Kapitel 3
Eine kleine Welt aus Gold und Silber

 

Das Krächzen von Krähen, ganz nahe. Als würden sie genau über ihrem Kopf fliegen. Die Schreie der Vögel, manchmal wie menschliche Stimmen. Da war die Krähenfrau, die lachte, da war der einschmeichelnde Akzent Anselmos, dessen Worte plötzlich seltsam klangen, sich veränderten, bis sie zu den harten Lauten des Wolfsjägers wurden.

Und darüber lag ein Pochen, sanft und monoton, ohne Unterlass.

Inmitten dieses Durcheinanders aus Geräuschen, die nah und fern zugleich waren, leuchteten gelegentlich Augen auf, fremde Augen, giftige Augen, klein wie Nadelköpfe. Die diffuse Dunkelheit wurde durchlässiger, flackerte. Nach und nach schien sie sich vollständig aufzulösen, nur um dann wieder alles zu beherrschen.

Und weiterhin dieses Pochen, das niemals leiser oder lauter wurde.

Erneut die Dunkelheit, erneut die funkelnden Augen, dann erwuchs ein Himmel wie aus dem Nichts, ein sonderbarer Himmel, der nicht mehr grau und wolkig war, allerdings auch nicht blau. In einem schmutzigen Weiß stülpte er sich tief über die Welt, sodass man ihn fast mit den Fingerspitzen berühren konnte.

Das heisere Krächzen der Vögel verstummte ganz allmählich, die menschlichen Stimmen lösten sich auf. Es gab nichts mehr, nichts außer einem Schaukeln, einem gemächlichen, fortwährenden Schaukeln.

Wann Bernina wieder klarer wurde, wann sie wieder Gerüche wahrnahm, das hätte sie nicht sagen können. Aber auf einmal roch sie Leder und Holz, auf einmal sah sie, dass das schmutzige Weiß nicht der Himmel, sondern die untere Seite einer Wagenplane war. Und das Geräusch kam vom Regen, der sie von Teichdorf verfolgt zu haben schien wie die Reiter mit den roten Umhängen.

Sie erschrak, als blitzschnell diese beiden giftigen Augen vor ihrem Gesicht erschienen, und ein Stöhnen kratzte in ihrer Kehle.

Boshaft wurde sie angestarrt. Jedenfalls kam es ihr so vor.

Dann erneut der Schlaf. Doch nicht lange. Bernina hörte ein Stöhnen – ihr eigenes. Ihre Lider flatterten. Ihr Kopf brummte. Ihre Arme schmerzten, ebenso ihre Beine. Kratzer und tiefe Schnitte, wie von Klingen – überall auf ihren Unterarmen. Aber keine der Wunden wirkte entzündet. Offensichtlich waren sie gereinigt worden.

Sie lag unter einer Decke, die recht sauber zu sein schien. Mitten in einem Wagen, zwischen vielen Kisten und Körben und anderen Behältern.

Die Augen musterten sie mit prüfendem Blick. Immer noch. Oder schon wieder. Sie waren tief vergraben in einem schmalen, faltigen Gesicht. Am spitzen Kinn wehte ein faseriger weißer Bart.

»Hi, hi, hi.« Weniger ein Lachen oder Gekicher, eher das Meckern einer Ziege.

»Wo bin ich?«, entfuhr es Bernina.

Eine schmale Hand mit fast durchscheinender Haut hielt ihr eine Holzschale hin, und sie trank sofort, beinahe gedankenlos. Brühe. Kalt, aber schmackhaft.

Der Mann war klein und schlank, geradezu zierlich. Weiß das Haar, das ihm in dünnen Strähnen über die Ohren fiel und von einem kleinen, nass gewordenen Barett bedeckt wurde.

»Hi, hi, hi.«

»Wer sind Sie?«

»Die Frage ist eher: Wer sind Sie?« Er schüttelte den Kopf. »Konnte Sie aber schlecht liegen lassen, oder? Einfach so, oder?«

»Was ist passiert?«

»Ich fand erst Ihr Pferd mit gebrochenen Knochen. Und musste ihm leider den Gnadenschuss geben. Dann entdeckte ich Sie. Ich dachte schon, ich müsste mit Ihnen das Gleiche machen.« Erneut sein Ziegengemecker. »Aber die Bäume haben Ihren Sturz ganz gut abgefangen. Sie sind eben leichter als das Pferdchen. Kein einziger Knochen gebrochen. Glück gehabt! Nur Abschürfungen an den Armen, an den Beinen. Und einen Brummschädel. Und bestimmt tut Ihnen alles weh. Dürften aber bloß Prellungen sein.«

Die Reiter, durchfuhr es Bernina, die erst jetzt wieder die flirrenden Bilder ihres Sturzes vor Augen hatte. »War noch jemand bei mir?«

»Nein, nein«, lachte er auf. »Nur ein Frauenzimmer kann so blind sein und diesen Abhang übersehen. Schade um das Pferdchen.«

»Dann sind wir jetzt auf dem Weg nach Ippenheim? Wie lange war ich bewusstlos?«

Er lachte noch lauter und drehte sich ohne eine Antwort um. Gebückt lief er nach vorn und schlüpfte durch die Plane nach draußen auf den Bock. Ein Peitschenschlag, und das Geschaukel begann von Neuem. Bernina schlief ein und erwachte bei der nächsten Rast. Abermals erhielt sie Brühe, jetzt mit darin aufgeweichtem Brot.

»Sagen Sie mir doch bitte, wie lange ich geschlafen habe?«, fragte sie erneut. »Wann werden wir Ippenheim erreichen? Wann wird es Abend sein?« Sie dachte an die Reiter, dachte an Norbys furchtbaren Tod – auch daran, dass in der Stadt weitere Gefahren warten mochten. Aber im Moment schien es kein anderes Ziel zu geben. Vielleicht würde sich dort etwas ergeben, aus dem sie neue Hoffnung schöpfen konnte.

Der Mann nahm ihr die Schale ab. »Kindchen, Sie waren zwei Tage ohnmächtig. Und wir sind schon weit weg von der Stelle, wo ich auf Sie stieß.«

Erst brachte sie kein Wort hervor. »Zwei Tage?«, wiederholte sie dann stumpf. »Aber … warum haben Sie mich nicht nach Ippenheim gebracht? Wir waren doch ganz in der Nähe und …«

»Ippenheim, Ippenheim«, unterbrach er sie bissig. »Ich kam ja von dort und wollte ganz bestimmt nicht wieder hin. Da war die Hölle los. Überall Diebesgesindel. Ich war froh, dass man mir nicht den Wagen unter meinem alten Hinterteil weggeklaut hat. Zurück nach Ippenheim! Nur wegen einem ungeschickten Vögelchen wie Ihnen!«

»Entschuldigung.« Etwas kleinlaut klang ihre Stimme. »Ich hätte mich lieber bei Ihnen bedanken sollen, anstatt mich zu beschweren.«

Er winkte ab. »Was soll’s. So sind sie, die Frauenzimmer.«

»Ich wünschte, ich könnte das gutmachen.«

»Keine Sorge.« Zum ersten Mal zeigte sich so etwas wie ein Lächeln auf seinem Gesicht. »Dieser Wunsch wird in Erfüllung gehen.«

Verwundert sah sie ihn an.

»Ich weiß auch schon, wie Sie das wieder gutmachen können, Kindchen.«

Unwillkürlich erschauerte sie.

»Hi, hi, hi. Aber jetzt geht’s weiter. Ich will vor Einbruch der Dunkelheit in Braquewehr sein. Sonst verspeisen uns die Wölfe noch zum Abendessen.«

»Braquewehr? Aber das liegt doch im Elsass.« Bernina biss sich auf die Unterlippe. »So weit? Dann sind wir ja in Frankreich.«

»Richtig, Kindchen. Die Elsässer halten’s mit den Franzosen. Aber eigentlich halten sie’s vor allem mit sich selbst. Sie wollen am liebsten ihre Ruhe und beten dafür, dass die Armeen sich nicht gerade in ihrer Nähe die Köpfe einschlagen.«

»Was haben Sie gemeint, als Sie sagten, Sie wüssten schon, wie ich …«

»Im Leben ist nichts umsonst«, fiel er ihr wieder ins Wort. »Eine Hand wäscht die andere.« In seinem Grinsen steckte abermals etwas Boshaftes. »Außerdem dachte ich, Sie hätten gewiss nichts dagegen, für eine Weile unterzutauchen.«

Plötzlich zog er die Decke zurück, und Bernina zuckte vor Schreck zusammen. Ein spitzer Finger wies auf ihr Kleid – auf das Einschussloch mit den angesengten Rändern.

»War das etwa eine Kugel, die fast Ihre hübsche Haut erwischt hätte? Hi, hi, hi.« Er griff nach ihrer Hand und hob sie an. »Und was sind das für Abschürfungen am Gelenk? Stammen die von einem Eisenring?«

Bernina entzog ihm die Hand.

»Hören Sie zu, Kindchen«, fuhr er fort, »wenn Sie irgendetwas angestellt haben, soll es mir egal sein. Aber ich könnte Hilfe gebrauchen. Wenigstens für eine Weile. Die Armee hat mir meine Gesellen genommen, und meine Magd ist auf und davon. Und in Braquewehr …« Er stockte. »Und in Braquewehr gibt es sowieso zu viele Dummköpfe, die zu nichts zu gebrauchen sind. Also? Was denken Sie, Kindchen?«

Zögernd nickte sie. Auch wenn sie den Drang verspürte, so rasch wie nur möglich diesen Planwagen zu verlassen, sagte sie: »Wie Sie meinen: Eine Hand wäscht die andere.«

Er stieß sein meckerndes Lachen aus. »Da hatte ich also recht: Ihnen kommt es ganz gelegen, für eine Weile aus Ihrer Gegend zu verschwinden?«

»Sie haben mir immer noch nicht gesagt, wie Sie heißen.«

»Ich bin Meister Anton Schwarzmaul. Ein Mann aus dem Kaiserreich, den es bis ins Elsass verschlagen hat.«

»Mein Name ist Bernina.«

»Und Ihr Familienname?«

»Belassen wir es bei Bernina.«

»Hi, hi, hi. Abgemacht, Kindchen.«

Nicht viel später stand Bernina zum ersten Mal auf. Sie legte die Decke über Kopf und Schultern und schob sich zu dem Mann auf den Kutschbock. Er rückte wortlos zur Seite und trieb den Esel, der den Wagen zog, mit einem Schnalzen der Zunge an.

»Es wird bald dunkel«, sagte Bernina.

»Ja, aber unser Weg ist nicht mehr allzu weit.«

Sie durchquerten bergiges, waldreiches Land mit abgeschiedenen Tälern, nicht unähnlich jener Gegend, in der Bernina aufgewachsen war. Schließlich wurde der schnell dämmernde Abendhimmel in der Ferne von Dächern gekratzt. Als würde es sich vor den Wirren und Gefahren der Zeit verstecken, presste sich Braquewehr in die enge Lücke zwischen zwei bewaldeten Hügeln, deren Gipfel felsig aus den Baumwipfeln hervorstachen. Einige Rebhänge und noch mehr jener dunklen Wälder, die Bernina aus der Umgebung des Petersthal-Hofes nur zu gut kannte. Es war ein Städtchen, das sich regelrecht zusammenrollte, sich duckte, geschützt von einem zinnenbekrönten Mauerring.

Die Hufe des Esels erreichten eine Straße. Anton Schwarzmaul sagte kein Wort. Mit seinem üblichen garstigen Gesichtsausdruck hockte er da und hielt die Zügel fest. Wieder fiel Bernina auf, wie schmal seine Hände waren. In welchem Metier ist er wohl ein Meister?, fragte sie sich.

Während irgendwo hinter dem Wagen ein letzter Rest Tageslicht waberte, stieg der Mond bereits über gotische Türme und Spitzbögen. Die glasierten Dachziegel der Kirche glänzten silbern – ein scheinbar alles beherrschender Bau aus gelbem und rotem Sandstein, viel prächtiger als die Fachwerkgebäude, von denen sich die meisten schief und niedrig aneinanderdrückten und nur für enge Gassen Raum ließen.

Kopfsteinpflaster, funkelnd vom Regen, führte in den Ort und mündete in die offenbar einzige Straße, die etwas breiter war. Einige Handwerker hatten ihre Läden noch geöffnet. Aus den halb unterirdischen Arbeitsräumen der Weber erklang das Klappern der Webstühle. Manche der Arbeiter trällerten dazu Psalmenmelodien.

Hinter dem einen oder anderen Fenster schimmerte warmes Licht. Ein Geruch von Kohlsuppe lag in der Luft, mischte sich mit dem Aroma von brennendem Holz und Asche. Das Rad einer Mühle, das eben noch geklopft hatte, kam zur Ruhe – der Müller hatte Feierabend. Die Gassen waren leer, abgesehen von ein paar alten Frauen, die anscheinend der Abendmesse zustrebten.

Vor einem dunklen zweigeschossigen Haus mit kleinem Vorhof hielt Schwarzmaul den Wagen an. Der Bau war von schmalen Gärten umgeben. Ein Dreiecksgiebel bekrönte den Eingang. Ähnliche Häuser mit Ziergärten bildeten die Nachbarschaft. Schwarzmaul war wohl kein adliger, aber ganz gewiss kein armer Mann. Auch wirkte er durchaus gebildet. Allein schon seine Hände bewiesen, dass er noch nie auf einem Feld gearbeitet hatte.

