Kapitel 1
Die Rückkehr der blauen Krähen
Eine Hand legte sich auf ihre Schulter, und sofort war Bernina hellwach. Aus dem Dunkel um sie herum stachen zwei helle Punkte: die blauen Augen ihres Mannes.
»Was ist los, Anselmo?«
Offenbar war das Kaminfeuer heruntergebrannt. Das Haus war schon wieder erfüllt von der kalten Luft eines überraschend bitteren, unfreundlichen Frühlings.
Die Hand löste sich von Berninas Schulter.
»Es geht um deine Mutter, Bernina.«
Die junge Frau schob die Wolldecke von ihrem Körper und glitt aus dem Bett. Ihre Augen hatten sich an die Finsternis gewöhnt. Die Umrisse von Anselmos hochgewachsenem, schlankem Körper sah sie ganz nahe vor sich. Ihre Hand ertastete das Kleid, das über der Stuhllehne hing. Mit einer raschen fließenden Bewegung warf sie es sich über das Unterkleid, in dem sie sich bald nach Einbruch der Dunkelheit schlafen gelegt hatte.
Erst als sie und Anselmo das Hauptgebäude des Petersthal-Hofes verließen, stellte Bernina Fragen.
»Was ist passiert? Was ist mit Mutter?«
Ihre Stimme hing etwas verloren in der klaren Nachtluft, deren Kälte sie sofort umschlang.
»Genaues weiß ich nicht. Aber ich befürchte, etwas wirklich Böses bahnt sich an. Morgen ist die Kirchenweihfeier.« Anselmo schien die nächsten Worte förmlich auszuspucken. »Das große Fest soll anscheinend mit Blut begonnen werden.«
»Und Mutter?«, fragte Bernina noch einmal. »Sie hat sich seit Tagen nicht mehr blicken lassen.«
»Angeblich hat man noch am frühen Abend mehrere Leute in Gewahrsam genommen. Vor allem Frauen, nur zwei oder drei Männer. Ich habe wirklich keine Ahnung, ob deine Mutter dabei ist. Allerdings würde es mich nicht wundern.«
Sie liefen schneller, und die Kälte um sie herum verlor sich ein wenig. Bernina fühlte erste Schweißtropfen auf ihrem Nacken. Ihr langes blondes Haar fiel bei jedem Schritt auf Schultern und Rücken.
»Wie hast du davon erfahren, Anselmo?«
»Baldus hat vorhin ans Küchenfenster geklopft und mir davon berichtet«, erklärte er im Laufen. »Ich hatte ihn am Mittag nach Teichdorf geschickt, damit er mir noch mehr von den großen Nägeln besorgt. Das letzte Unwetter hat dem Zaun schlimmer mitgespielt, als ich zuerst annahm.«
»Wann war Baldus bei dir?«
»Vorhin erst. Er hatte sich noch ein wenig im Gasthaus umgehört. Ich habe dich dann gleich geweckt.«
Baldus war ein Knecht, der seit einigen Monaten auf dem Hof aushalf. Er neigte nicht zu Übertreibungen, und für gewöhnlich war auf sein Wort Verlass. Weiterhin mit schnellem Schritt ließen Bernina und Anselmo das kleine abgelegene Tal hinter sich, in dem der Hof lag. Die schwarze Wand des Waldes schluckte sie. Holz knisterte, unter ihren Sohlen gab der weiche, von vielen Regenfällen getränkte Boden nach.
»Wie lange habe ich geschlafen, Anselmo?«
»Schon einige Zeit. Mitternacht ist gewiss nicht mehr fern.«
Berninas Blick schweifte kurz zwischen den Wipfeln hindurch zum Himmel. Davor klebten noch immer die Wolken der vergangenen Tage und nahmen die Sicht auf die Sterne. Nur die Sichel des Mondes ließ die Dunkelheit ein wenig splittern.
»Du warst sehr lange auf den Beinen«, sagte Bernina zu Anselmo, obwohl sie mit den Gedanken bei ihrer Mutter war.
»Ja, ich war überhaupt nicht müde. Und als ich mich dann doch hinlegen wollte, tauchte Baldus auf einmal auf.« In Anselmos Stimme lag etwas Ausweichendes, etwas, das Bernina fremd vorkam.
Bis nach Teichdorf war es nicht allzu weit. Der direkte Weg führte durch diesen Wald, doch bei Nacht war es fast unmöglich, schnell voranzukommen. Das Unterholz wurde mit jedem Schritt dichter.
»War das vorhin dein Ernst?«, fragte Bernina voller Sorge. »Du weißt schon: deine Bemerkung mit dem Blut.«
Das grimmige Nicken Anselmos fühlte sie mehr, als dass sie es wirklich sehen konnte. »Und ob. Egidius Blum will Blut sehen, darauf wette ich. Morgen kommt ein Kardinal, der die Kirche weihen soll. Und Blum wird ihm zeigen, dass Teichdorf ein Ort ist, der es Wert ist, von Gott beachtet zu werden. Da bietet es sich geradezu an, ein paar arme Seelen zu opfern.« Erneut war es, als würde er jede Silbe ausspucken.
»Vielleicht ist Blum gar nicht so furchtbar, wie du glaubst.«
»Vielleicht ist er aber auch noch viel schlimmer.« Anselmo glitt geschickt zwischen zwei Sträuchern hindurch. »Ich will dich nicht in noch größere Sorge versetzen, doch zurzeit ist es am besten, auf alles gefasst zu sein.«
Bernina erwiderte nichts darauf. Innerlich jedoch musste sie ihm recht geben. Ein Geräusch ließ sie zusammenzucken, ein lang gezogener Laut, der unter ihre Haut kroch und ihre Wirbelsäule entlang rieselte.
Einen Augenblick hielten sie beide inne. Anselmo legte beruhigend seine Hand auf ihre, nur ganz kurz, dann hasteten sie weiter.
»Das war ein Wolf«, zischte er, ohne die Lippen zu bewegen, begleitet von angestrengtem Atmen.
Wie zur Bestätigung erneut ein hohes, scheinbar nicht mehr enden wollendes Geheul. Irgendwo in ihrer Nähe, irgendwo in dem stockdunkel um sie wuchernden Wald.
»Es werden immer mehr«, flüsterte Bernina, einfach nur, um die eigene Stimme zu hören.
»Ja«, antwortete Anselmo rasch. »Die Wölfe trauen sich sogar bis nach Ippenheim. Ich habe gehört, dass sie jetzt schon Menschen angefallen haben.«
»Sie werden nicht nur zahlreicher. Sie werden auch immer gefährlicher, immer furchtloser.«
»Angeblich kommt demnächst ein Wolfsjäger nach Teichdorf, ein Mann, der sich auskennt mit den Biestern.«
»Hoffen wir es.«
Noch einmal beschleunigten sie ihren Schritt. Bernina lauschte angestrengt in den Wald. Ihr Körper spannte sich an. Etwas in ihr wartete fast schon darauf, jeden Moment von einem Wolf angesprungen zu werden. Doch trotz der Gefahr flirrten ihre Gedanken zurück zu ihrer Mutter. Zurück zur Krähenfrau. So wurde Adelheid von Falkenberg schon seit unzähligen Jahren in der ganzen Gegend genannt. Eine Frau, die man bei hartnäckigen Krankheiten gern wegen ihrer erfolgreichen Heilmethoden und Kräuterhilfen aufsuchte. Und die hinter vorgehaltener Hand allerdings auch als Wesen der Nacht, als Satansmagd, als Hexe bezeichnet wurde.
Seit Pfarrer Egidius Blum in Teichdorf erschienen war, nicht mehr nur hinter vorgehaltener Hand.
Bernina und Anselmo atmeten auf, als sie den Waldrand erreichten. Sie entschlüpften den Bäumen wie einem geschlossenen Vorhang, und sofort sogen sie die Luft tiefer in ihre Lungen.
»Jetzt sind wir fast schon im Dorf«, meinte Anselmo. »Wenn überhaupt etwas geschieht, dann dort.«
»Ihr darf nichts zustoßen. Ihr darf einfach nichts zustoßen.« Abermals ließ Bernina ihren Blick durch die Dunkelheit huschen.
Die Wolken hatten sich wie von Geisterhand verzogen. Die Nacht gehörte wieder allein dem Halbmond, der sogleich heller auf die umliegenden Hügelkuppen, Wiesen und Felder zu strahlen schien. In der Ferne zeichneten sich die Dächer und der Turm der Kirche ab.
»Endlich!«, sagte Bernina leise.
Sie wusste nur zu gut, welche tiefen Ängste solche Nächte wecken konnten. Die Dunkelheit war immer noch eine Macht, die sich nicht erobern ließ und die imstande war, die ganze Welt in eisernem Griff festzuhalten. Die Menschen fühlten sich dann von Dämonen umzingelt, sahen in der Finsternis Geisterwesen, die sie verfolgten, um Blut fließen zu lassen. Und am Ende trachteten die Leute selbst nach Blut. Ja, Bernina war sich im Klaren darüber, was in solchen Nächten passieren konnte.
Nicht mehr nur ihr Nacken, ihr gesamter Oberkörper war inzwischen schweißbedeckt. Die Hitze in ihr und die Kühle um sie herum ließen eine unangenehme Gänsehaut entstehen. Als wären es tote, unbewohnte Gebäude, lagen die Häuser Teichdorfs da. Kein Fenster erleuchtet, keine von Mauern gedämpfte Stimmen, nicht einmal das Kreischen einer streunenden Katze.
»Womöglich hat Blum die Leute in der Kirche versammelt«, mutmaßte Anselmo, als er eingangs der Hauptstraße stehen blieb. »Um seine Taten erst von seinem Gott absegnen zu lassen.«
»Warte doch erst einmal ab«, entgegnete Bernina. »Wir wissen ja noch gar nicht, was los ist.« Sie holte tief Luft. »Vielleicht hat Baldus auch nur etwas falsch verstanden.«
»Ein Missverständnis?« Voller Zweifel sah er sich um. Dann bohrte sich sein Zeigefinger in die Luft. »Dort!«
Am anderen Ende der kleinen Ortschaft flammten Lichtpunkte auf.
»Das ist am Weidenberg.« Bernina betrachtete das entfernte Flackern. »Los, Anselmo, ich muss unbedingt wissen, was da vorgeht.«
Erneut rannten sie durch die Nacht, so nah beieinander, dass sich ihre Hände und Ärmel immer wieder streiften. Sie folgten der Hauptstraße, die Teichdorf der Länge nach durchschnitt. Nicht weit von ihnen ragte der Kirchturm in den Himmel. Geradeaus vor ihnen erhob sich der Weidenberg, der kein Berg, sondern eigentlich nur ein nackter, baumloser Hügel war und sich aus östlicher Richtung ans Dorf drückte. Ein Wind war aufgekommen und strich in leichten Böen um die Ecken der Häuser.
Plötzlich war die Nacht nicht mehr leblos. Menschen, dunkel gekleidet, zogen sich in einer langen Kette vom Ende Teichdorfs bis auf halber Höhe den Weidenberg hinauf. Die Lichtpunkte wurden größer. Sie stammten von den Fackeln, die links und rechts der Gruppe Gefangener Helligkeit warfen. Bewacht wurde die Gruppe von den Soldaten mit den schwarzen Augen und den roten Umhängen, die vor Kurzem im Ort angekommen waren. Piken und Läufe von Musketen schimmerten im Feuerschein.
Bernina und Anselmo stießen die Neugierigen beiseite, wühlten sich durch die Schlange, die unnatürlich still war, von der nur hier und da verhaltenes Gemurmel ausging. Sie kamen den Fackeln und den Soldaten näher, doch noch vermochten sie die Gesichter der Gefangenen nicht zu erkennen.
»Was sollen wir bloß tun, wenn Mutter unter ihnen ist?«, raunte Bernina Anselmo zu.
»Still!«, zischte er nur zurück.
Er hatte Berninas Hand ergriffen und schob sich immer weiter nach vorn, immer höher den Weidenberg hinauf, bis sie dem Geschehen schließlich so nahe waren, dass sie die furchtbaren Einzelheiten sehen konnten.
Berninas Blick jagte von einer jener erschöpften, gequälten und mittlerweile schicksalsergebenen Mienen zur nächsten. Es war fast ein Dutzend.
Tränen der Erleichterung, die sie gar nicht wahrnahm, verloren sich auf ihren Wangen. »Sie ist nicht dabei«, seufzte sie leise auf. »Mutter ist nicht dabei.«
Anselmo ging nun langsamer. Er und Bernina waren von der Menge geschluckt worden. Bernina befand sich so dicht hinter ihm, dass ihre Nasenspitze manchmal in sein dichtes schwarzes Haar stieß. Nicht nur erleichtert, nach wie vor voller Anspannung spähte sie über seine Schulter.
»Nein, sie ist nicht da«, flüsterte er. »Hoffen wir, dass sie sich wirklich in Sicherheit befindet.«
»Meine Güte! Sieh dir nur diese armen Menschen an.«
Das Licht der Fackeln erwischte nicht nur die Gesichter. Auch die Blutflecken, die die zerrissene Kleidung übersäten, auch die von Daumenschrauben zerquetschten, von eingetrocknetem Blut schwarz gefärbten Finger, auch die Beine, von verdreckten Lappen notdürftig verbunden, die mühsam und unter Schmerzen bei jedem Schritt hinterher gezogen wurden.
