Kapitel 2
Der Diener des Todes
Sie dachte nicht darüber nach, was zuvor auf dem Weizenfeld geschehen war. Sie dachte an gar nichts. Zumindest versuchte sie das.
Nicht einmal Anselmo ließ sie in diesen Augenblicken in ihre Gedanken, die einfach nur aus Leere bestanden. Schweiß hatte sich von Neuem auf ihrer Haut ausgebreitet. Die Sonne klebte als flirrender Feuerball beinahe senkrecht über ihr, als sie durch die Wand des Waldes ins Freie glitt.
Eine lange Zeit, fast den ganzen Mittag, hatte sie allein auf der Lichtung verbracht. Nur um im Gras zu sitzen und zu warten. Darauf, dass die Wucht des zuvor Erlebten nachlassen würde.
Diese ungläubigen Blicke, die auf ihr geruht hatten, als sie auf das Feld gegangen war. Diese unerträgliche Spannung, die sich jeden Moment in einem Ausbruch tödlicher Gewalt entladen konnte. Doch der Offizier hatte nicht geschossen. Ebenso wenig hatte er seinen Soldaten den Befehl gegeben, ihre Waffen abzufeuern. Die Mädchen und Jungen waren befreit worden, ohne dass ein einziger Blutstropfen vergossen worden war. Bevor Bernina das Feld verlassen hatte, waren ihr wiederum ungläubige Blicke zugeflogen. Diesmal Blicke, in denen Dankbarkeit aufleuchtete.
Bernina hatte offenbar etwas getan, womit die Soldaten niemals gerechnet hätten. Sie hatte sie überrascht, völlig überrumpelt. Mit einem Frösteln machte sie sich klar, dass das wohl nicht noch einmal gelingen würde.
Überhaupt wurde ihr erst nach und nach mit aller Endgültigkeit bewusst, dass sie ihr Leben riskiert, dass sie es einfach aufs Spiel gesetzt hatte, als würde es ihr nichts bedeuten.
Ist das etwa wirklich so?, fragte sie sich in eigenartig hilfloser Stimmung.
Die Spannung jener geradezu unwirklichen Situation ließ endlich ein bisschen nach. Sie lief auch wieder schneller, obwohl kein Grund zur Eile bestand. Und doch war da etwas, das sie antrieb – wahrscheinlich nur der schlichte Wunsch, sich in die Vertrautheit der eigenen vier Wände zurückzuziehen. Sich vor all dem verbergen zu können, was so plötzlich über die Gegend hinweggeschwappt war. Die Gewalt, die Angst, das Blut. Der Krieg war wieder da, offenbar mit seiner ganzen früheren Kraft, als hätte er sich bloß ein wenig ausgeruht oder in weit entfernten Gegenden getobt. Ja, er war zurück, so mächtig wie immer schon, er war zurück in Gestalt fremder Männer mit schwarzen Augen. Spätestens jetzt konnte es daran nicht mehr den geringsten Zweifel geben. Die Ruhe der letzten Jahre war eine allzu trügerische gewesen.
Endlich erhoben sich vor Bernina die Gebäude des Petersthal-Hofes. Sie fühlte sich erschöpft, jedoch nicht unbedingt körperlich. Es war eher so, als würde der Wunsch in ihr wühlen, sich einfach nur ins Bett zu legen und eine kleine Ewigkeit zu schlafen. Und das obwohl heller Tag war.
Der Hof lag ruhig, beinahe wie verlassen vor ihr. Kein Knecht, keine Magd, niemand zeigte sich, nicht einmal der emsige Baldus, der sonst eigentlich immer etwas zu tun hatte. Einzig ein paar pickende Hühner sorgten für ein bisschen Leben in diesem starren Bild.
Die Stille, die auf den Dächern lastete, nahm Bernina erst so richtig wahr, als sie die letzten Schritte in Richtung des Hauptgebäudes zurücklegte. Unbewusst ging sie langsamer. Ihre Hand wanderte schon auf den Türriegel zu, und für einen flüchtigen Moment kam die Erinnerung an einen ähnlich schönen Tag, an dem Anselmo diesen Riegel angebracht hatte. Das war der abschließende Akt des mühevollen Wiederaufbaus des Petersthal-Hofes gewesen.
Jäh verharrte sie, ihre Hand ausgestreckt in der warmen Luft.
Der Riegel war nicht ganz vorgeschoben. Das musste nichts bedeuten, rein gar nichts. Aber plötzlich wurde Bernina die Lautlosigkeit ringsum noch deutlicher bewusst, ebenso wie des eigenen Herzens, das scheinbar schneller schlug. Geräuschlos, mit aller Vorsicht schob Bernina den Holzriegel zurück. Der dunkle, für keinen Sonnenstrahl erreichbare Flur starrte ihr entgegen. Nur zwei Schritte entfernt klaffte der Durchgang zur Wohnküche. Sie glitt hinein, ohne die Eingangstür hinter sich zu schließen. In kleinen Schüben sog sie die Luft ein. Auch innerhalb der Mauern diese Stille, die ihr anders vorkam als sonst.
Jemand ist hier, sagte sie sich. Mit einem behutsam gesetzten Schritt betrat sie die Küche. Im Flur plötzlich ein Schatten, direkt hinter ihr.
Unwillkürlich wirbelte sie herum. Und blickte geradewegs in zwei winzige Augen, in denen es voller Zorn funkelte.
»Du?«, stieß Bernina hervor.
»Ja, ich.«
Die Anspannung in Bernina wich einer großen Erleichterung. »Wenn du wüsstest, was für Sorgen ich mir um dich gemacht habe.«
»Du solltest dir lieber um dich Gedanken machen«, kam knapp und irgendwie barsch die Antwort.
»Weshalb siehst du mich so böse an?«
»Weil ich dich vom Wald aus beobachtet habe. Vorhin, auf diesem Feld.«
Bernina hielt den blitzenden Augen stand. »Wie wäre es mit einer Umarmung, nachdem du so lange fort gewesen bist?«
Das wirkte. Das Gesicht der Krähenfrau verzog sich langsam zu einem Lächeln. Sie umarmten sich lange.
»Ich kann einfach nie wütend auf dich sein«, sagte Berninas Mutter mit weicher Stimme, als sie gemeinsam in die Küche gingen und sich auf einer Decke vor dem Kamin niederließen. Sie waren es gewohnt, hier beieinander zu sitzen, auch wenn kein gemütliches Feuer darin brannte.
»Und dabei müsste ich es diesmal wirklich sein«, fuhr die Krähenfrau schließlich fort. »So wütend, wie es nur geht. Was ist nur in dich gefahren? Dass man helfen will, ist schön und gut. Aber was nützt es, wenn man sich damit selbst in Teufels Küche bringt?« Während sie in die schwarze Kaminöffnung blickte, schüttelte sie wild den Kopf. »Das kann noch sehr, sehr böse Folgen für dich haben, du dummes, dickköpfiges Ding.«
Sie merkte nicht, wie Berninas Blick liebevoll an ihr herabwanderte, an den wie immer dicken Wollstoffen, die sich um ihren Körper schlängelten. Faltiger war sie geworden, die Krähenfrau, verhutzelt, wie man es in Teichdorf nennen würde. Doch Bernina wusste, dass in dem dünnen Körper äußerst rege Lebensgeister steckten. Und in dem kleinen, von einem Tuch umhüllten Kopf ein wacher Verstand.
»Willst du mir nicht endlich sagen, wo du gesteckt hast?«, meinte sie nach einer Weile des Schweigens zu ihrer Mutter.
»Na ja, wie immer.« Ein kurzes Achselzucken. »Überall und nirgendwo.«
»Du hast gehört, was sich auf dem Weidenberg zugetragen hat?«
»Von dem tödlichen Schauspiel in Teichdorf? Ha!« Die Krähenfrau durchschnitt die Luft des Raumes mit einem Hieb ihrer Hand. »Jeder hat davon erfahren.«
»Ich habe Angst um dich.«
Ihre Mutter rückte näher an Bernina heran. »Die Welt ist schon wieder dabei, verrückt zu spielen«, flüsterte sie. »Die Dämonen sind erwacht, nachdem sie lange geruht haben. Kümmere dich nicht um andere, kümmere dich um dich selbst, mein Kind. Und um deinen Mann.« Sie wühlte unter den Stoffen, die sie am Leib trug, und streckte plötzlich eine tote Krähe in die Höhe.
Bernina ließ sich durch so etwas schon lange nicht mehr überraschen. Schweigend sah sie zu, wie ihre Mutter den steifen Vogelkörper eingehend betrachtete und ihn schließlich vor dem Kamin ablegte.
»Wo ist Anselmo?«, fragte die Krähenfrau, ohne den Blick von der Krähe zu lösen.
Bernina presste kurz die Lippen aufeinander. »Er hat auf den Feldern zu tun. Und da ist immer noch ein Zaun auszubessern.«
»Die Felder? Ein Zaun? Gib lieber zu, dass etwas nicht stimmt. Und dass du nicht darüber sprechen willst.«
»Selbst wenn du wochenlang fort bist, weißt du immer, was los ist, oder?«
»Mein Kind, ich weiß eben nicht, was los ist, und das gefällt mir überhaupt nicht.«
»Ich weiß es selbst nicht.« Ratlos hob Bernina die Schultern. »Lass mir noch ein wenig Zeit, bevor ich es dir erzähle. Ich muss es erst einmal selbst verdauen.«
»Sieh dir nur diesen toten Vogel an«, meinte die Krähenfrau nach einer Weile. Abermals lag ihr Blick fasziniert auf der Krähe, als hätte sie nie zuvor eine gesehen. »Wie schwarz das Gefieder ist. Schwarz mit einer blauen Tönung. Makellos wie der Nachthimmel. Solche Krähen sind selten. Blaue Krähen.«
»Mutter«, erwiderte Bernina mit leisem Unmut. »Der Vogel ist nicht blau. Es gibt keine blauen Krähen.« Unwillig musterte auch sie noch einmal den Vogel. Für einen sonderbaren Moment war es, als würden die gebrochenen Augen, rund und dunkel, zurückstarren.
»Es gibt blaue Krähen«, beharrte die Krähenfrau in der ihr eigenen Art. »Und ob es die gibt!« Sie lachte auf, und ihre Stimme verfiel in diesen leisen, rauen, düsteren Klang, der Fremden kalte Schauer über den Rücken treiben konnte. »In meinem Leben bin ich schon auf allerlei totes Getier gestoßen. Aber nie auf Krähen. Krähen fühlen, wenn der Tod nach ihnen greift, und dann ziehen sie sich zurück zum Sterben. Sie sterben einsam, ganz im Verborgenen. Wie Wölfe.«
Bernina blickte noch immer auf den Vogel. Sie sagte kein Wort, aber es war nicht einfach, sich der unheilvollen Stimme ihrer Mutter zu entziehen.
»Glaub mir, Bernina«, setzte die Krähenfrau hinzu. »Diese blaue Krähe ist ein Zeichen. Und zwar kein gutes.« Sie schloss die Augen und ihre Stimme wurde noch leiser. »Diese Krähe macht mir noch mehr Angst als alles, was in Teichdorf ohnehin schon passiert ist. Sie spricht mit mir, ich höre sie gut. Sie sagt mir, dass der Schrecken längst noch nicht vorüber ist. Dass das Böse umgeht und dass es immer stärker, immer mächtiger wird.«
Kurz erinnerte sich Bernina an den Gedanken, der ihr während des Festes auf dem Kirchplatz gekommen war: Das ist nur der Anfang.
Nach einem längeren nachdenklichen Innehalten flüsterte ihre Mutter: »Ich habe einen Traum gehabt. Einen sehr starken Traum.«
»Du hast immer sehr starke Träume«, betonte Bernina mit einem Lächeln.
Doch ihre Mutter ging nicht auf die Bemerkung ein. »Dieser Traum.« Sie seufzte. »Er macht mir Sorgen. Ich habe ganz klar und deutlich gesehen, wie du in Gefahr warst.«
»In Gefahr?«
»Du warst in der Falle. Männer kamen auf dich zu, bewaffnete Männer, die dir Böses antun wollten. Sie näherten sich dir, und in ihren Augen war Lüsternheit und Rohheit.«
»Ich nehme an, sie trugen rote Umhänge«, bemerkte Bernina trocken.
»Das habe ich nicht gesehen. Alles war so dunkel, dunkel wie die Hölle. Ich sah nur die Angst in deinem Blick, die Verzweiflung. Und dann geschah etwas Verrücktes.«
»Und was?«, wollte Bernina wissen, nun doch auf einmal mit Neugier.
»Ich weiß nicht, wie ich es beschreiben soll, aber dein Kleid veränderte sich plötzlich. Es verwandelte sich. In irgendetwas, das ich nicht erkennen konnte. Und aus deinem Gesicht sprossen Haare. Dir ist tatsächlich ein Bart gewachsen. Ich sah es! Und die Furcht verschwand aus deinen Augen. Du standest da, stolz und groß, und in deiner Hand lag ein Degen.«
»Und dann?«
»Dann verschwamm alles vor meinen Augen.«
»Du und deine Träume.«
»Es war mehr als ein Traum«, beharrte die Krähenfrau mit tiefster Überzeugung.
Das plötzliche Trommeln beschlagener Hufe ließ sie beide aufblicken. Wie viele Pferde es sein mochten, konnten sie jedoch nicht erkennen. Aber sie konnten nicht weit sein. Bilder des Vormittags jagten noch einmal durch Berninas Gedanken. Ruckartig erhob sie sich, verfolgt von dem wachsamen Blick ihrer Mutter, die sich nicht rührte.
Bernina durchquerte die Wohnküche und schob sich durch die noch offene Haustür. Geblendet vom grellen Sonnenlicht, schützte sie die Augen mit der flachen Hand.
Zwei Pferde. Eines davon ohne Reiter, nur ein Packtier. Weiter vom Hof entfernt, als Bernina zuerst angenommen hatte, standen sie auf dem Kamm eines mit hohem Gras bewachsenen Hügels, der sich aus dem Wald schälte. Bernina betrachtete den einsamen Reiter, und trotz des großen Abstands erkannte sie, dass auch er sie anblickte. Wieder trug er den Lederwams, diesmal auch einen Hut, von dem eine Feder abstand.
Sie erschrak nicht, als sie plötzlich die Hand ihrer Mutter sanft auf der Schulter spürte.
»Bernina, wer ist das?«
»Der Henker.« Leise sprach sie. »Und zugleich der Wolfsjäger.«
»Was hat er vor?«
Das Reitpferd tänzelte auf unruhigen Beinen, doch der Mann hielt es im Zaum. Nach wie vor sah er von dem Hügel hinab auf den Hof. Als würde er über etwas nachdenken.