Trotz seiner Bildung jedoch schien er ebenso abergläubisch zu sein wie die meisten einfachen Leute. Berninas Blick fiel auf Kränze aus Johanniskraut und Majoran, die an der Haustür hingen. Man sah so etwas nicht selten: Schutz gegen Hexerei und böse Zauberkräfte.

»Der Teufel mag das nicht, er fürchtet sich sogar davor«, zischte Anton Schwarzmaul, als er bemerkte, wo sie hinsah.

Sie stiegen ab.

»Pierre!«, brüllte Schwarzmaul. »Wo steckst du denn schon wieder, du verfluchter Faulpelz?«

Er trat zur Tür, riss sie mit einem kräftigen Ruck auf und drehte sich zu Bernina um. Seine Nadelkopfaugen musterten sie argwöhnisch. Als rechnete er damit, sie könne jeden Moment loslaufen und das Weite suchen.

Bernina raffte die Decke vor ihrer Brust. Sie fröstelte.

»Na los, Kindchen, worauf warten Sie?«

Die Tür quietschte in den Angeln, schwarz klaffte das Viereck des Rahmens vor Bernina.

 

*

 

Aus einem bleiernen Himmel fiel unablässig Regen, der sich in weiten Schleiern zu Boden senkte. Bäche wurden zu Flüssen, Flüsse schwollen zu Strömen, die Menschen und Vieh mit sich rissen. Die Flut ertränkte die dürren Ähren, setzte Rübenfelder unter Wasser, verwandelte Weiden in übel riechende Sümpfe. Die Pfützen waren so tief, dass ihr Wasser ins Innere von Kutschen quoll. Hagel fegte in Kaskaden über das Land, erschlug Hühner und Gänse, zerstörte Getreide. Wolken grau und eitergelb. »Sie sind geladen mit Hexengift«, sagten die Leute von Braquewehr. »Sie bringen Unheil und Verderben.«

Das anhaltend schlechte Wetter konnte nur ein böses Zeichen sein, ein Vorbote des Weltuntergangs, ebenso wie die Wölfe, die sich hier vermehrt hatten wie anderswo. Die Stürme wurden als himmlisches Abbild der Schandtaten verstanden, die sich schon so lange auf Erden abspielten: seit jenem über 20 Jahre zurückliegenden Tag, als der große Schlachtenirrsinn begonnen hatte. Aus Gründen, die niemanden mehr interessierten.

Immer mehr Bettler strömten aus allen Richtungen heran und brachten schlimme Nachrichten mit: Die herumziehenden, Blut verströmenden Truppen der Franzosen waren auf die Armee des Kaisers getroffen. In Baden war es zu ersten großen Gefechten gekommen, die an die Schlachten drei Jahre zuvor erinnerten. General D’Orville, der französische Oberbefehlshaber, der von Arnim von der Tauber unterstützt wurde, sammelte in der Nähe von Freiburg alle Kräfte, um bald seinen stärksten Gegner zu stellen: General Benedikt von Korth, der auf kaiserlicher Seite zu den erfahrensten Feldherren dieses endlosen Krieges zählte.

Noch mehr reisendes Volk tauchte auf, erschöpft, auf der Flucht, auf der Suche nach einem Neuanfang, noch mehr Bettler quetschten sich in die Gassen. Und noch mehr besorgniserregende Gerüchte: In der Nähe von Braquewehr waren Soldaten gesehen worden. Schwer bewaffnete Männer, die man weder der einen noch der anderen Seite zuzuordnen vermochte.

Nach einem langen harten Winter litt die ganze Gegend nicht nur an der Angst, sondern jetzt auch an diesem schlimmen Sommer. Im Gegensatz zu Teichdorf hatte es kaum einmal sonnige Tage gegeben. Feldfrüchte verkümmerten, Getreidevorräte konnten nicht angelegt werden. Kaum war das Korn gewachsen, hatten es Hungernde von den Halmen gerissen, um es zu einem zähen Brei zu verkochen. Viele konnten sich kein Brot mehr leisten. Statt auf Weizen griffen die Bäcker auf Roggen zurück, dann auf Hafer und sogar auf Mutterkorn. Zu wenig zu essen, zu viele Menschen. In großen Städten erst recht, aber ebenso an einem abgelegenen Fleckchen Erde wie Braquewehr. Das Einzige, was in diesem Sommer zu blühen schien, waren Krankheiten. Masern, Cholera, Typhus. Und natürlich Furcht und Aberglaube.

Auch in dem zweigeschossigen Haus im Ortskern wurden noch mehr von den Kränzen aus Johanniskraut und Majoran angebracht. In jeder Ecke des Gebäudes waren sie zu sehen und zu riechen.

An den Schlupfwinkel, in den sie durch Zufall und Not geweht worden war, hatte sich Bernina noch nicht gewöhnt. Doch nun, nach einigen Tagen, wurden ihre Schritte sicherer. Sie erholte sich von den Strapazen und Ereignissen der Vergangenheit, zumindest körperlich, auch ihr Selbstbewusstsein schien zurückzukehren. Jedem neuen grauen Morgen sah sie gefasster entgegen. Nur wie es wirklich weitergehen sollte, was sie mit ihrem aus den Fugen geratenen Leben anfangen sollte – darüber konnte und wollte sie noch nicht nachdenken.

Schon bevor die Sonne über die Felsengipfel hinwegkroch, war Bernina auf den Beinen. Auch ehe Meister Schwarzmaul sich mit verdrießlicher Miene sehen ließ. Sie begann, in der Küche die Morgensuppe zuzubereiten. In der Tat, Schwarzmaul erwies sich nicht als armer Mann. Immer fand sich etwas in der Vorratskammer, sodass es auch für ein Mittagsmahl reichte. Kraut, Brei und Rüben, sogar Fleisch, ab und zu eine Forelle, sehr oft Waldbeeren. Und Suppen, immer wieder. Kohlsuppe, Reissuppe, Quittensuppe, Apfelsuppe, Biersuppe. Die meisten anderen Leute hatten wesentlich weniger, viele überhaupt nichts. Unter Schwarzmauls Dach wurde selbst abends gegessen, schweres Roggenbrot, zumeist mit Fenchel belegt. Und der Meister trank dazu immer ein großes Becherglas badischen Wein.

Zu dritt saßen sie am aufgebockten Tisch, Schwarzmaul auf dem einzigen Stuhl, Bernina und Pierre auf einer Sitzbank, die an der Wand befestigt war. Mitten auf der Tischplatte eine große Schüssel, aus der sich alle bedienten.

Pierre war ein Geselle, aber irgendwie auch Mädchen für alles. Er musste Besorgungen machen, Nahrung einkaufen und sogar die Waldfrüchte sammeln gehen, die trotz der zu kühlen Witterung üppig wuchsen. Er war ein Junge von etwa 15 Jahren mit hellem Haar, das ihm in die Augen hing. Ein Junge, der nicht sprach. Zuerst dachte Bernina, er bringe den Mund aus allzu großem Respekt vor seinem Meister nicht auf, dann erkannte sie, dass Pierre stumm war. Eingeschüchtert hatte ihn Schwarzmaul aber trotzdem, das war offensichtlich.

Bernina trug ein Kleid, das sie von Schwarzmaul erhalten hatte, ohne zu erfahren, woher es stammte. Doch es passte gut, und ihr blieb ohnehin keine Wahl: Ihr eigenes Gewand bestand schließlich nur noch aus Fetzen. Sie kümmerte sich um das Essen, hielt die Küche und die anderen Räume sauber und musste neue Kränze aus Johanniskraut anbringen.

Ihre Aufmerksamkeit galt allerdings auch der Werkstatt, die im vorderen Bereich des Erdgeschosses untergebracht war und gleichzeitig als Verkaufsraum diente. Von Anfang an hatte sie Neugier in Bernina ausgelöst. Immer wieder spähte sie durch die angelehnte Tür. Bis Schwarzmaul sie aufforderte, nicht nur hineinzusehen, sondern Hand anzulegen.

Er erklärte ihr, dass er vor Kurzem noch zwei weitere Gesellen gehabt hatte. »Aber sie waren bei einem Sonntagsausflug nach Straßburg von der französischen Armee geworben worden. Mit Versprechungen oder mit Zwang, wie das immer so läuft.« Er nickte vor sich hin, den Blick auf sein Reich gerichtet: »Haben Sie vorher schon einmal eine Goldschmiedewerkstatt gesehen, Kindchen?«

»Nein«, antwortete Bernina.

Zum ersten Mal schlich sich ein Leuchten in seine Augen: »Nun ja, das ist sie, meine kleine Welt.«

Es war eine recht große Stube mit hölzerner Decke. An den Wänden das Werkzeug, ordentlich aufgehängt: Zangen, Feilen, Blechscheren, Waagen, Mörser und mehr. Auf zwei Brettern übereinander fertige Stücke, darunter Pokale, eine makellos golden schimmernde Schale, eine Schüssel. Und wunderschönes Silberhandwerk, das von Schwarzmaul mit A und S signiert worden war: Bestecke, Zierdöschen und Emailleplatten, ein Salzfässchen, Schmuck, auch ein trabendes Pferdchen und einen tanzenden Bären. Bernina konnte sich an der Vollkommenheit der Dinge gar nicht sattsehen.

Pierre warf ihr belustigte Blicke zu, während er den Blasebalg traktierte und dann die Esse anfeuerte.

»Was soll ich tun?«, fragte Bernina.

»Erst zuschauen«, erwiderte Schwarzmaul. »Dann hier und da eine Hand reichen. Und vor allem eines: lernen.«

Er nahm am Arbeitstisch Platz und begann, mit einem kleinen Hammer an einem Becher zu hämmern. Mit Feingefühl und Geschick – und mit einer Liebe zu seiner Aufgabe, die nicht zu übersehen war. Pierre hatte sich unterdessen an einer Drahtziehbank zu schaffen gemacht.

Die Umtriebigkeit, die Gerüche, der Glanz der Edelmetalle. Es war ein faszinierendes Bild, ein Bild, das Bernina ablenkte von anderen Dingen. Und von da an verfolgte sie die Vorgänge in der Werkstatt nicht mehr nur durch den Türspalt. Sie tat, was Schwarzmaul von ihr verlangt hatte: zuschauen, helfen, lernen. Neugierig betrachtete sie, wie der Goldschmied seiner Arbeit nachging. Schon an diesem Tag übte sie sich darin, an der Esse Metall und Emaille zu schmelzen. Schwarzmaul allerdings zeigte sich nicht nur als besessener Handwerker und Künstler, sondern auch als Grobian, der nicht zögerte, den armen Pierre mit Ohrfeigen einzudecken. Ja, seine Welt, und zwar voll und ganz.

Erst wenn die von Wolken fast verborgene Abendsonne unterging, wurden Stichel und Hammer beiseite gelegt. Pierre und Bernina fingen an, die Werkstatt aufzuräumen und auszufegen, und Schwarzmaul hielt noch an einem der beiden zur Straße gelegenen Fenster ein Schwätzchen mit Kunden. Und von denen gab es offenbar genug. Der Name Meister Schwarzmauls schien wahrlich ein Begriff zu sein. Auch von Straßburg her kamen Herren, um ihm etwas abzukaufen oder edle Stücke in Auftrag zu geben.

Nach dem Aufräumen wurde es für Bernina Zeit, in die Küche zu gehen, eine Kerze anzuzünden und das Abendbrot vorzubereiten. Schweigend wurde gegessen, nur der unaufhörliche Regen lehnte sich gegen die Stille auf. Bernina entging nicht, dass der Meister sie dann und wann mit verstohlenen Blicken streifte. So wie bei ihrer Ankunft. Vielleicht erwartete er noch immer, dass sie nur eine günstige Gelegenheit abpasste, um verschwinden zu können.

Doch damit schätzte er sie falsch ein. Er hatte ihr in einer mehr als misslichen Lage geholfen. Ob er nun ein sonderlich netter Mensch war oder nicht – sie hatte ihm zugesagt, dass auch sie ihn unterstützen würde. Und genau das hielt sie ein.

Für die Nacht rollte sie sich auf einer Strohmatratze zusammen. Schwarzmaul hatte ihr eine Kammer überlassen, eigentlich eher einen Verschlag, der in den Freiraum unter der nach oben führenden Treppe eingelassen worden war. Nur dann war sie allein, nur dann erreichten sie die Gedanken, denen sie sich tagsüber verschloss. Der Schmerz kehrte zurück, die Qual jener Nacht in dem Teichdorfer Gefängnisturm, in der die Krähenfrau in einen willkürlichen, durch nichts zu rechtfertigenden, grausamen Tod geschickt worden war.

Sehnsucht nach Anselmo breitete sich in ihr aus. Sie dachte an die Warnungen, die er anfangs ausgesprochen hatte. Hätte sie seinen Worten doch nur mehr Beachtung geschenkt! Ihm war klar gewesen, dass es für Bernina gefährlich werden könnte in Teichdorf. Zumindest geahnt hatte er es.