Anselmo deutete kurz auf einen der Hinkenden. »Der Spanische Stiefel. Weißt du, was das bedeutet?«
Sie wusste es. So wurde eine Art Schraubstock genannt, der aus vier scharf gezackten Eisenplatten bestand, zwischen denen innerhalb von Augenblicken Schienbeine zerquetscht wurden. Der Spanische Stiefel war bekannt dafür, bei Verhören eingesetzt zu werden. Unzählige Frauen und Männer, die bezichtigt wurden, sich der Hexerei verschrieben zu haben, hatten bereits seine grausame Bekanntschaft gemacht.
Der gespenstische Zug aus Leibern gelangte an den kleinen, abgeflachten Gipfel des Weidenberges, und hier erstarrte alles in Bewegungslosigkeit. Hohes Rispengras, selbst in der Nacht noch sichtbar bleich von den kalten Monaten, wehte im nächtlichen Wind um Waden und Knie.
Mit knappem, beinahe ausdruckslosem Nicken machte Anselmo Bernina auf etwas aufmerksam, das sie bislang überhaupt nicht bemerkt hatte. Ein Stück entfernt, inmitten des sich sanft wellenden Grases, standen Pfähle, die von prallen Reisighaufen umkränzt wurden.
»Oh mein Gott«, entfuhr es Bernina.
Die Menschen verteilten sich, weiterhin beklemmend leise, fächerförmig um die Pfähle, wie auf einen unhörbaren Befehl. Aus der Spitze des Zuges hatte sich ein Mann gelöst, der seine Arme ausbreitete, die Handflächen zum Himmel erhoben. Zuerst hatte er noch ein paar Worte mit zweien dieser bewaffneten, schwarzäugigen Fremden gewechselt, die seit ihrem Eintreffen Tag für Tag auf den Straßen von Teichdorf gesehen wurden.
Jetzt stand der Mann etwas abseits, damit er von allen gut auszumachen war. Das wie immer sehr einfache Gewand des Geistlichen war bereits ziemlich zerschlissen, die ebenso einfachen Bastschuhe waren löchrig. Gerade dadurch allerdings wirkten seine beherrschten Gesten umso getragener, gewichtiger.
Er begann ein Gebet zu sprechen. Mit hartem Klang kreiste seine Stimme den Weidenberg ein. Doch Bernina war es nicht möglich, auch nur eines seiner Worte aufzunehmen. Sie konnte ihn einfach bloß ansehen: seine schimmernde Glatze, der Ring kurz geschorenen Haars, der Bart, der sich um den Unterkiefer schmiegte wie ein heruntergerutschter Knebel. Und seine Augen, die auf die Fackeln starrten, als wären ihre Flammen ein stiller Zuspruch für ihn.
Das Kreuzzeichen beendete das Gebet. Ein Moment vollkommener Ruhe. Sogar der Wind schien zu erstarren.
Pfarrer Egidius Blum ließ langsam seine Linke sinken und hob seine Rechte noch etwas weiter an. Ein kurzer Wink.
Die Gefangenen wurden von den Soldaten zu den Holzpfählen geführt. Jeder trat in einen der Reisighaufen, dann wurden die Hände hinter dem Pfahl gefesselt. Erst jetzt begannen sie zu wimmern, leise zwar, aber es war klar und deutlich zu hören.
Die Laute wühlten sich in Berninas Innerstes. Sie bemerkte, dass Egidius Blum sie trotz der Dunkelheit entdeckt hatte. Sein Blick erfasste sie mit dieser merkwürdigen Art, auf die sie sich keinen Reim machen konnte. Wenn sie sich im Dorf zufällig über den Weg gelaufen waren, hatte er sie oft schon genauso angesehen.
»Wir müssen etwas tun«, sagte sie, ihre Lippen an Anselmos Ohr, während ihr Blick den Augen des Pfarrers standhielt. »Wir dürfen das nicht zulassen.«
»Leider haben wir keine andere Wahl«, antwortete Anselmo mit seiner ruhigsten Stimme. »Oder willst du das gleiche Schicksal erleiden? Willst du sterben?«
Wie von einem inneren Zwang geleitet, versuchte Bernina sich an ihm vorbeizudrängen, doch seine Finger umschlossen sofort ihr Gelenk. Härter und entschlossener, als er sie je zuvor berührt hatte. »Bitte, tu mir den Gefallen und zügle dein Temperament«, beschwor er sie. »Ich kenne dich, Bernina, und deshalb sage ich dir: Halte dich zurück. So schwer es dir auch fallen mag.«
Sie blieb stehen, Schulter an Schulter mit Anselmo, aber seine Hand ließ ihr Gelenk trotzdem nicht los.
Als ihr Blick auf eine große, kräftige Gestalt fiel, hauchte sie erneut: »Oh mein Gott.«
Auch Pfarrer Blums Augen suchten nach dieser Gestalt, einem Mann, der einen dunklen Umhang mit ausladender Kapuze trug, sodass sein Kopf verborgen blieb. Fast war es, als wäre er eben erst sichtbar geworden, wie ein Gespenst. Aus der Kapuze rutschte eine lange Strähne hellen, offenbar grauen Haares, die vor dem unsichtbaren Gesicht herabbaumelte.
Ein lauteres Raunen in der Menge, dann von Neuem eine durchdringende Stille, die etwas geradezu Tosendes besaß.
Die Soldaten traten ein paar Schritte in den Hintergrund. Der Fackelschein erreichte die Gefesselten nur ganz schwach, und ihre Umrisse lösten sich in der Dunkelheit beinahe auf. Immer noch diese Ruhe.
Der große, breitschultrige Mann bewegte sich ohne Eile auf die Gefangenen zu. Er ging von einem zum anderen und schien sich jeweils kurz an ihren Krägen zu schaffen zu machen. Keiner von ihnen hob die Augen, keiner schaffte es, ihm ins Gesicht zu sehen.
Anselmos Griff wurde fester, und Bernina drückte sich unbewusst noch näher an seine Seite. »Können wir denn gar nichts tun?«, fragte sie hilflos. Er gab ihr keine Antwort.
Der Mann mit der Kapuze entzündete an einer der Fackeln eine Handvoll Reisig. Bernina spürte, wie die Menge den Atem anhielt. Ihr Blut gefror in den Adern. Schon züngelten Flammen aus dem ersten der Scheiterhaufen, gleich darauf aus dem zweiten.
Bernina konnte nicht anders, sie musste den Blick abwenden. Wiederum stiegen Tränen in ihr auf, strömten an ihren Wangen hinunter. Anselmo stand völlig reglos da, wie der Stamm eines Baumes. Schreie zerrissen die Stille, und Berninas Blick richtete sich doch noch einmal auf das, was für sie weiterhin unfassbar war.
Alle Reisighaufen brannten, auch die Pfähle. Die Schreie wurden lauter, wurden unmenschlich. Bernina starrte auf diese armen Frauen und Männer. Plötzlich stoben aus deren Köpfen Funken, in die Schreie mischte sich ein merkwürdiges Krachen. Noch mehr Funken, ein wahrer Funkenregen, und für einen Moment war es, als würde der ganze Himmel in Flammen stehen.
*
Am Morgen darauf war der Sommer da. Etwas zu früh und ganz plötzlich, wie ein Feind, der in einem Versteck gelauert hatte. Fast schien es, als hätten ihn die Feuer der Nacht zum Leben erweckt. Die Sonne brannte von einem Himmel herab, der auf einmal wolkenfrei war. Heiße Luft wallte auf, in die man mit den Händen greifen konnte wie in Wolle. Sie wälzte sich heran, kroch in die Straßen.
Die Menschen in Teichdorf traten vor die Häuser, um die Ankunft des Sommers auf sich wirken zu lassen, als misstrauten sie ihm noch ein wenig. Noch vor Jahren war der kleine Ort in Panik verlassen worden. Damals war der endlose Krieg über diesen Landstrich hinweggefegt wie ein riesiger Orkan. Leere Bauten blieben zurück, leere Straßen, durch die nachts lautlos Wölfe auf der Suche nach Beute strichen. Doch nach der großen Schlacht von Offenburg war eine beinahe nicht mehr erwartete Ruhe eingekehrt. Die Gegend atmete auf, die Menschen versuchten, das Leben wieder aufzunehmen, das sie früher einmal gekannt hatten, ein Leben ohne Blut und ständige Todesfurcht.
Teichdorf erwachte, wurde mit neuer Lebendigkeit erfüllt und vergrößerte sich sogar. Inzwischen, drei arbeitsreiche Jahre nach dem Offenburger Gemetzel, in dem die kaiserlich-katholischen Truppen den Siegeszug ihrer protestantischen Gegner vorerst beenden konnten, dehnte sich die Ortschaft aus bis zu den Wäldern des angrenzenden Petersthals. Teichdorf stellte mehr dar als in zurückliegenden Zeiten, war nicht mehr nur eine Ansammlung von ein paar schiefen Fachwerkhäusern. Eindrucksvoller Beleg dafür war die Kirche, die umgebaut worden war und sich wie das gesamte Dorf vergrößert hatte. An diesem Sonntag sollte sie von einem Ehrengast geweiht werden, von Kardinal Johannes von Bingen, der zu diesem Anlass den Weg aus Freiburg auf sich genommen hatte.
Dass eine solche Persönlichkeit Teichdorf besuchte, hatte man allein Egidius Blum zu verdanken. Seit zwei Jahren war er nun der Pfarrer des Ortes, ein unermüdlicher Mann, der eines frühen Morgens in zerschlissenen Schuhen vor Schultheiß Kornbacher gestanden und mit zu allem entschlossener Miene verkündet hatte, dass Teichdorf eine große Zukunft bevorstehe.
Dieser Sonntag war sein Tag. Egidius Blums Tag. Und er hatte alles dafür vorbereitet und nicht die geringste Kleinigkeit dem Zufall überlassen. Es sollte der erste Tag dieser großen Zukunft Teichdorfs werden. Doch ausgerechnet jetzt hatte sich ein alter Bekannter aufgemacht, die Menschen abermals in Schrecken zu versetzen. Der Krieg lebte ebenso neu auf wie vor Kurzem Teichdorf. Schon hörte man wieder von Gefechten und Plünderungen, von Folter und Todschlag. Die Bedrohung kam diesmal aus westlicher Richtung. Französische Truppen rückten vor und hinterließen eine Spur aus Blut.
Egidius Blum allerdings schien selbst darauf eine Antwort zu haben. Dank seiner Verbindungen waren sie plötzlich in Teichdorf gewesen, jene Unbekannten, die die Ortschaft beschützen sollten. Diese fremden Männer mit den schwarzen Augen und den roten Umhängen, die Waffen trugen, mit merkwürdigem Akzent sprachen und wie selbstverständlich das einzige Gasthaus Teichdorfs komplett in Beschlag genommen hatten.
Pfarrer Blum wischte die Bedenken der Bürger mit seiner typischen Entschiedenheit beiseite. »Teichdorf braucht Schutz«, erklärte er. »Diese Männer werden unser Schutz sein.« Er kündigte sogar an, dass noch weitere von ihnen folgen würden.
An diesem Sonntag jedoch wollte sich niemand mit den Fremden beschäftigen. Teichdorf war getränkt von dem Wunsch, sich seinem ehrenwerten Besucher würdig zu erweisen. Bunte Flicken und Fetzen wehten an Dachrinnen und Bäumen, und die Straßen waren von den sonst allgegenwärtigen Pferdeäpfeln befreit worden. Der Ort ruhte in gleißendem Sonnenschein, bereit für das große Ereignis.
Ruhe lag auch über dem nicht weit entfernten, von dunklen Waldstücken abgeschirmten Tal, in dem sich das gemauerte Hauptgebäude und die Ställe des Petersthal-Hofes befanden. Bernina räumte den Tisch nach einem zweiten kurzen Frühstück ab, mit denselben gewohnten, geschmeidigen Bewegungen wie immer. Doch in ihrem Kopf loderten noch die Bilder der letzten Nacht.
Ihre Mutter, die Krähenfrau, dieses eigenwillige, für niemanden, nicht einmal für Bernina, ganz zu durchschauende Wesen hatte sich nach wie vor nicht sehen lassen. Berninas Sorgen um sie waren noch größer geworden. Wusste die Krähenfrau bereits, was sich auf dem Weidenberg abgespielt hatte?
Als Bernina eine Schale mit hartgekochten Eiern abstellte, fiel ihr Blick zufällig durchs Fenster. Vor dem Hauklotz, an dem er normalerweise Brennholz hackte, stand Anselmo mit verschränkten Armen. Sie konnte sehen, dass er einfach nur vor sich hin blickte, in Gedanken versunken. Selbst wenn sie es sich noch nicht offen eingestanden hätte, machte sich Bernina auch um ihn ein wenig Sorgen. Abwesend streifte er mit zwei Fingern über den Stiel der im Klotz steckenden Axt.
Damals, als sie ihn kennenlernte, war er ein Gaukler gewesen. Ein faszinierender, temperamentvoller Mann, der auf dem Seil tanzen konnte und Kunststücke vorführte, der musizierte und sang, der die Menschen zum Lachen brachte. Bernina hatte sich sofort in ihn verliebt. Und sie liebte ihn noch immer unerschütterlich. Nur für sie war er sesshaft geworden, zum ersten Mal in seinem Leben.
Da es in Teichdorf noch keinen Geistlichen gegeben hatte, waren sie in Gundelfingen getraut worden, in einer kurzen, stillen, aber dennoch wunderschönen Zeremonie. Seit drei Jahren hatte Anselmo sie jeden Tag unermüdlich dabei unterstützt, den Petersthal-Hof, den sie geerbt hatte und der völlig zerstört gewesen war, wieder aufzubauen und neue Stallungen aus dem Boden zu stampfen. Und nichts deutete darauf hin, dass Anselmo auch nur einen Tag lang seine Entscheidung bereut hätte.
