein Hauchen, dennoch sprach Entschlossenheit aus ihr. Das andere Seilende umschloss mehrfach seine Rechte.
Ganz kurz zögerten sie, zwei Gestalten auf der Dachspitze, wie miteinander verwachsen. Erneut drangen seine Worte fast unhörbar an ihr Ohr: »Denk daran, die Beine ganz stark anzuziehen. So fest es nur geht.«
Bernina nickte. Ihre Hände krallten sich an Anselmo fest. Sie schloss die Augen.
Dann sprangen sie in die Tiefe.
*
Der Windzug wie eine eisige Welle. Ein Rauschen, ein Krachen, ein Bersten. Geräusche von zersplitterndem Holz und Glas, und plötzlich Helligkeit, verströmt von mehreren Kerzen, deren Flammen in der auf einmal durcheinandergewirbelten Luft tanzten. Der Aufprall auf hartem Boden, und so viele Eindrücke, denen die eigenen Blicke hinterherhetzen mussten.
Holzboden, teilweise bedeckt von Teppichen, Holzwände, wuchtige Holzpfeiler, die die Decke nach oben stemmten. Und zwei Augen, in denen Überraschung und Ungläubigkeit miteinander rangen.
Anselmo war als Erster von ihnen auf den Beinen. Während er Bernina nach oben zog, regneten Glassplitter aus seiner Kleidung, aus seinem Haar. Und in seiner Hand lag bereits die Pistole. Alles ging schnell, so verstörend schnell. Die Tür sprang auf, vier Männer mit roten Umhängen strömten herein. Die Mündung der Waffe jedoch ließ sie wie gegen eine unsichtbare Wand prallen. Anselmos Stimme surrte entschlossen durch den Raum, und die spanischen Worte brachten die ihrerseits bewaffneten Söldner dazu zurückzuweichen. Er wiederholte, was er gesagt hatte, und widerstrebend verließen sie wieder den Raum. Darauf schlug Anselmo die Tür so heftig zu, wie sie eben aufgestoßen worden war. Noch immer grenzenlos angespannt, nahm Bernina aus den Augenwinkeln den Tisch wahr, der von Essensresten, leeren Weinflaschen, Lachen aus Kerzenwachs übersät war. Sie sah das Bett, die Stühle, einige große Truhen, die Kiste, mit Seide ausgeschlagen, in der die Geige gebettet war. Zwei Schritte entfernt stand ein mit Schnitzereien verzierter Ständer, auf dem sich Degen aneinanderreihten. Mit einem kurzen Blick bedachte sie den nachtblauen samtenen Vorhang, hinter dem sich gewiss eine Wanne oder zumindest eine Waschkommode befinden musste. Und endlich sah sie von Neuem zu den beiden Augen, in denen die Bestürzung bereits wieder einer kalten Selbstgewissheit gewichen war.
Ein breiter weinroter Sessel umfasste einen Mann mit grauem Haar und schwarzer Kleidung. Tiefe Falten um Mund und Nase schienen nicht unbedingt vom vorangeschrittenen Alter, sondern eher von dem Leben zu stammen, das dieser Mann geführt hatte. Gnadenlosigkeit sprach aus diesen Augen, die schwarz waren, nicht von diesem strahlenden Blau, mit dem Anselmo die Welt betrachtete. Doch wie verwirrend war für Bernina die Ähnlichkeit, die ansonsten zwischen ihrem Mann und dem Fremden im Sessel bestand. Tatsächlich, sie sahen aus wie Vater und Sohn.
Anselmo sagte etwas auf Spanisch, worauf Ernesto Alvarado ein schmales Lächeln präsentierte, das die Härte seines Blickes jedoch nicht minderte. Und in diesem Moment schimmerte auch eine Ähnlichkeit zwischen ihm und seinem Bruder Juan auf, der weit von hier seinen letzten Atemzug getan hatte.
Wiederum begann Anselmo in seiner Heimatsprache zu reden, nur um dann innezuhalten und in Berninas Sprache fortzufahren: »Deine Wege waren immer ungewiss, doch dass sie dich ausgerechnet hierher führten, das war ein böser Scherz des Lebens.«
Der Mann erhob sich mühsam aus dem Sessel und griff nach einer Krücke, die daneben auf dem Boden gelegen hatte. Jetzt erst fiel Bernina auf, dass sein rechter Fuß verkrüppelt war. Auch Anselmos Blick blieb daran hängen, doch nur kurz.