»Ich glaube«, erwiderte Bernina schließlich, »er ist sich selbst nicht so sicher, was er eigentlich will.«
Auf einmal ließ er das Pferd aufbäumen, die vorderen Hufe schraubten sich in die Höhe. Das Tier wieherte. Er ließ es losgaloppieren, weg vom Hof, den Hügel hinab und hinein in den Wald, aus dem er wohl herangeritten war. Das Packpferd zog er an einem dünnen Seil hinter sich her. Und das Letzte, was Bernina von ihm sehen konnte, war die wippende Feder seines breitkrempigen Hutes.
»Merkwürdig«, flüsterte Bernina.
»Lass uns wieder zusammen an den Kamin sitzen«, schlug die Krähenfrau vor.
»Würde es dir etwas ausmachen, schon einmal vorzugehen?«, fragte Bernina, ohne sie anzublicken. »Ich wäre gern noch ein wenig allein.«
»Wie du willst. Aber dann sagst du mir endlich, was mit Anselmo ist.«
»Da gibt es nichts zu sagen.« Sie spürte eine Träne in ihrem Auge. »Außer, dass er weg ist.«
»Was heißt weg?«
»Auf und davon.«
»Er kommt nicht zurück?«
»Ich weiß es nicht.« Die Träne rann an ihrer Wange hinab. »Ich weiß überhaupt nichts mehr.«
»Ich erwarte dich am Kamin. Dann reden wir.« Die Krähenfrau wandte sich ab und Bernina hörte noch, wie sie vor sich hin flüsterte: »Und wir werden hören, was uns die blaue Krähe mitteilen will.«
*
Über Nacht waren sie aufgezogen, nun hatten sie sich festgesetzt. Wolken von düsterer bleigrauer Farbe, riesige zerrissene Gebilde, die sich mit ihren scharfen Zacken ineinander verkrallten. Am folgenden Tag war kaum noch ein Moment ohne Regen vergangen.
Als dann von Neuem die Dunkelheit aufzog, deutlich kühler als in der letzten Zeit, begleitet von weiteren Wolken, hatte die Krähenfrau den Petersthal-Hof schon wieder verlassen. Mit neuerlichen eindringlichen Warnungen an Bernina, niemals wieder einem so törichten Gedanken nachzugeben wie auf dem Weizenfeld.
Bernina blickte ihr hinterher, wie sie davontippelte, mit diesen kurzen Schritten, noch immer erstaunlich flink. Ihre Mutter hatte Heilkräuter gesammelt, die sie nun wie gewöhnlich auf abgelegenen Höfen und in den umliegenden Dörfern gegen Nahrungsmittel eintauschen wollte. Ein sonderbares Gefühl beschlich Bernina bei dem Anblick der Krähenfrau, die dem heraufziehenden Abend entgegenschritt. Als würde sie sie niemals wiedersehen.
Erneut eine Nacht mit unruhigem Schlaf und verstörenden Träumen, in denen Fangzähne von Wölfen nach Bernina schnappten und Krähen übergroße Schnäbel in ihr Fleisch hineintrieben. Sie meinte den Duft des roten Seidentuchs wahrzunehmen, intensiv, überwältigend, er brannte in ihrer Nase. Auf einmal sah sie sich selbst, wie von Ferne, blutüberströmt an einem Wegesrand liegen, die knurrende Wölfin mit dem Silberrücken neben ihr, blauschwarze Vögel mit wildem Flügelschlag über ihr in der Luft.
Am Morgen wurde sie von Regen geweckt, der auf das Dach trommelte, nicht besonders heftig, aber in beständigem Rhythmus. Kurz darauf saß sie am Tisch in der Küche, einen Becher Milch vor sich und ein paar Reste hart gewordenen Brotes, das sie bereits vor einigen Tagen gebacken hatte. Sie verspürte keinerlei Appetit. Die Leere des Hauses lastete stärker auf ihr, als sie es für möglich gehalten hätte.
Als die Haustür aufsprang, erschrak sie, hatte sich aber gleich wieder in der Gewalt. Durch die offene Küchentür beobachtete sie, wie Baldus sich das kurze Stück über den Flur und hinein in die Küche schob. Er war völlig durchnässt. Aus seinem Haar fielen Tropfen auf den Boden.
»Verzeihung, dass ich so einfach hier hereinplatze.« In seinen Augen war ein aufgeregtes Flackern.
»Ist schon wieder etwas vorgefallen?«, fragte Bernina besonnen. Sie hatte das Gefühl, als könnte sie an diesem Morgen nichts aus der Ruhe bringen. Gleichgültigkeit hatte sich ihrer bemächtigt, ein Gefühl, das sie nicht an sich kannte und das ihr überhaupt nicht gefiel.
»Der andere Knecht«, schnaufte Baldus. »Und auch die Mägde. Sie sind fort.«
»Was meinst du damit?«
»Einfach fort.« Er breitete entschuldigend die Arme aus, als wäre es seine Schuld. »Vorhin saßen sie beisammen und haben miteinander geflüstert. Ich ging in den Stall zu Lisa, um ihren Euter mit Schweinefett einzureiben, weil es letztes Mal so gut geholfen hat.«
Lisa war eine Ziege, die immer wieder krank wurde und dann nur wenig Milch gab.
»Und weiter?«, drängte Bernina.
»Als ich zurückkam, waren die anderen weg. Mit ihren Sachen. Rein gar nichts war von ihnen noch da, nicht einmal ein Taschentuch.« Wieder die Geste mit den Armen. »Das kommt mir komisch vor, wirklich komisch.«
»Vielleicht sind sie nur …«, begann Bernina, verfiel dann aber in Schweigen. Nachdenklich blickte sie auf den Fußboden.
»Ich habe so ein seltsames Gefühl«, sagte Baldus. »Bitte erlauben Sie mir, ins Dorf zu gehen.«
»Was willst du dort?«
Er zuckte mit den Achseln. »Ich weiß auch nicht recht. Mich einfach mal umhören.« Mit vagem Klang stand das letzte Wort in der Luft.
Zögernd nickte sie. »Na gut. Mir ist nicht klar, was das bringen soll.« Auch ihre Schultern hoben sich kurz. »Aber wenn du meinst.«
Ein angespanntes Lächeln huschte über sein Gesicht, und schon war er draußen. Durch das Küchenfenster sah Bernina, wie er durch den Regen davonhumpelte.
Wieder fühlte sie die Leere, die den Hof auf einmal umschlossen hielt. Das Prasseln erschien ihr lauter als zuvor, die Gerüche des Gebäudes irgendwie verändert. Während sie aufstand, um den Tisch abzuräumen, dachte sie kurz an die Knechte und Mägde, an Baldus’ aufgeregten Gesichtsausdruck und dann wieder an ihre Mutter. Ich hätte sie nicht so einfach gehen lassen sollen, sagte sie sich.
Während sie am Tag zuvor das Hufgetrappel der beiden Pferde selbst auf einige Entfernung gehört hatte, nahm sie diesmal gar nichts wahr. Kein Geräusch, nicht einmal einen Lufthauch. Geschickt waren die Männer, lautlos wie Geister. Sie schlüpften ins Haus, dann in die Küche, ohne dass die harten Sohlen ihrer Stiefel einen Laut verursachten. Ihre Umhänge streiften nicht die Wände, ihre Hüte berührten nicht den niedrigen Türrahmen.
Vier Hände in Lederhandschuhen legten sich plötzlich auf Bernina, hielten sie fest, überwältigten sie mit raschen Griffen. Ihre Handgelenke waren so schnell gefesselt und ihre Augen im Nu mit einem schwarzem Leinenstreifen verbunden, dass ihr gar keine Chance zur Gegenwehr blieb. Sie schrie nicht einmal auf, ließ nur den Holzbecher fallen, der mit einem gedämpften Scheppern auf dem gestampften Fußboden aufschlug.
Die Lederriemen, die ihre Hände aneinander pressten, waren mit einem Seil verbunden. Daran wurde sie nach draußen gezogen, wo der Regen auf sie platschte. Sie hätte nicht sagen können, wie viele Männer es waren. Hart wurde an dem Seil gerissen. Das Haar klebte nass wie ein schwerer Stoff an ihrem Kopf. Der Saum ihres Kleides schleifte im Matsch, der sich über Nacht gebildet hatte.
Die Männer brauchten sich nicht zu verständigen. Wortlos lief alles ab. Am Waldrand warteten die Pferde, die Bernina riechen konnte. Leder ächzte, als sich die Männer in die Sättel schwangen. Sie ritten los. Sofort ein weiterer harter Ruck am Seil und Bernina blieb nichts anderes übrig, als ins Nichts loszurennen, sonst wäre sie zu Boden gezerrt und hinter den Reitern hergeschleift worden.
Die Pferde folgten ihrem Weg in leichtem Trab. Immer, wenn sie für Bernina zu schnell wurden, hielt man die Tiere ein wenig zurück. Berninas Lungen wogten in ihrem Körper. Jeder Schritt ins Nichts war eine einzige Anstrengung. Schweiß mischte sich auf ihrer Haut mit Regenwasser. Einmal fiel sie hin, war aber sofort wieder auf den Beinen.
Die Männer hatten sich für die weniger beschwerliche, dafür aber weitere Route entschieden, die um den Wald herum zum Dorf führte. Das Prasseln ließ nach, aber hohes feuchtes Gras behinderte Bernina noch mehr. Irgendwann gelang es ihr ganz kurz, das Gesicht zu ihren gefesselten, von dem Seil geradeaus nach vorn gezwungenen Händen zu führen und den schwarzen Leinenstoff von ihren Augen zu reißen. Zuerst sah sie den grauen Himmel, das Grün der Wiesen, dann die roten Umhänge, die die Schultern von fünf Reitern umhüllten.
Die Männer blickten zu ihr nach hinten, verzichteten aber darauf, ihr abermals die Augen zu verbinden. Erneut stürzte sie ins Gras, erneut kam sie rasch auf die Beine. Und von da an spürte sie die Anstrengung noch viel deutlicher. Ihre Oberschenkel brannten, ihr Oberkörper schmerzte. Sie keuchte, und jeder Atemzug durchzog heiß ihr Innerstes.
Als der Regen endgültig aufhörte, konnte Bernina nicht mehr. Sie ließ es zu, dass sie an dem Seil über die Erde geschleift wurde wie ein Stück Vieh. Ihr Kleid saugte sich voll Nässe und Schmutz. Sie schloss die Augen und versuchte, die Schmerzen zu ignorieren, die herumliegende Steine ihr zufügten.
Eingangs des Dorfs wurde sie von einer starken Hand hochgerissen. Es ging weiter, jedoch nicht mehr im Trab, sondern ganz langsam, damit die Menschen von Teichdorf zusehen konnten. Bernina stolperte mit gesenktem Haupt hinter dem ersten der fünf Pferde her, vier Reiter in ihrem Rücken. Noch immer war kein einziges Wort gefallen. Nichts zu hören außer den Hufen. Aber Bernina spürte die Blicke jener Menschen, die sie auf dem Weizenfeld noch mit so tiefer Dankbarkeit angesehen hatten.
Dann ging sie in die Knie, vor ihren Augen wurde es schwarz. Diesmal allerdings nicht von einem Tuch. Abermals griffen die Hände nach ihr. Sie spürte Kopfstein unter ihren Füßen, man zog sie in ein Gebäude, und wiederum sah sie bloß noch Schwärze. Sie fühlte nicht mehr, wie ihre Knie nachgaben.
Dunkelheit. Sonst gar nichts.
Eine Dunkelheit, der Bernina sich irgendwann blinzelnd widersetzte. Ihre Lider waren schwer, ihr ganzer Körper tat weh. Sie lag auf der Seite, den rechten Arm von sich gestreckt, das Gelenk von einem Eisenring umschlossen, von dem eine Kette zur gemauerten Wand führte. Der Geruch des Heus, das sich unter ihr befand, kroch ihr in die Nase.
Bernina setzte sich auf und blickte sich um. Ein enger, fast leerer quadratischer Raum mit einer schweren Holztür. Nur ein kleiner Tisch und ein einziges Fenster ohne Glas, ein äußerst schmales, das eher wie eine Schießscharte wirkte. Im Rahmen hing noch ein Rest der dünnen Tierhaut, die im Winter als Schutz gespannt worden war. Daran erkannte Bernina schließlich, wo sie war. In einem etwa in der Dorfmitte gelegenen Turm, den Schultheiß Kornbacher einst hatte errichten lassen und der ansonsten für die Lagerung aller möglichen Waren genutzt wurde. Manchmal auch, um einen Wilderer oder Dieb für ein paar Tage bei Wasser und Brot dingfest zu machen, bevor er dann aus Teichdorf verjagt wurde.
Mit der freien Hand wischte sie sich das Haar aus der Stirn und fühlte Dreckklumpen, die sich darin verfangen hatten. Ihre Augen erfassten den Schmutz, der sich tief in ihr Kleid eingegraben hatte. An mehreren Stellen war der Stoff zerrissen. Den Gürtel mit der großen Schnalle hatte sie verloren. Vorsichtig betastete sie ihren schmerzenden Bauch. Sofort fiel ihr der größere spitze Stein ein, der auf einmal unter ihr gelegen hatte, als man sie hinter dem Pferd hergeschleift hatte.
Die Kette rasselte leise, als sie sich erhob. Sie spürte jeden Muskel, fühlte die Schwäche in ihren Beinen und musste sich mit der Hand an der Wand abstützen. Durchatmen. Der Wunsch nach Wasser breitete sich in ihrer Kehle aus, die trocken war und brannte. Die Kette war gerade lang genug, dass Bernina sich weit genug nach vorn beugen konnte, um aus dem Fenster zu sehen.
Sie befand sich im dritten und damit höchsten Stockwerk des Turmes. Über ihr gab es nur noch das spitz zulaufende Dach, in dem manchmal Tauben nisteten. Sie wusste nicht, wer oder was sich im ersten und zweiten Stock verbarg, nur, dass es dort zumindest größere Fensteröffnungen gab. Kein Laut drang von unten zu ihr. Ihr Blick wanderte über die Dächer des Dorfes bis hin zum Weidenberg, wo nichts von den Scheiterhaufen übrig geblieben war.
Es war wieder etwas wärmer geworden, die Luft nicht mehr so von Nässe durchdrungen. Bernina sah genau auf die Krone einer mächtigen alten Kastanie, die ihre stärksten Äste ausbreitete wie ein Riese aus einer alten Sage seine Arme. Ein Stück weiter geradeaus war ein Pferdestall, der sich an die Rückseite eines der größten Teichdorfer Gebäude schmiegte: das Gasthaus. Davor wiederum, zur Straße hin, nur ein paar Schritte vom Eingang entfernt, standen zwei grob gezimmerte Bänke und ein Tisch. Obwohl das Holz noch ziemlich nass sein musste, hockten zwei der spanischen Soldaten darauf. Sie tranken abwechselnd aus einer Flasche Wein und redeten laut miteinander. Einmal pfiffen sie einer vorbeieilenden Magd hinterher.