Das war auch jetzt noch so. Und doch hatte er sich irgendwie verändert. Noch immer war er lustig, noch immer hatte sein Lächeln etwas Bezwingendes, das Leuchten seiner Augen etwas Außergewöhnliches. Seit Kurzem allerdings schlich sich gelegentlich eine Gedankenschwere in seine Züge. Er grübelte. Nur worüber? Dass ihn etwas beschäftigte, erstaunte Bernina keineswegs. Wohl aber, dass er sie nicht einweihte.
Selbst als Anselmo nun mit diesem Lächeln, das ihr so viel bedeutete, die Wohnküche betrat, merkte Bernina ihm an, dass die Gedanken von eben noch auf ihm lasteten. Verkehrt herum ließ er sich auf einem Stuhl nieder, die Unterarme lässig auf der Lehne.
»Der erste schöne Tag des Jahres«, sagte er mit wieder ernsthaftem Gesicht.
»Pfarrer Blum wird sich über das Wetter freuen.« Die Worte drangen voller Bitterkeit über Berninas Lippen. Auch sie nahm nun auf einem der grob gezimmerten Stühle aus Kirschbaumholz Platz.
Anselmo sah sie an. Er sagte nichts.
»Die Welt ist manchmal ein grausamer Ort.« Bernina seufzte. »Ist das nicht verrückt? Nachts werden Menschen umgebracht und tags darauf wird ein Fest gefeiert.«
»Es ist die nackte Furcht, die alle wieder ergreift.« Anselmo strich sich die Haare aus der Stirn. »Die Leute glauben, wenn sie ein paar arme Seelen opfern, ist ihr Gott besänftigt und gut zu ihnen. Es ist die Angst vor dem Krieg. Sie kam so plötzlich zurück. Und sie macht die Menschen ganz irrsinnig. Lange Zeit war es ruhig gewesen. Und dann auf einmal die Nachrichten von französischen Armeen, die auf die Grenze des Reiches zumarschieren. Das hat allen ziemlich zugesetzt.«
Bernina betrachtete ihn aufmerksam. »Versuchst du gerade, irgendjemanden in Schutz nehmen?«
»Ich?« Seine Augenbrauen zuckten. »Warum sagst du das? Du weißt, dass mich Gewalt und Verbrechen ebenso anwidern wie dich. Dass ich all das ebenso verurteile wie du.«
Einige Momente verstrichen.
»Tut mir leid«, antwortete sie schließlich leise.
»Das muss es nicht. Mir ist klar, wie aufgewühlt du bist. Und dass du pausenlos an deine Mutter denken musst.«
Die Krähenfrau lebte nicht bei ihnen. Etliche Jahre zuvor hatte sie sich für ein Einsiedlerdasein entschieden. Zu dritt hatten sie für Berninas Mutter eine Hütte gebaut, in einem ganz versteckten Winkel des Waldes, unweit jener Stelle, wo sie früher bereits in einer ähnlichen Behausung untergekommen war. Häufig brach Berninas Mutter auf zu Streifzügen durch die umliegenden Siedlungen. Sie heilte und handelte mit Kräutern, Wurzeln und ihrem Wissen. Zurzeit allerdings schien sie wie vom Erdboden verschluckt. Länger als sonst war sie dem Petersthal-Hof ferngeblieben.
»Ich möchte wirklich wissen, wo sie wieder stecken mag.« Bernina erhob sich und trat ans Küchenfenster. »Vorhin bin ich noch einmal zu ihrer Hütte gegangen. Dort sieht es aus, als wäre Mutter seit Wochen fort. Es ist so quälend, wenn man sich um jemanden sorgt.«
»Womöglich solltest du dir auch um dich Sorgen machen«, sagte Anselmo mit behutsamem Klang. »Womöglich um uns beide.«
Abrupt drehte sie sich zu ihm herum. »Wie kommst du darauf?«
»Sieh mal, Bernina. Wir sind Außenseiter. Ich weiß, dass die Leute mich hinter meinem Rücken nur den Zigeuner nennen. Und dir missgönnen sie insgeheim, dass du als Magd aufgewachsen bist und dann in so jungen Jahren plötzlich das Vermögen der Familie Falkenberg geerbt hast.«
»Ach, das Vermögen.« Sie winkte ab.
»Dein Leben hängt nicht daran, du denkst nicht ununterbrochen daran. Mir ist das klar. Aber die Leute wissen nun einmal davon, Bernina. Es ist allgemein bekannt, dass du Ländereien und Häuser in Baden und Franken besitzt.«
»Alles, was ich wirklich wollte, war der Petersthal-Hof. Und den Hof aufzubauen und mit neuem Leben zu füllen.«
»Nimm das alles nicht zu leicht«, meinte Anselmo mit warnendem Unterton.
Ist es das, was ihn so beschäftigt?, fragte sich Bernina.
Doch eine eigenartige Ahnung sagte ihr, dass es noch etwas anderes gab, das Anselmos Gedanken beherrschte. Etwas ganz anderes.
»Nimm es nicht zu leicht«, wiederholte er leise, als sie nicht antwortete.
Sie hob kurz die Achseln. »Du magst recht haben. Trotzdem denke ich vor allem an Mutter. Seit Egidius Blum so deutlich gezeigt hat, was es für ihn heißt, seinen Glauben zu vertreten, wird mir angst und bange.«
»Er will seinem Kardinal beweisen, was für ein guter Streiter des Herrn er ist. Dass er gegen Hexerei vorgeht und dabei vor nichts zurückschreckt.« Anselmos Stimme klang wie in der Nacht zuvor. Als würde er die Worte ausspucken, mit dieser schwelenden Wut, die auch Bernina in sich verspürte.
»Das ist Blum jedenfalls bestens gelungen«, stieß sie mit erneuter Bitterkeit hervor.
»Merkwürdig nur, welche Menschen gestern dran glauben mussten. Zuerst dachte ich, man hätte es auf ein paar schutzlose Seelen abgesehen. Auf Opfer, die sich kaum wehren konnten, die keine Unterstützung hatten.«
»Wie meine Mutter«, warf sie trocken ein.
»Ja, richtig«, erwiderte Anselmo in aller Offenheit. »So etwas ist vor Kurzem auch in Gundelfingen geschehen. Als die Angst ausbrach, als die Menschen die Nerven verloren. Gerüchte über den Krieg und das schlechte Wetter, das die Aussicht auf eine gute Ernte zerstörte. Auf einmal standen ein paar Schweinehirtinnen im Verdacht, nachts Hexenrituale durchzuführen. Was folgte, war ein Folterverhör, durch das man den Hirtinnen Geständnisse und Namen weiterer Frauen abrang, die ebenso wenig Hexen waren wie sie selbst. Dann brannten die Scheiterhaufen.«
»Und du denkst, hier war es anders?«
Seine Stirn legte sich in Falten. »Du hast gesehen, wen es gestern Nacht traf. Das waren Leute, die im Dorf einiges galten, die man nicht so einfach als Hexen denunzieren konnte. Eine der Frauen war sogar mit dem Schultheiß verwandt. Einer der Männer ein Freund von ihm.«
»Deshalb hast du vorhin mein Erbe erwähnt.« Bernina sah ihn an. »Oder?«
Anselmo blickte an ihr vorbei. »Ach, ich weiß auch nicht.« Er lächelte irgendwie traurig. »Es waren erstaunlich angesehene oder wohlhabende Leute. Und das kommt mir seltsam vor.«
»Wir hätten ihnen helfen müssen«, sagte sie dumpf.
»Nicht die kleinste Chance hätten wir gehabt«, widersprach er sofort. »Und das weißt du genauso gut wie ich.«
»Ich habe die ganze Nacht lang gesehen, wie sie starben. Immer und immer wieder.«
Anselmo schwieg.
»Und dieser Henker«, fuhr Bernina fort. »Auch er hat mich in der Nacht verfolgt. Wie kann ein Mensch bloß zum Henker werden? Wahrscheinlich genießt er seine mörderische Aufgabe auch noch.«
»Der nicht.«
Verdutzt sah sie ihn an. »Woher willst du das wissen?«
»Hast du bemerkt, wie er sich kurz an den Gefangenen zu schaffen gemacht hat? Bevor sie getötet wurden?«
Sie nickte und wartete, dass er fortfuhr.
»Er hat ihnen kleine dünne Säckchen mit Schwarzpulver um den Hals gebunden. Ein einziger Funken des Feuers an diesem Sack genügt. Der Tod kommt dann ganz schnell.«
»Bist du dir sicher?«
»Ja, Bernina, der Henker hat ihre Leiden zumindest verkürzt.«
Bernina wechselte einen langen Blick mit ihm. Wortlos ließen sie etwas Zeit verstreichen. Dann meinte Anselmo mit wieder leichterer Stimme: »Wenigstens können wir von niemandem gezwungen werden, dieses Fest zu besuchen.«
»Aber ich möchte hin«, erwiderte Bernina lapidar.
Verblüfft blickte er sie an. »Wieso denn das?«
»Ich kann es selbst nicht genau erklären.« Bernina fuhr sich durch ihr Haar und schüttelte unschlüssig den Kopf. »Aber ich will nicht einfach so die Augen verschließen. Ich will nicht hier sitzen und so tun, als würde mich das alles nichts angehen. Ich lebe hier!« Sie fühlte, wie etwas in ihren Augen aufblitzte. »Ich habe zugesehen, wie sie töten, dann kann ich auch zusehen, wie sie feiern. Sie sollen merken, dass ich da bin, und sie werden in jedem meiner Blicke erkennen, was ich von ihnen halte.«
Fasziniert, mit einem angedeuteten Lächeln ließ Anselmo ihre Worte auf sich wirken. »Weißt du was? Das ist es, was ich ganz besonders an dir liebe.«
Bernina erwiderte nichts.
Er betrachtete ihre schlanke, anmutige Gestalt wie in jenem Moment, als sie sich zum ersten Mal begegnet waren. »Also gut, dann lass uns aufbrechen.« Abrupt erhob er sich. »Es geht bestimmt bald los.«
Nicht einmal während eines hellen, von Sonnenlicht überfluteten Tages verlor der dicht zugewachsene Wald dieses Bedrohliche. Hier war die Luft noch nicht erfüllt von der überfallartig über das Land geschwappten Hitze. Es roch feucht. Moos klebte an den Stämmen, wucherte über den Boden. Nur die Geräusche ihrer von nasser Erde gedämpften Schritte waren zu hören. Sogar die Vögel schwiegen.
Bernina ertappte sich dabei, wie sie immer wieder zwischen Dornensträuchern und tief hängenden Ästen hindurchspähte. Die Angst vor den Wölfen war zu einem ständigen Begleiter geworden. Auch in der letzten Nacht, während sie wach gelegen hatte, in Bann gehalten von den Geschehnissen auf dem Weidenberg, hatte sie gelegentlich das Geheul dieser Tiere gehört. Mit einiger Hoffnung dachte sie an den Wolfsjäger, der in Teichdorf erwartet wurde.
Wiederum durchquerten Bernina und Anselmo das Waldstück schnell, ohne diesmal jedoch in den Laufschritt zu verfallen. Nach ihrem Gespräch in der Wohnküche hatte Anselmo nichts mehr gesagt. Bei einigen raschen Seitenblicken stellte Bernina fest, dass sich erneut diese Nachdenklichkeit in sein Gesicht verirrt hatte.
Unbewusst atmete Bernina durch, als sie den Wald hinter sich ließen. Kurz darauf, mit dem ersten Blick auf den kleinen Ort, war es das Fest, das ihre ganze Aufmerksamkeit in Anspruch nahm. Schon auf einige Entfernung sah sie die Stofffetzen, mit denen die Häuser geschmückt worden waren, farbige Punkte in der trägen vorsommerlichen Luft.
Sie gelangten an die Hauptstraße, durch die bereits viele Einwohner eilten, um nichts zu verpassen. Noch ein Stück weiter, dann ging es nach links durch eine Gasse mit dem einzigen Gasthaus, die zu dem Platz vor der Kirche führte. Ohne es eigentlich zu wollen, liefen auch Bernina und Anselmo zügiger. Plötzlich blickte Bernina auf, als würde ihr Blick auf merkwürdige Weise in eine bestimmte Richtung gezwungen. Fast wäre sie mitten in der Bewegung stehen geblieben. Sie verspürte ein Erschauern.
Anselmo hatte ihn nicht bemerkt, aber sie sah den Mann, der sich an der Nordseite des Gasthauses, beschattet von einem der beiden bauchigen Erker, an seinem Reitpferd zu schaffen machte. Er war so groß, dass sein Kopf den Erker beinahe zu berühren schien. Noch breiter als in der Schreckensnacht kamen ihr seine Schultern vor. Trotz der Wärme war er erneut in diesen schwarzen Kapuzenumhang gehüllt. Und abermals stahlen sich ein paar Wirbel des langen Haares daraus hervor. Jetzt erst erkannte Bernina, dass er nicht graues, sondern blondes Haar hatte – nur eine einzige Strähne schimmerte in eisengrauer Farbe. Er bückte sich und straffte mit starken Händen den Sattelgurt des Tieres, um sich gleich wieder zu seiner vollen Größe aufzurichten.