»Ein dummer Unfall«, erklärte der Mann mit hartem spanischem Akzent. »Beim Sturm einer Stadtmauer wurden wir mit Steinbrocken beworfen. Einer landete genau auf meinem Fuß.« Alvarado humpelte zum Tisch herüber, ohne Anselmos Pistole Beachtung zu schenken. Jeder Schritt schmerzte ihn, das war nicht zu übersehen. »Leider sind die Weinflaschen leer.« Spott lag in jeder einzelnen Silbe. »Aber wenn du möchtest, lasse ich für dich noch welche bringen.«
»Du kannst etwas anderes für mich tun.«
»Und das wäre?« Gestützt auf die Krücke, sah Alvarado mit hartem Blick auf seinen Sohn.
»Verschwinde mit deinen Männern von hier. Und gib vorher noch den Menschen die Wertsachen zurück, die du ihnen abgenommen hast.«
Ein ironisches Auflachen. »Das kann ich nicht. Es ist unser Lohn. Er steht uns zu.«
»Nichts steht dir zu. Du hast unsere Familie zerstört – und viele weitere Familien im Laufe der Jahre. Ich habe angenommen, dich hätte längst das Schicksal ereilt, das du verdient hast.«
»Ach, das Schicksal ist nicht gerade verlässlich. Aber es hat zumindest Sinn für Humor. Sonst würden wir uns nicht in diesem kleinen jämmerlichen Dorf wieder begegnen.«
»Vielleicht war es unausweichlich.«
»Wie ist es dir in der Heimat ergangen? Ehrlich gesagt, bin ich erstaunt, dass du den langen Weg zurück geschafft hast. Auf deinen Vetter Pablo ist wohl ebenso wenig Verlass wie auf das Schicksal.«
»Pablo ist tot«, entgegnete Anselmo hart. »Es hat ihm also nichts gebracht, dich und Juan zu unterstützen. Nichts als den Tod. Und das gilt auch für deinen Bruder. Juan starb durch eine Degenklinge.«
Keine Regung in den schwarzen Augen. »Dann muss ich wohl annehmen, dass deine Mutter noch lebt.«
»Sie erfreut sich bester Gesundheit.«
»So bin ich wohl der Letzte der Alvarados. Oder gibt es irgendwo noch jemanden von uns? Womöglich ganz in der Nähe?« Rätselhaft, wie er das betonte. Dann folgte ein verächtliches Schnauben. »Denn du bist gewiss keiner von uns. Sieh dich an. Du bist ein Bauer.« Und wieder dieses kalte Lächeln. »Aber immerhin hast du eine schöne Frau für dich gewonnen. Das ist mehr, als ich dir zugetraut habe.« Zum ersten Mal legte sich der Blick des Mannes auf Bernina.
»Ich sollte dich einfach erschießen«, zischte Anselmo.
»Dazu fehlt es dir an Mut.«
»Mut ist es nicht, was man dazu braucht, sondern etwas ganz anderes. Aber diesen Unterschied wirst du nie begreifen.«
Ernesto Alvarado erwiderte nichts. Ein Moment dumpfer bedrohlicher Ruhe.
»D’Orville rückt mit seiner Armee auf den Ort vor. Er hat schon mehrere Dörfer dem Erdboden gleichgemacht. Dir bleibt also nicht mehr viel Zeit, um dich von deinem Diebesgut zu trennen und für immer von hier zu verschwinden.«
»Ich habe die Neuigkeit bereits erfahren. Na ja, war wohl nicht anders zu erwarten. Ich habe es mir etwas zu lange hier gutgehen lassen. Für gewöhnlich ist mein Gespür besser: Sonst war ich mit den Männern über alle Berge, wenn die Armeen auftauchten.«
»Natürlich nachdem du schutzlose Siedlungen wie diese hast ausbluten lassen.«
»Wir müssen alle sehen, dass wir vom Leben etwas Gutes abbekommen, denkst du nicht?«
»Ich denke eher, dass du der erste Mensch bist, den ich wirklich töten will.« Anselmos Stimme war verändert. In seinen Augen loderte ein Feuer, und Bernina spürte, dass er drauf und dran war, die Pistole abzufeuern.
»Ich sage es noch einmal: Du hast nicht den Mut dazu!«
Bernina sah, wie sehr es in ihrem Mann wütete, wie groß die Gefahr war, dass der tödliche Schuss sich lösen würde.