Angewidert beobachtete Bernina die beiden. Auch bis zum Petersthal-Hof hatte es sich herumgesprochen, dass die Soldaten sich dem Müßiggang hingaben. Dass sie ständig tranken und junge Frauen mit Worten und grapschenden Händen belästigten – sogar Mädchen, die kaum älter als zehn Jahre waren.
Auf einmal löste sich eine winzige Gestalt aus einer der angrenzenden Seitengassen. Offenbar hatte sie sich schon länger dort verborgen gehalten. Eilig humpelte sie zu der Kastanie. Dort angekommen, blickte sie am Grün des Baumes vorbei nach oben zu Berninas Fenster. Etwas unsicher hob Baldus seine Hand zu einem Gruß.
Bernina winkte zurück und gab ihm dann durch eine rasche Geste zu verstehen, dass er verschwinden sollte.
Kann ich Ihnen helfen?, formte sein Mund lautlos Wort für Wort.
Sie antwortete mit einem heftigen Kopfschütteln. »Bring dich in Sicherheit«, sagte sie ganz leise, und sein Blick las ihre Lippenbewegungen.
Ich komme wieder, schienen seine Augen zu sagen, ehe er wieder in die Seitengasse verschwand.
Bernina merkte nicht, wie ihre Schultern herabsanken. Noch einmal betrachtete sie das Dorf. Doch außer den beiden Soldaten mit dem Wein war niemand zu sehen. Hilflos setzte sie sich wieder auf das Heu. Gefesselt, über die Erde gezogen, angekettet. Und allein. Innerhalb kürzester Zeit hatte sich ihr Leben auf den Kopf gestellt. Doch trotz der Erlebnisse, trotz der Schmerzen ließ sie es nicht zu, dass an diesem Tag auch nur eine einzige Träne den Weg über ihre Wangen fand. Mit dem Rücken an der Wand saß Bernina da und lauschte der Stille. Sie ahnte bereits, dass man sie lange warten lassen würde. Dass man sie mürbe machen wollte, bevor man auch nur einen Blick auf sie gerichtet, nur ein Wort zu ihr gesagt hätte. Unbewusst ballte sie die Hände zu Fäusten, und diese kleine Geste tat ihr irgendwie gut. Sich zu spüren, tat ihr gut.
Sie erinnerte sich an die Warnungen ihrer Mutter. Nicht die Nerven verlieren, ermahnte sie sich, jetzt bloß nicht die Nerven verlieren.
Es stellte sich heraus, dass ihre Ahnung sie nicht getäuscht hatte. Niemand kam. Der Lagerturm verharrte in seiner Stille. Von Zeit zu Zeit warf Bernina einen Blick hinaus ins Dorf. Auch hier vor allem eines: Stille. Die Menschen waren äußerst bestrebt, nicht aufzufallen, sich nicht unnötig auf den Straßen sehen zu lassen, das merkte sie allzu deutlich.
Irgendwann drangen Lachen und Gesänge aus dem Gasthaus auf den leeren Platz davor. Früher hatte man dort viel fahrendes Volk gesehen. Jetzt nicht mehr. Offensichtlich war es auch weit über die Ortsgrenzen hinaus bekannt geworden, was für Menschen in Teichdorf das Sagen hatten. Als der Abend da war, wurden die Gesänge lauter. Wüste Schreie ertönten, Lärm schwoll an, anscheinend eine heftige Prügelei. Und erst als aus dem großen Giebelfenster das Weinen der Geige nach draußen trieb, wurde es langsam ruhig.
Im Sitzen starrte Bernina durch die Fensteröffnung in einen Himmel, der so verhangen war, dass kaum ein Stern aufblitzte. Sie lauschte der Musik jenes Mannes, dem man bei seiner Ankunft aus der Sänfte hatte helfen müssen. Und den seitdem niemand außer seinen eigenen Leuten, seinem persönlichen Diener oder Leibwächter und Pfarrer Egidius Blum mehr zu Gesicht bekommen hatte. Wie sich rasch herumgesprochen hatte, wurden seine Mahlzeiten vor der Zimmertür abgestellt, sodass der Diener sie nur noch hereinzuholen brauchte. Bernina fiel auf, dass sie zum ersten Mal wirklich über ihn nachdachte.
So schritt die Nacht voran, ganz ruhig, ohne ein einziges Wolfsgeheul. Und nur ganz selten war das schwache Rauschen eines verlorenen Windzugs zu hören. Bernina döste immer wieder ein, aber sie schlief nie richtig. Als die Dunkelheit durchlässiger wurde, war sie schon wieder hellwach. Nur mühsam kämpften sich die Sonnenstrahlen durch die Wolkendecke, die einfach nicht verschwinden wollte.
Bernina richtete sich auf und versuchte, ihre steif gewordenen Glieder zu lockern. Ihr Magen knurrte, in ihrer Kehle kratzte das Verlangen nach Flüssigkeit. Ihr fiel auf, dass der Ring um ihr Handgelenk die Haut aufgescheuert hatte. Sie schob sich näher ans Fenster, spannte dadurch die Kette hart an und spähte nach draußen.
Bis auf zwei Bauern, die kleinere Höfe am Dorfrand besaßen, war niemand zu entdecken. Sie kannte die Männer vom Sehen. Die beiden stellten sich bei der Kastanie unter, um sich vor dem gerade wieder beginnenden Regen zu schützen, der aber nur aus einem dürftigen Nieseln bestand.
Bernina hörte, dass sie über den Wolfsjäger sprachen, und unwillkürlich lauschte sie aufmerksamer. »Anscheinend hat Pfarrer Blum ihn aufgefordert, noch einmal seine Dienste zur Verfügung zu stellen«, meinte der eine gerade.
»Und er wollte nicht?«
»Nein. Er hat Blum geantwortet, er soll seine Drecksarbeit ab jetzt selbst erledigen.«
»Das hat er gesagt?«
»Hab ich jedenfalls gehört.« Der Mann spuckte aus. »Wenn Blum das wirklich wollte, kann das nur eines bedeuten: In Teichdorf werden nachts bald wieder Feuer brennen.«
Bernina erstarrte. Sie redeten tatsächlich über den Wolfsjäger – allerdings in seiner Funktion als Henker. Die Bemerkung über die Feuer erfüllte Bernina noch voll und ganz, als sie zwischen den Ästen und Blättern der Kastanie sehen konnte, dass die Männer einen kurzen verstohlenen Blick zum Turm warfen.
Es geht um dich, sagte sie sich dumpf. Du sollst brennen.
Den Bauern waren wohl ihrerseits Berninas Blicke nicht entgangen. Sie machten sich auf, ihren Weg trotz des Nieselregens fortzusetzen. Dennoch konnte Bernina noch etwas von dem hören, was sie sprachen.
»Schade, dass der Kerl weg ist. Ich meine, wegen der Wölfe.«
»Stimmt, in der kurzen Zeit, in der er da war, hat er ziemlich viele von den Bestien erwischt.«
Die Worte verklangen. Leise plätscherten die Tropfen auf die Blätter des Baumes und das schmale Fenstersims. Bernina ließ sich wieder aufs Heu fallen und starrte ins Leere. Regungslos blieb sie so sitzen, unfähig einen Muskel zu rühren, wie betäubt. Bis plötzlich ein Schlüssel im Schloss ihrer Tür ratterte. Sie zuckte zusammen. Dass jemand den Turm betreten und die Treppe zu ihrem Stockwerk hinauf gegangen war, hatte sie nicht einmal bemerkt.
Die Tür sprang auf und der Rahmen füllte sich mit einem großen kräftigen Soldaten. Seine dunklen Augen waren ohne jegliches Gefühl, seine Hand umschloss den Griff des Degens, den er mit einer raschen Bewegung aus der Scheide zog. Ausdünstungen von Alkohol und Schweiß durchzogen sofort das enge Zimmer.
Der Soldat trat zur Seite, um mit erhobener Waffe neben der Tür zu verharren und Platz zu machen für einen zweiten Mann.
Bastschuhe und ein einfaches, abgetragenes Gewand. Die Glatze, der Kranz kurz geschorenen Haars, der Bart wie ein heruntergerutschter Knebel. Und diese Augen, die starr in ihren Höhlen klebten. Dieser Blick, der sich auf Bernina legte. Vordergründig ernsthaft und würdevoll, und doch schimmerte unter der Fassade etwas anderes. Etwas, das immer spürbar war, wenn er sie ansah, vom ersten Tag seines Eintreffens in Teichdorf, selbst vor den Scheiterhaufen auf dem Weidenberg, selbst während seiner Predigt bei der Kirchenfeier.
Egidius Blum legte seine abgewetzten, abgegriffenen Exemplare von Bibel und Katechismus auf dem kleinen Tisch ab. Dann machte er einen Schritt auf Bernina zu.
Sie saß da und sah nach oben, sah in seine Augen.
Ohne sich herumzudrehen, sagte er etwas auf Spanisch zu dem Wachposten. Der Soldat schob den Degen zurück in die Scheide.
»Fühlen Sie sich nicht zu sicher«, sagte Bernina spöttisch. »Ich könnte die Kette aus der Wand reißen und Sie beide überwältigen.«
»Dass Sie über ganz besondere Kräfte verfügen, hat sich herumgesprochen.«
»Besondere Kräfte?«, wiederholte Bernina weiterhin mit diesem spöttischen Klang.
»Ja. Genau das.« Er blickte auf sie herab, als hätte er noch nie in seinem Leben gelacht.
Stille entstand. Von draußen verirrte sich kein Geräusch in den Raum, als gäbe es außerhalb des Turms nichts als totes, menschenleeres Land.
»Sie haben die Wahl«, sagte Blum. Seine Hände lagen ineinander, eine in die andere gebettet. »Zwischen einem einfachen und einem schweren Weg.«
»Wovon sprechen Sie überhaupt?«, fuhr Bernina ihn ohne Respekt, mit harter Stimme an. »Warum bin ich hierher verschleppt worden? Erklären Sie mir das lieber einmal.«
»Ich war eben dabei.« Nichts als Kälte in seiner Stimme. In den Augen jedoch war nach wie vor etwas anderes. Sie merkte, wie sein Blick über sie hinwegstrich, über das Kleid, das sich schmutzig an ihren Körper schmiegte und durch die zerrissenen Stellen Haut offenbarte, über ihr langes Haar, schließlich über ihr Gesicht.
»Sehen Sie«, fuhr er fort. »Ich habe mir zum Ziel gesetzt, alles von Teichdorf fernzuhalten, was der Lehre Gottes schaden könnte.«
»Vor mir hat Gott gewiss nichts zu befürchten«, warf Bernina ein.
»Das gilt es noch zu klären.«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich weiß immer noch nicht, wovon Sie eigentlich sprechen.«
»Ich bin sicher, Sie wissen es.« Der Pfarrer spitzte kurz die Lippen. »Nämlich von den Dingen, die sich auf dem Feld zugetragen haben.«
»Darüber sollten Sie nicht mit mir reden. Ich habe keine Kinder in die Erde eingegraben.«
»Keine Sorge, was da passiert ist, wird aufgeklärt werden. Ich bin dabei, alles darüber in Erfahrung zu bringen und dafür zu sorgen, dass etwas Derartiges nicht mehr geschehen kann.«
Sie lächelte ihn an. »Was Sie nicht sagen.«
»Sie allerdings«, seine Stimme hob sich, »betrifft die Sache, die anschließend vorgefallen ist.«
»Anschließend?«
Er nickte. Und fragte dann auf einmal: »Haben Sie Durst?«
Überrascht sah sie ihn, wollte schon nicken – und konnte sich gerade noch zurückhalten. »Nein«, erwiderte sie kalt.
»Nein?« Seine Augenbrauen schoben sich in die Höhe. »Und auch keinen Hunger, vermute ich?«
»Nein.«
»Dann können wir ja weitermachen.«
Bernina sagte nichts.
»Wir hatten ja bereits Ihre Kräfte erwähnt.« Er sprach ohne Betonung, und dennoch war es, als würden die Worte wie etwas Festes, Greifbares durch den Raum schweben. »Kräfte, die …«
»… die es nur in Ihrer Fantasie gibt«, fiel sie ihm ins Wort.
»Kräfte«, redete er einfach weiter, »die für viele Mitbürger offensichtlich wurden.«
»Herr Pfarrer, Sie sind dabei, sich lächerlich zu machen.«
»Ganz und gar nicht.« Weiterhin Worte ohne Betonung. Ohne hörbare Gefühlsregung. »Wie können Sie es erklären, dass seit Ihrem Auftauchen auf dem Weizenfeld keine Krähen mehr rund um Teichdorf gesehen wurden?«
»Was sagen Sie da?«, entfuhr es ihr, nun doch verblüfft.
»Keine einzige Krähe. Die Leute meinen, Sie hätten sie vertrieben. Mit Kräften, die sich nicht beschreiben lassen.«
Bernina lachte auf. »Ich habe nur versucht, die Krähen zu verscheuchen. Nicht zu verzaubern.«
»Sie haben dabei Zaubersprüche gerufen.«
»Überhaupt nichts habe ich gerufen.«
»Aber ich habe mich mit mehreren Zeugen unterhalten können, die alles sahen.«
So ironisch wie es ihr möglich war, sagte Bernina: »Es wundert mich, dass Krähen auf einmal so beliebt sind und vermisst werden.«
»Es geht nicht darum, wie beliebt Krähen sind.« Maskenhaft sein Blick. »Es geht um die Kräfte, die in Ihnen wüten.«
»Was gerade in mir wütet, würden Sie nie begreifen. Aber jedenfalls sind es keine besonderen Kräfte. Ich bin nur eine Frau. So wie die Krähen nur Krähen sind.«
»Manche Leute behaupten auch, dass die Felder des Petersthal-Hofes niemals von Krähen behelligt wurden. In all den Jahren nicht.«
»Haben Sie jemanden gezwungen, so etwas Dummes zu behaupten?«
»Gewiss nicht«, entgegnete Blum unbeeindruckt. »Niemand wurde zu irgendetwas gedrängt. Die Leute haben es von sich aus gesagt.«
»Selbst wenn: Das ist doch nur albernes Gerede. Vielleicht mögen mich ein paar von ihnen nicht, vielleicht haben sie auch einfach nur Angst. Vor Ihnen und vor den Männern, die Sie nach Teichdorf gebracht haben.«
»Warum sollten sie Sie nicht mögen?«
»Weil ich nicht viel mit ihnen zu tun habe. Ich kümmere mich um meine eigenen Angelegenheiten.«
»Die Leute missgönnen Ihnen den Hof? Ist es das?«
Bernina fiel auf, dass das genau die gleichen Worte waren, die vor kurzer Zeit Anselmo gebraucht hatte.
Ja, Anselmo …
Du hast mich im Stich gelassen, Anselmo.
Zum ersten Mal überhaupt formte sie in Gedanken diese Worte. Wo mochte er jetzt sein? Was hatte ihn so plötzlich fortgetrieben von ihr? Bernina sah das Seidentuch vor sich, hatte auf einmal das Aroma des Duftwassers in der Nase. Und sie las den geschwungenen Namenszug auf dem Schreiben. Isabella.