Sofort wurde Bernina von seinem Blick erfasst – einem Blick aus Augen, wie sie nie zuvor welche gesehen hatte. Selbst mit dem Abstand von mehreren Schritten strahlte das beinahe metallene Grün darin so kraftvoll, als wäre sein Gesicht nur eine Handbreit von ihrem entfernt. Dieser Blick traf sie, schien sie regelrecht zu berühren. Auch später sah sie den Mann in Gedanken noch vor sich: seine harten Wangenknochen, die starke, nach vorn drängende Nase und der blonde Schnurrbart, der sich weit hinab zu dem kräftigen Unterkiefer zog.
Bloß ein paar Momente, in denen jene grünen Augen ihre haselnussbraunen suchten und fanden, und schon war Bernina zusammen mit Anselmo an dem Henker vorübergegangen. Das Erschauern in ihr ließ jedoch erst nach, als sie den mit Kopfstein gepflasterten Platz vor der Kirche betrat, der mit Hunderten von frisch gepflückten Blumen bestreut worden war.
Zahlreiche Leute hatten sich hier versammelt. Es waren so viele, dass beschlossen worden war, die Weihzeremonie vor dem Kirchportal abzuhalten. Bürger, Bauern, Gesinde. Alle mit neugieriger Erwartung im Gesicht, manche noch schnatternd, andere mit geschlossenen Lippen. Die Sonne kroch ein wenig höher, die Hitze legte sich in großen unsichtbaren Wolken auf die Leiber.
Bernina sah zwischen Köpfen, Hüten, Hauben und Schultern hindurch und erblickte Pfarrer Egidius Blum. Er schien derart konzentriert zu sein, dass er diesen für ihn so wichtigen Tag wohl nicht einmal genießen konnte. Anders als sonst trug er feinere Kleidung, so wie man es von Geistlichen kannte. Nicht die ausgefransten Bastschuhe, nicht das einfache, längst zerschlissene Gewand. Eine neu aussehende Tunika hüllte ihn ein, darüber lag das offenbar ebenfalls neue Skapulier, das aus zwei fast bis zur Erde reichenden Tüchern auf Rücken und Brust bestand, breit geschnitten an den Schultern, nach unten schmaler. Aufrecht, wie man es bei ihm gewohnt war, stand er da, genau vor dem Portal der Kirche.
Nicht weit von ihm befanden sich ein paar der obersten Bürger des Ortes, die Dorfältesten, darunter Schultheiß Kornbacher in Schnallenschuhen, blütenweißen Kniestrümpfen, seidengefüttertem Überwurf und mit einem hohen Filzhut. Eindeutig seine beste Kleidung, zu der jedoch nicht sein Gesichtsausdruck passte. Merkwürdig verloren blickte Kornbacher auf das, was sich abspielte, als warte er auf eine Beerdigung.
Einige der Fremden hatten sich unter die kleine Gruppe mit dem Schultheiß gemischt. Schweigend, ohne ihren Akzent ertönen zu lassen, verharrten sie im Licht der Sonne, den Degen an der Hüfte. Die roten Umhänge schmiegten sich leuchtend um ihre Schultern. An jeder Kragenecke prangte das mit dicken Goldfäden eingenähte Symbol, das sie verband: eine einzelne Rose.
Fanfaren ertönten, gleich darauf Trommelschläge. Noch mehr von den schwarzäugigen Fremden, bewaffnet mit Lanzen und Musketen. Vier von ihnen trugen eine Sänfte heran, aus der sich mühevoll ein alter Mann wand, um schließlich mit wackligen Beinen auf Teichdorfer Boden zu stehen. Es war der Ehrengast aus dem Freiburger Münster, Kardinal Johannes von Bingen, zwar festlich gekleidet, doch anscheinend von der Reise ziemlich ermattet. Gebeugt seine Gestalt, blass sein Gesicht, aus dem müde Augen blinzelten.
Stille breitete sich in der Menge aus. Der Pfarrer und der Kardinal verständigten sich mit einem Blick, worauf Egidius Blum vortrat.
»Liebe Gemeinde!« Wie schon auf dem Weidenberg war es, als würde die Stimme des Pfarrers sie alle umzingeln. »Heute beginnt die Zukunft für Teichdorf.«
Bernina ließ ihre Blicke über die Umstehenden gleiten. Alle lauschten Blums Worten mit großer Aufmerksamkeit, geradezu andächtig. Dass Teichdorf sich verändert hatte, das verdankten sie in erster Linie ihm, und das gaben sie ihm durch die Art zu verstehen, mit der sie ihm zuhörten. Er war wichtig für sie, mehr als das. In gewisser Weise stand Blum auch über Schultheiß Kornbacher. In der abgeschiedenen bäuerlichen Welt Teichdorfs war die Kirche der Mittelpunkt. Hier fand man nicht nur religiösen Trost, hier begegnete man sich, tauschte Erfahrungen aus, traf Abreden. Und so war der Pfarrer auch nicht nur für das geistige Wohl zuständig, er war Arzt und Helfer, Lehrer und Ratgeber.
Egidius Blum hatte sich als besonders ehrgeizig und tatkräftig erwiesen. Damit hatte er den ganzen Ort für sich gewonnen. Und deshalb waren auch alle bereit gewesen, für den Umbau der Kirche ihren Teil beizutragen. Aus dem ganzen Schwarzwald hatten die Bauern Steinquader herangekarrt, und so manches Fuhrwerk war dabei im Matsch stecken geblieben.
Doch es hatte sich gelohnt. Dieser Tag war die Bestätigung für sämtliche Mühen. So fühlten alle. Bernina sah es ihnen an, während Blum wieder in ihr Bewusstsein rückte. Gerade rief er voller Überzeugung: »Meine Absicht ist es, euch mit aller Macht auf dem rechten Pfad weiterzuführen.« Schweiß tropfte von seiner Nase, seine Augen funkelten. »Und alle, die von diesem Pfad abgewichen sind, die werde ich wieder zurückgeleiten. Das Laster der Hexerei werden wir eigenhändig austreiben, ebenso wie jedes andere Laster. Irrige Lehren dürfen sich nicht verbreiten. Vergesst nicht: Das Böse ist ansteckend. Und es darf nicht den reinen Leib unseres Dorfes infizieren. Niemals!«
Während die Worte Blums durch die Luft trieben wie kurze messerscharfe Windstöße, sah Bernina einmal beiläufig zu Anselmo, der ganz nah neben ihr stand, und etwas in seinem Gesicht ließ sie aufmerksam werden. Sie merkte ihm an, dass er nicht zuhörte, aber er war auch nicht in dieser Gedankenschwere gefangen wie zuletzt. Ein merkwürdiger Ausdruck spiegelte sich in seinen Zügen wider.
Bernina sah in die Richtung, in der er zwischen den Menschen hindurchspähte, und was sie entdeckte, traf sie völlig unerwartet. Ausgerechnet einer der Fremden nahm Anselmos Blick auf, erwiderte ihn, beinahe schien es sogar, als würden sie sich auf etwas verständigen. Dann war es auch schon wieder vorüber, der Fremde und Anselmo schenkten einander keinerlei Beachtung mehr.
Du hast dich getäuscht, sagte sich Bernina in Gedanken. Und war doch vom Gegenteil überzeugt. Sie musterte den Fremden, der sich nicht von seinen Begleitern unterschied. Jung war er, vielleicht Anfang 20, recht groß und schlank. Schwarz die Augen, schwarz das Haar. Soldatenstiefel und Degen, ein ausladender Federhut und natürlich der rote Umhang mit der goldenen Rose rechts und links auf dem hochstehenden Kragen.
Wer bist du?, fragte ihn Bernina, ohne einen Laut zu äußern, nur mit einer unmerklichen Bewegung ihrer Lippen.
Noch im gleichen Moment fiel ihr allerdings auf, dass sie selbst ebenfalls von Augen angesehen wurde. So wie bereits öfter. So wie auch in der furchtbaren Nacht, als die Scheiterhaufen in Flammen aufgingen.
Egidius Blum sprach immer noch, und während er zum wiederholten Male die Arme ausbreitete, hielt er seinen Blick geradewegs auf Bernina gerichtet. Lange sah er sie an, sehr lange, und sie starrte zurück, versuchte dabei all die Verachtung zu offenbaren, die sie seit den Geschehnissen auf dem Weidenberg für ihn empfand.
Ein einziges Mal nur hatte er sie in den zwei Jahren angesprochen, in denen er in Teichdorf war. Es war eine unverfängliche Unterhaltung nach einem Sonntagsgottesdienst gewesen. Danach hatte er nie wieder das Wort an sie gerichtet – doch viele seiner Blicke hatten ihr gehört. Sie hatte jeden einzelnen davon gespürt, und jeder einzelne war ihr unangenehm gewesen.
Nun gab Blum das Wort an den Kardinal weiter, der erneut müde ins Nichts blinzelte, um dann das zu tun, weshalb er gekommen war. Mit einem kurzen Gebet und ein paar Tropfen Weihwasser spendete er den Segen für die Kirche.
Zum ersten Mal erschallte das erhabene Geläut der neuen Glocke. Pestkreuze wurden aufgestellt und Spenden aus Brot, Fleisch und Eiern an einige der Ärmsten verteilt. So sollte der Schwarze Tod ferngehalten werden.
Ein weiteres Gebet Egidius Blums folgte, doch seine Stimme wurde plötzlich von den donnernden Hufen eines Pferdes verdrängt. Sämtliche Köpfe zuckten zur Seite, und jeder Blick lag auf dem Mann, der die Hauptstraße entlangritt. Er saß aufrecht im Sattel, die Augen geradeaus, den wuchtigen Oberkörper gestrafft, ohne die Menge zu beachten. Beim Galopp rutschte die Kapuze in den Nacken und gab den Kopf frei. Lange blonde Haare wirbelten durch die Luft. Im nächsten Moment war er nicht mehr zu sehen, doch das Hufgetrappel konnte man noch eine ganze Zeit hören, ehe es verklang.
»Den haben wir hoffentlich zum letzten Mal in Teichdorf gehabt«, hörte Bernina einen Mann in der Menge sagen, der sich sogleich bekreuzigte.
»Falsch!«, meldete sich jemand anders zu Wort. »Der Kerl bleibt uns erhalten. Er reitet wohl gerade zu einer ganz besonderen Jagd. Wie ich gehört habe, ist er nicht nur Henker, sondern auch der Wolfsjäger. Anscheinend ein Mensch mit vielen Begabungen.«
Das rief weitere Äußerungen hervor, die erst verebbten, als Blum mit noch nachdrücklicherer Stimme mit seinem Gebet fortfuhr. Es sollte das letzte an diesem Tag sein. Gleich anschließend setzte Musik ein. Erneut Trommelschläge und Fanfaren, vereinzelte Hochrufe, dann die Klänge von Lauten und Leierkästen. Einige der Musikanten versuchten, auch mit Pantomime und Überschlägen zu unterhalten, und Bernina und Anselmo erinnerten sich sofort an die schöne Zeit, in der sie mit den Gauklern von Stadt zu Stadt gereist waren. Körbe mit Zuckerbrot und Pfeffernüssen wurden gereicht, dunkles Bier floss schon jetzt in Strömen. Später würde es noch Wettschießen mit Armbrust und Bogen geben, Stelzenlauf, Ringewerfen und Tauziehen.
Bernina allerdings hörte auf einmal nichts mehr von dem Lärm um sie herum. Sie nahm auch nichts von der Ausgelassenheit wahr, in die sich die Menschen von Teichdorf fallen ließen. Vorbei an den Schindeldächern der Häuser blickte sie auf den Weidenberg: in nacktem Sonnenlicht die Aschehaufen im Rispengras. Es schnürte ihr die Kehle zu.
Wind war aufgekommen, die ersten sanften, warmen Böen dieses Tages. Womöglich war es nur ihre Einbildung, doch Bernina meinte zu sehen, wie die Asche der Scheiterhaufen herangeweht wurde und in Spiralen über den Häuptern der Menschen wirbelte. Von Neuem sah sie die züngelnden Flammen jener schrecklichen Nacht. Es ist noch nicht vorüber, dachte sie auf einmal, das war nur der Anfang.
*
Noch mehr von den Fremden kamen. So wie Egidius Blum es angekündigt hatte. Nur zwei Tage nach der Feier vor der größer und prachtvoller gewordenen Kirche ritten sie gemächlich auf hochbeinigen Rappen heran. Die Teichdorfer empfingen sie mit stummen Blicken. Einerseits waren sie beruhigt angesichts des Schutzes, den diese Männer versprachen, andererseits auch enttäuscht, dass sie kein einziges Geschütz dabei hatten. Auch handelte es sich nicht um ganz so viele, wie es erwartet worden war. Würden sie ausreichen, um den Ort zu verteidigen, falls der Weg der Franzosen hier entlang führen sollte?
Auf den Umhängen lag eine Schicht aus feinem Staub. Unrasiert und müde die Gesichter, aber einsatzbereit die Waffen. Zuerst die berittenen Soldaten, angeführt von Offizieren, dann folgten jene zu Fuß, in ausgelatschtem Schuhwerk, außerdem zwei Gepäckwagen, ein paar Helfer und Diener, und zum Abschluss noch einmal eine kleine Reitergruppe.
In der Mitte des vorderen Kavalleriezuges wurde von zwei Eseln eine Sänfte getragen, die nicht ganz so viel Eindruck machte wie die des wieder abgereisten Kardinals aus Freiburg. Überhaupt erinnerte nichts mehr an den vergangenen Sonntag. Etwas Düsteres ging von diesen Männern aus, etwas, das die Erleichterung über ihr Erscheinen nicht so recht aufkommen lassen wollte.