Und doch hatte er sie allein gelassen. So war es nicht nur Sehnsucht, die aufkam, wenn sie sein Gesicht vor sich sah. Auch die Enttäuschung darüber, dass er auf einmal ein anderer geworden, von einem Tag auf den nächsten verschwunden war. Ohne den Mut zu haben, ihr in die Augen zu blicken und es auszusprechen. Und nur diese Nachricht zu hinterlassen, die nichts als leere Worte enthielt. In der Zwischenzeit hätte Bernina sterben können, ohne dass er auch nur davon erfahren hätte. Ihr kam es vor, als wäre bloß ein Brennen von Anselmo zurückgeblieben, ein Schmerz in ihrer Seele. Oder war da doch mehr von ihm?

Und da war noch ein anderer Schmerz. Dieses quälende Gefühl, Schuld auf sich geladen zu haben. Denn immer wieder musste sie auch an Nils Norby denken. Er hatte aus freiem Willen so viel auf sich genommen. Nur um sie zu beschützen – und hatte dadurch den Tod gefunden. Schuldgefühle, wie Bernina sie nie zuvor empfunden hatte, plagten sie unablässig. Sie würden sie begleiten, solange sie lebte, das wusste sie.

Es war sonderbar, über all das nachzudenken und sich an Teichdorf zu erinnern, gerade hier in Braquewehr. Bernina war in einer anderen Welt. Und noch hatte sie nicht genug Kraft, den Schutz, die Abgeschiedenheit aufzugeben, die sie hier vorfand. Das spürte sie, spürte es ganz deutlich. Vor allem in der Dunkelheit. Nächte der Einsamkeit und Verlorenheit. Nächte, in denen hin und wieder ein bestimmtes Geräusch Bernina hochfahren ließ. Nicht in jeder Nacht, aber immer wieder, jedes Mal sehr, sehr spät, nachdem sie doch noch irgendwann in einen unruhigen Schlaf gefallen war. Es war ein Klopfen, verhalten, leise. Doch jedes Mal, wenn sie die schmale Tür ihres Verschlages aufstieß, kehrte eine tiefe Stille ein. Bernina horchte in die Dunkelheit des Hauses.

Nichts. Kein Klopfen mehr. Überhaupt kein Ton mehr. Bis hin zum Morgengrauen, wenn die schlurfenden Schritte von Nachtarbeitern erklangen, die die Aborte leerten.

Die Tage hingegen waren angefüllt mit Geschäftigkeit und Arbeit. So sehr der Hunger um sich griff, so viele Menschen auch an Armut litten – die wenigen, die im Übermaß lebten, reichten aus, um Meister Schwarzmauls Geschäft am Leben zu erhalten. Und es sogar aufblühen zu lassen.

Bernina wurde immer mehr eingebunden. Inzwischen half sie beim Ziselieren und beim Verschönern von Uhren, deren Gehäuse vergoldet und emailliert wurden. Pierre stand ihr zur Seite, sichtlich erfreut über die Unterstützung. Der stumme Junge zeigte ihr vieles und nahm sich immer ein paar Momente, um ihr einen Handgriff oder einen Trick beizubringen, der die Arbeit erleichterte. Auffordernd sahen seine schüchternen Augen sie an, wenn sie etwas wiederholen sollte, wie er es ihr vormachte. Stellte Bernina sich geschickt an, war er ebenso erfreut wie sie. Heftig nickte er dann, stets mit einem Lächeln.

Auch Meister Schwarzmaul entgingen ihre Forschritte keineswegs. Noch immer gab er sich barsch, noch immer klang sein Hi, hi, hi irgendwie gehässig, und dennoch war er verändert. Weniger während der Arbeit, eher beim Abendessen. Im Gegensatz zu den ersten Tagen überraschte er auf einmal mit Gesprächigkeit. So erfuhr Bernina, dass er aus Augsburg stammte. »Da sind die besten Goldschmiede der Welt zu Hause«, verkündete er voller Überzeugung. »Aber mir war es nicht vergönnt, dort zu bleiben.«

»Und warum?«, erkundigte sich Bernina. »Wenn ich fragen darf.«

»Warum schon?« Er lachte freudlos auf. »Wegen des verfluchten Krieges. Meine Frau, meine Tochter und mein Schwiegersohn starben, als die Stadt von Angreifern irgendeiner Teufelsarmee unaufhörlich mit Kanonen beschossen wurde.«

»Mein Gott, das tut mir sehr, sehr leid für Sie.«

»Wenn Sie so etwas sagen, Kindchen, dann glaubt man es sogar.«

»Und ob Sie das glauben können!«

»Deswegen schätze ich Sie so.« Anders als sonst hörte sich seine Stimme an, während er die Augen gesenkt hielt. »Weil alles, was Sie sagen, aufrichtig klingt.« Noch immer sah er nicht auf. »Es mag sein, dass Sie irgendetwas auf dem Kerbholz haben, Kindchen. Aber das soll mich nicht weiter stören. Hi, hi, hi.«

»Und wie kam es, dass Sie nach Braquewehr gelangten, Meister Schwarzmaul?«

»Ach, in meiner Heimat hielt mich einfach nichts mehr.« Er schnaufte. Das Bissige hatte sich tatsächlich aus seinen Zügen verflüchtigt. »Zu viele Erinnerungen, die mir wehtaten. Und immerzu dieser Krieg. So ließ ich mich treiben. Nach Westen, aber es hätte genauso gut jede andere Himmelsrichtung sein können. Es gibt ohnehin keinen Weg, den der Krieg nicht kennt. Er taucht überall auf.«

Bernina und auch Pierre, der seinen Meister so wohl nicht kannte, hörten ihm zu. »Also hat es Sie bis ins Elsass verschlagen«, meinte Bernina nach einer Weile.

»Ich hatte schon früher von diesem Landstrich gehört. Davon, dass die Leute in dieser Gegend nichts vom Kämpfen wissen wollen. Und dass auch hier eine stolze Goldschmiedekunst beheimatet ist. Was sich im Übrigen als richtig herausstellte. Ich fand zurück zu meiner Arbeit. Sie ist schließlich das Einzige, was mir geblieben ist.«

»Sie scheinen im ganzen Elsass einen äußerst guten Namen zu haben.« Bernina sah ihn an. »Die Leute kommen von weither, um Sie zu beauftragen.«

»Meinen guten Namen habe ich mitgebracht.« Er nickte. »Ja, und er hat sich schnell herumgesprochen. Aber auch diese Gegend, so versteckt sie liegen mag, hat Gutes zu bieten. Hier haben sich die Kulturen gemischt, hier gedeihen viele fruchtbare Gedanken, hier findet man viel Wissen. Jenseits des Rheins liegt schon Freiburg mit dieser wunderbaren Universität. Auch Basel, das Tor nach Italien, ist nicht fern. Und noch näher ist Schlettstadt mit seiner bekannten Bibliothek und der Lateinschule. Wahrlich ein schönes Stück Erde. Nur der Krieg, der schert sich um all das nicht im Geringsten, der wütet immer weiter und spürt jeden von uns auf, egal, wohin man sich flüchtet. Den Elsässern ist es recht gut gelungen, sich aus diesem Wahnsinn herauszuhalten. Tja. Bisher.«

»Vielleicht herrscht eines Tages ja doch endlich Frieden.«

»Kindchen, Sie sind lustig.« Schwarzmaul legte seinen Kopf zur Seite. »Die Hoffnung auf Frieden, die gibt es doch schon längst nicht mehr. Die Menschen hoffen nicht mehr. Jedenfalls nicht wie früher. Sie sind abgestumpft und ergeben, sie warten einfach nur auf ein Verrinnen des Blutvergießens. Der Frieden wird den Krieg nicht mehr besiegen. Und so können wir bloß noch beten, dass dieser Meister aller Meister, dieser Krieg der Kriege, eines Tages an Altersschwäche eingeht, an sich selbst erstickt.«

Während Schwarzmaul sprach, hatte sich Pierre lautlos von der Bank erhoben. Mit gesenktem Blick stahl er sich davon, wie immer eigentlich, doch Bernina war die blitzschnelle Bewegung seiner Hand aufgefallen.

»Wer weiß«, sagte sie leise zu dem Goldschmied, »vielleicht ist dieser Tag ja doch viel näher, als wir alle vermuten.«

»Oder auch noch in viel weiterer Ferne, als Sie es sich ausmalen können. Was sind schon fünf Jahre? Oder zehn oder 20?«

»Es bringt nichts, nur das Schlechteste zu erwarten«, widersprach Bernina entschieden. »Man kann nicht immer nur schwarzsehen.«

»So?« Spöttisch zog er das Wort in die Länge. »Mittlerweile ist der Krieg sogar hier in Braquewehr angekommen.«

»Wie meinen Sie das?«

»Sie haben es doch gehört, Kindchen. Soldaten wurden gesehen, fremde Männer, die sich irgendwo in der Nähe verstecken sollen. Weiß der Teufel mit welch abscheulichen Absichten. Die Stadt zittert schon vor Angst. Man kann die Furcht an jeder Ecke riechen.«

»Was denken Sie: Zu wem gehören diese Soldaten?«

»Schwer zu sagen«, seufzte Schwarzmaul auf. »Heutzutage gibt es etliche marodierende Truppen und Banden, die mal für die kaiserliche Seite, mal für die Protestanten in die Schlacht ziehen. Banden aus aller Herren Länder.«

»In dem Dorf, aus dem ich komme«, hakte Bernina ein, »machte sich plötzlich eine spanische Einheit breit. Eigentlich wurde sie geholt, um den Ort gegen die Franzosen zu verteidigen. Aber diesen Männer geht es meiner Meinung nach bloß um eines: die anständigen, wehrlosen Bürger auszupressen.« Ihre Stimme wurde härter. »Für mich sind das nichts anderes als Diebe und Verbrecher.«

»Und damit haben Sie recht«, bemerkte der Goldschmied trocken.

»Wie kommt es, dass gerade Spanier in meiner Gegend unterwegs sind? Wissen Sie das?«

»Ach, das ist schon seit Jahrzehnten so. Überall, wo die Klingen gekreuzt werden, sind ein paar spanische dabei.« Er fuhr sich durch den fransigen Bart. »Vor langer Zeit teilte Kaiser Karl V. seine Besitzungen auf zwischen seinem Bruder, Kaiser Ferdinand I., und seinem Sohn, König Philipp II. von Spanien. So fielen die Niederlande in spanische Hand.«

»Was haben die Niederlande damit zu tun?«

»Nur Geduld, dazu komme ich ja gerade. Also, in den Niederlanden gab es fortan einen Statthalter, der das spanische Königshaus vertrat. Kein Wunder, dass es zu vielen Spannungen kam, vor allem aus religiösen Gründen. Der Statthalter war katholisch, genau wie sein König im fernen Spanien, und wie überall in den Ländern kam es auch in den Niederlanden zu Kämpfen zwischen Protestanten und Katholiken, denn die protestantische Seite sah sich unterdrückt, und sie hatte auch allen Grund dazu. Man griff zu den Waffen, lehnte sich auf. Der Statthalter des Königs, Herzog von Alba, sollte vertrieben werden. Doch jener Herr schlug zurück. Er ging mit äußerster Härte gegen Protestanten und Rebellen vor. Spanische Truppen wurden ausgesandt und noch mehr Blut floss.«

»Das alles wusste ich nicht.«

»Heute kümmern diese Einzelheiten auch keinen mehr. Aber seither kann man fast überall auf spanische Einheiten treffen. Die meisten davon stehen auf der Seite des Kaisers. Doch es gibt auch andere, die eben nur noch auf den eigenen Vorteil aus sind.« Schwarzmaul zog eine Grimasse. »Genau das meine ich ja. Dieser Krieg reißt alle mit ins Verderben, jedes Land, er ist wie ein Sturm, der über alle Grenzen hinwegfegt und in allen nur das Übelste hervorbringt.«

Die letzten Worte hatte Bernina gar nicht mehr mitbekommen. Sie dachte an Anselmo und an seine spanischen Wurzeln. An den Blick, den er damals mit diesem Spanier ausgetauscht hatte. Und an den Brief in dem Holzkästchen, den eine Frau mit dem Namen Isabella unterschrieben hatte. Wie weit weg all das auf einmal war. Unendlich weit. Oder war es doch näher, viel näher?

»Worüber grübeln Sie, Kindchen?«

»Ich weiß nicht.« Bernina zuckte kurz die Achseln. »Wahrscheinlich über gar nichts.«

»Das glaube ich Ihnen nicht.« Er kicherte. »Doch das ist ja allein Ihre Angelegenheit.«

Sie sagte nichts dazu.

»Aber lassen wir den Krieg wenigstens für heute ruhen.« Er strich sich noch einmal über den Bart. »Nun ja, vielleicht sehe ich wirklich zu schwarz für die Welt. Ich bin eben ein alter Knochen. Und ich benenne die Dinge, wie sie sind. Stellen Sie sich vor, wir leben im Jahr des Herrn 1641. Sagen Sie mir: Wie alt sind Sie?«

»Ich bin 23.«

»Hi, hi, hi. Da habe ich ja gut geschätzt.« Er stand auf, aber bevor er die Küche verließ, drehte er sich noch einmal zu ihr herum. »Nehmen Sie mir meine Neugier nicht übel.«

»Das tue ich nicht.«

»Sie sind so alt wie dieser Krieg, und ich versichere Ihnen: Wenn Sie mein Alter erreichen und ich mich schon längst im Paradies ausruhe, dann wird der Krieg noch immer herrschen.«

»Noch eines, bitte«, sagte Bernina rasch.