»Möchten Sie nicht antworten?« Die Stimme Egidius Blums war einen Tick lauter, eine Spur fordernder geworden. »Denken Sie, dass die Leute von Teichdorf Ihnen den Hof missgönnen?«
Bernina nahm seinen Blick seelenruhig auf. »Nicht nur die Teichdorfer, wie mir scheint.«
»Ihre Knechte und Mägde haben den Hof verlassen, wie ich höre. Weshalb? Sind Sie ihnen nicht mehr ganz geheuer? Haben sie es mit der Angst zu tun bekommen?«
»Wenn ja, dann Angst vor Ihnen und Ihren Freunden.«
»Und wo ist Ihr Mann?« Fast schien es, als hätte er zuvor ablesen können, was sich hinter ihrer Stirn abgespielt hatte.
»Das geht Sie nichts an.« Ihr war bewusst, wie schwach sich ihre Stimme bei diesen Worten anhörte.
»Haben Sie auch ihn vertrieben? Wie die Krähen? Wie die Knechte und Mägde? Hat auch er es mit der Angst zu tun bekommen?«
Bernina blickte durch ihn hindurch, als wäre er gar nicht anwesend.
Einige Momente vergingen, zogen ganz langsam durch dieses nackte Zimmer.
»Wie gesagt«, schnarrte Blum. »Es gibt einen leichten Weg. Und es gibt einen schweren Weg.« Er drehte sich um, ergriff Bibel und Katechismus und ging zur Tür. Dort wandte er sich ihr noch einmal zu. »Wenn ich wieder zu Ihnen komme, sagen Sie mir alles über die Kräfte, mit denen Sie die Krähen vertrieben haben. Außerdem werden Sie mir alles über Ihre merkwürdige Mutter erzählen.«
Bernina gelang es nicht zu verbergen, wie heftig sie diese letzte Bemerkung traf.
Kalt setzte der Pfarrer hinzu: »Und wenn Sie nicht darüber sprechen wollen, werde ich Sie dazu bringen.«
Er rauschte aus dem Zimmer, gefolgt von dem Soldaten und einem Knallen der Tür. Der Schlüssel rasselte. Schritte hallten auf den Stufen.
Bernina starrte auf die vom Nieseln noch nassen Dächer, ohne etwas zu sehen. Auch den Hunger nahm sie nicht wahr, ebenso wenig den Durst, der ihre Zunge hatte anschwellen und ihre Lippen rissig werden lassen.
Ich werde Sie zum Sprechen bringen. Ihr war klar, was diese Worte bedeuteten – es war nur allzu bekannt, was mit solchen Ankündigungen gemeint war.
Oft war es so, dass zunächst die Folterwerkzeuge einfach nur gezeigt wurden. Man ließ ihren Anblick wirken. Manchmal genügte das schon, um alle nur denkbaren Eingeständnisse zu erhalten. Hin und wieder hielten Gefangene länger durch, bis sie letzten Endes doch zugaben, sich der Hexerei verschworen zu haben. Es gab das Henken, bei dem Gefangene hinterrücks an den Armen aufgehängt wurden, mit Steingewichten an den Fesseln, so lange, bis die Schultern ausgerenkt waren. Mit Visitiernadeln wurde in Warzen, Wundmale und Narben gestochen. Es wurde gesengt, mit der Gerte geschlagen, Salz in offene Wunden gestreut, Finger wurden zermalmt. Und nach dem Geständnis warteten die Flammen des Scheiterhaufens.
Eingestehen oder nicht eingestehen, es spielte keine Rolle, und Bernina wusste das. Und noch schlimmer als die Furcht vor dem, was sie erwartete, war die Angst um ihre Mutter.
»Mein Gott, Mutter, wo bist du?«, fragte sie in die Stille, die sie so bedrohlich umhüllte.
Der Mittag schlich vorüber, der Nachmittag begann, verrann ebenso zähflüssig. Einmal kam es Bernina vor, als hätte sie Schreie gehört, Frauenschreie, aber sie war sich dessen nicht sicher. Dann sah sie durch das Fenster, wie zwei Männer auf den Turm zugingen. Egidius Blum vorneweg, gefolgt von dem Soldaten, der bereits zuvor bei ihm gewesen war. Die Hand des Pfarrers trug einen einfachen Sack aus Hanf.
Kurz darauf öffnete sich die Tür. Bernina erwartete sie, mit dem Rücken zur Wand stehend. Sie wollte nicht erneut auf dem Boden sitzen, um nicht wieder zu Blum aufblicken zu müssen.
Erst der kräftige Soldat, den Degen voran, dann der Pfarrer. Diesmal legte er nicht Bibel und Katechismus auf dem Tisch ab, sondern Daumenschrauben und den Spanischen Stiefel.
Bernina betrachtete die Gegenstände, als wären sie etwas, das rein gar nichts in ihr auslöste. Irgendwie gelang es ihr, die Gänsehaut zu verdrängen, die sie auf sich spürte.
»Wenn Sie besessen sind«, begann Blum, »bekennen Sie sich dazu. Wer das Böse in sich besiegen will, der darf es nicht verleugnen. Man muss dem Bösen begegnen. Man muss sich ihm stellen. Nur dann kann Gott zu Hilfe eilen.«
»In mir ist nichts Böses«, sagte Bernina. Ihre Stimme ruhig, ihr Blick klar, ihre Haltung aufrecht.
»Aber ich spüre es«, erwiderte er zischend. »Ich kann es in Ihrem Blick erkennen. Sie sind von dem Bösen durchdrungen. Lassen Sie es nicht zu, dass es Sie aushöhlt. Zerren Sie es ans Tageslicht. Sonst wird es Sie vernichten, sonst sind Sie verloren.« Und plötzlich setzte er mit veränderter, leiserer Stimme hinzu: »Sie haben es sich gewiss schon gedacht, aber Sie sind bereits enteignet worden.«
»Was?«, sagte sie dumpf. Die letzten Worte konnte sie kaum erfassen.
»Es geht um Ihre Seele. Daran sollten Sie von jetzt an denken. Ihre Seele ist es, die es zu retten gilt.«
»Mein Besitz.« Sie musste Luft holen, hatte auf einmal das Gefühl zu ersticken. »Mein Hof, meine Ländereien …«
»Es geht um Ihre Seele«, wiederholte er stoisch. »Nur um Ihre Seele. Lassen Sie nicht zu, dass der Teufel sie behält.«
»Bereits vom ersten Moment an ist es nicht um meine Seele gegangen.«
»Mir schon!«, schrie Blum nun fast. Als wäre er es, den man eingesperrt und in die Enge getrieben hatte. »Das müssen Sie mir glauben.«
»Warum tragen Sie eigentlich immer so ärmliche Gewänder?« Mit vernichtendem Blick sah sie ihm in die Augen. »Ihre Bescheidenheit ist ebenso falsch wie der Kampf für Ihren Glauben.«
»Für Gott zu kämpfen, kann nicht falsch sein.«
Bernina drehte sich einfach um und starrte aus dem Fenster. Sie hörte, wie er seine Folterinstrumente wieder in den Sack verstaute. Für den Moment reichte es ihm also, sie nur präsentiert zu haben. Bei seinem nächsten Besuch würde es nicht dabei bleiben. Ohne sich noch einmal umzudrehen, wartete sie ab, bis die beiden Männer sie wieder allein ließen. »Wir werden unser Gespräch fortsetzen«, zischte der Pfarrer noch, ehe er die Tür zuwarf und abschloss.
Mittlerweile hatte Bernina solange am Fenster gestanden, dass ihre Beine wehtaten. Hunger und Durst quälten sie immer weiter. Ein schwarzer Streifen am Horizont leitete das Ende des Nachmittags ein, der Abend war bereits dabei, in die Nacht überzugehen. Bernina dachte an ihre Mutter, auch an Baldus. Und an Anselmo. Und außerdem noch immer an Egidius Blums Stimme, als er von der Enteignung gesprochen hatte. So eigenartig es ihr auch vorkam, aber fast hatte sie den Eindruck gehabt, es wäre ihm unangenehm gewesen, diese Angelegenheit anzusprechen. Blum war ein Eiferer, zutiefst überzeugt von dem, woran er glaubte. Aber da war auch etwas anderes an diesem Mann, etwas, das Bernina noch nicht entschlüsselt hatte.
Sie drehte sich um und presste ihren Rücken an die Wand. Langsam ließ sie sich daran hinabrutschen, bis sie von Neuem auf dem Heu hockte. Unbändiger Hunger, unbändiger Durst. Die gegenüberliegende Wand verschwamm auf einmal im Dunkel vor ihren Augen, und sie merkte nicht, wie sie in den Schlaf hinüber glitt, völlig erschöpft, ihr Körper ebenso wie ihr Geist.
Diesmal keine Träume. Nichts als Schlaf. Plötzlich jedoch Geräusche. Ein metallisches Klirren. Bernina hörte ihr eigenes kehliges Stöhnen, sie sehnte sich wieder nach der Stille von eben – und schlug doch die Augen auf.
Mit der Hand wischte sie sich über das Gesicht. Ihre Augen waren ganz trocken. Die Dunkelheit um sie herum war nicht vollkommen, wie ihr jetzt erst bewusst wurde. Da war ein Lichtstrahl, dort bei der Tür. Von einer Kerze in einem Halter, der in der Hand eines Mannes ruhte.
Der Soldat mit der kräftigen Figur.
Endlich war sie richtig wach.
Und jetzt erst erkannte sie die Umrisse von Egidius Blum, der sich in der finstersten Ecke des Raumes aufhielt. Mit seinem Zeigefinger wies er auf einen Gegenstand, der neben ihr abgestellt worden war. Ein großer Holzbecher mit Henkel.
Auch wenn Bernina sich zuvor geschworen hatte, sich nicht die geringste Blöße zu geben – sie konnte sich nicht zurückhalten. Sie riss den Becher an die Lippen und trank das Wasser, das trübe und abgestanden schmeckte – und das ihr dennoch einen Moment lang köstlicher erschien als alles, was sie in ihrem Leben geschmeckt hatte.
Unter Blums konzentriertem Blick leerte Bernina den Becher, dann stellte sie ihn achtlos beiseite.
»Ich hatte Ihnen ja gesagt, wir würden unser Gespräch fortsetzen.« Er räusperte sich. »Leider müssen wir das auf morgen verschieben. Jetzt warten andere Aufgaben auf mich.« Sein Blick wanderte kurz zu dem Fenster. »Hören Sie das?«
Ein leises monotones Brummen. Bernina erhob sich, ihr Mund noch nass vom Wasser. Die Kette spannte. Sie spähte nach draußen und sah trotz der Dunkelheit den Zug der Menschen, der sich die Hauptstraße entlang bewegte, ein riesiger dicker Wurm, beschienen von einigen Fackeln. Sohlen schleiften über nassen Boden. Unterdrücktes Gemurmel war zu hören, das schließlich verebbte.
Die Richtung, die der Zug nahm, war eindeutig: zum Weidenberg.
Bernina drehte sich zu Egidius Blum um. »Ich habe heute Schreie gehört.«
»Morgen werden es Ihre eigenen sein.«
Die Flamme zuckte. Der Soldat hielt die Kerze und stand stumm und reglos da wie eine Statue, genau wie immer.
»Ich bin bereit«, sagte Bernina zu Blum.
Für einen Augenblick schien es, als versuche der Pfarrer Worte zu unterdrücken. Doch sie sprudelten aus ihm hervor, ohne dass er sie aufzuhalten vermochte: »Ich habe vom ersten Tag an die Verachtung gespürt, mit der Sie mir begegneten.«
Überrascht sah sie ihn an. »Worauf wollen Sie hinaus?«
»Auf gar nichts will ich hinaus.«
Etwas bewegte ihn, etwas setzte diesem Menschen zu, aber Bernina vermochte sich nicht vorzustellen, was das sein konnte.
»Ich habe Sie nicht verachtet«, sagte sie nur. »Jedenfalls früher nicht.«
»Früher nicht? Vielleicht stimmt das sogar.« Er schüttelte den Kopf. »Aber bei dem Kirchfest. Da habe ich die Verachtung in Ihrem Blick gesehen.«
»Schon vorher hätte sie Ihnen auffallen können.« Sie erhob sich und nahm dabei wieder die Schwäche wahr, die sich in ihrem Körper ausgebreitet hatte. »Und zwar auf dem Weidenberg.«
Blum erwiderte nichts darauf.
»Sie glauben, nach den Richtlinien Gottes zu handeln. Aber ich denke, Sie sind einfach nur blind. Und Blinde wie Sie sind gefährlich. Sie sorgen überall im Land dafür, dass arme unschuldige Menschen gequält werden. Blinde wie Sie bringen den Tod.«
Mit einem Kopfnicken bedeutete Blum dem Soldaten, aus dem Zimmer zu gehen. Er selbst blieb noch kurz im Türrahmen stehen. Sein Blick suchte ihren. »Sehen Sie zum Weidenberg. Und beten Sie! Für sich und für Ihre Mutter.« Er setzte eine Pause. »Denn Ihre Mutter wird dort oben auf dem Berg sein. Ich habe heute den ganzen Morgen mit ihr gesprochen. Sie hat es zugegeben.«
In Berninas Kopf drehte sich alles, sie war unfähig, auch nur ein Wort zu erwidern.
»Sie hat eingestanden«, fuhr Blum mit starrer Stimme fort, »dass der Teufel von ihrer Seele Besitz ergriffen hat. Dann habe ich sie nach Ihnen gefragt. Aber von da an hat sie geschwiegen. Ab heute Nacht wird sie für immer schweigen.«
Die Tür fiel ins Schloss. Zurück blieb eine Stille, die in Berninas Ohren wie Donner schallte, die alles unter sich begrub.
*
Es war nicht das Morgengrauen, das sie weckte. Nicht dieses merkwürdig graue Licht, das durch das enge, rechteckige Fenster ihres Gefängnisses zwängte, nicht der Hahnenschrei irgendwo im Dorf, auch nicht die Glocke, die im Kirchturm schlug. Es war diese Gestalt, die sich in den Raum schob, die sich ihr näherte, lautlos, als würde sie ein Stück über dem Boden schweben.
Verwirrt sah Bernina auf. Sie versuchte, diesen dumpfen traumlosen Schlaf abzuschütteln, fühlte die eingetrockneten Tränen in den Augenwinkeln, erinnerte sich an den Moment, als sie beim Blick in die Flammen auf dem Berg am Ende ihrer Kräfte zusammengesunken war.
Die Gestalt war von dunklen Stoffen eingehüllt, ihre Umrisse verschwammen im Nichts dieses Raumes. Nur ihre Hand war klar zu erkennen, weiß stachen krumme Finger hervor.