Als hätte Blum das bereits vorhergesehen, hatte er am Vorabend noch einmal in einer Ansprache erklärt, dass diese Truppen wie vom Himmel gesandt kämen. »Die französische Armee rückt dem Schwarzwald immer näher«, hatte er vor der Kirche verkündet. »Wie es heißt, beabsichtigt ihr Befehlshaber, General d’Orville, sich mit Arnim von der Tauber zu verbünden.«
Der Name Arnims löste Entsetzen aus. Es war noch nicht vergessen, welche Schrecken er mit seinen protestantischen Kampfeinheiten vor wenigen Jahren über ganz Baden gebracht hatte.
»Die Gefahr durch d’Orville und Arnim von der Tauber kommt aus Westen«, rief Egidius Blum. »Aber auch unsere Sicherheit. Denn die Männer, die Teichdorf beistehen, stammen ebenfalls weit aus dem Westen. Aus dem fernen Spanien.« Er fuhr fort, indem er erklärte, dass Spanien im Gegensatz zu Frankreich den Kaiser voll und ganz unterstütze. Außerdem würde bereits seit Jahren zwischen der spanischen Krone und Frankreich ein gnadenloser Krieg geführt.
Die Menschen hatten seine Worte noch gut im Ohr, während sie beobachteten, wie die ersten der Neuankömmlinge vor dem Gasthaus Halt machten und von ihren Pferden stiegen. Die Soldaten, die sich schon länger im Ort befanden, strömten sofort aus dem Gebäude, und es kam zu einer lauthalsen, überschwänglichen Begrüßung. Flaschen mit badischem Wein wanderten von Hand zu Hand. Die spanische Sprache schallte vollmundig und fremd durch die kleine Ortschaft.
Fast unbemerkt von den Einheimischen, hoben drei der Soldaten einen Mann aus der Sänfte, um ihn behutsam ins Gasthaus zu tragen. Niemand hätte später sagen können, wie sein Gesicht aussah, doch es wurde bekannt, dass für ihn ein großes Zimmer unter der Giebelspitze freigemacht worden war. Aus dem Fenster, das zu diesem Raum gehörte, ertönten von jetzt an oft die wimmernden Töne einer Geige. Wie sich herumsprach, handelte es sich dabei um ein außergewöhnlich edles Instrument, das aus der italienischen Stadt Cremona von einem berühmten Geigenbauer namens Amati stammte.
Am nächsten Abend, als die Dämmerung sich über die Dächer schob, hörte man zum ersten Mal den Klang dieses Instrumentes. Um dieselbe Zeit verließ ein Wagen den Ort, die Ladefläche voll gestellt mit dem ganzen Hab und Gut einer Familie. Der Schultheiß war kurz zuvor, nach einem Streit mit Pfarrer Blum, kurzerhand abgesetzt worden. Oder er war von sich aus von seinem Amt zurückgetreten. Das wurde nie ganz geklärt. Kornbacher kehrte jedenfalls nie wieder zurück nach Teichdorf.
Weder von der Ankunft weiterer spanischer Soldaten noch von der plötzlichen Abreise Kornbachers hatte Bernina etwas mitbekommen. Seit dem Sonntag des Kirchenfestes hatte sie sich nicht mehr in Teichdorf aufgehalten. Der Petersthal-Hof forderte ihre gesamte Aufmerksamkeit. Aber es war nicht nur das. Da war auch dieses unbehagliche Gefühl, das sie auf dem Kirchplatz ergriffen hatte, diese kaum fassbare Ahnung künftigen Unheils.
Außerdem gab es nach wie vor keine Spur von ihrer Mutter. Ihre Hütte erschien weiterhin wie unberührt. Und dann war da noch Anselmo. Bernina wusste nicht mehr ein noch aus. So glücklich waren sie miteinander gewesen. Drei Jahre großer Anstrengungen lagen hinter ihnen, gleichzeitig schöne, unbeschwerte Jahre. Jetzt allerdings ging etwas in ihm vor, das sie nicht verstand, das er vor ihr geheim hielt. Anfangs war sie sich nicht sicher gewesen, ob es überhaupt stimmte. Mittlerweile jedoch hatte sie keinerlei Zweifel mehr. Und das Schlimmste war für sie weiterhin, dass er einfach nicht mir ihr sprach. Nach außen gab er sich wie sonst auch, aber er konnte sie nicht täuschen.
Immer wieder musste Bernina an jenen Blick denken, den Anselmo mit dem fremden Mann gewechselt hatte. Zuerst wollte sie ihn darauf ansprechen, dann jedoch hatte sie kein Wort darüber verloren. Stets hatten sie sich alles gesagt, offen über alles geredet. Sie fragte sich, weshalb das jetzt nicht mehr so war.
Jeder Tag verlief irgendwie gleichförmig. Nach dem Aufstehen beim Morgengrauen wartete die Arbeit, die nur für zwei kleine Essenspausen unterbrochen wurde, dann die abendliche Mahlzeit, kurze Gespräche wechselten sich ab mit langem Schweigen. Die Dunkelheit kam, sie zogen sich ins Schlafzimmer zurück, wünschten sich eine gute Nacht, und Anselmo blieb, wie er war.
»Vermisst du die alte Zeit?«, fragte Bernina ihn einmal leise, nachdem sie die Kerze ausgepustet hatte und unter eine leichte Zudecke neben seinen sehnigen Körper glitt.
»Die alte Zeit?«
»Ja, die Tage, als wir mit deiner Gaukler-Gruppe durch die Lande gezogen sind, ohne Ziel, von einer Siedlung zur nächsten. Als wir unser Lager aufschlugen, wo immer wir wollten.«
»Der Krieg hat die Gruppe zerstört«, erwiderte er leise. »Und auch das Leben, das wir damals führten. Aber es bringt nichts ein, etwas Verlorenem ewig nachzutrauern. Jetzt bin ich hier bei dir. Ich will nirgendwo anders sein. Und ich bin glücklich.«
Etwas nüchtern, wie das letzte Wort klang. Oder bildete sie sich das nur ein?
»Wir waren irgendwie freier, stimmt’s? Ich dachte, das ist es, was dir fehlt. Frei zu sein.«
»Ich bin frei.«
Bernina seufzte und rückte noch ein bisschen näher an ihn heran. »Dann ist es vielleicht so, dass du etwas anderes vermisst. Zum Beispiel, Vater zu sein?«
»Wenn du bei mir bist, vermisse ich überhaupt nichts.«
Sein Charme hatte diesmal etwas Sprödes.
»Ich bin immerhin schon fast 24. Andere Frauen in meinem Alter haben längst mehr als ein …«
»Ich vermisse nichts«, unterbrach Anselmo sie. »Glaub mir.«
»Was hältst du von den Männern?«, fragte sie so plötzlich, dass es sie selbst verblüffte. »Ich meine«, fuhr sie zurückhaltender fort, »von diesen Fremden mit den roten Umhängen.«
Er ließ sich Zeit mit einer Antwort. Zumindest kam es ihr so vor.
»Du weißt, was ich über Männer denke, die mit Waffen und Blut ihr Geld verdienen. Denn darauf läuft es doch bei ihnen hinaus, nicht wahr?« Er stieß die Luft zwischen geschlossenen Lippen aus. »Sie sind alle gleich. Ich halte gar nichts von ihnen.«
»Ich meine es nicht allgemein. Ich meine diese Söldner im Besonderen. Hast du sie früher schon einmal gesehen?«
Bernina spürte, dass er sie im Dunkeln ansah.
»Wie kommst du darauf, Bernina?«
»Einfach nur so.« Mit der Zunge fuhr sie sich kurz über die Lippen. »Ich habe wirklich keine Ahnung.«
»Diese Männer sind Spanier. Es sind wilde Gesellen, die schon lange mit und von ihrem Degen leben.« Wieder stieß Anselmo die Luft aus. »Du weißt, dass spanisches Blut in mir fließt.«
»Natürlich weiß ich das.« Sie ließ etwas Zeit verstreichen. »Also kennst du sie nicht?«
»Woher sollte ich? Du hast manchmal Ideen.«
Er drehte sich um, und Bernina wusste, dass er nichts mehr sagen würde. Sie starrte in die Finsternis und schnupperte die Gerüche des Hofes, die ihr längst in Fleisch und Blut übergegangen waren. Die nächtliche Stille wurde vom Geheul eines Wolfes unterbrochen, der nicht allzu weit entfernt sein konnte, und mit einem kurzen Gedanken an den Henker und Wolfsjäger schlief Bernina ein.
Am darauffolgenden Tag, irgendwann um die Mittagszeit, sah Bernina Anselmo aus dem nahen Wald kommen. Er bemerkte sie nicht, da sie von der Wand des Hühnerstalles abgeschirmt wurde, in den Händen noch ein paar letzte Futterkörner. Genau wie einige Tage zuvor blieb er beim Hauklotz stehen, einen grüblerischen, beinahe abwesenden Ausdruck im Gesicht. Er starrte auf die Axt, lange, sehr lange. Auf einmal ergriff er sie mit beiden Händen, riss sie aus dem Klotz, nur um sie gleich wieder mit aller Kraft in das feste Holz hineinzuschlagen. Ihr Stiel wippte heftig nach.
»Sieht so aus, als hätte er eine Entscheidung getroffen.«
Die Stimme flirrte auf einmal um Bernina herum, vor Schreck zuckte sie zusammen. Als sie den Kopf drehte, blickte sie in zwei Augen, die immer hellwach, immer ganz aufmerksam waren.
»Ich habe gar nicht gemerkt, dass du da bist, Baldus.«
»Ich wollte Sie nicht erschrecken.«
»Schon gut.«
Ihr Blick wanderte von dem Knecht zurück zu Anselmo, der inzwischen auf den Eingang des Wohngebäudes zuging und mit einem langen Schritt darin verschwand. Ihr war nicht ganz klar, ob ihr Mann immer noch nicht mitbekommen hatte, dass sie in der Nähe war.
»Was hast du gemeint, Baldus? Welche Entscheidung hat er getroffen?«
Baldus trat neben sie. »Welche das war, weiß ich auch nicht. Es schien mir einfach so auszusehen, als hätte er irgendetwas beschlossen.«
Bernina sah ihn an, diesen Gnom, der trotz seiner verwachsenen Glieder und des leichten Buckels immer eine wertvolle Hilfe darstellte und jede schwere Arbeit zu verrichten vermochte.
»Nun ja«, fügte Baldus an. »Vielleicht ist er dann wieder so wie sonst.« Mit der Hand spielte er an einem Lederbeutel, den er stets bei sich trug. Der Beutel war an einem Seil befestigt, das er sich als Gürtel um die Leibesmitte gebunden hatte.
»So wie sonst?«, wiederholte Bernina fragend.
Der Knecht nickte und wich ihrem Blick aus. »Ja, in letzter Zeit war er immer so …« Ein unsicheres Grinsen. »Irgendwie nachdenklich.«
»Aber woran das liegen könnte, das weißt du nicht?«
»Ich? Wieso ich?«
»Spielt ja auch keine Rolle«, sagte Bernina rasch, um die Unterhaltung zu beenden. Jetzt war es ihr peinlich, ihm überhaupt diese Fragen gestellt zu haben. Das gehörte sich einfach nicht – Baldus war schließlich nur ein Knecht des Hofes.
Noch einmal sah er kurz zu ihr auf, als wollte er etwas anmerken, dann aber presste er die Lippen zusammen und eilte einfach davon. Sie sah ihm hinterher, wie er sich auf seinen krumm gewachsenen Beinen fortbewegte, als wäre jeder Schritt reiner Zufall. Es war schon erstaunlich, dass Baldus trotz seiner angeborenen Beeinträchtigungen derart flink war und schleichen konnte wie eine Katze.
Nach einer Weile ging auch Bernina ins Haus, wo sie auf einen Anselmo traf, der sich noch einsilbiger gab als in den vorangegangenen Tagen. Ihr Blick blieb unschlüssig an seinem Rücken hängen. Was ist bloß los?, fragte sie sich im Stillen.
Die Hitze blieb, der frühe Sommer hatte sich endgültig festgesetzt. Lau waren die Nächte, und an den Tagen überfluteten Sonnenstrahlen das Land. Der Flachs begann auf den Feldern zu vertrocknen, in den Bächen versickerte das Wasser. In Teichdorf hatte sich das anfängliche Misstrauen gegen die Fremden mit den schwarzen Augen in Missmut verwandelt. Allein die Furcht vor französischen Truppen und Arnim von der Taubers Einheiten, die sich in Richtung Offenburg durch das Land schossen und schlugen, hielt die Bürger davon ab, sich bei Egidius Blum zu beschweren. Der Pfarrer tat sein Bestes, um den schwelenden Zorn der Teichdorfer mit beruhigenden Worten und Durchhalteparolen so gering wie möglich zu halten. Was nicht einfach war, da die Kontributionen, die die Soldaten für ihre Unterstützung einforderten, immer umfangreicher wurden. Schutzzahlungen dieser Art waren landauf, landab durchaus üblich, aber jene Männer schienen ganz besonders gewillt zu sein, aus der Bevölkerung so viel herauszupressen, wie nur möglich war. Zähneknirschend wurden vor dem Gasthaus körbeweise Waren abgeliefert. Das Beste daraus erhielten der geheimnisvolle Mann im Giebelzimmer und die Offiziere – die zartesten Stücke des Schlachtfleischs, nur ganz frisches, noch warmes Brot, manchmal zuckersüß eingelegte Früchte. Und täglich wurde nach Wein und Bier verlangt, in geradezu unglaublichen Mengen. Zusätzlich mussten die vielen Pferde mit Heu, Hafer und neuen Hufeisen versorgt werden.