»Ja?«

»Ich bin kein Kindchen. Ich habe einen Namen.« Schroffer als beabsichtigt war ihr das über die Lippen gerutscht.

»Hi, hi, hi.« Meister Schwarzmaul schien wegen ihrer Bemerkung nicht verärgert zu sein. »Was Sie nicht sagen, Kind…« Er brachte sogar ein Lächeln zustande. »Ich meine natürlich: Bernina.«

»Vielen Dank.«

»Eine angenehme Nachtruhe wünsche ich.«

Damit ließ er sie allein, und sie begann den Tisch abzuräumen. Ein prüfender Blick genügte. Es war ein größeres Stück Brot, das fehlte. Mit einem schmalen Lächeln musste sie an Pierres flinke Bewegung denken, ehe er sich in das Zimmer im oberen Stock zurückgezogen hatte, das er seit dem Verschwinden der anderen beiden Gesellen allein bewohnte.

Ein Junge in seinem Alter hat eben Hunger, sagte sie sich mit nachsichtigem Lächeln und erinnerte sich auch noch an die eine oder andere Birne, die plötzlich nicht mehr da gewesen war, wo sie sie hingelegt hatte. Aber in Wirklichkeit war sie in Gedanken schon wieder bei Meister Schwarzmaul. Ein verbitterter Mann, ohne Zweifel. Aber auch ein Mann, in dem bestimmt viel mehr Gutes versteckt war, als er nach außen hin von sich preisgab.

In der Nacht wirkten die Gespräche noch nach, die Gedanken des Tages, und im Traum sah Bernina das Gesicht des jungen spanischen Soldaten, den Anselmo kannte, auf einmal dicht vor sich. Sie streckte die Hand nach ihm aus, und in dem Moment, als sie seine Wange berührte, war sie wach, hellwach.

Aufrecht saß sie auf ihrem Lager aus Stroh, eine ganze Weile, und in ihren Gedanken rief sie sich die Bilder des Traums zurück. Dieser Soldat. Sie hatte sich bereits einmal gefragt, ob sie ihn wiedererkennen würde. Es war nie leicht gewesen, diese Männer zu unterscheiden, aber dennoch war Bernina sich sicher, dass sie ihn seit jenem Moment während des Kirchfestes nicht mehr gesehen hatte. So hatte er auch nicht zu den fünf Reitern gehört, die sie im Hof überrascht und nach Teichdorf verschleppt hatten. Auch nicht zu den Verfolgern, als ihr die Flucht aus dem Turm gelungen war, oder zu jenen Männern, die Nils Norby getötet hatten.

Würdest du ihn wiedererkennen?, fragte sie sich abermals.

Der Traum hatte sie aufgewühlt, und es fiel ihr schwer, einfach wieder in den Schlaf hinüberzugleiten. Mit dem geheimnisvollen Soldaten kehrten plötzlich auch die Bilder des Petersthal-Hofes zu ihr zurück. Sie wusste, dass sie dorthin zurück musste und nicht einfach ein neues Leben anfangen konnte, als hätte es jene Grausamkeiten nicht gegeben. Alles in ihr schrie nach Gerechtigkeit, auch wenn sie diese Schreie manchmal nicht hören wollte. Doch wie konnte sie für Gerechtigkeit sorgen? Ausgerechnet sie? Eine Frau, auf sich allein gestellt.

Mit einem Erschauern wurde ihr bewusst, dass sie wieder die war, die sie früher schon einmal gewesen war. Eine einfache junge Frau ohne Besitz. Ja, etwas in ihr wollte die Ungerechtigkeit besiegen. Wut war es, was sie spürte, jedes Mal wenn sie ihren Gedanken nachgab. Aber würde diese Wut irgendwann stark genug sein, um sie anzutreiben? Zurückzutreiben? Dorthin, wo all das geschehen war, was nie hätte passieren dürfen?

Erneut fuhr sie hoch. Ein Geräusch. Dieses Geräusch! Da war es wieder. Das Klopfen.

Bernina öffnete ihren Verschlag. Vorsichtig, lautlos.

Sie schob sich in den Hausflur. Ihre nackten Sohlen berührten den kalten Boden. Zwei Gestalten, genau beim Eingang. Sie hielt den Atem an, ging noch ein Stück weiter.

Die Haustür wurde geöffnet, eine der beiden Gestalten entglitt in die Nacht, während die zweite die Tür schloss.

Berninas Augen hatten sich an die Dunkelheit gewöhnt.

Ihre Stimme zerschnitt die Stille: »Hallo, Pierre.«

Sie bemerkte, wie er zusammenzuckte.

Einen Moment sah es so aus, als würde er in Ohnmacht fallen. Das Weiße in seinen Augen flackerte, zwei ängstliche helle Punkte, umhüllt von Finsternis.

Verraten Sie mich nicht!, flehten diese Augen. Bitte! Bitte!

 

*

 

Nach langen Tagen der Nässe verwandelte sich der Regen in einen dicken Nebel. Die Welt sah aus, als wäre der Sommer übersprungen worden und der Herbst schon da. Graue Schwaden legten sich auf Braquewehr, zogen durch die Gassen, und ihre klamme Feuchtigkeit erfüllte die Luft ebenso wie die Furcht, die noch stärker um sich griff. Nachrichten von einem Gefecht in den umliegenden Wäldern und Hügeln ließen den Ort erzittern. Sogar das Donnern von Schüssen war zu hören gewesen. Derart nahe war das Blutvergießen noch nie bei Braquewehr gewesen. Bernina musste an Meister Schwarzmauls Worte denken. Der Krieg schien in der Tat jeden Weg zu kennen und überall aufzutauchen.

In der Werkstatt ging die Arbeit weiter. Es gab immer etwas zu erledigen, etwas zu verschönern. Von den Prellungen, die Bernina bei dem Sturz in den Abgrund davon getragen hatte, war fast nichts mehr zu spüren. Die Kratzer und Schnitte auf ihren Armen waren nur noch als dünne Striche in der Haut erkennbar. Bernina fühlte sich wieder kräftiger, erholter, und es entging ihr keineswegs, dass Schwarzmaul mehr und mehr Vertrauen zu ihr fasste. Er ließ sie häufiger allein arbeiten als zu Beginn, mittlerweile sogar schon mit dem wertvollsten, was seine sorgsam überwachte Welt zu bieten hatte: Gold.

Bei besonders edlen Stücken spürte sie jedes Mal, wie ihre Anspannung wuchs. Sorgfältig breitete sie das Ledertuch über ihrem Schoss aus, in dem sich der Goldstaub fangen sollte. Nicht einmal das winzigste Körnchen durfte verloren gehen. Sie erinnerte sich lebhaft daran, wie Pierre von Schwarzmaul mit einer Holzkelle geschlagen wurde, als er das Tuch einmal vergessen hatte. Auch bei ihr würde Schwarzmaul sich derart gehen lassen, da war sie sich ziemlich sicher. Nur, dass sie sich wehren würde.

Manchmal merkte sie, wie Pierre zu ihr hinsah, betont unauffällig, und dadurch nur umso auffälliger. Bislang hatte Bernina getan, als hätte es den seltsamen nächtlichen Zwischenfall an der Eingangstür nicht gegeben. Aber der Junge war offenbar unsicher, ob sie nicht doch noch etwas sagen würde. Auch schien er daraufhin keine Lebensmittel mehr zu entwenden – oder er stellte sich so geschickt an, dass selbst Bernina nichts davon mitbekam.

Im Moment wurde sie jedoch vor allem von der Aufgabe in Anspruch genommen, die Schwarzmaul ihr übertragen hatte. Dabei sollten Ornamente in eine feine Goldschicht geschnitten werden, die später eine Obstschale bedecken sollte. »Etwas Schönes will ich haben«, hatte Schwarzmaul gefordert. »Etwas mit Blumen. Zeigen Sie, was in Ihnen steckt!«

Sie setzte die harte Klinge an, ließ ihrem Gefühl freien Lauf und wurde beinahe selbst überrascht von den Linien, die Stück für Stück Gestalt annahmen, von den ersten Bildern, die durch ihre zunächst vorsichtige, dann immer zielstrebigere Hand entstanden. Bilder, an die sie wahrlich keine schönen Erinnerungen hatte. Aber die offenbar unter ihrer Haut brannten, die sich dagegen sperrten, einfach abgeschüttelt zu werden.

Wie lange Bernina daran feilte, hätte sie nicht sagen können, aber als sie ihren gebeugten Rücken streckte und aufblickte, schien fast der ganze Nachmittag verstrichen zu sein. Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass Schwarzmaul und Pierre dicht hinter ihr standen und mit aufmerksamen Blicken das Ergebnis ihrer Arbeit betrachteten.

Bernina rieb sich die ermüdeten Augen. »Was ist los?«, fragte sie. »Stimmt irgendetwas nicht?«

Schwarzmaul runzelte die Stirn. »Hhm.«

Das Gold schimmerte vor Bernina auf. Sie betrachtete die beiden Ornamente, die sich auf der dünnen, wertvollen Metallschicht abwechselten. »Was ist los?«, forderte sie erneut einen Kommentar.

Aber alles, was der Meister sagte, war: »Mach dich wieder an die Arbeit.« Damit war nicht sie, sondern Pierre gemeint, der dem Befehl mit der üblichen Hast nachkam. Bernina und ihre Leistung wurden hingegen mit keiner einzigen Bemerkung bedacht.

Unschlüssig hob sie die Schultern, dann schüttete sie den feinen, vom Ledertuch aufgefangenen Goldstaub in die dafür vorgesehene Schale.

Erst während des Abendessens richtete Schwarzmaul das Wort wieder an Bernina. »Erstaunlich.«

Mehr sagte er nicht. Aber ihr war sofort klar, worum es ging.

Sie wartete darauf, dass er fortfuhr.

»Bernina, weshalb haben Sie gerade diese Ornamente gewählt?«

»Hat Ihnen das Ergebnis nicht gefallen?«

»Doch, das hat es. Sogar sehr. Vor allem wenn man bedenkt, dass Sie eine Anfängerin sind. In Ihnen scheint Talent zu schlummern. Vergessen Sie nie: Wir Goldschmiede sind die Einzigen, denen es gelingt, die Grenze zwischen Handwerk und Kunst zu überwinden. Aber was mich interessiert: Wie kamen Sie auf genau diese Symbole?«

»Sie wünschten etwas mit Blumen.«

»In der Tat, das war mein Wunsch. Doch warum musste es ausgerechnet diese Blume sein?« Er musterte sie. Neugier war ihm anzusehen, zum ersten Mal seit Bernina ihn kannte. »Zugegeben, Bernina: Eine Rose an sich ist nichts Außergewöhnliches. Diese Rose jedoch … Der Schwung ihrer Blätter, die Art, in der sie sich nach oben reckt, sehr spitz zulaufend, fast wie eine Stichwaffe.«

»Was ist daran so auffällig?«, wollte Bernina mit zurückhaltender Stimme wissen.

»Vor Kurzem stellten Sie Fragen über spanische Soldaten.« Ein Grinsen umspielte seine Mundwinkel. »Und nun zaubern Sie die Alvarado-Rose auf Gold. Nicht in Vollendung, aber doch auffallend geschickt. Hi, hi, hi. Woher ist Ihnen diese Rose vertraut? Sie ist einzigartig, ein wunderbares Symbol. Ich würde sie jederzeit wiedererkennen.«

Bernina lehnte sich auf der Sitzbank zurück, bis ihr Rücken die Wand berührte. »Alvarado-Rose?«

»Ja, ein Symbol, das mir früher schon begegnet ist. Das Wappen einer mysteriösen Familie. Alvarados haben ihre Finger immer in allen möglichen dunklen Geschäften gehabt. Sie haben das Kriegshandwerk nicht erfunden, aber ihre Waffen kämpften in vielen Schlachten. Alvarados waren Krieger, allerdings auch Geldbeschaffer, Spione, Berater von etlichen bedeutenden Herrschern. Unter Führung der Alvarados entstand eine Art Geheimbund, ein echtes Netz, das durch Verbrechen gesponnen wurde.«

»Den Namen Alvarado habe ich nie zuvor gehört«, erwiderte Bernina, nachdem sie sich etwas Zeit gelassen hatte. »Die Rose jedoch, die sah ich in meinem Heimatdorf.«

»Bei den spanischen Soldaten, die Sie erwähnten, nehme ich an.«

»Richtig.«

»Dann sollten Sie erleichtert sein, Bernina, dass Sie weit weg von dort sind. Selbst wenn Braquewehr im Moment auch nicht viel Sicherheit verspricht. Der Name Alvarado hat einen bösen Klang. Man sagt von dieser Familie, sie stehe mit dem Teufel im Bunde.«

Die Worte schwebten eine ganze Weile durch den Raum, ohne dass Bernina etwas darauf erwiderte. Schließlich wandte sich der Goldschmied an Pierre. »Mir ist aufgefallen, dass du etwas kränklich bist, Junge. Leg dich hin, deck dich warm zu. Vielleicht kann ein guter Schlaf die Erkältung vertreiben.«

Wie immer tat Pierre sofort, was von ihm verlangt wurde. Mit einem angedeuteten Nicken zog er sich zurück.