Die Hand schwebte kurz vor Berninas Gesicht, legte sich dann sanft auf ihre Stirn, die Berührung rissiger, kalter, toter Haut, und die Stimme der Krähenfrau ließ die Wände des Zimmers erzittern: »Was auch geschehen mag, ich werde immer bei dir sein.«
Berninas Augen weiteten sich, und in dem Moment, als ihr Blick endlich völlig klar wurde, hatte sich die Gestalt aufgelöst. Sie war wach, und sie war allein.
Der Holzbecher stand noch da, wo sie ihn abgestellt hatte. Sie griff danach, überprüfte ihn, doch kein einziger Tropfen Wasser war an seinem Rand haften geblieben. Stille. Immerzu diese Stille.
Es wurde ein wenig heller. Ein Schwall frischer Morgenluft wehte ins Innere des Turmes. Bernina füllte ihre Lungen und plötzlich meinte sie, einen Geruch wahrzunehmen, der ihr den Atem raubte. Der Geruch kalter, nasser Asche. Oder bildete sie sich das bloß ein?
Ganz kurz nur erhob sie sich, um einen Blick auf die andere Seite des Dorfes zu werfen, wo sich der Weidenberg dem trüben Himmel entgegen wölbte. Sie sah, was sie gar nicht sehen wollte. Eine kleine hügelige Landschaft aus Asche, zerklüftet von Windböen. Regen in der Nacht hatte die Feuer erstickt. Die Feuer des Todes.
Ich konnte nicht bei dir sein, Mutter, dachte Bernina. Allein warst du, ganz allein in deinen letzten Minuten. Einsam bist du gestorben, wie die Krähen, mit denen du dich immer so verbunden gefühlt hast.
Sie ließ sich wieder zu Boden sinken. Nicht mehr nur entkräftet und erschöpft war sie, sondern hoffnungslos. Tauchte Egidius Blum das nächste Mal auf, würde sie es kaum noch schaffen, auch nur den Blick zu heben. Wann mochte er kommen? Gewiss würde er nicht lange auf sich warten lassen.
Irgendetwas drängte sich in ihr Bewusstsein. Ein Geräusch, das sich mehrmals wiederholte. Ein leises Geräusch, als würde etwas gegen die Wand des Turms geworfen, etwas, das weich sein musste und den Aufprall dämpfte. Bernina blickte auf, aber in ihr war alles abgestumpft. Allein der Gedanke daran, der Sache auf den Grund zu gehen, schien sie noch mehr zu ermüden.
Auf einmal flog etwas durch das schmale Fenster und landete, zwei oder drei Schritte von ihr entfernt, auf dem Boden. Auch wenn es unzählige solcher Beutel gab, dieses kleine Säckchen aus abgewetztem dünnem Ziegenleder erkannte sie mühelos auf den ersten Blick.
Beinahe überraschte sie sich selbst damit, wie schnell sie auf die Beine kam. Ein Spähen aus dem Fenster, und sie sah gerade noch die flink davonhumpelnde Gestalt von Baldus, der dann aber auf einmal an einer Ecke des Pferdestalls stoppte und sich zu ihr herumdrehte. Seine wachen Augen erfassten sie, und mit einem raschen Wink wies er in den Stall, dessen Tor ein Stück weit offen zu stehen schien. Dann war nichts mehr von dem Knecht zu sehen.
Ein trauriges Lächeln huschte über Berninas Gesicht. Sie bückte sich und hob den Lederbeutel auf. Das Gemisch aus Pfeffer und zerstoßenen Hagebuttenkernen, Baldus’ Schutz gegen Raufbolde und Störenfriede.
Noch einmal sah sie nach draußen. Als hätte sie es gespürt: Von der Hauptstraße näherte sich Egidius Blum. In seinen Händen wieder der Hanfsack, in respektvollem Abstand hinter ihm der Soldat.
Es rührte Bernina so sehr, dass Baldus ihr helfen wollte. Aber dieser Beutel – was konnte er ihr schon nutzen? Leider schien der Knecht nicht zu wissen, dass sie angekettet war. Sie starrte auf den Eisenring, an dessen Rand ihr wundes, blutverkrustetes Gelenk sichtbar wurde.
Schritte erklangen. Die beiden Männer kamen die Treppe herauf.
Unbewusst drückte Bernina mit der freien Hand das weiche Beutelleder – und fühlte etwas Festes darin. Sie öffnete den Riemen, mit dem der Beutel zugebunden war, und griff hinein. Zum Vorschein kam ein Schlüssel.
Sie schluckte.
»Habe ich dich etwa unterschätzt, Baldus?«, sagte sie ganz leise.
Der Schlüssel passte ins Schloss des Eisenrings, und Berninas Handgelenk war befreit.
»Wie um alles in der Welt bist du nur an diesen Schlüssel gekommen, mein Freund?«
Ja, es war wieder Leben in ihr, und vor allem Wut und Trauer und Ungläubigkeit angesichts dessen, was über sie hereingebrochen war. Sie dachte an ihre Mutter, und Tränen standen in ihren Augen. Ihre Lippen bebten.
Erneut griff sie in den Beutel. Erst füllte sie die rechte, dann die linke Hand mit dem Pulver, bevor sie den Beutel in eine Ecke warf.
Der Schlüssel wurde ins Türschloss geschoben.
Bernina trat einen Schritt zurück, genau vor die auf dem Boden liegende Kette mit dem Ring.
Der Soldat kam wieder als Erster herein, die Hand auf dem Degen, der noch in der Scheide steckte. Er machte Platz und Blum war schon da, die Bastschuhe raschelten, die eisernen Gegenstände im Sack schlugen laut gegeneinander.
Das war der Augenblick. Bernina stürmte voran, schleuderte das Pulver in die Gesichter der Männer, denen nicht einmal Zeit blieb, überrascht dreinzublicken. Mit der Schulter rammte Bernina den Pfarrer zu Boden, während sie mit einem schnellen Schritt an dem Soldaten vorbei stürzte. Aus den Augenwinkeln nahm sie noch wahr, dass sich beide die Gesichter rieben, dann sah sie nur noch die Treppe, die nach unten führte, raus aus diesem Gefängnis. Keine Schwäche mehr in ihr, nur noch die plötzliche Hoffnung, alles hinter sich lassen zu können.
Mehrere Stufen auf einmal nahm sie, auf der nächsten Ebene sah sie mit einem Seitenblick die geöffnete Tür eines weiteren leeren Zimmers, das über ein großes quadratisches Fenster verfügte. Hinter ihr polterten die Stiefel des Soldaten, und auch ohne dass sie sich mit einem Blick vergewisserte, wusste sie, dass Blum ebenfalls die Verfolgung aufgenommen hatte.
Sie rannte in das Zimmer, riss die Tierhaut, die hier noch unversehrt war, aus dem Rahmen und schob sich durchs Fenster.
»Alarm!«, ertönte die Stimme des Pfarrers.
Der Soldat stürmte in dem Augenblick in den Raum, als Bernina sprang.
Ein stechender Schmerz durchzuckte ihre Knöchel, als sie auf dem nassen Kopfsteinpflaster aufkam. Doch sie achtete nicht darauf, rannte schon wieder weiter, froh darüber, sich nichts gebrochen zu haben, das nächste Ziel vor Augen.
Das Keuchen des Soldaten konnte sie hinter sich hören – also war auch er gesprungen. Blum allerdings schien die Verfolgung aufgegeben zu haben. Wieder schrie er »Alarm!«, aber seine Stimme klang weit entfernt. Möglicherweise stand er noch am Fenster.
Bernina hatte keine Gelegenheit, darauf zu achten. Sie lief, so schnell ihre Füße sie trugen, lief wie niemals in ihrem Leben. Durch das Tor, hinein in den Pferdestall. Jemand hatte die Tiere der Soldaten an den Vorderbeinen mehrfach zusammengebunden. Nur bei einem nicht, einem kurzbeinigen, äußerst kräftigen Hengst, dem auch schon Zügel und Sattel angelegt worden waren.
Baldus, du bist großartig!, hämmerte es in Berninas Kopf, als sie sich auf den Pferderücken stemmte. Sie schlug dem Tier die Hacken in die Seiten, es bäumte sich auf, aber es gelang ihr, den temperamentvollen Hengst im Griff zu halten.
Sie galoppierte los, und das Pferd überrannte den heranstürzenden Soldaten, dessen Degen in hohem Bogen durch die Luft flog. Als die Waffe scheppernd aufs Pflaster schlug, hatte Bernina schon ein ganzes Stück zurückgelegt.
Jetzt sah sie den Pfarrer. Er stand tatsächlich am Fenster des Turmes, doch er gab keinen Alarm mehr, sondern bohrte bloß seinen merkwürdigen Blick in Berninas Gesicht.
Soldaten erschienen vor dem Gasthaus, aber Bernina preschte durch sie hindurch. Sie fühlte die Kraft des Tieres unter dem Sattel pulsieren. Ein Schuss ertönte, doch die Kugel verfehlte sie.
Vielleicht war es Zufall, vielleicht besaß Baldus auch ein Gespür für Pferde, von dem sie nichts gewusst hatte – auf jeden Fall hatte er die richtige Wahl getroffen. Der Hengst jagte durch das Dorf, als hätte er seit Langem auf genau diesen Moment gewartet.
Als sie die Mitte der Hauptstraße erreichte, auf einmal von vielen neugierigen Augen verfolgt, warf Bernina einen Blick zurück, und was sie sah, gefiel ihr überhaupt nicht. Die Soldaten hatten ihre Pferde schneller voneinander getrennt, als es ihr lieb sein konnte. Schon saßen sie in den Sätteln, schon waren sie hinter ihr her.
Bernina duckte sich tief über die lange, wirbelnde Mähne des dunkelbraunen Hengstes. »Schneller!«, zischte sie, als könnte er das Wort verstehen. Mit den Zügelenden hieb sie auf seinen Hals ein. »Schneller!«
Am Ortsausgang hatten die Soldaten noch nicht aufgeholt. Der Hengst preschte mit all seiner angestauten Kraft weiter. Sie lenkte das Tier in Richtung des Waldes, den sie besser kannte als die Fremden hinter ihr. Über ihr eben noch der zerklüftete Himmel, dann die Dunkelheit der Bäume. Zwischen Büschen, Kiefern und Rottannen hindurch, immer weiter, immer weiter, immer noch schnell. Geistesgegenwärtig wich Bernina mit dem Kopf den Ästen und Zweigen aus.
Sie blickte nach hinten und stellte bestürzt fest, dass der Weg, den sie genommen hatte, ihr keinen Vorteil brachte. Mit Geschick und der Erfahrung vieler Jahre auf Pferderücken ritten die Verfolger durch den Wald. Auch ohne Sattel, nur mit dem Druck ihrer Schenkel und einer Hand in der Mähne ihrer Tiere, während die andere Muskete oder Degen hielt. Ihnen war es sogar gelungen, den Rückstand zu verringern.
»Schneller!«
Die Bäume standen nicht mehr so dicht, der Boden wurde welliger, es ging hinauf und hinunter, Fontänen schäumender Flüssigkeit spritzten aus dem Maul des Pferdes. Und immer weiter durch den endlosen Wald, über Kiefernnadeln und Wurzelstränge und Dornensträucher. Mit einem Sprung überwand Berninas Hengst einen Bach. Der Petersthal-Hof war nicht mehr fern, jeder Baumstamm schien ihr vertraut. Bei einem Blick über die Schulter merkte sie allerdings, dass es auf einmal nur noch zwei Männer waren, die hinter ihr her preschten.
Die anderen sind zum Hof!, schoss es Bernina durch den Kopf.
Sie war sich sicher, geradewegs in eine Falle zu reiten. Heftig riss sie an den Zügeln, um die Richtung zu ändern. Das Pferd reagierte rasch und ohne an Geschwindigkeit einzubüßen. Mittlerweile war sein ganzer Hals von weißem Schaum bedeckt.
Die beiden Spanier rückten wieder näher an sie heran. Bernina ritt einen Hügel hinauf, und diesmal schaffte sie es nicht, einem der tief herabhängenden, von Regenwasser vollgesogenen Äste auszuweichen.
Alles passierte innerhalb eines Wimpernschlages.
Der Schmerz in ihrem Oberarm beim Aufprall, der Schwung, der sie aus dem Sattel hob. Auf einmal die vorüberfliegenden Baumkronen und die grauen Wolken über ihr und dann die feuchte Erde, in die sie mit voller Wucht aufschlug.
Ein Moment der Orientierungslosigkeit, doch schon war sie wieder auf den Beinen. Sie versuchte, den überraschten Hengst zu erreichen, als ein Hieb ihre Schulter traf und sie erneut zu Boden streckte.
Die Soldaten glitten geschmeidig vom Rücken ihrer Pferde, ihre roten Umhänge wehten, die Degenspitzen funkelten. Bernina stand auf, diesmal langsam – es gab keinen Ausweg. Mit selbstsicherem Grinsen kamen die Soldaten auf sie zu, jeder von einer Seite.
Doch wie aus dem Nichts ein Schatten, groß und breit. Eine ausholende, kraftvolle Bewegung, fast zu schnell für das Auge, und der Knauf eines Degengriffs traf mit trockenem Laut den Kopf eines der beiden Soldaten.
Während der Spanier mit blutigem Haar bewusstlos auf die Erde sank, versuchte der Zweite Bernina zu packen, die jedoch geschickt auswich.
Der Mann, der so plötzlich aufgetaucht war, ging auf den Soldaten zu. Klingen trafen sich, wieder und wieder. Wie gelähmt verfolgte Bernina, wie der Spanier zurückgedrängt wurde. Seine Waffe stach ins Leere, und im gleichen Augenblick drang blitzender Stahl in seinen Brustkorb. Er hustete, Blutstropfen auf den Lippen, und sank zu Boden. Sein Blick wurde starr. Er fiel nach vorn und blieb reglos liegen. Ein letztes Röcheln, er war tot.
Ein Moment abgrundtiefer Stille.
Der Mann blickte Bernina nicht an, sondern säuberte seine Degenklinge mit Grasbüscheln und Blättern. Er wirkte völlig ruhig, während sie das Trommeln ihres Herzens ganz stark fühlte. Lässig verstaute er seine Waffe in der Scheide. Erst da fiel der Blick aus diesen grünen Augen auf sie.
»Sehen Sie zu, dass Sie Ihr Pferd einfangen, bevor es zu weit weg ist«, flog ihr seine Stimme mit dem harten Akzent entgegen.
Sie wollte etwas erwidern, aber er hatte sich schon abgewandt. »Ich bin gleich wieder hier«, sagte er noch. »Wir müssen uns beeilen. Sonst wacht der Zweite wieder auf. Oder die anderen kommen auf die Idee, hier nach Ihnen zu suchen.«
Ohne lange nachzudenken, tat Bernina, was er sagte. Sie eilte zu dem Pferd und schwang sich wieder in den Sattel. Kaum hatte sie die Zügel fest in beiden Händen, hörte sie von weichem Waldboden gedämpfte Hufschläge.