Wie sich allmählich herumsprach, ging es ihnen bei Weitem nicht nur um ihren Appetit und ihren Durst. Der Besitz jener armen Leute, die auf dem Weidenberg den Tod gefunden hatten, war offenbar schon auf die Fremden übergegangen. Pfarrer Blum wurde oft mehrmals am Tag zu dem Mann mit der Geige gerufen, um immer neue Forderungen entgegenzunehmen. Der Geigenspieler verließ fast nie den Raum. Wie man hörte, gab es einen Diener oder Leibwächter, der sich mit großer Fürsorge allein um ihn kümmerte. Und in der Abenddämmerung erklangen diese weinenden Melodien. Ton für Ton schwebten sie aus dem großen Giebelfenster. Sie schmiegten sich an den Ort wie etwas, das für immer kleben blieb.
»Was sind das für Lieder?«, riefen sich die Leute mit düsterem Grinsen gegenseitig zu. »Unsere Totenlieder?«
Es waren nur wenige Tage vergangen, seit Anselmo die Axt mit Entschlossenheit in den Hackklotz getrieben hatte. Aber etwas war an diesem Bild gewesen, das Bernina einfach nicht losließ. Immer wieder hatte sie daran zurückdenken müssen. Auch als sie auf einem dreibeinigen Hocker saß und das rissig gewordene Leder eines Dreschflegels einfettete. Die Sonne stand nicht mehr allzu hoch, doch es war noch strahlend hell. Einige schwache Böen zerfransten die Luft, die weiterhin getränkt war von Wärme.
Schon als sie Baldus aus dem Wald kommen sah, dachte sie sofort an Anselmos Gesichtsausdruck bei dem Schlag mit der Axt. Eben noch in Eile, wurde der Knecht bei ihrem Anblick langsamer, als müsse er noch überlegen, was er gleich zu ihr sagen sollte.
Sie wusste längst, dass etwas nicht stimmte. Langsam legte sie den Dreschflegel zu ihren Füßen ab, ebenso langsam stand sie auf.
Genau vor ihr hielt der Kleinwüchsige inne. Er sah sie an, einen ernsten Zug um den Mund. Das Haar stand wie immer in alle Richtungen von seinem etwas zu großen Kopf ab.
»Was ist los, Baldus?«
Er reichte ihr ein zusammengefaltetes Blatt Papier. Sofort erkannte sie, dass es aus der Truhe im Schlafzimmer stammte, wo altes Briefpapier und vieles mehr aufbewahrt wurde, das einst Berninas Vater gehört hatte: Robert von Falkenberg, ein gebildeter, in vielerlei Hinsicht begabter Mann, der gestorben war, als Bernina noch ein ganz kleines Mädchen gewesen war.
»Von wem hast du das?«, fragte Bernina und betrachtete das Papier.
»Von Ihrem Mann.«
»Wann hat er es dir gegeben?«
Baldus räusperte sich und starrte auf seine Fußspitzen. »Schon heute morgen.«
Es war abgesprochen gewesen, dass Anselmo und Baldus den ganzen Tag gemeinsam auf den Feldern zubringen würden.
»Und warum kommst du damit erst jetzt zu mir?«
Zwar erwiderte der Knecht wieder ihren Blick, aber sein Mund blieb geschlossen.
»Anselmo hat es genau so von dir verlangt, nicht wahr?«
Ein zurückhaltendes Nicken war die Antwort.
Angst hatte Bernina schon lange nicht mehr verspürt. In diesem Augenblick jedoch schien sich ihr ganzer Magen zusammenzukrampfen. Ihre Kehle war trocken, und sie merkte, wie sie hart schluckte. Sie wandte sich ab von Baldus, hin zum Haus, das inzwischen einen größeren Schatten warf – die erste Ankündigung des kommenden Abends.
Während Bernina das Blatt Papier auseinanderfaltete, stellte sie sich Anselmos Gesicht vor. Die strahlenden hellen Augen, eingerahmt von dunklem Teint, darüber das ungebändigte rabenschwarze Haar. Mit angehaltenem Atem begann sie zu lesen:
›Meine einzige Liebe,
zum ersten Mal wirst du enttäuscht von mir sein. Ich habe nicht die Ruhe, dir alles genau zu erklären, aber eines Tages wirst du mehr erfahren. Doch jetzt bleibt mir nichts anderes übrig, als dich vorerst allein zu lassen. Bevor ich wieder eine Zukunft habe, muss ich mich erst der Vergangenheit stellen, die mich so unerwartet eingeholt hat. Bleib so stark, wie du es immer warst.
Dein dich liebender Anselmo‹
Der Erdboden unter ihr schien sich in Luft aufzulösen, verwandelte sich einfach in ein schwarzes Nichts, in einen starrenden Abgrund aus Dunkelheit. Bernina musste sich regelrecht zwingen, weiterzuatmen, Luft in ihre Lungen zu ziehen und wieder auszustoßen. Sie war nicht in der Lage, auch nur ein einziges Wort noch einmal zu lesen. Mit kalten Fingern legte sie das Blatt zusammen.
»Schlimme Neuigkeiten?«, fragte Baldus.
Ihr war gar nicht bewusst gewesen, dass er noch immer anwesend war. Auch alles andere nahm sie erst jetzt wieder richtig wahr: den Dreschflegel am Boden, den Hocker, den offenen Eingang des Hauses. Langsam drehte sie sich zu Baldus um. Sie sagte nichts. Ihre Kehle war nach wie vor wie ausgetrocknet.
»Das täte mir wirklich leid.« Der Knecht betrachtete sie und legte dabei unbewusst seine Hand auf den Lederbeutel, der wie gewöhnlich an seinem behelfsmäßigen Gürtel hing.
»Weißt du, wer die Nachricht für meinen Mann aufgeschrieben hat?«
»Niemand.« Ein Kopfschütteln. »Er selbst hat das gemacht.«
»Bist du sicher?«
»Er sagte es mir.« Jetzt betonte er jedes Wort ganz besonders deutlich: »Er sagte: Ich habe eine Nachricht für meine Frau geschrieben.«
Bernina entgegnete nichts darauf.
»Einmal habe ich ihn gesehen«, meinte der Knecht unvermittelt. »Ihren Mann. Ganz zufällig. Auf dieser Lichtung, die sich etwas nördlich von hier befindet, wo der Bach fließt. Sie wissen, welche Stelle ich meine, nicht wahr?«
Sie nickte leicht, obwohl sie kaum hätte wiedergeben können, was er eben gesagt hatte.
»Es ist übrigens gar nicht so lange her«, fuhr Baldus fort. »Ich beobachtete, wie Ihr Mann auf dieser Lichtung etwas vergraben hat. Ich weiß nicht was, aber ich bin mir sicher …« Seine Worte verklangen.
Jetzt doch hellhörig, musterte Bernina ihn. »Vergraben?«, fragte sie verwirrt.
»Wie gesagt, ich weiß nicht, was es war.« Baldus runzelte die Stirn. »Aber er hat irgendetwas unter die Erde gewühlt. Nicht tief, einfach mit seinen Händen. Hm. Tja.«
»Und du hast anschließend nicht überprüft, was das war?« Ihr Blick maß ihn von oben bis unten.
»Nein, das habe ich nicht.« Baldus bemühte sich sichtlich darum, Ehrlichkeit auszustrahlen. »Ihr Mann befand sich genau neben dem Baum, in den einmal der Blitz eingeschlagen hat.«
Bernina überlegte nicht lange, ehe sie loslief. Mit einem knappen Danke ließ sie Baldus vor dem Gebäude stehen. Vor Kurzem war ihr frische, weiche Erde an Anselmos Händen aufgefallen, die er an dem kleinen Hofbrunnen säuberte. Und natürlich kannte sie die Lichtung – hier hatten sie und Anselmo vor Jahren ihre ersten gemeinsamen Stunden miteinander verbracht.
Sie ging schnell, und noch schneller rasten ihre Gedanken. Nicht nur wegen dem, was Anselmo ihr geschrieben hatte – sondern weil er überhaupt einen Brief aufgesetzt hatte.
Anselmo war ein Findelkind, das schon im Alter von zwei oder drei Jahren bei der Gauklertruppe gelandet war, irgendwo in Spanien, weit entfernt von den Tälern und Bergkuppen des Schwarzwaldes. Ein Kind ohne Heimat, ohne Namen, ohne Geburtsdatum. Ein Kind, das, von den blauen Augen abgesehen, spanisch aussah und spanische Wortfetzen plapperte. Das war es, was Anselmo ihr über sich erzählt hatte – über sein Leben, das er mit dieser bunten, ausgelassenen Gruppe umherstreifender Musikanten, Artisten und Feuerschluckern verbracht hatte, niemals inmitten der gewöhnlichen Gesellschaft, immer nur an deren äußerstem Rand. Eine Schule hatte er nie von innen gesehen.
Dass er Schreiben und Lesen beherrschte, hatte er Bernina verschwiegen. Und das warf natürlich eine andere Frage in ihr auf, eine beißende Frage, die in ihre Haut schnitt wie eine scharfe Klinge: Was hatte Anselmo sonst noch alles vor ihr geheim gehalten?
Ein paar Augenblicke stellte sie sich den Klang seiner Stimme vor, diesen weichen, musikalischen Akzent – er war das Einzige, was Anselmo von seinen Ursprüngen in die Gegenwart mitgebracht hatte. Wo mochte diese Stimme jetzt gerade erklingen, mit wem mochte sie sprechen?
Sie tauchte ein in den Wald, und ihre Gedanken lagen auf ihren Schultern wie Eisengewichte. Unwillkürlich kam ihr von Neuem der Fremde in den Sinn, mit dem sich Anselmo auf dem Kirchplatz kurz verständigt hatte. Würde sie ihn wiedererkennen? Wie hatte er ausgesehen? Schnurrbart, Kinnbart, die unter dem Hut mit der Feder wucherten. Gebräunte Haut, schwarze Augen. Er war kaum von den anderen Männern mit den roten Umhängen zu unterscheiden.
Der Wald umfing Bernina nun dichter, düsterer. Nur ein schmaler heller Streifen des Himmels zog über ihrem Kopf dahin. Die Lichtung war nicht mehr fern, als ihr Schritt stockte – dann blieb sie endgültig stehen. Vor ihr am Baum hing ein Wolf von beeindruckender Größe. Die Hinterläufe schwangen ganz leicht in der Luft.
Obwohl das Tier tot war, ging noch diese unbezähmbare Wildheit von ihm aus, wie ein Geruch, der auf Bernina zutrieb. Das Fell bräunlich, die Augen starr, die Ohren spitz. Aus dem offenstehenden Maul ragte ein bluttriefendes Eisen heraus. Das Blut, das sich im Fell festgesetzt hatte, schien noch feucht zu sein. Bernina hatte ein solches Eisen noch nie gesehen. Nicht länger als zwei Handbreit war es, an den scharf zugespitzten Enden mit Widerhaken versehen. In der Mitte befand sich ein Ring, durch den das Eisenstück mit einem Seil in einiger Höhe an einem starken Ast befestigt wurde. Ein Fleischbrocken war als Köder aufgespießt worden – Bernina sah noch die rohen Fasern des Fleischs. Der Wolf war hochgesprungen, hatte danach geschnappt und dabei gleichzeitig den Haken erwischt – und damit den Tod.
Der Anblick hatte etwas Lähmendes, und Bernina benötigte einige Momente, um sich davon zu lösen. Mit langsamen Schritten beschrieb sie einen Bogen um den baumelnden Wolf, dann waren es wieder allein die Worte des Knechtes, die sie beschäftigten.
Kurz darauf gelangte sie zu der Lichtung. Ein kleines, grünes Fleckchen inmitten des Waldes. Buschwindröschen und Wildblumen reckten sich der Sonne entgegen, ein Bach plätscherte. Bernina ging durch das Gras auf den schwarzen abgestorbenen Stamm einer Buche zu. Neben toten Wurzelsträngen sah die Erde aufgewühlt aus. Oder kam es ihr nur so vor?
Will ich hier überhaupt irgendetwas finden?, fragte sich Bernina und ging in die Knie. Sie begann zu graben, und sie fühlte sich lächerlich dabei. Ihre Hände wurden schmutzig, Erde schob sich unter ihre Fingernägel. Hör auf damit!, forderte sie von sich selbst.
Doch sie konnte nicht aufhören. Neben ihr wuchsen kleine Häufchen aus Erde. Auf einmal stießen ihre Fingerkuppen auf etwas Hartes. Ein Stein, dachte sie zuerst, aber es handelte sich um Holz. Sie befühlte es, griff danach, beförderte es schließlich ans Tageslicht.
Ein einfaches geschnitztes Kästchen. Nicht sonderlich groß. Die Ränder waren von Silber verstärkt, dessen Kälte sich auf Berninas Haut übertrug. Auch der Haken, der den Deckel verschloss, war aus Silber. Bernina begutachtete das Holzkästchen von allen Seiten. Ganz ruhig atmete sie ein und aus. Der Wald um sie herum schwieg.