»Auch für mich wird es Zeit«, sagte Schwarzmaul. »Obwohl wir unser Gespräch ja noch gar nicht beendet hatten.«

Bernina sah ihn an, in Gedanken noch bei dem Namen Alvarado. »Noch nicht beendet?«

»Nein, Sie haben mir ja noch gar nichts zu dem zweiten Symbol gesagt, das Sie heute erschaffen haben.«

»Auch dabei handelt es sich nur um eine Erinnerung an meine Heimat.«

»Ich schlug Blumen vor, und Sie fügten Ihrer Rose einen Wolfskopf hinzu. Ziemlich eigenmächtig, würde ich meinen.«

»Ich weiß. Tut mir leid.«

Ein schnelles Abwinken. »Das muss es nicht. Da Sie ja dieses Ornament ähnlich kunstvoll zustande gebracht haben wie das andere. Meine Anerkennung. Auch der Wolf findet meine Zustimmung.«

»Aber dieses Symbol sagt Ihnen nichts?«

»Nein, überhaupt nichts. Sicher, der Kopf eines Wolfes, aber ich habe ihn auf diese Art nie gesehen.«

»Ich auch nur ein einziges Mal. Wunderschön auf ein edles Seidentuch gestickt.«

Sein Blick fing sie ein. »Bernina, mir scheint, Sie tragen viele Geheimnisse mit sich herum. Da gibt es wohl so einiges, was Ihre Gedanken beschäftigt. Ich weiß, dass ich recht bärbeißig sein kann. Scheuen Sie sich trotzdem nicht, um meinen Rat zu bitten. Was immer es ist, das Sie auf dem Herzen haben.«

»Danke«, antwortete sie leise. Das, was er sagte, klang ehrlich. Sie hatte sich also nicht getäuscht in diesem Meister Schwarzmaul. Daran dachte sie später noch, als sie in ihrem Verschlag lag und erfolglos versuchte einzuschlafen. Auch der Goldschmied täuschte sich nicht, was sie betraf. Es gab sie in ihrem Leben, diese Geheimnisse. Und ihr war selbst am besten klar, dass sie sich ihnen irgendwann stellen musste.

Plötzlich holte sie ein bekanntes Geräusch zurück in die Gegenwart. Das Klopfen. Leise hob es sich ab von der Stille der Nacht. Unentschlossen wartete Bernina ab. Sollte sie so tun, als höre sie es nicht? Auch Pierre trug offenkundig ein Geheimnis mit sich herum, und sie hatte sich immer noch nicht entschieden, wie sie damit umgehen sollte.

Erneut das Klopfen. Länger als sonst.

Bernina verließ ihr kleines Refugium und blickte sich im finsteren Haus um. Pierres lautlos huschende Gestalt war diesmal nicht auszumachen. Das Klopfen erstarb, aber Bernina hatte erkannt, woher es kam: vom Laden des Fensters, das sich genau unter Pierres Zimmer befand. Deshalb hatte auch der Meister nie etwas von alldem mitbekommen – seine Räumlichkeiten befanden sich auf der anderen Seite des Gebäudes.

Bernina zögerte. In den letzten Tagen war Pierre tatsächlich ziemlich stark erkältet gewesen. Schlief er deshalb so tief, dass er die Klopfzeichen überhörte? Noch einmal ein Versuch ihn aufzuwecken, diesmal forscher, lauter. Dann ertönten verhaltene Schritte. Offensichtlich ging jemand nahe der Hauswand entlang.

Die Unschlüssigkeit in Bernina verschwand – jetzt wollte sie der Sache auf den Grund gehen. Entschlossen trat sie an die Eingangstür. Sie schob den Eisenriegel zurück und öffnete die Tür mit einem kurzen Ruck.

»Na endlich, Pierre.« Die Stimme flirrte gepresst durch die Nacht. »Ich wollte schon wieder verschwinden. Wenn du wüsstest, was ich für einen Hunger habe.«

»Pierre ist nicht da«, sagte Bernina und glitt ins Freie.

Zwischen Wolkenfetzen hindurch warf der Mond sein bleiches Licht auf eine zierliche Gestalt, die erschrocken innehielt und sofort losrennen wollte. Doch Berninas Hand umschloss schnell einen dünnen Unterarm.

»Halt! Wer bist du?«

Die junge Frau versuchte sich loszureißen, aber Bernina hielt sie weiterhin fest.

»Keine Aufregung, dir passiert ja nichts. Ich möchte nur wissen, wer du bist.«

Endlich beruhigte sich die Frau, die fast noch ein Mädchen war. Jungenhaft ihre schmalen Hüften, lang das strähnige Haar, klein ihr Gesicht, aus dem misstrauische Augen zu Bernina aufsahen.

»Lassen Sie mich los!«, forderte sie.

»Erst wenn du mir ein paar Auskünfte gegeben hast. Also: Wer bist du? Und was hast du mit Pierre zu tun?«

Die Frau senkte den Blick. »Bitte sagen Sie diesem Schwarzmaul nichts davon, dass Pierre mir hilft. Pierre hat so große Angst vor ihm. Er würde bestraft werden.«

Selbst das schwache Licht dieser viel zu kühlen Sommernacht konnte den billigen, zerschlissenen, hier und da geflickten Stoff ihrer Kleidung nicht verbergen. Ihren schlecht ernährten Körper, ihre fahle Haut.

»Warte hier. Ich werde nachsehen, was ich in der Küche für dich auftreiben kann.«

»Nein!« Ein schreckerfüllter Blick lag auf Bernina. »Sie holen doch nur Schwarzmaul. Und der lässt mich ins Gefängnis werfen oder aus der Stadt vertreiben.«

»Unsinn!«, erwiderte Bernina entschieden. Sie ließ den Arm los. »Warte hier, ich bin gleich wieder da.«

Als sie mit Brot und etwas Hartwurst zurückkam, erwartete sie, die junge Frau nicht mehr anzutreffen. Doch dem war nicht so. Hungrig starrte die Fremde auf das Essen. Sie griff danach und biss sofort ein riesiges Stück aus der Wurst heraus.

»Dieses Versteckspiel bei Dunkelheit ist nicht nötig«, erklärte Bernina. »Ich werde mit Meister Schwarzmaul sprechen. Wenn es dir schlecht geht, wenn du nicht weißt, wohin du sollst, kann ich ihn überzeugen, dir zu helfen. Er ist kein Unmensch, er hat mir selbst in großer Not geholfen.«

»Nein«, sagte die Frau rasch und verschluckte sich dabei fast. »Bitte nicht! Dieser Herr hält nicht viel von mir. Anderen würde er vielleicht helfen, nicht aber mir.«

»Woran liegt das?«

»Das möchte ich«, kam zögerlich die Antwort, »lieber nicht sagen.«

»Und woher kennst du Pierre?«

»Ach, der kleine Pierre. Er hat ein so gutes Herz. Ich stellte mich bei seinem Meister vor und bat um eine Anstellung als Küchenfrau. Leider war Schwarzmaul sehr unfreundlich. Er hätte zwar jemanden gebraucht, mich allerdings jagte er trotzdem zum Teufel. Aber Pierre hat mich so traurig angesehen. So wartete ich, bis Schwarzmaul einmal nicht da war. Ich kam zurück und unterhielt mich mit Pierre.« Sie lachte. »Ich redete mit dem Mund, er mit den Augen. Von da an kam ich öfter. Allerdings nur bei Nacht. Damit Schwarzmaul nichts von mir erfährt.«

Sie sprach nicht mit dem Zungenschlag der Menschen von Braquewehr, sondern eher so wie Bernina.

»Du kommst von der anderen Seite des Rheins. Genau wie ich. Das stimmt doch, oder?«

Die Antwort war ein vages Nicken. »Irgendwie schon. Aber eigentlich komme ich von nirgendwo.«

»Ich heiße Bernina.«

»Irmtraud.«

Bernina verschränkte die Arme vor der Brust. Sie wusste nicht recht, was sie von dieser Frau halten sollte. Aber die Not, in der die Fremde steckte, war offensichtlich. »Ich mache dir einen Vorschlag. Übermorgen ist Meister Schwarzmaul den ganzen Tag unterwegs. Er muss wegen einiger Aufträge nach Schlettstadt und wird wohl über Nacht fortbleiben. Dann kommst du hierher, und wir werden uns unterhalten.«

Sie erhielt einen verblüfften Blick. »Und Schwarzmaul? Werden Sie ihm wirklich nichts …«

»Er wird nichts von unserer Abmachung erfahren.«

»Warum wollen Sie das tun?« Da war schon wieder dieses Misstrauen in den Augen.

»Ich kenne dieses Gefühl: Wenn man am Ende ist und nicht mehr weiter weiß.« Sie nickte ihr zu. »Wir treffen uns übermorgen.«

Die Frau sah sie noch immer mit dieser Mischung aus Zweifel und Überraschung an. »Ich weiß nicht, ob ich kommen werde.«

»Das liegt ganz bei dir.«

Mit verhaltenem Lächeln verfolgte Bernina, wie die Fremde langsam in der Dunkelheit verschwand und immer wieder zu ihr zurückblickte.

Der nächste Tag verstrich ruhig. Bernina arbeitete in der Küche und in der Werkstatt. Gelegentlich wurde sie von Pierres Blicken erreicht, der zu ahnen schien, dass er in der Nacht irgendetwas verschlafen hatte. Der Goldschmied war die ganze Zeit über beschäftigt, seine Reise nach Schlettstadt vorzubereiten. Das Abendessen wurde wesentlich schweigsamer eingenommen als am Tag zuvor.

Als der neue Morgen heraufzog, spannte Schwarzmaul den Esel vor den Wagen. Vom Werkstattfenster aus sah Bernina ihm zu, wie er langsam davonfuhr. In Gedanken war sie bei Irmtraud. Sie war unsicher, ob die junge Frau kommen würde oder nicht.

Am Nachmittag zerfetzte erneut Gewehrfeuer die über den Dächern Braquewehrs liegende Ruhe. Gewehrfeuer, das lauter wurde und sich näher an den Ort heranzuschieben schien, bedrohlich nahe. Dann verstummte es wieder. In den Gebäuden wurde der Atem angehalten. Man konnte die Spannung spüren, die sich in den Gassen ausbreitete wie zuvor der Nebel. Bernina und Pierre wechselten einen langen sorgenvollen Blick, bevor sie mit den Arbeiten fortfuhren, die Schwarzmaul ihnen aufgetragen hatte.

Es war am späten Nachmittag, als auf einmal das Klopfen ertönte. Pierre sah auf, als könnte er es nicht glauben. Bernina lächelte ihn an. »Das hört sich an, als würde uns deine Bekannte einen Besuch abstatten.«

Der arme Junge wäre vor Scham fast im Boden versunken.

»Keine Bange«, versicherte ihm Bernina rasch. »Sie wird unser Geheimnis bleiben.«

Zögernd folgte Irmtraud Bernina in die Küche, mit denselben misstrauischen Blicken wie in der Nacht. Die junge Frau versuchte, in jeden Winkel des Hauses zu spähen, als befürchte sie, Meister Schwarzmaul würde aus einem Versteck hervorspringen.

Erst als sie zu dritt am Tisch saßen und aufgewärmte Kohlsuppe aßen, entspannte sie sich ein wenig. Pierre war so schüchtern, dass er unter allen Umständen den Blickkontakt mit ihrem Gast vermied. Es war rührend, wie er seine Schwärmerei für Irmtraud zu verbergen versuchte.

Bernina hingegen beobachtete die Frau sehr aufmerksam. Wiederum schlang Irmtraud das Essen geradezu in sich hinein. Doch selbst bei diesen hastigen Bewegungen wirkte sie hübsch. Jedenfalls hübscher als Bernina nachts den Eindruck gehabt hatte. Ihr Haar war hell, wie Berninas, allerdings nicht von deren honigfarbenem Ton, sondern eher von einem strohigen Gelb. Eine schmale Nase und gewitzte blaue Augen. Auffällig war, dass die schmalen Wangen rot gefärbt worden waren. Auch die Lippen schimmerten unnatürlich rot.

»Vielen, vielen Dank«, sagte Irmtraud, nachdem sie die dritte Schale mit Suppe geleert hatte. »Ich habe schon seit Ewigkeiten nicht mehr so gut gegessen.«

Bernina schenkte ihr ein sanftes Lächeln. »Mir kommt es so vor, als hättest du seit Ewigkeiten überhaupt nichts mehr in den Magen bekommen.«

»Ja, ich mache gerade eine Pechsträhne durch. Wenn der liebe Pierre nicht so ein herziger Junge wäre, wer weiß, ich wäre wohl schon verhungert.« Sie bedachte ihn mit einem kurzen Blick, und er lief rot an.

»Wie lange dauert sie denn schon an, deine Pechsträhne?« Bernina schob ihr einen Apfel zu, in den sie sofort herzhaft hineinbiss.

»Eigentlich seit meiner Geburt.« Ein betont unbekümmertes Zucken der zierlichen Schultern. »Ich bin eine Streunerin. Schon seit ich zurückdenken kann. Meine Mutter kenne ich nicht, ebenso wenig meinen Vater. Nirgendwo mochte man mich. Die Leute sagten, ich hätte keine Sitten, keinen Anstand und ich würde ein lästerliches Leben führen. Aber das ist das einzige Leben, das ich habe.«

Bernina reichte ihr einen zweiten Apfel, den Irmtrauds kleine spitze Zähne sofort zerstückelten.