Doch es war ein anderes Geräusch, das ertönte. Ein leises, beinahe sanftes Rascheln, das den Stoff des Vorhangs in Wellen versetzte. Alle Blicke richteten sich auf den nachtblauen Samtstoff. Und abermals war es tiefste Verwirrung, die in Bernina aufwallte, abermals war es diese Ähnlichkeit, die ihre Kehle trocken machte.
Ein junger Mann trat hervor. Eher noch ein Junge, vielleicht 17 Jahre alt. Schwarz sein Haar, auch seine Augen. So muss Anselmo vor Jahren ausgesehen haben, schoss es Bernina durch den Kopf. Der Junge hielt eine Pistole in der Hand, die neuer, edler wirkte als Anselmos. Golden schimmerten Hammer und Abzugsring. Das also war der Diener oder Leibwächter, von dem im Ort immer die Rede gewesen war. Doch beide Bezeichnungen waren nicht ganz zutreffend, wie sich jetzt herausstellte.
»Darf ich dir deinen Bruder vorstellen?«, sagte Ernesto Alvarado, den Blick auf Anselmo gerichtet. »Das ist Domingo Alvarado.«
Pistolenmündung gegen Pistolenmündung standen die Brüder einander gegenüber.
»Domingo wird es weit bringen«, fuhr ihr Vater fort. »Er ist nicht so verweichlicht, wie du es immer warst. Kein Blut von Elenas Lobo-Sippe fließt in seinen Adern. Seine Mutter mussten wir irgendwo in dieser wirren Welt zurücklassen. Aber das spielt keine Rolle mehr.«
»Runter mit der Waffe«, forderte Anselmo.
Der Junge regte sich nicht, steif und breitbeinig stand er da, allein der Glanz in seinen Augen ließ erkennen, wie aufgewühlt er in diesem Moment sein musste.
Die verschwindende Nacht wurde von plötzlich aufbrandendem Lärm endgültig vertrieben. Musketenschüsse und Schreie hallten durch die Gassen – d’Orvilles Armee war da. Und sie traf auf Alvarados verbliebene Männer, die sich zum ersten Mal seit ihrer Ankunft in Teichdorf gezwungen sahen, ihre Waffen nicht nur gegen wehrlose Zivilisten zu erheben. Der trommelnde Klang eiliger Schritte auf Kopfsteinpflaster drang hoch in das große Zimmer des Gasthauses, wo noch immer alles in Bewegungslosigkeit erstarrt zu sein schien.
»Runter mit der Waffe«, wiederholte Anselmo.
Etwas musste passieren. Etwas würde passieren.
»Schieß!« Ein Wort nur aus dem Munde Ernesto Alvarados, doch das war wie der Stich einer Klinge.
Und ein Schuss löste sich mit einem unnatürlich lauten Krach.
Anselmos Oberkörper zuckte. Seine Waffe fiel polternd zu Boden. Beide Hände presste er auf die Brust. Er sank auf die Knie.
»Nein!« Berninas Schrei ließ die Wände erzittern. Sie wollte zu ihrem Mann stürzen – doch Domingo Alvarado stand auf einmal in ihrem Weg. Auch er hatte die Pistole fallenlassen. Ein Nachladen hätte zu viel Zeit in Anspruch genommen. Lässig zog er aus seinem Gürtel einen Dolch, den Bernina in ihrer Aufregung übersehen hatte. Domingo blickte kurz zu seinem Vater, der einfach bloß nickte – eine gerade nur angedeutete Bewegung, die Berninas Todesurteil war.
Geistesgegenwärtig, als würde ihre Hand von jemand anderem geführt, griff sie nach einem der Degen auf dem Ständer. Der junge Alvarado wich geschmeidig zurück, ebenso überrascht wie sein Vater.
Die Tür sprang auf. Diesmal waren es drei von schillerndem Rot umhüllte Männer, die eindrangen, jeder von ihnen bewaffnet mit einem Degen. Sie warfen einander kurze Silben zu, dann schnarrte Ernesto Alvarados Stimme, und einer der drei ging mit langen entschlossenen Schritten auf Bernina zu. Die beiden anderen begannen damit, die Truhen aus dem Zimmer zu schaffen. Domingo sprang zu seinem Vater, um ihn zu stützen und rasch nach draußen zu bringen. Ein Kämpfer würde für Bernina ausreichen, daran ließ der rasche Aufbruch keinen Zweifel. Doch für sie war alles ohnehin nur noch wie in einem Alptraum, wie von Nebelschwaden verborgen, unwirklich, schemenhaft. An dem Söldner vorbei versuchte sie auf Anselmo zu blicken, der nun ausgestreckt auf dem Rücken dalag.