Er ritt im Trab heran, das Packpferd an einem Seil hinter sich führend. Seine blonden Haare wehten im Wind, die graue Strähne stach hervor. Erneut trug er den Lederwams, nicht mehr den Hut, den er hinter sich am Sattel festgemacht hatte. In seinem Blick war etwas Verwegenes.
»Los«, meinte er nur, und folgte ihm ohne Abwägen. Nicht nur, weil er sie aus ihrer Notlage gerettet hatte, sondern wohl auch weil etwas Bezwingendes von ihm ausging.
Sie ritten durch den Wald, erst nach Westen, dann in südliche Richtung, Berninas Blick auf den breiten Rücken jenes Mannes gerichtet, den sie erst als Henker, dann als Wolfsjäger kennengelernt hatte – und der sie immer weiter wegführte vom Petersthal-Hof und von Teichdorf.
»Mir ist nicht ganz wohl dabei«, rief sie irgendwann, »mich so weit von meinem Hof zu entfernen.«
»Was wollen Sie dort?« Er drehte sich nicht zu ihr um. »Sterben?«
Er achtete darauf, den Schutz des Waldes nicht aufzugeben, größere Lichtungen zu meiden und hin und wieder einen kurzen Halt einzulegen, um in die Stille zu lauschen, die sie umgab. Bernina spürte, wie die nicht sehr schnelle Gangart ihrem Pferd guttat. Es begann, sich von dem höllischen Ritt zuvor zu erholen.
»Ich glaube, es ist niemand mehr hinter uns her«, mutmaßte der Wolfsjäger nach einer ganzen Weile.« Er glitt aus dem Sattel und führte seine Tiere zu Fuß zu einer Stelle, an der sich der Wald ein wenig lichtete.
Bernina tat es ihm gleich. Ihr Hengst schnaubte auf, anscheinend abermals froh darüber, etwas Ruhe zu finden.
Der Wolfsjäger band seine Pferde an einem Baum fest, und erneut folgte sie seinem Beispiel. »Eine längere Pause tut nicht nur den Tieren gut«, bemerkte er, »sondern auch Ihnen.«
Kaum hatten sie sich ins hohe Gras gesetzt, fühlte Bernina ihre Erschöpfung, stark und brennend wie ein Fieber. Ihr Bauch brummte auf, von Neuem verspürte sie das überwältigende Bedürfnis nach Wasser. Die letzten Tage hatten Spuren hinterlassen.
Ein paar Sonnenstrahlen stahlen sich durch das Grau der Wolken, und die plötzliche Wärme schien Bernina fast ein wenig benommen zu machen. Sie sank nach hinten, ihre Lider wurden schwer, und sie strengte sich an, ihre Augen offen zu halten. Vergeblich. Eine Decke aus Schlaf legte sich auf sie, sie war wehrlos dagegen, und das war ihr egal, einfach nur vollkommen egal. Als sie wieder erwachte, erschrak sie heftig.
Ein großer Schatten, der auf sie fiel. Die grünen Augen, die sie prüfend musterten.
Es dauerte, bis sie wusste, wo sie sich befand, bis sie sich an das erinnerte, was passiert und wer bei ihr war.
»Da bin ich ja beruhigt«, sagte der Mann mit ironischem Unterton. »Ich dachte schon, Sie würden hundert Jahre schlafen.« Mit einem knappen Nicken deutete er auf etwas neben ihr.
Zögernd richtete sie sich auf. Im Gras lagen ein Trinkbeutel aus Leder und auf einem kleinen Stofftuch Stücke getrockneten Fleisches, auch etwas Brot und ein Apfel.
»Danke«, sagte sie, und dieses eine Wort musste ihre Kehle geradezu hinaufkriechen. Sie trank ausgiebig.
»Nicht zuviel«, meinte er, »sonst werden Sie Magenschmerzen bekommen.«
Sofort legte sie den Trinkbeutel zur Seite. Sie griff nach dem Fleisch. Sein Geschmack füllte ihren Mund, ihren ganzen Körper.
»Mein Gott, habe ich einen Hunger«, flüsterte sie entschuldigend. Es war ihr peinlich, wie hastig sie einen Bissen nach dem anderen verzehrte.
»Kein Wunder«, antwortete er bloß.
Bei einem Blick auf die Pferde stellte sie fest, dass er sich um den Hengst, den sie geritten hatte, gekümmert haben musste. Das Tier war abgerieben und gewiss auch getränkt und gefüttert worden. Es sah wieder so gut und frisch aus wie in jenem Moment, als Bernina es zum ersten Mal in dem Stall erblickt hatte.
Unwillkürlich musste sie an Baldus denken. Wie hatte er es geschafft, an den Schlüssel zu kommen? Hoffentlich, bangte sie um den Knecht, hat niemand bemerkt, was er getan hat. Hoffentlich bist du in Sicherheit, kleiner mutiger Mann! Und sie dachte an ihre Mutter. Ihre ganze Welt war zerstört. All das, was sie aufgebaut hatte, was ihr Herz schlagen ließ. In Trümmern lag es vor ihr. Egidius Blums Stimme schwirrte wieder durch ihre Gedanken. Enteignung. Der schwere Weg, der leichte Weg. Von heute Nacht an wird Ihre Mutter für immer schweigen.
Ein weißes Rüschentuch, das wie verloren in der großen Männerhand lag, erschien vor ihrem Gesicht.
»Für die Tränen«, meinte der Wolfsjäger leise.
Sie nahm das Tuch und trocknete sich damit die Augen.
»Danke«, sagte sie nach einem Räuspern.
»Sie haben einiges durchgemacht.« Sein Blick tastete nicht allzu unauffällig über die Stellen weißer Haut, die unter Berninas zerrissenem Kleid aufschimmerten.
Bernina nickte. Er schien in sie hineinsehen zu können, und das gefiel ihr nicht. Mit ihrer Trauer wollte sie allein sein, sie ging ihn nichts an. Ohne ihn allerdings …
Sie setzte sich auf und atmete tief ein. Neue Kraft, das war es, was sie brauchte. Auch wenn sie nicht die geringste Ahnung hatte, wie es weitergehen sollte.
Mit gekreuzten Beinen saß der Wolfsjäger im Gras. Er beobachtete sie weiterhin ziemlich ungeniert, schwieg aber dabei.
»Danke nochmals«, sagte sie und hielt ihm das Rüschentuch hin.
»Behalten Sie es ruhig.«
Sie legte das Tuch neben dem Apfel ab, den sie nicht angerührt hatte. »Ich meine natürlich nicht nur für das Tuch und das Wasser und das Essen.« Ihr Blick ruhte offen auf ihm. »Ich meine für alles. Sie haben mich gerettet. Ich danke Ihnen von ganzem Herzen.«
Mit der Hand strich er kurz über seinen wilden, bis hinunter zum Kiefer wuchernden Schnurrbart. »Es passt Ihnen nicht, dass ich es war.« Ein Lächeln umspielte seinen Mund. »Dass ausgerechnet ich Ihnen beigestanden habe. Der Diener des Todes. Ist es nicht so?«
Ohne sich von seiner selbstgewissen Stimme einschüchtern zu lassen, sah sie ihn an. »Schon möglich.«
Er lachte auf. »Nehmen Sie’s mir bitte trotzdem nicht übel.«
»Mein Dank war aufrichtig«, betonte Bernina. »Aber verstehen kann ich Sie wirklich nicht. Sie verschonen eine Wölfin und schrecken gleichzeitig nicht davor zurück, Menschen mit den eigenen Händen in den Flammentod zu schicken.«
»Ja, die Wölfe. Klingt komisch, aber irgendwie habe ich sie schätzen gelernt. Sie sind Jäger und sie töten, ich weiß. Aber haben Sie jemals einen Wolf richtig angesehen? Diese Wölfin mit dem Silberrücken war etwas ganz Besonderes. Ich würde sie überall wieder erkennen.«
»Und die Menschen, die Sie in den Tod schickten?«
»Ich habe Ihnen ja schon einmal gesagt: Um zu überleben, muss man hin und wieder dem Teufel ins Gesicht spucken.«
»Und ich habe Ihnen schon einmal gesagt, dass ich nichts von jämmerlichen Ausreden halte.«
Wieder lachte er auf, diesmal jedoch anders. Bernina spürte, dass sie ihn an einer empfindlichen Stelle getroffen hatte.
»Nun ja«, meinte sie mit zurückhaltender Stimme, »manchmal sage ich einfach, was ich denke.«
»Davon bin ich überzeugt.« Sein Grinsen hatte sich verflüchtigt. »Wir leben eben in höllischen Zeiten.«
»Aber genau das habe ich ja gemeint: Man kann nicht immer die Zeiten als Entschuldigung vorschieben. Von mir aus kann man aufgeben. Von mir aus kann man auch den Freitod wählen. Doch …«
»Ja?«
»Ich weiß nicht, wie ich es sagen soll, also sage ich’s am besten auf einfache Weise.«
»Bitteschön.«
»Bevor ich Henker würde …«
Aufmerksam betrachtete er sie.
»… würde ich mich lieber selbst umbringen. Auch wenn der Henker das Urteil nicht spricht: Allein es nur auszuführen, ist etwas, das …« Sie verstummte.
Sein Blick blieb unverändert, aber er sagte nichts.
»Verzeihen Sie. Ich habe kein Recht, über jemanden zu richten.« Bernina lächelte traurig. »Aber sehen Sie, meine Mutter ist auf dem Scheiterhaufen gestorben.« Und sie setzte noch mit Bitternis hinzu: »Offenbar hat man sehr schnell Ersatz für Sie gefunden.«
»Das mit Ihrer Mutter tut mir leid. Und glauben Sie mir, das ist wirklich nicht einfach nur dahergeredet. Es tut mir sehr leid.«
»Danke«, sagte sie leise.
»Ich weiß auch, dass auf Sie in Teichdorf wohl das gleiche Schicksal gewartet hat.« Auf einmal blickte er ins Nichts. »Sie hatten recht. Ich habe mich hinter jämmerlichen Ausreden versteckt. Aber ich habe damit Schluss gemacht. Etwas spät, gewiss.«
Bernina betrachtete ihn, während er sprach. Der Glanz in seinen Augen ließ keinen Moment lang nach. Im Gegensatz etwa zu Anselmos einschmeichelndem Akzent kamen die Laute aus seiner Kehle hart und kraftvoll, wie die Schläge eines Hammers. Ein rätselhafter Mann.
Nachdem er in Schweigen verfallen war, sagte sie: »Ich habe durch einen Zufall gehört, dass Sie Teichdorf verlassen haben.«
»Richtig. Die Wölfe, auf die ich Jagd machte, erschienen mir nicht unbedingt die furchteinflößendsten Bewohner dieser Gegend zu sein.«
»Warum sind Sie dann noch in der Nähe gewesen? Sie müssten doch schon recht weit gekommen sein.«
Jetzt war sein Grinsen wieder da. Er rückte näher an sie heran. Seine Hand kam auf sie zu, und als sie schon davon überzeugt war, er wollte sie berühren, griff er nach dem Apfel, der noch neben ihr lag.
»Ja, das hätte ich. Sehr weit sogar.« Der Wolfsjäger biss in den Apfel.
»Wie heißen Sie eigentlich?«
»Mein Name ist Nils Norby.«
»Ich bin …«
»Ich weiß, wer Sie sind, Bernina.« Schwungvoll kam er auf die Beine, den Blick auf die Pferde gerichtet. »Wenn Sie sich etwas erholt haben, sollten wir verschwinden. Womöglich treiben sich Ihre spanischen Freunde ja doch noch irgendwo hier herum.«
Bernina stand ebenfalls auf. Das Essen und ein wenig Schlaf hatten geholfen, ihre Erschöpfung zu überwinden. Zumindest fürs Erste. »Aber ehrlich gesagt habe ich im Moment keine Ahnung, wohin es eigentlich weitergehen soll.«
Sie fühlte eine Verlorenheit in sich, eine große Leere.
»Das Dorf und Ihr Hof sind Orte, an denen Sie sich besser nicht zeigen sollten.« Mit einer Sanftheit, die Bernina überraschte, strich er seinem Reitpferd über den Hals. »Am besten, wir folgen derselben Richtung wie bisher. So müssten wir doch in dieses Ippenheim gelangen, oder?«
Bernina nickte. »Ja, die größte Stadt in der Nähe.«
»Warum also nicht?«, meinte er leichthin. »Auf jeden Fall sollten wir noch etwas mehr Abstand zwischen Sie und Teichdorf bringen.«
Sie saßen auf, und wie zuvor übernahm der Wolfsjäger die Führung. Bernina folgte dicht auf, den Blick in die Wälder ringsum und immer wieder auf den breiten Rücken des Mannes gerichtet. Mit sicherem Gespür suchte er sich seinen Weg und gönnte den Tieren dabei einen ruhigen Schritt. Nicht die Gegend schien ihm vertraut zu sein, eher Situationen wie diese, in der sie sich gerade befanden. Situationen der Gefahr. Bernina erkannte es allein schon an der Art, wie er auf dem Pferderücken saß, mit dem Sattel verwachsen, lässig und zugleich mit der Spannung einer angezogenen Bogensehne.
Nach wie vor mieden sie freie Ebenen. Sie bewegten sich im Schatten der Bäume, ohne die Pferde überaus anzustrengen, ohne überflüssige Worte, so leise wie möglich. Der Nachmittag begann mit dem Aufziehen einiger neuer dunkler Wolken. Eine schwere Feuchte lag in der Luft.
Sie legten eine kurze Rast ein, tranken Wasser, und der Mann drängte Bernina dazu, noch etwas von dem getrockneten Fleisch zu essen.
»Es riecht nach Regen«, meinte Bernina kauend.
Nils Norby spähte in den Himmel und widersprach: »Nein. Heute wird es trocken bleiben.«
Der voranschreitende Tag schien ihm recht zu geben. Zu Berninas Überraschung kam sogar wieder die Sonne durch. Als sie Teichdorf schon ziemlich weit hinter sich gelassen hatten, erreichten sie eine versteckt gelegene Lichtung. Hohe Gräser, Gänseblümchen. Die Bäume gaben den Blick frei auf einen Teich, an dessen Ufer wilde Beeren wuchsen.
»Ein schönes Plätzchen. Ich denke, wir können es wagen, ein Feuer zu machen.« Der Wolfsjäger sprang vom Pferd und begann bereits, herumliegendes Holz aufzusammeln.
»Wenn Sie meinen.« Bernina glitt aus dem Sattel.
»Es würde mich wundern, wenn die Männer uns immer noch verfolgen. So wichtig können Sie für die doch nicht sein, oder?«
»Wundern würde mich das auch.« Sie hob kurz die Achseln. »Ich hoffe, es genügt Pfarrer Blum, dass er mich einfach los ist. Nur was ich jetzt tun soll, wohin ich gehen soll, ist mir immer noch nicht klar.«
»Was hat der Pfarrer gegen Sie? Glaubt er wirklich, Sie seien eine Hexe?«
Norby hatte bereits ein Feuer entzündet und eine Decke für sie ausgebreitet, auf der er nun Platz nahm. Nachdem Bernina sich um die Pferde gekümmert hatte, setzte sie sich neben ihn und ließ dabei einen angemessenen Abstand.