»Ich lebte in einem Dorf des Reichs«, fuhr die junge Frau fort, »lebte in den Tag hinein, wie er gerade kam. Dann hieß es, ich hätte Schuld an einer Krankheit, die Kühe und Ziegen tötete. Nur weil ich einmal erwischt worden war, wie ich einer Kuh ein bisschen Milch klaute, direkt aus dem Euter. Die Leute fingen an, Geschichten über mich zu verbreiten. Sie sagten, ich würde nackt bei Vollmond tanzen. Könnt ihr euch das vorstellen?«

Pierre wurde noch roter, und Bernina antwortete: »Solche Gerüchte entstehen leider viel zu schnell und viel zu oft. Es ist furchtbar.«

»Das kann man wohl sagen. Ich riss aus, bevor mein kleines nutzloses Leben in Flammen aufging. Und so strich ich durch alle möglichen Orte von Freiburg bis Straßburg. Ich lebte wieder von der Hand in den Mund, lungerte zwischen Bretterhütten und Lehmhäusern herum. Ein paar Männer betrachteten mich als Freiwild, und mir widerfuhren Dinge, die niemand erleben will. Oft versteckte ich mich in Gräben, alten Scheunen und den Weinbergen.«

Plötzlich schwieg sie. Sie starrte vor sich hin, und als Bernina dachte, sie würde nichts mehr sagen, kamen die Worte leise über ihre Lippen, nicht mehr mit dieser übertriebenen Unbekümmertheit: »Weil mir nichts anderes übrig blieb, verkaufte ich meinen Leib.«

Zum ersten Mal sah Pierre ihr ins Gesicht, nur um gleich wieder in den eigenen Schoß zu starren.

»So geht das schon eine Weile«, fuhr Irmtraud fort. »Es findet sich immer einer. Die Durchreisenden zahlen am besten. Und die Soldaten sind die schlimmsten. Tja, das ist es, wovon ich lebe.«

»Ich dachte es mir«, sagte Bernina offen.

»Und Schwarzmaul sah es auf den ersten Blick. Deshalb verjagte er mich. Er sagte, er wisse, wie schnell man mal ein Gesetz übertreten könne, er habe auch Verständnis für die eine oder andere Sache. Bis auf eine Ausnahme: Mit Huren wolle er nicht das Geringste zu tun haben. Die brächten nur Unglück.«

»Aber das alles heißt nicht, dass es immer so weitergehen muss«, bemühte sich Bernina, sie ein wenig aufzumuntern. »Manchmal kommt aus dem Nichts eine Chance auf einen zu, und die muss man ergreifen.«

»Sie sind wirklich sehr nett zu mir, Bernina.«

»Sag du zu mir.«

»Nur diese Chance, die will einfach nicht auftauchen.« Sie kämpfte mit den Tränen, Bernina sah es ganz deutlich. »Doch wer weiß, vielleicht habe ja sogar ich einmal Glück.«

»Ganz bestimmt, Irmtraud.«

Die junge Frau blickte auf. »Hört ihr?«

Neuerliche Schüsse, lauter als noch zuvor. Viele Schüsse, dann Stille. Der Himmel begann sich dunkel zu verfärben.

»Überall in den Wäldern sind Soldaten«, sagte Irmtraud. »Männer von d’Orville und Arnim von der Tauber. Am Rhein gab es heftige Kämpfe mit Soldaten des Kaisers unter General von Korth. D’Orvilles Truppen wurden zersprengt und zurückgedrängt. Sie laufen um ihr Leben. Leider genau auf Braquewehr zu.«

»Du weißt ja erstaunlich gut Bescheid.«

»Wie ich vorhin schon sagte: Die Soldaten sind die schlimmsten.« Traurig sah sie an Bernina vorbei. »Aber es gibt so viele von ihnen. Ich treffe sie immer wieder. Verzweifelte Deserteure, wilde Kämpfer, alte, junge, von dieser oder jener Armee.«

»Dann gehören die Soldaten, die hier in den Wäldern gesehen wurden, also zu General d’Orville? Die, die zurückgedrängt werden?«

Irmtraud überlegte kurz. »Ach so, die meinst du. Nein.« Sie schüttelte den Kopf. »Diese Männer sind nicht leicht zu durchschauen. Ich weiß nicht einmal, wen sie unterstützen. Ich weiß bloß, dass sie sich hier in der Nähe sammeln. Sie werben neue Leute an. Und dann wollen sie aufbrechen, nach Westen. Eine kleine merkwürdige Truppe. Keine Musikanten, keine Metzger, keine Fuhrknechte mit Wagen, wie das sonst immer ist. Nur schwer bewaffnete Kämpfer. Offenbar warten sie noch auf einen berühmten Offizier, der sie anführen soll. Wirklich: Aus denen etwas rauszubekommen, ist gar nicht so einfach.« Ein Schmunzeln. »Nicht einmal für mich.«

Auf der Straße wurde das Trommeln schneller Schritte laut. Menschen rannten an den Fenstern vorbei. Die beiden Frauen und der Junge sahen nach draußen und verständigten sich mit einem Blick.

»Die Angst treibt die Menschen in die Häuser«, sagte Irmtraud. »Hier gibt es zwar eine Stadtmauer als Schutz, aber nur ein paar wenige Männer, die Waffen haben. Orte wie Braquewehr werden vom Krieg einfach weggespült.«

»Vielleicht wissen die Leute etwas, das uns noch nicht bekannt ist. Irgendeine schlimme Neuigkeit.«

»Es liegt irgendetwas in der Luft.« Irmtraud schüttelte sich wie unter Frost. »Ich kenne solche Stimmungen aus anderen Städten. Wahrscheinlich rücken d’Orvilles Soldaten endgültig auf Braquewehr vor. Sie suchen gewiss Schutz vor dem Feind, der ihnen auf den Fersen ist. Schon morgen ist hier womöglich die Hölle los.«

Pierre war ganz bleich geworden.

»Los, Pierre«, sagte Bernina. »Geh nach oben und schließ die Läden vor den Fenstern. Ich kümmere mich um die unteren.«

Offenbar erleichtert, irgendetwas tun zu können, lief er sofort die Treppe nach oben.

Bernina sah Irmtraud an. »Es ist klar, dass du hier bleibst. Wer weiß, was heute noch alles passiert.«

»Du bist unglaublich nett zu mir, aber ich will nicht bleiben.«

»Was?«

»Die Nacht ist meine Zeit, vor allem dann kann ich ein paar Münzen verdienen.«

Bernina konnte es nicht glauben. »Das ist doch wohl nicht dein Ernst. Wenn es wirklich gefährlich wird, denkt gewiss niemand an …«

»Ach, das weiß man nie«, fiel Irmtraud ihr ins Wort. »Ich kenne doch die Männer. Gerade in solchen Nächten freuen sie sich über weibliche Gesellschaft. Ich bin mir sicher, dass es noch bis morgen dauert, bis die Kämpfe in Braquewehr anfangen.«

»Ich finde nicht, dass …«

»Halt!«, unterbrach Irmtraud sie mit plötzlicher Schärfe. »Das ist meine Sache. Ich habe kein schönes Leben, aber wenigstens eines, in dem mir niemand Befehle erteilt. In dem allein ich entscheide.«

Bernina war etwas überrascht angesichts der Heftigkeit. »Wie du meinst, ich kann dich tatsächlich nicht zwingen. Aber vergiss nicht, Irmtraud: Hier ist ein Ort, an dem du nicht allein bist.« Ihre Worte waren voller Eindringlichkeit. »Zögere nicht, zu uns zu kommen. Selbst wenn Meister Schwarzmaul wieder da ist.«

»Na, der wird eine Hure auf keinen Fall in seinen vier Wänden dulden, das weiß ich ja zu gut.«

»Lass Schwarzmaul einfach meine Sorge sein«, erwiderte Bernina beruhigend. »Ich werde mit ihm sprechen.«

Irmtrauds Gesicht zeigte nun ein dankbares Lächeln. Sie fiel Bernina um den Hals. »Ich wollte nicht unverschämt sein, aber ich …«

»Schon gut, Kleine.«

»So freundlich wie du war noch niemand zu mir. In meinem ganzen Leben nicht.«

Langsam löste sich Irmtraud von ihr, und ein Duft blieb in Berninas Nase hängen, ein überraschend edles Aroma. Sie wollte lieber nicht wissen, wie Irmtraud an ein solch teures Duftwasser gekommen war.

Und dann war die zierliche Frau auch schon verschwunden. Bernina zog die Läden des Küchenfensters zu, als Pierre von oben zurückkam. Sein fragender Blick lag auf ihr.

»Sie ist gegangen, Pierre.«

Es gelang ihm nicht, seine Enttäuschung darüber zu verbergen.

Als Bernina später auf ihrer Strohmatratze lag, lauschte sie aufmerksamer als sonst in die Stille. Nicht nur Irmtraud, auch sie kannte Städte, die angesichts näher rückender Armeen geradezu erstarrten. Mitleid für die junge Frau kam von Neuem in ihr auf, sogar der Duft war wieder in ihrer Nase. Und plötzlich war es, als durchfuhr sie ein eisiger Schauer.

Dieser Duft. So besonders, so einzigartig. Unverkennbar. Als würde sie das Gesicht in ein Meer aus frisch gepflückten Blüten tauchen.

Dieser Duft hatte bereits einmal ihre Nase überwältigt, er hatte sich irgendwo ganz tief in ihr Gedächtnis eingegraben. Das rote Seidentuch in dem Holzkästchen, das Anselmo in der Nähe des Petersthal-Hofes vergraben hatte. Es war unglaublich, aber Bernina war sich sicher, dass der Geruch an dem Tuch und an der jungen Hure namens Irmtraud ein und derselbe waren. Natürlich nichts weiter als ein verrückter Zufall, sagte sie sich. Aber weshalb berührte sie das dann so sehr?

Der Geruch frisch gepflückter Blüten umhüllte sie noch, als sie in den Schlaf sank. Zum ersten Mal seit Längerem träumte sie wieder von ihrer Mutter, deren Gestalt geisterhaft vor ihr erwuchs, umhüllt von schweren Umhängen, aus denen laut krächzende Krähen mit blauschwarz schimmerndem Gefieder flogen.

Die Krähenfrau stand einfach da und flüsterte: »Mein Kind, ich bin hier, ich bin bei dir. Vertraue den Krähen und folge ihnen. Die Krähen werden dich führen.«

Ein gewaltiger Donner brandete auf, und die Krähenfrau verschwand innerhalb eines Herzschlages. Das Tosen jedoch blieb, und erst jetzt wurde Bernina bewusst, dass sie nicht mehr träumte. Gewehrfeuer. Vereinzelte Schüsse, aber offenbar sehr nahe. Die Tür ihres Verschlages war geöffnet worden.

Entsetzt stellte sie fest, dass im Schein einer Kerzenflamme die Umrisse eines Mannes sichtbar wurden.

Er war ganz dicht bei ihr.

Sie konnte hören, wie er zischend ein- und ausatmete.

 

*

 

Nur hier und da zuckten noch grelle Mündungsblitze in der Dunkelheit, die sich wie etwas Bösartiges auf die Stadt drückte. Versprengten Gruppen von General d’Orville war es gelungen, sich vor den nachsetzenden kaiserlichen Soldaten nach Braquewehr zu flüchten. Schnell sprach es sich herum, dass einige mit Tauen die Stadtmauer überwunden hatten. Andere hatten sich offenbar gewaltsam Einlass durch eines der beiden Tore verschafft.

Doch auch damit waren sie ihre Verfolger nicht losgeworden, die nicht den neuen Morgen abwarten wollten, sondern ebenfalls in den Ort einfielen. Schatten durchstreiften die Gassen. Kein Fenster war erleuchtet, auch wenn kein einziger der Bürger von Braquewehr in dieser Nacht Schlaf zu finden vermochte.

Auch nicht in dem Haus in der Ortsmitte, das dem angesehenen Goldschmied gehörte. Hinter geschlossenen Fensterläden der Schein einer einzigen Kerze, die zur Sicherheit noch durch einen Schirm aus dünn geschabter Tierhaut abgeschwächt wurde.

»Es tut mir leid, dass ich Ihnen einen solchen Schrecken eingejagt habe, Bernina.«

Schwarzmaul saß auf seinem üblichen Platz am Tisch, Bernina ihm gegenüber.

»Ich bitte Sie, Meister Schwarzmaul, denken Sie keinen Moment mehr daran.« Sie beugte sich zu ihm vor, ihre Stimme ein Flüstern: »Erzählen Sie mir lieber, wie es kommt, dass Sie auf einmal wieder hier sind.«

Erst berichtete er in knappen Worten von den flüchtenden Soldaten und ihren Verfolgern, die Blut in Strömen durch die Straßen der Stadt fließen lassen würden. »Das ganze Gebiet ist verseucht mit diesen Männern, die den Krieg am Leben erhalten. Auch auf meinem Weg nach Schlettstadt bin ich ihnen zu meinem Leidwesen begegnet. Soldaten, von denen ich nicht einmal sagen könnte, zu wem sie gehörten.«

»Was ist geschehen?«, fragte Bernina gebannt.