Mit dem Finger öffnete sie den Haken, dann hob sie den Deckel an. Noch bevor sie den Inhalt richtig sehen konnte, roch sie etwas. Ein zarter Geruch wie von teurem Duftwasser schlich sich in ihre Nase. Bernina stellte das Kästchen vor sich ab und holte einen Bogen Papier daraus hervor. Das Papier war eindeutig älter als das von Anselmos Nachricht. Spröde, rissig fühlte es sich zwischen Berninas vorsichtigen Fingern an. Offenbar hatte es einen ziemlich weiten Weg zurückgelegt.
Ihr Blick wanderte hastig über die geschriebenen Zeilen. Eine schöne Schrift. Mit ausdrucksstarken Schwüngen kringelten sich die Buchstaben ineinander. Bernina fühlte, wie sich die Enttäuschung in ihr ausbreitete, als sie feststellte, dass die Worte in einer fremden Sprache verfasst worden waren. Sie konnte sie lesen, jedoch nicht verstehen. Bis auf zwei. Mit trockenem Mund las Bernina die Anrede, in der ihr der Name geradezu entgegensprang: Anselmo. Dann fiel ihr Blick auf die Unterschrift, die nur aus einem Wort bestand: Isabella.
Erneut bemühte sie sich, ganz ruhig ein- und auszuatmen.
»Isabella«, sagte sie dumpf, als müsse sie prüfen, wie der Name sich auf ihren Lippen anfühlte.
Jetzt erst entdeckte sie den Stoff, der unter dem Brief gelegen hatte. Sie hob ihn hoch und breitete ihn in ihren Händen aus. Ein Seidentuch in einem satten, schillernden Rot. Der Duft war nun stärker, ein besonderer Duft, schöner als jeder andere, der jemals Berninas Nase umspielt hatte. Als würde sie das Gesicht in ein Meer aus frisch gepflückten Blüten tauchen. Wann und wo auch immer er darauf geträufelt worden war, er hatte sich in dem feinen Gewebe gehalten. Mit goldenem Faden war in eine der Ecken ein Symbol gestickt worden. Bernina erwartete schon, dass es sich als Rose entpuppen würde. Doch es stellte sich als der schmale, längliche Kopf eines Wolfes heraus, der sich aus einer Falte schälte: ein goldener Wolf auf rotem Grund. Bernina blickte die Stickerei an, dann erneut die geschwungenen Zeilen des Briefes. Da war kein Datum. Und abermals fiel ihr kein Wort auf, aus dem sie irgendeine Bedeutung herauszulesen vermochte. Nicht nur enttäuscht, mit einem Mal auch irgendwie müde, verstaute Bernina Papier und Tuch wieder in dem geschnitzten Kästchen. Zuerst beschloss sie, es mit auf den Hof zu nehmen, dann überdachte sie die ganze Sache noch einmal. Wenn es wirklich Anselmo gehörte, befand es sich allein deswegen hier, damit sie nichts davon erfuhr.
Mit einem Gefühl tiefer Traurigkeit vergrub sie das Holzkästchen an genau der Stelle, wo sie darauf gestoßen war. Sie richtete sich auf, und ihr Blick verlor sich in der endlosen Weite des Himmels, der begonnen hatte, sich mit einem dunklen Schleier zu überziehen.
Ausgerechnet auf dieser Lichtung hatte Anselmo das Holzkästchen vergraben. Ausgerechnet hier, wo er einst versuchte hatte, Bernina das erste Mal zu küssen. Sie ging zum Bach, kniete sich an dessen Ufer und wusch sich ausgiebig die Hände. Als sie von dem guten, klaren Wasser trank, schmeckte sie rein gar nichts.
Auf dem Rückweg zum Hof nahm sie die Finsternis des Waldes kaum wahr. Ihre Schritte waren seltsam ziellos, als wäre es ihr vollkommen gleichgültig, wohin sie sie führen würden. Tote Zweige knackten unter ihren Füßen, immer wieder blieb sie mit dem Stoff ihrer Ärmel an Sträuchern hängen. Gerade noch duckte sie sich unter einem tiefen Ast hinweg, ohne sich den Kopf zu stoßen.
Erst als sie sich der Stelle mit dem toten Wolf näherte, wurden ihre Bewegungen zielstrebiger, war ihr Kopf wieder klarer. Sie stellte sich schon auf diesen blutigen Anblick ein, als sie schlagartig verharrte. Ihr stockte der Atem. Vorsichtig schob sie sich ganz nahe an einen stark mit Moos bewachsenen Baumstamm. Ihre Hand umfasste die kühle rissige Rinde. Sie holte Luft, auch das vorsichtig, als könnte das geringste Geräusch ihr Verderben bedeuten.
Der Wolf hing noch da. Unter ihm jedoch stand ein weiterer Wolf, umhüllt von diesem diffusen, immer schwächeren Licht, äußerst angespannt, wie zum Sprung bereit, das Maul offen. Fangzähne blitzten auf.
Das Tier zog ein wenig den Schädel ein. Sein Fell hatte eine graue Tönung. Entlang des Rückgrats verlief ein auffälliger, fast silbern schimmernder Streifen. Auf einmal ein Knurren, das tief auf dem Brustkorb ertönte, sich nach außen drückte, lauter wurde.
Niemals hatte Bernina ein bedrohlicheres Geräusch gehört, nicht einmal das Donnern von Kanonen besaß etwas so Durchdringendes. In der Nase des Wolfes ein Zucken, dann drehte das Tier seinen Kopf. Geschlitzte Augen erfassten Bernina zwischen den Bäumen. Sie fühlte den Blick auf sich wie den eines Menschen, sogar noch intensiver.
Doch die Augen des Wolfes suchten sogleich wieder etwas anderes, und als Bernina um den Baum herum spähte, den sie nach wie vor unbewusst festhielt, entdeckte sie den Mann.
Diesmal trug er nicht den schwarzen Henkersumhang, sondern einen Lederwams, wie ihn viele Soldaten benutzten. Sein Haar fiel locker auf die breiten Schultern. Aus dem Blond stach die einzelne graue Strähne deutlich hervor, beinahe so wie der Silberstreif aus dem Wolfsfell.
Im Gegensatz zu dem wilden Tier hatte er Bernina nicht bemerkt. Sie sah, dass seine ganze Aufmerksamkeit dem Wolf galt. Völlig regungslos stand er da, links und rechts von ihm Buchen, als würden sie ihn bewachen. In seinen Armen ruhte eine Armbrust – die Pfeilspitze war genau auf den Wolf gerichtet.
Bernina rührte sich ebenso wenig. Auch sie stand einfach nur da, gefangen von dem, was sich vor ihr abspielte. Der Mann und der Wolf – dazwischen der abschussbereite Pfeil. Sie erwartete den surrenden Laut, der auf das Lösen der Sehne folgen würde. Und auf das Geräusch, wenn die Metallspitze den Wolf erfassen würde.
Doch – nichts geschah.
Ein weiteres Knurren lag in der Luft, als würde es nie wieder aufhören. Aber dann verstummte es doch, ganz plötzlich. Die Stille war mit den Händen zu greifen. Und der Wolf wich zurück, setzte dabei ein Bein nach dem anderen vorsichtig nach hinten – Bewegungen, die auf verrückte Weise etwas geradezu Menschliches besaßen.
Erst recht wartete Bernina jetzt auf den Schuss. Aber der Pfeil ruhte weiterhin auf der Armbrust. Der Wolf starrte noch einmal auf sie, noch einmal auf den Mann, um sich dann mit schnellen geschmeidigen Sprüngen ins Unterholz abzusetzen. Innerhalb von Wimpernschlägen war er verschwunden. Als wäre er eine Sinnestäuschung gewesen.
Der Mann ließ die Armbrust sinken – und im nächsten Moment schien sein Blick Bernina geradezu aufzuspießen. Nicht die geringste Spur von Überraschung lag in den grünen Augen, die ihr schon in Teichdorf aufgefallen waren. Sie erkannte jetzt, dass ihm ihr Auftauchen keineswegs entgangen war. Von Anfang an hatte er gewusst, dass sie da war.
»Zwei außergewöhnliche Schönheiten so kurz hintereinander«, rief er mit herausforderndem Unterton. »Heute muss wohl mein Glückstag sein.«
Er redete in Berninas Sprache, aber mit einem Akzent, den sie nicht recht einzuordnen wusste.
Sie löste sich aus dem Schutz des Baumes und trat nach vorn. Eigentlich wollte sie überhaupt nichts darauf erwidern, sondern wortlos an ihm vorbeigehen, um so schnell wie möglich zurück zum Hof zu gelangen. Doch ihre Worte kamen sogar für sie selbst überraschend über ihre Lippen: »Zwei Schönheiten? Wasmeinen Sie damit?«
Er lächelte. Anscheinend zufrieden damit, eine Antwort erhalten zu haben. »Das war eine Wölfin. Und zwar eine besonders eindrucksvolle. Aber wie ich sehe, können Sie mit ihrer außergewöhnlichen Anmut mithalten.« In seinen Augen glitzerte Frechheit. »Mir scheint, Sie übertreffen sie sogar. Dabei gibt es doch kaum etwas Schöneres als eine Wölfin wie diese.«
»Und das aus dem Mund eines Wolfsjägers«, überging Bernina das Kompliment mit frostigem Ton.
Er lachte. »Sie haben recht, ich sollte mir eine andere Beschäftigung suchen. Die Wölfe liegen mir eigentlich viel zu sehr am Herzen.« Es war unverfroren, wie sein Blick an ihr herabglitt und jede Einzelheit aufnahm. Ihr weich fallendes Haar, ihr Gesicht. Die gepufften Ärmel, der bunt bestickte Stoff ihres Kleides, der auffallend breite Gürtel mit der großen Messingschnalle, die unterhalb ihrer Brüste aufblitzte.
»Dann hoffe ich, Sie finden das Richtige«, meinte sie. »Vielleicht gibt es ja mal wieder ein paar Menschen in Flammen zu setzen und ins Jenseits zu befördern.«
»Ob es Ihnen gefällt oder nicht, meine forsche Dame: Ich habe schon so manches Leben auslöschen müssen. Sehen Sie, man hat nicht immer die Wahl. Vor allem, wenn Krieg herrscht. Um zu überleben, muss man hin und wieder dem Teufel ins Gesicht spucken.«
»Sie halten sich für einen äußerst starken Mann, nicht wahr? Für einen, den nichts so leicht umwirft, der immer obenauf bleibt?«
Sein Grinsen wurde breiter. Sichtlich amüsiert, wartete er darauf, dass sie weiter sprach.
Ihre Stimme klang hart: »Ich denke allerdings, dass Sie ein Schwächling sind. Und dass die vielen Worte, die Sie gerade gebraucht haben, nichts weiter sind als Phrasen – nichts als eine jämmerliche Ausrede für das, was Sie tun.« Bernina sah ihm in die Augen. »Eben die Ausrede eines Schwächlings.«
In seinem Gesicht regte sich etwas. Zum ersten Mal wirkte er verdutzt. Er öffnete ein wenig den Mund, wollte wohl etwas erwidern, doch Bernina lief los, ließ ihn einfach stehen. Während sie zielstrebig an ihm vorüber schritt und dabei sogar seinen Arm streifte, fühlte sie, wie er sie betrachtete, fühlte es so deutlich wie zuvor den Blick aus diesen geschlitzten Wolfsaugen. Sie sah nicht mehr zurück, bis sie den Mann endlich hinter sich gelassen hatte und die Unwegsamkeit des Waldes sie voneinander trennte. Erst als sie spürte, dass sie allein war, atmete sie durch.
Der Abend hatte sich über das Land gesenkt. Bernina blickte hin und wieder kurz zwischen sich kreuzenden Ästen nach oben. Sterne funkelten, der Mond war dabei sich zu füllen. Der Wald lichtete sich, gab die Sicht frei. Doch von den Gebäuden des Petersthal-Hofes waren nur die Umrisse zu sehen. Stille und Schatten, sonst nichts. Aus dem Schuppen rechts des Hauptgebäudes, wo zurzeit zwei Knechte und zwei Mägde untergebracht waren, drang schwaches, gelblich fließendes Licht von Talgkerzen nach draußen.
Bernina hatte die Begegnung mit dem Wolfsjäger endlich verdrängt, als sie die letzten Schritte zum Haus zurücklegte. Leer starrte es ihr entgegen. Insgeheim hatte sie darauf gehofft, ihre Mutter wäre in der Zwischenzeit aufgetaucht. Wo mochte sie nur sein?
Anselmos kurze unerklärliche Nachricht und das Holzkästchen schwirrten unablässig durch Berninas Gedanken. In der Nähe schrien Krähen der Nacht entgegen. Jetzt erst bemerkte sie die winzige Gestalt, die an der Hausecke lehnte. Sie blieb stehen.
»Sie waren lange fort«, sagte Baldus. Er wirkte, als hätte er sich die ganze Zeit über nicht von der Stelle gerührt. Seine Stimme schwebte durch die Abendluft.
»Kein Grund zur Sorge.«
»Dann werde ich mich zurückziehen.«
»Ich muss morgen etwas mit dir besprechen. Irgendwann im Laufe des Vormittags.« Schon dachte sie daran, wie sie das Fehlen Anselmos am sinnvollsten ausgleichen konnte und wie sie die anfallende Arbeit neu auf die Knechte verteilen musste. Dann erst wurde ihr bewusst, wie bedrückend diese Gedanken für sie waren.
Baldus nickte. »Ich werde da sein.« Er beobachtete, wie Bernina ins Haus verschwand.