Der Söldner allerdings näherte sich noch ein Stück, die Spitze seines Degens riss Berninas Blick an sich. Die Waffe zischte durch die Luft – und erwischte Berninas Umhang, der sich von ihren Schultern löste. Der nächste Hieb, aber aus einem Reflex heraus gelang es Bernina, ihre Hand mit dem Degen hochzureißen, den sie fast schon vergessen hatte. Sie parierte einen weiteren Schlag. Und wieder einen und noch einen. Sie schleuderte dem Fremden einen Stuhl vor die Füße, doch er sprang darüber hinweg, hieb erneut auf sie ein. Ein zweiter Söldner erschien wie aus dem Nichts an seiner Seite – noch eine Klinge, die ihren Tod wollte. Und Bernina verteidigte sich, führte die Waffe mit immer größerer Sicherheit, es gab nichts anderes mehr, nur noch das Fechten, und sie kämpfte und kämpfte, als hätte sie keine Seele, keine Gefühle, keine Erinnerungen. Sie dachte an nichts, nicht einmal an Anselmo. Sie kämpfte und kämpfte, die Waffe war zu einem Teil ihres Körpers geworden. Schnell und geschickt war sie, scheinbar ohne Atem holen zu müssen.
Sie duckte sich unter einem Schlag, den sie nicht gesehen, eher gefühlt hatte, und wich der Klinge aus, doch der stählerne Handschutz des feindlichen Degens traf hart auf ihren Kopf. Schmerz durchfuhr sie, alles schien sich vor ihren Augen zu drehen, plötzlich war da noch eine dritte Gestalt, ein großer, kräftiger Mann. Das ist das Ende, sagte sie sich, und es dauerte einen unendlich langen Moment, bis ihr bewusst wurde, dass dieser Mann ihr half – dass er schon einen der beiden Söldner zu Boden geschickt hatte und sich jetzt den zweiten vornahm. Immer noch drehte sich alles, sie blinzelte, dann aber nahm sie alles um sich herum wieder ganz klar wahr. Vor allem den Mann, der weiterhin reglos dort auf dem Teppich lag. Sie durchquerte den Raum, ohne noch einmal auf die beiden Kämpfer zu achten und fiel an Anselmos Seite auf die Knie.
Seine Hände krallten sich wie zuvor auf der Brust zusammen. Zwischen den Fingern quoll Blut, Bäche aus Blut.
Er lächelte. Blutstropfen auch auf den Lippen.
»Anselmo«, stöhnte sie erschüttert.
»Alles vorbei, Bernina.«
»Nein!« Ihre Stimme war erneut ein Aufschrei. »Nein!« Sie bebte, alles an ihr, jede Faser ihres Körpers, ohne dass sie es merkte.
»Du und dieser Mann«, brachte Anselmo stockend hervor. »Dieser Norby. Es war so schwer für mich.«
»Nicht sprechen.«
»So schwer. Irgendetwas ist da zwischen euch. Ich habe es gespürt, von dem Moment an gespürt, als er in der Festung unser Gefangener wurde. Da ist etwas zwischen euch …« Anselmos Blick verlor sich irgendwo, weit entfernt. »Etwas, gegen das ich keine Chance hatte.« Wieder dieses Lächeln, das Berninas Herz zerriss. »Und wahrscheinlich habe ich es einfach nicht anders verdient, Bernina. In all den Jahren habe ich dir nie die volle Wahrheit über mich gesagt …«
»Das ist nicht wichtig.« Tränen strömten über ihre Wangen. Sie fühlte sie gar nicht, nichts mehr fühlte sie. Nichts außer Anselmo.
»Doch, es ist wichtig.« Seine Augen wurden glasig, immer mehr von diesen leuchtend roten Tropfen auf seinen Lippen. »Einfach nicht anders verdient, Bernina …«
»Nein!« Abermals ihr gellender Schrei. Es war, als starre sie in einen schwarzen Abgrund, in eine unendliche Tiefe am Ende der Welt. Ihr Mund presste sich auf Anselmos Lippen. Alles, was sie wahrnahm, war der bittere Geschmack von Blut.