Mit der Faust schlug er auf die Tischplatte. »Sie haben mir meinen Wagen abgenommen. Und sogar meinen Esel, der mich seit Jahren durch die Welt zieht. Beschlagnahmt! So nannten sie es. Diebstahl! So nenne ich es. Und das sagte ich ihnen auch.« Er stöhnte auf. »Sie packten mich am Kragen und warfen mich in den Schmutz. Den ganzen Weg zurück nach Braquewehr habe ich zu Fuß zurückgelegt. Soldaten! Dass ich nicht lache. Früher waren sie vielleicht einmal Soldaten gewesen. Heute sind sie nur noch Plünderer und Verbrecher.«

»Sicher, um die schönen Stücke, die Sie nach Schlettstadt bringen wollten, ist es mehr als schade. Aber seien Sie froh, dass Ihnen selbst nichts Schlimmeres passiert ist.«

Seit einiger Zeit war kein Schuss mehr gefallen.

»Wir sollten die Ruhe nutzen«, sagte Schwarzmaul, »um die unteren Fenster und die Tür noch stärker zu verbarrikadieren. Als ich den Ort erreichte, traf ich einige arme Leute, die von Soldaten aus ihrem Haus vertrieben worden waren und sich auf dem Weg zu Verwandten befanden.«

Bernina stand rasch auf. »Ja, das kann nicht schaden.«

»Typisch Pierre«, knurrte der Goldschmied. »Dass er sich ausgerechnet jetzt davongestohlen hat. Dieser dumme Kerl!«

»Davongestohlen?«, wunderte sich Bernina.

»Haben Sie es denn nicht bemerkt?« Er erhob sich ebenfalls. »Weg! Einfach weg! Als ich hier war, ging ich zunächst in sein Zimmer. Er sollte mir mit den Fenstern und der Tür helfen. Aber dieser Nichtsnutz, er war gar nicht da.« Sorgen mischten sich in seinen Tonfall. »Der Junge wird doch nicht auf und davon sein?«

»Verdient hätten Sie’s!«, sagte Bernina. »So, wie Sie ihn immer behandeln.«

»Mir erging es auch nicht anders«, verteidigte er sich. »Meister lehren ihre Gesellen auch mit der Faust, so ist das nun einmal.«

»Kein Grund, es ebenfalls so zu halten. Vor allem bei Pierre. Er ist ein gutherziger, geschickter Junge.«

Auf Schwarzmauls Stirn zeichneten sich tiefe Furchen ab. »Das ist mir schon klar.«

»Dann denken Sie auch daran, wenn er wieder da ist.«

»Ich werde mich bessern«, versprach er. »Haben Sie denn eine Ahnung, warum er ausgerechnet heute verschwunden ist? Doch nicht nur für seinen ersten Besuch im Gasthaus?«

»Bestimmt nicht.« Offenbar ist unser Pierre, dachte Bernina, noch viel verliebter, als ich annahm.

»Wie dem auch sei. Lassen Sie uns erst mal den Schrank und die Truhe vor die Eingangstür schieben und …«

Ein Klopfen an einem der Fensterläden unterbrach Schwarzmaul. Verdutzt sah er Bernina an. »Da ist er ja.«

Oder Irmtraud, schoss es Bernina durch den Kopf.

Aber es war tatsächlich Pierre, der schließlich durch die rasch geöffnete Haustür hineinschlüpfte. Sein Meister wollte ihn sich schon vorknöpfen, doch Berninas klare, harte Stimme stoppte den Mann: »Vergessen Sie jetzt bloß nicht, was Sie eben gesagt haben!«

Es wirkte, und er hielt sich zurück.

Pierre hatte ohnehin ununterbrochen nur auf Bernina gestarrt. In seinen Augen schimmerte Verzweiflung auf. Immer wieder deutete er nach draußen. Seine Lippen erzitterten stumm. Nur tief aus seiner Kehle drangen ein paar heisere, unverständliche Laute zu Bernina.

»Was ist los?«, drängte sie. »Gib mir Zeichen, wie sonst auch.«

Seine Hände deuteten langes Haar an.

»Irmtraud?«, mutmaßte Bernina.

Aufgeregtes Nicken war die Antwort.

»Wer ist Irmtraud?«, fragte Schwarzmaul, aber niemand beachtete ihn.

Pierre pochte auf seinen Bauch, immer und immer wieder.

Bernina sah ihn ratlos an.

Dann zeigte er auf einige blutverkrustete Kratzer, die er sich bei der Arbeit zugezogen hatte.

»Blut?« Bernina betrachtete die harmlose Schramme. »Verwundet? Ist sie verwundet? Schwer verwundet?«

Noch aufgeregter sein Nicken.

»Bring mich zu ihr!«, entschied Bernina kurz und bündig.

»Halt!«, rief Schwarzmaul sofort. »Keiner von euch verlässt heute Nacht das Haus.«

Bernina sah ihm in die Augen. »Tut mir leid, Meister. Ich werde nicht seelenruhig hier sitzen, wenn jemand, den ich kenne, in Not ist. Ich habe bereits einen Fehler gemacht.« Du hättest Irmtraud nicht einfach gehen lassen dürfen, schimpfte sie in Gedanken mit sich selbst.

»Aber …«, wollte Schwarzmaul widersprechen, doch es war allein ihr Blick, der ihn verstummen ließ.

Bernina und Pierre drückten sich an ihm vorbei.

»Sie sind wirklich verrückt«, sagte er matt, während sie die Tür wieder öffnete. Bernina war schon draußen und hörte ihn nicht mehr.

Sie folgte Pierre durch enge Seitengassen, einmal sogar durch einen nur drei Schritt breiten Korridor zwischen zwei schiefen Hausreihen. Die Nacht hatte sie und den Jungen mit kühler Luft empfangen, aber ohne einen einzigen Regentropfen. Ruhig die Gebäude ringsum, doch diese Stille konnte nicht über die gespannte Stimmung hinwegtäuschen, die den gesamten Ort erfasst hatte.

Hintereinander, er weiterhin vorneweg, gelangten sie an die Stadtmauer, der sie ein Stückweit folgten. Plötzlich drückte sich Pierre in den Eingang einer dunklen Hütte mit tief nach unten gezogenem Spitzdach. Das Holz der Tür knirschte. Ein großes Fenster war mit etlichen Brettern vernagelt worden, ein ganz kleines rundes hingegen klaffte offen in die Nacht, ohne Glas oder eine davor gespannte Tierhaut. Zwei Talgkerzen, fast abgebrannt, warfen flirrende Lichtkreise. Ein Schrank und ein kleiner, von leeren Weinflaschen übersäter Tisch. Drei Stühle.

Der erste genauere Blick – ein Schock für Bernina.

Leichen. Zwei. Offensichtlich Soldaten. Der eine durch eine Wunde in der Brust, der andere durch einen Schuss in den Kopf getötet – seine Stirn und sein Haar bildeten eine blutige Masse. Ganz junge Männer. Sie waren an eine Wand des engen Hauses geschoben worden, wie Blutstreifen auf dem einfachen Bretterfußboden zeigten.

»Hast du sie dorthin verfrachtet?« fragte Bernina leise.

Pierre nickte, ohne sie anzusehen. Seine Augen waren auf eine kleine ebenerdige Bettstelle gerichtet. Dort lag jemand unter einer Decke, flach auf dem Rücken, das Gesicht schwach von einer der Kerzen beleuchtet.

Bernina trat über Gegenstände hinweg, die über den Boden verstreut waren. Eine Schere, Nadeln, Stofffetzen, ein paar Holzteller. Als sie sich neben den Jungen stellte, schlug die Frau auf dem Bett die Augen auf. Freude machte sich auf dem schmalen, blassen Gesicht breit.

»Bernina«, hauchte Irmtraud. »Und Pierre, mein mutiger Verehrer.« Sie lächelte. Erschöpft, kraftlos.

Bernina kniete sich vor das Bett und zog die Decke zurück.

Unter einigen Stofflappen kam ein See aus Blut zum Vorschein, das im Kerzenlicht pechschwarz aussah.

»Ich war oft hier in diesem Haus«, erklärte Irmtraud mit dünner, irgendwie schuldbewusster Stimme, als schäme sie sich für ihr ganzes Leben. »Zwei der wenigen Männer, die Braquewehr bewachen sollten, hatten hier in der Hütte Unterschlupf gefunden. Ich habe ihnen Gesellschaft geleistet.« Sie wollte sich aufrichten, sackte jedoch gleich nach hinten.

»Nicht, Irmtraud«, sagte Bernina leise. »Beweg dich nicht, bleib einfach ganz ruhig liegen.« Aus den Augenwinkeln nahm sie wahr, dass Tränen auf Pierres Wangen glänzten.

»Ich habe ihre Kleidung genäht«, fuhr Irmtraud fort. »Mit ihnen gelacht und getrunken.«

»Pierre, gibt es in der Nähe einen Arzt? Sie ist zu schwach, um aufzustehen.«

Er nickte und konnte nicht die Augen von Irmtraud abwenden.

»Lauf los und versuch, ihn irgendwie dazu zu bewegen, hierher zu kommen.« Sie gab ihm einen der mit Blut vollgesogenen Lappen. »Zeig ihm das, er wird verstehen, dass es um einen Verletzten geht.«

Nur langsam drehte er sich um, aber dann rannte er auch schon auf flinken Beinen los.

»Ja, ja, stimmt schon«, sprach Irmtraud weiter. »Auch andere Dinge habe ich mit diesen Soldaten gemacht.« Ein Hustenanfall brachte ihren Körper kurz zum Erzittern. »Sie waren sogar recht großzügig. Und jetzt liegen sie da. Mausetot.«

»Wie ist es zu dieser Tragödie gekommen?« Bernina hatte aus ihrem sauberen Kleid Fetzen herausgerissen und begonnen, damit die Schusswunde notdürftig zu reinigen.

»Es ging alles so schnell. Wir tranken Wein und scherzten miteinander, und auf einmal hörten wir Schüsse und Schreie. Fremde Soldaten tauchten auf der Straße auf. Franzosen von d’Orvilles Truppen. Sie traten gegen Haustüren, drangen in Wohnungen ein und bedrohten und beraubten unschuldige Bürger. Meine beiden Freunde hatten keine Ahnung, was sie tun sollten. Sie waren zwar als Wachen eingeteilt, aber weißt du, Bernina, eigentlich waren sie nur zwei harmlose nette Grünschnäbel. Sie rannten auf die Straße, und ich folgte ihnen. Ich wollte sie doch bloß zurückhalten, Bernina. Die Soldaten sahen ihre Waffen und schossen sofort. Ich spürte ein Brennen in meinem Bauch. Dann gar nichts mehr.« Wieder dieses kehlige Husten. »Als ich die Augen öffnete, trug mich Pierre zum Bett.«

Bernina strich ihr das Haar aus der verschwitzten Stirn. »Gleich wird ein Arzt da sein.« Behutsam versuchte sie, Irmtraud aus weiteren Streifen ihres Kleides einen Verband anzulegen, der wenigstens die Blutung etwas aufhielt.

»Ist das nicht lustig?«, Irmtraud lachte verzweifelt auf. »Ausgerechnet heute habe ich mich besonders hübsch für die zwei gemacht. Findest du nicht auch, dass ich heute sehr hübsch bin, Bernina?« Mit der Fingerspitze fuhr sie sich über ihre rot gefärbte Wange.

»Ja, das bist du.«

»Und wie fein ich dufte. Nicht wahr, Bernina?«

»Ja, du duftest herrlich.«

»Ach, das teure Wässerchen. So sparsam bin ich damit. Ich habe es von diesen Spaniern geschenkt bekommen. Es riecht nach Blumen ihres Landes, meinten sie. Das waren edle Herren. Jedenfalls sage ich mir das. So lustig, wie ihr Akzent sich anhörte. Und so stolz.«

Bernina fühlte einen seltsamen Schauer auf ihrem Rücken. Sie konnte nicht anders, sie musste fragen: »Was für Spanier waren das, Irmtraud?«

»Herren mit Geheimnissen. Jedenfalls taten sie ziemlich rätselhaft. Sie waren auf dem Rückweg in ihre Heimat und zogen vor einiger Zeit durch Braquewehr.«

»Hatten sie rote Umhänge?«

»Nein, ich glaube nicht.« Irmtraud schien diese Frage zu wundern. »Obwohl … rote Stoffe sind mir an ihnen aufgefallen.«

»Auch eine Rose? Eine gestickte Rose?«

Zum ersten Mal wurde Irmtrauds Blick klarer. »Ich weiß nicht, wie du darauf kommst. Aber ja, es stimmt: Auf dem Wams eines der Männer war eine große Rose aus goldenen Fäden gestickt. Ja, und ich glaube, da waren auch rote Umhänge. Ich achtete nicht so sehr darauf.« Sie kicherte und hustete gleichzeitig. »Gutaussehende Burschen, das muss ich zugeben. Alle mit schwarzem Haar, alle mit schwarzen Augen. Nun ja, alle bis auf einen. Auch ein Spanier, aber seine Augen waren von so einem strahlenden Blau. Du hättest ihn sehen müssen.«

»Ein Spanier mit schwarzen Haaren und blauen Augen?«, wiederholte Bernina, und in ihr drehte sich auf einmal alles.

»Ja, er war der netteste von ihnen. Und leider der Einzige, der mich abblitzen ließ. Du weißt ja, ich und meine Pechsträhne. Er sagte, er sei verheiratet. Ich liebe meine Frau, erklärte er mir, und ich fand ihn nur noch hinreißender.«

»Erinnerst du dich, wie die Männer hießen?« Berninas Stimme war ganz trocken.