Drinnen angekommen, hörte sie noch, dass er sich mit seinen ungelenk erscheinenden Schritten entfernte. Das Gebäude, das zu ihrem Zuhause geworden war, strahlte erstmals etwas Fremdes, Kaltes aus. Ohne etwas essen zu können, bereitete sich Bernina für die Nacht vor. Sie fühlte sich todmüde, aber als sie sich ins Bett legte, war ihr klar, dass sie nicht würde einschlafen können. Während sie sich von einer Seite auf die andere drehte, hörte sie Wolfsgeheul.
Sie erblickte wieder die Wölfin vor sich, ganz nah, sah deren Augen, deren Fangzähne, die auf sie zuschnellten. Sie hörte die Stimme des Wolfsjägers, den fremden Akzent. Sie sah den toten Wolf im Baum hängen, sah, wie er in fast schon unnatürlich gleichmäßigem Rhythmus hin und her schwang. Mit diesen wirren Bildern glitt sie doch noch in den Schlaf, der mit ebenso wirren Träumen über sie herfiel.
Als sie daraus hochschreckte, war sie schweißbedeckt. Tageslicht quoll durchs Fenster und über die zerwühlte Bettdecke hinweg. Bernina konnte es kaum glauben. Sie schien länger geschlafen haben als jemals zuvor in ihrem Leben. Und dennoch war da ein mattes, stumpfes Gefühl in ihr. Als sie kurze Zeit später vor das Haus trat, saß Baldus auf dem Hocker, den sie selbst am Vortag hinausgebracht hatte. Ein Huhn versuchte an seinem Schuh zu picken, und er vertrieb es mit einem kurzen Tritt.
»Du wartest mit Sicherheit schon lange auf mich.« Sonnenstrahlen umfingen sie, und sie hob sich die Hand vors Gesicht, um die Augen etwas zu beschatten. »Tut mir leid, dass ich jetzt erst nach draußen komme.«
Der Knecht erhob sich. »Ich bin tatsächlich schon eine Weile hier.«
Zufällig fiel ihr Blick auf den Lederbeutel an seiner Hüfte. »Ich möchte nicht allzu neugierig erscheinen, aber was trägst du da eigentlich unentwegt mit dir herum?«
Fast ein wenig verlegen sah er zu Boden. »Gelegentlich meint irgendein Raufbold, ich wäre ein geeignetes Opfer, an dem er seine Kraft ausprobieren kann. Dann werfe ich ihm einfach eine Handvoll von dem Zeug in die Augen, das in dem Beutel ist, und mache, dass ich wegkomme.« Er grinste. »Das ist ein Gemisch aus fein gemahlenem Pfeffer und ganz klein zerstoßenen Hagebuttenkernen. Damit halte ich mir allzu wüste Leute vom Hals.«
Auf seine Art war er ein überaus gewitzter, findiger Bursche. Daran bestand für Bernina kein Zweifel. »Wir müssen besprechen«, sagte sie dann, »wie wir die Arbeit für die nächsten Tage neu einteilen. Du könntest die anderen holen. Aber irgendetwas willst du loswerden, das sehe ich dir doch an. Habe ich recht?«
Sofort verfiel er in ein heftiges Nicken. »Ja, zuvor muss ich Ihnen unbedingt noch etwas erzählen.«
Es schien ihm wirklich wichtig zu sein.
»Also, ich höre.«
»Vorhin tauchte einer der Teichdorfer Knechte am Hof auf, um nach Arbeit zu fragen. Einer von denen, die schon bei der letzten Ernte ausgeholfen haben.«
»Ja und?«, fragte sie.
»Er kam aus dem Dorf, und was er berichtet hat, kommt mir ungeheuerlich vor. Deswegen muss ich es Ihnen einfach mitteilen.«
Jetzt hatte sie endgültig dieses matte Gefühl abgeschüttelt. »Sag mir schon, was los ist.«
»Es geht um das große Weizenfeld, das am Rand des Dorfes liegt. Dort, wo früher einmal die Scheune stand, die dann abbrannte. Da sollen sehr schlimme Dinge vorgehen.«
»Haben etwa die fremden Männer etwas damit zu tun?«
»Die Spanier?« Er nickte rasch. »Also, ich konnte es kaum glauben. Sie können sich ja gar nicht vorstellen …«
»Was für schlimme Dinge, Baldus?«, schnitt sie ihm das Wort ab. »Was geht auf diesem Feld vor?«
*
Bereits aus einiger Entfernung waren ihr die Krähen aufgefallen. Schwarze kreisende Risse im makellosen Blau des Himmels. Immer mehr von ihnen flogen aus dem Nichts heran, um dann in weiten Bögen in die Tiefe zu gleiten, das Ziel immerzu fest im Blick.
Bernina fühlte die heiße Luft in ihren Lungen. Zwischen Weißdorn und Wacholder hindurch folgte sie einem schmalen Trampelpfad, auf dem der Matsch nach vielen Tagen Sonnenschein steinhart eingetrocknet war. Flüchtig betrachtete sie die Häuser, die ihr so vertraut waren und aus deren Dächern der Kirchturm lang und spitz emporragte. Kein Laut drang aus Teichdorf zu ihr. Abgesehen von einer sanften Melodie, die mit Feingefühl auf einer Geige gespielt wurde.
Kurz bevor sie an eine Gasse gelangte, die zur Hauptstraße führte, bog sie ab. Das große Weizenfeld war nicht mehr fern. Aber noch war ihr die Sicht darauf von Apfelbäumen und Sträuchern versperrt. Nur die kreisenden Vögel, die waren nicht zu übersehen.
Links das Dorf, rechts einige kleinere Äcker und die dunklen Waldränder. Bernina lief schneller. Sie erreichte die Apfelbäume und lief über eine ungemähte Wiese, auf der Ziegen weideten, dann kämpfte sie sich durch Dornengestrüpp. Sie sah die Leute und hörte das Krächzen der Krähen, in das sich nun auf einmal menschliche Angstschreie zu mischen begannen.
Die Teichdorfer standen gruppenweise beisammen, deutlich getrennt von den Fremden mit den roten Umhängen, die sich an einer Ecke des Weizenfeldes postiert hatten. Als Baldus ihr davon erzählt hatte, war es unglaublich gewesen. Jedoch alles mit eigenen Augen zu sehen, trieb Eiseskälte in jede Faser von Berninas Körper. Zwischen Menschen, die ebenso fassungslos wie sie waren, blieb sie stehen.
Das Feld war bekannt dafür, dass es besonders stark von Krähen heimgesucht wurde. Niemals zuvor jedoch von so vielen wie an diesem strahlend schönen Sommertag. Der Grund dafür waren Kinder.
Kinder, die bis über ihre Schultern in das abgemähte Feld eingegraben worden waren. Nur die Köpfe ragten noch aus der Erde heraus. Dunkles und helles, gelocktes und glattes Haar. Die Gesichter waren gezeichnet von Angst. Von Todesangst.
Einige waren so von ihrer Furcht gepackt, dass sie nur stumm in die Weite starren konnten, andere heulten, schrien, kreischten. Geräusche, die die Krähen nicht abschrecken konnten.
»Um Himmelswillen, warum hilft denn keiner?«, entfuhr es Berninas trockenen Lippen.
Niemand antwortete.
Alle verfolgten gebannt, wie sich die Krähen nahe den Kinderköpfen niederließen. Einige der Tiere landeten auch direkt darauf, krallten sich in einen Haarschopf und lösten damit weitere furchtbare Schreie aus, die über das Feld hinweggellten. Schnäbel hatten begonnen, nach tränenden Augen zu picken.
Eine Mutter wollte zu ihrem Sohn rennen, doch Bernina sah, wie die Frau von ihrem eigenen Ehemann zurückgehalten wurde. Er musste sie zu Boden ringen, lag schließlich mit seinem ganzen Körpergewicht auf ihr.
»Nicht!«, rief er, so, dass alle ihn verstehen konnten. »Du weißt genau, was sie dann mit dir machen. Willst du erschossen werden?«
Die Frau gab auf, vergrub ihr Gesicht in die Erde, und ihr Schluchzen war nur noch eigenartig gedämpft zu hören.
Entsetzte Blicke zuckten zu den Männern mit den roten Umhängen. Jetzt erst nahm Bernina die Musketen so richtig wahr, die die Fremden in den Händen hielten. Deren Mündungen waren auf die Menge gerichtet. Nicht einmal drohend, aber mit einer so selbstbewusst zur Schau getragenen Lässigkeit, dass keine Zweifel blieben. Von Egidius Blum allerdings war nichts zu entdecken.
»Wieso nur tun diese Menschen das?«, fragte Bernina leise, immer noch völlig fassungslos.
»Das sind keine Menschen«, flüsterte eine Bauernfrau, die Bernina recht gut kannte.
»Sie pressen alles aus uns heraus«, sagte ihr Mann, der sich auf einen rohen Gehstock mit gebogenem Endstück stützte. Er sprach ebenfalls betont leise, obwohl die Fremden viele Schritte entfernt standen. »Alles, was sie kriegen können. Unser Essen, unsere Vorräte. Und alles, was ihnen auch nur halbwegs wertvoll erscheint.«
»Sei lieber still«, mahnte jemand anderes aus der Menge.
Doch als Bernina ihn bittend ansah, fuhr der Mann fort: »Einige von uns haben angefangen, Schmuck, Geld, Erbstücke zu verstecken. Aber die Männer haben es herausgefunden.«
»Mein Gott!«, meinte Bernina tonlos.
»Die Kinder gehören zu Familien, die im Verdacht stehen, irgendetwas von ihrem Besitz vergraben zu haben. Auf diese Weise will man sie zwingen, die Verstecke zu verraten.«
Plötzlich war da ein Funke, der Berninas Körper durchzuckte, der die Eiseskälte in ihr brechen ließ und in kochende Wut verwandelte.
Diesmal war die Hand Anselmos nicht da, die sie aufhielt wie auf dem Weidenberg. Diesmal war sie ganz allein.
Fast ohne dass es ihr bewusst war, entriss sie dem Mann seinen Stock. Verwunderte Blicke lagen auf ihr. Erst recht, als sie sich nun aus der entsetzten Menschentraube löste. Mit kerzengerader Gestalt legte Bernina die letzten Schritte bis zum Feld zurück. Die Krähen schrien, die Teichdorfer hielten den Atem an.
Einer der Spanier setzte sich ebenfalls in Bewegung. Offenbar handelte es sich um einen Offizier, auch wenn er genau wie die übrigen gekleidet war. Entschlossen trat er vor, die schwarzen Augen auf Bernina gerichtet. Er hatte keine Muskete bei sich, dafür eine Pistole mit langem Lauf, der trichterförmig endete. Seine Stimme hallte über das Feld, aber was er rief, darauf achtete Bernina nicht.
Sie konzentrierte sich auf das Kind, dem sie sich nun näherte und das ihr mit flehendem Blick entgegensah. Berninas Hände hatten den Stock so fest gepackt, dass ihre Fingerknöchel schmerzten. Sie wirbelte ihn durch die Luft, sodass sie zumindest ein paar der Krähen in Aufregung versetzen konnte. Dann begann sie, mit dem leicht gebogenen Griffstück die Erde rund um den Kopf des Kindes aufzuwühlen und zur Seite zu schaffen.
Aus den Augenwinkeln sah sie, wie der Offizier die Pistole auf sie lenkte. Erneut rief er etwas. Erneut achtete sie nicht darauf.
Bernina warf sich auf die Knie und wühlte nun mit ihren bloßen Händen, genau wie auf der Lichtung im Wald. Ein Schatten fiel auf sie, und sie blickte auf.
Der Offizier stand vor ihr, die Waffe erhoben. In aller Ruhe hielt Bernina den harten bohrenden Augen stand – sie starrte in die Mündung, völlig unbeeindruckt, und dann grub sie weiter. Doch ihr ganzer Körper spannte sich unwillkürlich an – sie wartete auf das Krachen des Schusses, wartete darauf, dass sie von dem Geschoss getroffen würde.
Und dennoch grub sie weiter, bis die Schultern des Kindes frei wurden, bis es sogar die Arme bewegen konnte. Erst jetzt nahm sie überhaupt wahr, dass es sich um ein Mädchen handelte, höchstens sechs oder sieben Jahre alt, mit Sommersprossen auf den tränennassen Wangen und kupferfarbenen gewellten Haaren.
Bernina kam wieder auf die Beine, eine Bewegung, die ebenso ruhig und gefasst war wie ihr Blick. In ihren Händen lag erneut der Stock, und von Neuem begann sie damit wild um sich zu schlagen. Sie lief an dem Offizier vorbei, der sie auf einmal irgendwie hilflos ansah. Kreuz und quer wirbelte sie über das Feld, von einem der Kinder zum nächsten.
Der Stock zischte durch die Luft und scheuchte die Krähen auf. Einige der Vögel wurden dabei von dem Holz getroffen. Sie krächzten laut und hoben sich einige Fuß hoch in die flirrende Luft. Unablässig schlug Bernina auf sie ein, die Krähen gewannen weiter an Höhe, immer mehr von ihnen, der Himmel füllte sich wieder mit ihnen, und jetzt sah Bernina, dass endlich Bewegung in die Menschen kam.
Ohne sich noch von den Soldaten mit den Musketen lähmen zu lassen, liefen Männer und Frauen zu den Kindern, um sie aus der Erde zu befreien. Ein plötzlicher Windstoß wehte die wimmernden Laute der Mädchen und Jungen über die Ebene. Keuchend blieb Bernina mitten auf dem Feld stehen, das Haar ungebändigt vor ihrem Gesicht, über ihrem Kopf die Krähen, die mit wilden Blicken auf sie herabstarrten.