»Blum hält mich wohl in seinem blinden Wahn tatsächlich für eine Hexe. Und trotzdem …« Nachdenklich lenkte sie ihren Blick in die züngelnden Flammen. »Da steckt noch mehr dahinter. Er sagte mir, dass man mich enteignet hat.«
»Ja, das ist mir auch aufgefallen«, warf er ein. »In Teichdorf hatten einige Leute, die über recht viel Besitz verfügen, plötzlich Schwierigkeiten.«
»Was wissen Sie über diese spanischen Soldaten?«
»Nennen wir sie lieber Söldner.« Er lächelte schmal. »Ich weiß nicht viel über sie. Aber das muss ich auch nicht. Es gibt etliche solcher Männer. Die Jahre dieses endlosen Kriegs haben sie über die Lande verstreut, und nun verleihen sie ihre Waffen an den, der gerade am meisten bezahlt. Teichdorf ist nicht die einzige Ortschaft, die für ihren Schutz bluten muss. Solche Söldner lassen sich belohnen, und zwar nicht billig.«
»Das ist mir auch klar. Aber für meine Begriffe geht das, was in Teichdorf geschieht, viel zu weit.«
»Sicher, so ist es. Doch wenn der Glaube und das Schwert sich vereinigen, dann kann man sich schon mal mitten in der Hölle wiederfinden.« Leiser fügte er an: »So, wie das Ihnen passiert ist.«
Bernina sah weiterhin ins Feuer. »Ja, ich muss zur Ruhe kommen. Ich weiß noch nicht einmal, wie ich gegen dieses Unrecht angehen kann. Man darf mir doch nicht einfach meinen Besitz wegnehmen.«
»Die Kirche kann ein allzu mächtiger Gegner sein. Und Blum vertritt die Kirche. Auf ihn kommt es an.«
Schweigen trat ein, jeder von ihnen blickte vor sich hin. Später holte der Wolfsjäger aus seiner Satteltasche Fleisch, Brot und getrocknete Früchte. Sie aßen in aller Stille, umgeben vom Wald, beobachtet nur von der Sonne, die sich ein Stück weiter durchgekämpft hatte. Nach einem letzten Bissen sagte Bernina: »Es ist sehr nett von Ihnen, mit mir Ihre Vorräte zu teilen.«
»Wirklich nicht der Rede wert.« Norby winkte ab.
»Ich hoffe, ich kann das wieder gutmachen.«
»Verschwenden Sie keine Gedanken daran.«
»Aber eines müssen Sie mir noch sagen.« Bernina sah ihn an. »Ich hatte Sie ja vorhin schon einmal gefragt, warum Sie noch in der Nähe waren. Obwohl Sie Teichdorf doch verlassen wollten.«
»Schon richtig, ich wollte weg.« Er strich über seinen Schnurrbart. »Doch irgendwie schien auch ich nicht so recht zu wissen, wohin. Oder ich hatte es nicht sonderlich eilig.«
Bernina musste lächeln. »Klingt nicht gerade sehr überzeugend.«
Auch er lächelte. »Möglich.«
»Und noch etwas wollte ich von Ihnen wissen: Was war Ihre Absicht, als Sie kürzlich bei mir auf dem Hof aufgetaucht sind? Oder ganz in der Nähe des Hofes. Sie zügelten Ihr Pferd auf dem Hügel, und dann ritten Sie einfach davon.«
Ein lässiges Schulterzucken. »Ich hörte Ihren Namen auf einmal an jeder Ecke Teichdorfs. Den ganzen Tag über. Blum schien ziemlich aufgebracht zu sein – wegen der Sache, die auf dem Weizenfeld passiert war. Ich war gerade bei ihm, um ihm mitzuteilen, dass ich ihm nicht mehr zur Verfügung stehen würde, weder als Henker noch als Wolfsjäger. Dass mir die Gegend nicht besonders zusagen und ich deshalb verschwinden würde.«
»Und weiter?«
»Also ritt ich los, fort von Teichdorf. Inzwischen wusste ich, wo in etwa Ihr Hof sich befindet.« Es schien, als würde er seine Worte genau abwägen. »Ich hatte mich nicht entschieden, aber der Gedanke, Sie zu warnen, spukte mir im Kopf herum. Ich dachte darüber nach, Ihnen zu sagen, dass Ihr Name gerade in aller Munde war.«
»Dann beschlossen Sie jedoch, sich herauszuhalten.« Bernina sagte es nicht herausfordernd, sondern ganz nüchtern.
»Genauso war es. Ich sagte mir, was soll ich mich einmischen. In all das, was in dem verrückten Dorf vorgeht. Ich hatte vielmehr das Gefühl, dass es höchste Zeit war, dieses Nest zu verlassen.«
»Was mich noch interessieren würde …«
»Ja, ja, die Neugier der Frauen«, zwinkerte er ihr zu.
Aber sie sprach ruhig weiter: »Wieso wollten Sie Blum Ihre Dienste nicht mehr anbieten? So plötzlich? Das haben Sie mir noch nicht gesagt.«
»Er meinte zu mir, ich solle mich wieder bereithalten. Sie verstehen schon. Ich meine, nicht als Wolfsjäger.«
»Sondern als Henker.«
»Das war ja der Auslöser: Von da an stand mein Entschluss fest. Nämlich das Weite zu suchen.« Er legte etwas Holz nach, und das Feuer knisterte.
»Und die Wölfe?«
»Ich habe schon ein paar Aufgaben in meinem Leben unvollendet lassen müssen. Das war eben nur eine weitere. Einige von ihnen habe ich ja zum Glück erwischt. Mit dem Pfeil. Und vor allem mit der Wolfsangel.«
»Ist das dieses Eisen? Ich sah es im Wald.«
»Ja, in Ihrer Gegend ist es noch ziemlich unbekannt. So fiel es mir wohl auch leichter, die Leute zu beeindrucken.«
»Sie wollten mich also warnen?«, fragte sie noch einmal.
»Ja.«
»Aber Sie taten es dann doch nicht.«
»Wie gesagt, ich beschloss, mich herauszuhalten.«
Sie blickte ihn an. »Aber Sie hielten sich nicht heraus, und zwar als die Männer mich verfolgten und im Wald stellten.«
Norby äußerte kein Wort.
»Jedenfalls sind Sie recht geschickt, wenn es darum geht, sich vor einer Antwort zu drücken.«
»Wie meinen Sie das?«, antwortete er mit breitem Lachen. »Ich gebe Ihnen jetzt doch schon eine ganze Weile brav Auskunft.«
Bernina schüttelte den Kopf. »Warum haben Sie sich wirklich geweigert, weiterhin als Henker zu arbeiten?«
»Wissen Sie, Bernina, es ist so.« Es war das zweite Mal, dass er ihren Namen aussprach. »Damals im Wald, bei dem toten Wolf, da haben Sie mich ins Grübeln gebracht, das gebe ich zu.«
»Das soll ich Ihnen glauben? Ein paar deutliche Worte haben bewirkt, dass Sie …«
»Ich weiß, im Grunde waren es nur ein paar deutliche Worte«, unterbrach er sie. »Aber es kommt eben darauf an, was wirklich in solchen Worten steckt. Und wie sie ausgesprochen werden. Und vielleicht auch, von wem.«
Seine Augen suchten sie, aber sie erwiderte seinen Blick nicht.
»Wie dem auch sei«, meinte sie bloß. »Jedenfalls finde ich es gut, dass Sie Ihr Tun überdacht haben.«
»Nicht nur überdacht, ich habe damit Schluss gemacht.« Im Sitzen straffte er seinen Oberkörper. »Vorher habe ich mich einfach treiben lassen. Schon zu lange. Es wird Zeit, dass ich wieder einen klaren Kopf bekomme.« Fast schien er zu sich selbst zu sprechen. »Und dass ich diesen verdammten Schädel auch wieder zum Denken gebrauche.«
Der Nachmittag neigte sich dem Ende zu. Die Sonne hatte nur noch wenig Kraft. Ein erster Anflug von Dunkelheit. Bernina und der Wolfsjäger entschieden, dass es zu spät war, um nach Ippenheim weiterzureiten.
»Das ist ein gutes Plätzchen«, sagte er noch einmal. »Und offenbar ein sicheres. Wir werden morgen früh den Weg in die Stadt fortsetzen.«
Bernina erhob sich von der Decke. Sie sah kurz an ihrem von Dreck verschmierten, zerrissenen Kleid herab. »Ich habe mich noch nie so schmutzig gefühlt.«
»Eine Badewanne habe ich leider nicht für Sie in meinen Taschen.«
»Ich möchte ein wenig allein sein«, sagte sie und schritt auf den Teich zu, dessen glatter Wasserspiegel, teilweise verborgen von Sträuchern und Bäumen, im fahlen Dämmerlicht glitzerte.
»Wohin gehen Sie?«, fragte Norby.
»Nirgendwohin.«
»Aber bleiben Sie nicht zu lange weg«, warnte er und begann, das Feuer mit weiteren Ästen und Zweigen zu füttern.
Bernina überquerte die Lichtung, umrundete den Teich und schlüpfte dann zwischen ein paar dicht wuchernde Büsche. Der Feuerschein war zu sehen, nichts mehr jedoch von dem großen blonden Mann. Sie streifte ihre Kleidung ab und erschauerte, als sich die Luft kühl auf ihre ungeschützte Haut legte. Es versprach, ein überraschend unfreundlicher Sommer zu werden. Aber daran dachte sie jetzt nicht.
Ihre Füße befanden sich schon im Teich, sie ging in die Knie und erschauerte von Neuem.
So kühl das Wasser auch war, es war schön für sie, sich damit abzureiben, den Schmutz der vergangenen grausamen Tage und Nächte von sich zu spülen, mit nassen Händen durch ihr Haar zu fahren, bis es sich so weich anfühlte, wie sie es kannte. Sie tauchte kurz unter, drang noch ein Stück weiter in den Teich vor, sodass sich bloß noch ihr Kopf und ihre Schultern im Freien befanden. Mit einer langsamen Bewegung wandte sie sich wieder dem Ufer zu – und erschrak fürchterlich.
Wie versteinert blieb sie stehen. Ihre Zehen wühlten sich in den weichen Grund, ihre Augen funkelten.
»Ich dachte, Sie sind beim Feuer!«, fuhr sie ihn an. Sie merkte, wie ihr das Blut in den Kopf schoss, spürte das Glühen in ihren Wangen.
»Falsch gedacht. Ich wollte noch mehr Holz sammeln.«
»Wie lange sind Sie schon hier am Teich?«
Aufreizend lässig, wie er dastand, die Schulter an einen Baumstamm gelehnt, ein Lächeln auf den Lippen. »Keine Sorge, nicht allzu lange.«
Ruckartig drehte Bernina sich herum, sodass sie nur Hinterkopf und Schulterblätter präsentierte.
»Mir wird kalt«, zischte sie wütend angesichts dieser Unverschämtheit.
»Das glaube ich gern«, meinte er mit heiterer Stimme.
»Dann machen Sie schon, dass Sie verschwinden!«
»Warum haben Sie sich umgedreht? Also, falls Sie jemanden suchen, der Ihnen den Rücken schrubbt – Nils Norby stets zu Diensten.«
»Hauen Sie ab!«
Er lachte laut, fast wie ein übermütiger Junge.
Ein Moment verstrich, noch einer. Im Wald knackte es.
»Wissen Sie was«, sagte Bernina auf einmal ganz ruhig und überraschte sich selbst damit. »Wenn Ihnen so viel daran liegt – mir soll’s egal sein.« Sie wandte sich erneut um und begann, aus dem Teich zu gehen, zielstrebig, aufrecht, den Blick geradeaus. Für einen Wimpernschlag perlte das Wasser auf ihrer Haut wie unendlich viele winzige Kristalle. Als sie aus den Augenwinkeln zu der Stelle sah, an der Norby eben noch gestanden hatte, war er nicht mehr da.
*
Wolken schwebten wie zerrissene dunkelgraue Schleier unter diesem endlosen Nachthimmel. Nur hier und da, nur ganz kurz das Funkeln vereinzelter Sterne. Ein Wind ließ den Wald leise rauschen. Das Feuer war beinahe erloschen, und die Luft rund um die Lagerstelle trug den Geruch von Asche in sich.
Bernina wurde hin und her geschüttelt von Schlaf und Wachsein. Sie betrachtete den Mann, der nur ein paar Schritte von ihr entfernt auf der Seite lag, und hörte sein gleichmäßiges Atmen. Dann wieder war ihr, als befände sie sich zu Hause, als würde sie sich behaglich in ihrem Bett ausstrecken. Ihre Hand suchte die vertraute Berührung mit Anselmo, doch sie stieß nur in eine kalte Leere.
Auf einmal schien Leben in die Bäume zu kommen. Es war, als würden sie sich sanft und rhythmisch von einer Seite zur anderen wiegen. Überall lösten sich Schatten aus der Nacht, und einer dieser Schatten bewegte sich auf das nur noch schwach glimmende Feuer zu, daran vorbei, dann genau auf Bernina zu, die sofort den Drang verspürte, Nils Norby mit einem Ruf zu wecken. Doch ihre Kehle war zu keinem Laut fähig.
Der Schatten, schwarz und zugleich durchsichtig, kam immer näher. Jetzt sah Bernina die ausgestreckten Arme, einen kleinen runden Kopf, aber das Gesicht war von Tüchern verborgen. Eine Stimme erklang, eine Stimme, die etwas unmenschlich Krächzendes hatte und die Bernina dennoch vertraut vorkam: »Meide die Menschen, meide die Städte.«
Bernina starrte stumm auf den Schatten.
»Meide die Menschen, meide die Städte.«
Plötzlich spürte sie eine Berührung, die ihr fremd war, die sie aufschrecken ließ. Der Schatten war verschwunden, und eine andere Stimme erfüllte mit hartem Akzent die Nacht.
»Alles in Ordnung, nur ein Traum«, flüsterte Nils Norby und strich ihr übers Haar. »Nichts weiter. Nur ein Traum.« Überraschend sanft diese breite Hand des Mannes, fast nicht fühlbar.
Bernina vergrub sich tiefer in der Decke, die er ihr gegeben hatte, zog den Stoff übers Gesicht. Von Neuem kam der Schlaf über sie, diesmal mit aller Macht, und bis die ersten Sonnenstrahlen die kleine versteckte Lichtung erreichten, wachte sie nicht mehr auf, wurde sie von keinem sonderbaren Wesen mehr erschreckt.