»Nur einen Namen weiß ich noch.« Irmtrauds Blick verlor sich irgendwo in dem schwach erhellten Raum. So kindlich wirkte sie, trotz des Lebens, das sie führte. »Natürlich den des Blauäugigen.«

Auf Berninas Lippen war ein Zittern. »Wie hieß er?«

Ein Kichern. »Sein Name war Anselmo.«

Bernina starrte sie an. Sie wollte etwas erwidern, brachte allerdings keinen Ton hervor.

»Ach ja, dieser arme Kerl. Ich hatte selbstverständlich keine Ahnung, worum es ging, aber dieser Anselmo war wirklich zu bedauern. Ich denke heute noch ab und zu an ihn und spreche ein Gebet für ihn.«

Berninas Gedanken jagten durcheinander. »Armer Kerl?«, fand sie ihre Stimme wieder. »Warum?«

»Sagte ich das nicht? Anselmo war keineswegs freiwillig bei seinen Landsleuten.« Irmtraud blickte sie an. »Er war ihr Gefangener.«

»Ihr Gefangener?«

»Ja, seine Hände waren auf den Rücken gefesselt.« Ein flüchtiges Lächeln in Irmtrauds Gesicht. »Ich fütterte ihn manchmal und führte den Löffel an seinen Mund. Die anderen gaben ihm Befehle und hielten ihm eine Pistole oder einen Dolch unter das Kinn. Na ja, sei’s drum. Sie hätten mich sowieso niemals allein mit ihm gelassen. Und wenn, hätte es auch nichts genützt. Das mit der Treue war ganz bestimmt nicht gelogen. Einem wie ihm glaubte man das sofort.«

Gefangener?

Gefangener! Plötzlich war alles anders. Plötzlich war es, als würde der Erdboden unter Bernina erweichen, als könne sie darin untergehen wie in einem Meer. Wieder waren ihre Gedanken ein einziges Durcheinander. Sie dachte an Anselmos kurze Nachricht, an seine Schwermut, bevor er urplötzlich verschwunden war, sie dachte an vieles andere, an alles auf einmal.

»Du siehst so komisch aus, Bernina.« Irmtrauds Stimme holte sie zurück in den Augenblick.

»Es tut mir leid, dass ich so viele Fragen gestellt habe. Ich wollte nicht, dass du dich anstrengst.«

»Aber es ist doch schön, mit dir zu sprechen. Es lenkt mich ab von den Schmerzen im Bauch. Stell mir ruhig weiter Fragen zu den Spaniern. Ich denke gern an sie. Vielleicht sind sie ja jetzt schon in Valencia.«

»Dort wollten sie hin? Nach Valencia? Bist du sicher? Das ist doch bestimmt ein unglaublich weiter Weg.«

»Ja? Gut möglich. Ich hatte nie zuvor davon gehört, aber diese Stadt muss aufregend sein.«

»Was wollen sie dort?«

»Puuh, das weiß ich nicht. Hast du jemals von Palmen gehört? Palmen sind so etwas wie Bäume. Nur irgendwie anders. Sie haben keine Äste.«

»Wie kommst du darauf?«

»Diese Männer haben mir von einer wunderschönen Villa bei Valencia vorgeschwärmt. Davor stehen angeblich diese Palmen, diese komischen Bäume, die irgendwo aus Neu-Spanien stammen. Ich habe nicht die geringste Ahnung, wo Neu-Spanien liegt. Die Männer nannten es die Neue Welt. Ach, ich weiß so wenig.«

»Irmtraud, es ist wirklich sehr wichtig für mich: Warum war Anselmo ihr Gefangener?«

»Wie gesagt, sie taten recht geheimnisvoll und unterhielten sich meistens in ihrer Sprache miteinander. Über ihre genauen Absichten erfuhr ich nichts. Nur von ihrem Ziel.« Nach einer Pause fügte sie an: »Verrückt, oder? Alle Welt scheint es nach Spanien zu ziehen.«

»Wie meinst du das?«

»Na ja, ich habe dir doch von diesen Soldaten erzählt, die zu keiner Armee gehören und die auf ihren Anführer warten, um dann nach Westen aufzubrechen. Offenbar werden sie sich ebenfalls auf den Weg nach Spanien machen. Der Name Valencia fiel auch bei ihnen. Wie ich hörte, ist in diesem Land ebenso der Teufel los wie im Reich und hier an der Grenze. Aufstände gegen den König, Revolten gegen irgendwelche Fürstenhäuser. Die Welt ist überall gleich: Ständig müssen die Menschen sich bekriegen.«

»Manchmal kommt es einem wirklich so vor.« Bernina stand langsam auf. Sie hatte die ganze Zeit an der Bettstelle gekniet und ihre Beine taten weh. »Aber was ist mit diesen Soldaten, die sich im Wald verstecken? Du bist sicher, dass sie zu keiner der beiden Armeen gehören?«

»Ziemlich sicher. Das erzählte ich dir ja schon in dem Haus von Schwarzmaul.«

»In welcher Sprache verständigen sie sich denn?«

»In unserer. Aber auch in allen möglichen anderen Sprachen. Das ist wirklich ein bunter Haufen.«

»Und sie wollen ebenfalls nach Spanien?«

»Ja, ich hatte mich mit einigen von ihnen recht gut angefreundet. Einer sagte es mir. Auch dass sie noch auf diesen bestimmten Offizier warten und weitere Leute anwerben wollen.« Sie überlegte. »Das heißt, sie sind eigentlich schon so gut wie weg. Ich bin ziemlich sicher, sie wollten morgen in der Frühe unsere Gegend verlassen. Sie hatten sich in die Wälder verteilt, um dann vom Teufelsfinger aufzubrechen. Das ist ein einzelner spitzer Granitfelsen östlich der Stadt. Kennst du ihn?«

»Ja.« Bernina erinnerte sich, diese auffällige Felsnadel im Wagen von Meister Schwarzmaul passiert zu haben. »Und sie haben nichts mit den Spaniern zu tun, die durch Braquewehr kamen?«

»Nicht dass ich wüsste. Sie haben anscheinend nur denselben Weg.«

Ein aberwitziger Gedanke nahm in Bernina Gestalt an, nur schemenhaft, ohne dass sie ihn zu Ende dachte, und doch war da das Glimmen einer Idee.

Mit einem Quietschen öffnete sich die Tür. Während Bernina kurz zusammenzuckte, schien Irmtraud nichts von dem Geräusch mitzubekommen. Ihre Lider hatten sich herabgesenkt.

Außer Atem betrat Pierre den Raum. In seinen Augen schimmerten noch die Tränen – und eine tiefe Ratlosigkeit.

»Hast du den Arzt gefunden?«, fragte Bernina.

Er nickte heftig.

»Hast du dich ihm irgendwie verständlich machen können?«

Er hielt den blutigen Stofffetzen in die Höhe und nickte erneut.

»Aber er wollte nicht mit dir kommen.« Diesmal war es keine Frage. »Er hatte Angst.«

Pierres Gesichtsausdruck sagte Bernina, dass sie richtig lag. Ihr Blick richtete sich auf Irmtraud, deren Augen sich wieder öffneten. Lächelnd sah sie zu dem Jungen.

Abermals ertönten Schüsse. Das Trommeln vieler Stiefelsohlen. Barsche Befehle und angsterfüllte Schreie.

Bernina sprang zur Tür und machte sie auf, nur einen winzigen Spalt breit. Was sie sah, gefiel ihr gar nicht. In Gruppen aufgeteilt fielen Soldaten in die Häuser ein. Genauso wie Irmtraud es geschildert hatte. Aber an der Sprache der gebellten Befehle erkannte Bernina, dass es sich jetzt um Männer aus ihrer Heimat handelte, um Männer des Kaisers.

Doch für die wehrlosen Menschen von Braquewehr spielte das keine Rolle. Sie wurden ebenso schändlich behandelt wie schon einmal in dieser Nacht. Die Offiziere gaben vor, auf der Suche nach flüchtenden französischen Soldaten zu sein. Doch kalt wiesen sie ihre Untergebenen an, alles aus den Häusern zu schaffen, was einigermaßen wertvoll war. Eine junge Frau wurde von zwei Kerlen in einen Hinterhof gezerrt. Ihre Schreie gellten durch die Nacht.

Wie erstarrt sah Bernina in das Dunkel des Hinterhofs, und einen Moment lang fühlte sie den Drang loszulaufen und der armen Frau beizustehen. Doch dann fiel ihr Blick auf drei Soldaten, die entschlossen auf ihre Tür zumarschierten.

»Aufmachen!«, rief einer von ihnen. »Sofort aufmachen!«

Unwillkürlich knallte Bernina die Tür zu und verriegelte sie. Die Schreie der Frau wurden bis ins Haus hineingetragen. Bernina war nur zu klar, dass sie das gleiche Schicksal erwartete. Sie saß in der Falle.

»Hilf mir, Pierre«, raunte sie ihm zu und schob den Tisch vor die Tür. Zu zweit wuchteten sie den Schrank darauf, dessen Türen aufsprangen. Ein paar Gegenstände fielen auf den Boden, ein paar blieben darin. Unbewusst nahm Bernina Tintenfass und Federkiel, mehrere Stofflappen und einen Tiegel mit einer Masse aus zerstoßenen Birnenkernen wahr – eine Klebepaste, die auch in der Werkstatt von Anton Schwarzmaul benutzt wurde.

Ein lautes Klopfen, wohl mit dem Lauf einer Muskete.

»Aufmachen!«

Bernina hörte ein Schluchzen. Sie wirbelte herum und ihr Blick erfasste Pierre, der vor dem Bett kniete, ein Ohr auf Irmtrauds Brust gelegt.

Langsam stand er auf. Hilflos sah er zu Bernina. Fast unmerklich schüttelte er den Kopf. Mit den Fingerspitzen schloss er Irmtrauds starre, glasige Augen.

»Lebwohl, Irmtraud«, sagte Bernina leise.

Die Tür wurde mit wuchtigen Stößen bearbeitet.

»Aufmachen! Sofort!«

Bernina blickte zu dem kleinen Rundfenster an der Rückwand. Für sie war es zu eng, das sah sie sofort.

Ein Knarren erklang von dem größeren Fenster. Die Soldaten versuchten, die angenagelten Bretter abzureißen. Und neuerliche Stöße gegen den Eingang.

»Wir haben dich gesehen, Weib.« Die Stimme des Mannes war hart und laut. »Nur keine Sorge, wir werden schon gut miteinander auskommen.« Er stieß ein widerliches Lachen aus, in das andere einfielen.

Bernina packte Pierre bei den Schultern und schob ihn zu dem Rundfenster. »Los, raus mit dir!«

Er weigerte sich, schüttelte wild mit dem Kopf.

»Los!«, fuhr sie ihn an. »Raus mit dir, du passt da durch. Und dann läufst du zu Schwarzmaul.«

Die Furcht lähmte ihn, und so war es Bernina, die ihn fast allein mit groben Griffen durch die winzige Öffnung nach draußen presste. »Warte bei Schwarzmaul auf mich«, sagte sie. »Irgendwie schaffe ich es nachzukommen.«

Das Letzte, was sie von ihm sah, war sein Haarschopf, dann glitt er ins Freie. Sie hörte ihn rennen.

»Die versuchen abzuhauen!«, brüllte ein Mann.

»War das die Frau?« Das war wieder die Stimme von zuvor. »Wenn die uns entwischt ist, dann lasse ich euch auspeitschen. Verflucht, schafft ihr es endlich, diese Tür aufzukriegen? Ich will wissen, ob die Kleine noch da drin ist.«

Das erste der Bretter am Fenster gab splitternd nach. Auch im Holz der Tür zeigten sich Risse. Die Stöße wurden noch gewaltvoller.

Als die erste der beiden Kerzen verlosch, wühlte sich eine Erinnerung tief aus Berninas Gedächtnis hervor. Völlig verwirrt dachte sie an einen komischen Traum ihrer Mutter. Ein Traum mit brutalen Männern und Haaren, die in Berninas Gesicht sprossen. Wieso kommt dir dieser Unfug ausgerechnet jetzt in den Sinn?, fragte sie sich. Ihre Gedanken spielten verrückt, während ihr verzweifelter Blick die beiden toten Soldaten abtastete. Sie griff nach der Schere, die sie schon beim Eintreten auf dem Boden hatte liegen sehen. Hastige Schnitte, und ihr wunderschönes Haar fiel zu Boden, bis nur noch ein paar borstige Büschel ihren Kopf bedeckten. Fahrig stülpte sie einige der Stofflappen über die Strähnen.

Das zweite der Bretter zerbarst.

Blitzschnell riss Bernina sich das Kleid vom Leib, um es hinter Irmtrauds leblosem Körper zu verstecken. Mit den bluttriefenden Fetzen, die sie zum Säubern der Wunde genutzt hatte, verschmierte sie sich das Gesicht. Sie bückte sich zu dem ersten toten Soldaten und zog ihm die Stiefel aus. Fieberhaft zerrte sie an seiner Pluderhose, dann an seinem Wams, auf dem das Blut eine harte Kruste bildete.

Die Nägel des Eisenriegels lösten sich mit einem Krachen aus Tür und Rahmen.

»Na endlich!«, rief jemand. »Wir sind gleich drin.«

Ein weiterer Stoß und sofort noch einer. Das Holz ächzte.

Ich schaffe es nicht!, dachte Bernina verzweifelt. Ich schaffe es nicht!