Als sie sich aus der Decke wühlte, stellte sie fest, dass Norby bereits das Feuer wieder entfacht hatte und Wasser in einem bauchigen Kessel erhitzte. Außerdem hatte er etwas zu essen für sie bereit gelegt. Sie erhob sich und entdeckte ihn bei den Pferden, die nahe der Feuerstelle an einem Baum festgebunden waren. Vor sich hin meckernd, kniete Norby bei seinem Lasttier. Immer wieder fuhr er mit der Hand über das Vorderbein des Pferdes.
»Schimpfen Sie mit der Stute oder mit sich selbst?« Bernina stellte sich neben ihn.
»Einen wunderschönen guten Morgen.« Im Knien sah er kurz zu ihr auf. »Ich fürchte, das Pferdchen lahmt ein wenig. Es ist mir gestern schon aufgefallen.«
»Und jetzt?«
»Ich kann die Last anders verteilen, auch etwas davon zu mir aufs Reitpferd nehmen. Aber aufhalten wird uns die Sache trotzdem.« Er erhob sich zu seiner vollen Größe und murmelte ein paar Worte in einer Sprache, die Bernina nicht kannte. »Klingt nach ein paar saftigen Flüchen«, meinte sie.
»Da haben Sie recht.«
»Woher stammen Sie? Gewiss aus dem Norden. Sind Sie Schwede?«
»Richtig geraten.« Norby legte kurz den Zeigefinger auf die Lippen. »Aber sagen Sie’s niemandem weiter.« Ein spitzbübisches, gespielt verschwörerisches Lächeln.
Sie schmunzelte. »Und warum soll es ein Geheimnis bleiben?« Während er nach und nach alle drei Pferde aus einem Hafersack fütterte, erklärte er wieder ernsthaft: »Hier im Reich werden Schweden nur als Mordbrenner, Plünderer und Verbrecher angesehen. Schweden sind verhasst, so gut wie überall.«
»Wundert Sie das?«, fragte Bernina offen. »Die Schweden sind der Feind des Kaisers.«
»Sicher, das sind sie«, gab er zu. »Aber sie waren immer Verbündete der Protestanten, von denen es in diesem Land ja auch welche gibt. Und diese Leute waren einmal froh, als unser König hierher kam, um für Ziele zu kämpfen, die auch die ihren waren.«
»Ihr König ist schon seit vielen Jahren tot.«
»In der Schlacht von Lützen ist er gefallen.« Norby nickte, auf einmal offenbar ganz weit weg, in einer anderen Zeit, an einem anderen Ort. »Aber etwas von ihm ist dennoch geblieben. Zumindest am Anfang.«
»Und was war das?«
Er grinste, diesmal ohne Heiterkeit. »Er stand für Ehrlichkeit, für Stärke, für das Recht auf Glaubensfreiheit.«
»Für mich stand er vor allem für Krieg«, entgegnete Bernina trocken.
»Sicher. Auch dafür.« Bewunderung schlich sich in seinen Ton. »Er war ein Krieger. Und zwar ein großer Krieger.«
»Sie reden, als hätten Sie ihn gekannt.«
»Ja, das habe ich. Ich war dabei, als er auf dem Schlachtfeld starb.«
Nebeneinander gingen sie von den Pferden zurück an die Feuerstelle, wo sie sich auf einer Decke niederließen, um ein paar Bissen hart gewordenes Brot und getrocknete Früchte zu sich zu nehmen.
»Dann sind Sie also als Soldat in unser Land gekommen«, hakte Bernina nach.
»Als junger Offizier. Mit unbändiger Lust auf Abenteuer. Ich brannte darauf, mich in die Schlachten zu stürzen.«
»Was fanden Sie, als Sie hier waren?«
»Das, was ich gesucht hatte. Den Krieg.« Wiederum dieses eher traurige Lächeln. »Auch noch etwas anderes.«
»Und zwar?«
»Die ersten Jahre waren aufregend, das gebe ich zu. Ich spürte zum ersten Mal, dass ich etwas zu leisten imstande war. Dass ich wirklich am Leben war. Doch mit dem Tod des Königs veränderte sich alles. Das, was mich zuvor mit Leidenschaft erfüllt hatte, sah ich plötzlich auf eine andere Weise. Ich spielte das Spiel nicht mehr mit, ich hörte damit auf.« Er sah Bernina gedankenvoll an. »Und in der Zeit, die dann kam, na ja, weißt du, da ließ ich es einfach zu, dass mich der Wind herumwehte. Von hier nach da, in diese oder jene Richtung.«
Ihr entging nicht, dass er zum ersten Mal zu dem vertrauten Du übergegangen war. Ihm dagegen schien das gar nicht aufzufallen. »Aber genug geschwatzt.« Norby schlug mit der flachen Hand auf die Erde. »Sehen wir lieber zu, dass wir weiter kommen.«
Kurze Zeit später brachen sie auf. Hinein in den Wald, noch fast den ganzen Vormittag, dann aber hinaus ins Freie der Ebenen, auf denen sich Felder bis zum Horizont hinzogen. Ein weiterer jener grauen Tage, zwar kein Regen, aber auch kaum ein Sonnenstrahl. Sie folgten den schmalen, schlammigen Wegen, die die Felder durchzogen. Das Packpferd lahmte tatsächlich ein wenig, und sie achteten darauf, dass sie es nicht überanstrengten. Die Gefahr durch die Männer mit den roten Umhängen schien gebannt zu sein.
Im Gegensatz zum frühen Morgen redeten sie wenig miteinander. Bernina hatte den Eindruck, dass bei ihrer Unterhaltung viele Erinnerungen in Nils Norby geweckt worden waren, denen er weiterhin nachhing.
Es war noch nicht Mittag, als sie die Straße erreichten, die nach Ippenheim und von dort nach Offenburg führte. Sie war eine der wichtigsten Verbindungen der gesamten Gegend. Auf ihr gab es mehrere westliche Abzweigungen nach Frankreich, von wo sich feindliche Armeen heranschoben. Dass sie der Stadt bereits nahe gekommen waren, merkten sie schnell. Im Schutz der Wälder war es noch gewesen, als wären sie die beiden einzigen menschlichen Wesen weit und breit – jetzt füllte sich die Landschaft mit immer mehr Leuten.
Alle zog es in Richtung Ippenheim, alle sehnten sich nach einem Ort, an dem es einfacher war, diese Tage mit heiler Haut zu überstehen. Durchreisende, Händler und Schutzsuchende, die von abgelegenen Höfen oder kleinen Siedlungen kamen.
»Der Krieg ist wieder da.« Mit Grimmigkeit stieß Nils Norby die Worte aus und drehte sich im Sattel zu Bernina um. »Er scheucht die Menschen auf wie du die Krähen auf diesem Feld. Er treibt sie vor sich her wie ein Jäger. Als würde er sie verspotten. Sieh sie dir nur an, Bernina. Wie Ameisen sind sie. Und alle strömen sie in die Stadt. Ich war noch nie dort, aber ich nehme an, Ippenheim wird aus allen Nähten platzen.«
Sie reihten sich ein, und Berninas Blick wanderte über die Menschen, die mal schneller, mal langsamer dem Verlauf der Straße folgten und gelegentlich eine Rast einlegten. Da waren Bauern, den Rücken gebeugt von Säcken, die prallvoll mit Rüben waren. Tote Hennen schaukelten an Lederbändern von Hüften. Fuhrwerke drängten sich Rad an Rad, die Achsen quietschten unter den Ladungen, die aus Getreide, Holz oder einmal auch italienischem Wein bestanden. Ein Händler transportierte in seinem Planwagen Glaswaren und Gemälde.
Einige Landsknechte mit Hellebarden, Piken und Musketen mischten sich in die Menge, ihre bunten geflickten Pluderhosen stachen aus den grauen und braunen Gewändern heraus, in denen Handwerksgesellen und Bauern unterwegs waren. Doch rote Umhänge und misstrauische schwarze Augen waren für Bernina glücklicherweise nirgendwo auszumachen.
Ein Postreiter galoppierte auf einem Apfelschimmel vorbei und spritzte Dreck auf. Einige Bettelmönche, ein paar Bettlerinnen in zerfetzten Stoffen, eine Gruppe von Tagelöhnern mit ungewissem Gesichtsausdruck. Hunde, die kläffend zwischen den Beinen umherrannten.
Dann am Horizont die Silhouette der Dächer und Türme jener Stadt, in der Bernina zuletzt vor Jahren gewesen war, damals noch mit Anselmo und der bunten Gauklertruppe. Auch in jenen Tagen hatte der Krieg sein schlimmstes Gesicht gezeigt. Dass sie Ippenheim unter solch schweren, merkwürdigen Umständen wiedersehen würde, hätte sie wohl kaum für möglich gehalten.
Größer wirkte die Stadt, mächtiger, inzwischen von einer Mauer geschützt, um die sich ein Wassergraben zog. Am Tor sah man bereits Wachsoldaten, die zu den kaiserlichen Truppen gehörten und alle Ankommenden kontrollierten. Pferdehufe dröhnten auf der Brücke über dem Graben. Spatzen pickten im Unrat, den man am Wegesrand losgeworden war. Die Soldaten gähnten und versuchten schon von Weitem verdächtiges Gesindel auszumachen, dem der Zugang zur Stadt verweigert werden sollte. Trotz des Schutzes, den die Gebäude versprachen, fühlte Bernina sich auf einmal unwohl. Sie wusste nicht, weshalb. Worte erklangen in ihrem Kopf: Meide die Menschen, meide die Städte.
Unwillkürlich blickte sie sich um, aber nichts Auffälliges war zu entdecken.
Von jetzt an ging es noch wesentlich langsamer voran. Die Kontrollen zogen sich dahin, schluckten die Zeit. Es war noch recht weit bis zur Brücke, mit Sicherheit mehrere Hundert Meter. Der starre leblose Himmel ließ ein paar verlorene Tropfen auf die Wartenden herabregnen.
Bernina war noch immer beschäftigt damit, den Anblick all der Menschen in sich aufzunehmen, dass sie erst gar nicht bemerkte, wie Nils Norby sich im Sattel aufrichtete. Er kniff die Augen zusammen, und plötzlich hielt er die Armbrust in der Hand.
»Was ist los?«
Genau in dem Moment, als Bernina fragte, wusste sie die Antwort.
Vier Reiter, die an der langen Menschenschlange vorüberpreschten. Ihre roten Umhänge bauschten hinter ihnen auf. Die Läufe von schussbereiten Musketen wiesen nach vorn. Sie hatten sie gesehen.
»Deine Freunde«, meinte Norby, seine Stimme aufreizend ruhig.
»Was nun?«, Bernina blickte zum Stadttor.
»Du musst wirklich verdammt wichtig für diese Kerle sein. Sonst würden sie dich nicht bis hierher verfolgen. Wichtig für sie – oder für Blum.«
»Sag mir lieber, wohin wir jetzt sollen. Zur Stadt?«
»Nein, weg von der Stadt.« Norby löste schon das Seil des Lasttiers.
»Warum?«
»Ich würde mich nicht auf die Soldaten vor der Stadt verlassen.«
Die vier Männer ritten noch schneller. Genau auf sie zu. Die Menschen, die sich vor den Hufen ihrer Pferde in Sicherheit brachten, beachteten sie nicht.
»Vergiss nicht«, rief Norby, »du bist aus einem Gefängnis geflüchtet! Und das sieht man deinem zerfetzten Kleid an. Für die Soldaten in Ippenheim wirst du bloß eine Verbrecherin auf der Flucht sein.«
Er galoppierte los und ließ dabei das lahmende Pferd zurück.
Bernina schlug die Hacken in die Seiten des Hengstes, der so rasch reagierte wie in Teichdorf. Sie hatte den Schweden beinahe eingeholt, als der erste Schuss fiel. Die Kugel traf mit einem Zischen in das Gepäck, das Norby hinter seinem Sattel verschnürt hatte.
Unbeeindruckt ritt er weiter, geradewegs über ein Feld hinweg, Bernina neben ihm, die sich ganz tief über die Mähne des Hengstes duckte.
Kein weiterer Schuss. Die Männer versuchten näher heranzukommen. Die Hufe ihrer Pferde waren deutlich zu hören. Je weiter Ippenheim hinter ihnen lag, desto zerklüfteter wurde das Gelände. Keine Äcker und Felder mehr, die Erde hob sich, senkte sich, schon die ersten Bäume, die Fransen eines Waldstücks.
Nils Norby riss sein Pferd herum, legte mit der Armbrust an, der Pfeil surrte, und aus den Augenwinkeln verfolgte Bernina, wie einer der Verfolger aus dem Sattel gerissen wurde. Und weiter hinein in den Wald.
»Diesmal kriegen sie uns!«, rief Bernina, ihre Stimme schriller, als sie sie je gehört hatte.
Das Krachen des nächsten Schusses. Bernina sah Blut aufspritzen, Norbys Pferd überschlug sich, und er wurde in weitem Bogen aus dem Sattel geschleudert. Sie zügelte den Hengst.
»Reite weiter!«, brüllte Norby, vor dem bereits einer der drei übriggebliebenen Männer auftauchte. Der Schwede griff nach dem Degen, aber noch bevor die Klinge vollends die Scheide verlassen hatte, traf ihn die Kugel.
Voller Entsetzen verfolgte Bernina von ihrem aufbäumenden Pferd, wie Nils Norby erstarrte. Dann knickte er ein, sank auf die Knie. Der Reiter hatte die Muskete weggeworfen und seinerseits einen Degen gezogen.
Das Letzte, was Bernina von Norby sah, war etwas Grauenhaftes: die Klinge, die seine Brust erfasste und diesen großen Mann unter einer Fontäne seines Blutes zusammensacken ließ.
Im gleichen Moment wurde sie von ihrem Pferd davongetragen, alle drei Verfolger schon wieder hinter ihr, noch näher. Die nächste Kugel. Ihr Kleid wurde getroffen, nicht jedoch ihr Körper. Sie galoppierte auf den immer dichter werdenden Wald zu, der sich wie eine Mauer vor ihr sperrte.
Du wirst sterben!, pochte es irgendwo in ihrem Kopf. Der letzte Schuss hatte an der Absicht der Reiter endgültig keinen Zweifel gelassen. Kein Ausweg, keine Chance, die Reiter holten noch ein wenig auf. Mit knappen Zurufen in ihrer Sprache verständigten sie sich. Einer lachte auf. Selbstsicher, gelassen. Auch er war sicher, dass es gleich vorüber sein würde.
Dort – eine Lücke im Dunkel der Bäume.
Bernina preschte darauf zu, rechts und links der Wald, und auf einmal klaffte die Erde vor ihr auf. Sie sah den felsigen Rand des Abgrundes. Im nächsten Augenblick befand sie sich in der Luft. Es blieb nicht einmal die Zeit, ihren Schock, ihre Todesangst hinauszuschreien. Der Sattel löste sich unter ihr, der Hengst war plötzlich einfach nicht mehr da.
Nichts war mehr da, nichts außer dieser finsteren lautlosen Leere, in die sie kopfüber stürzte.