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Vier Tage später setzte Walker seine Seite eines Sofas im neuen Quartier der Familie ab und nickte Judd zu, der das andere Ende trug. Trotz der telekinetischen Kräfte seines Bruders war der Umzug mit Muskelkraft erfolgt, denn Judds Fähigkeiten wurden für Notfälle gebraucht.
Judd streckte den Rücken und sah sich um. »Nett hier. Mehr Platz als in den alten Räumen.«
Und zwar bedeutend mehr Platz. Hätte Lara eine andere Stellung im Rudel eingenommen, wären sie in den Räumen geblieben, die Walker mit den Kindern bewohnte, doch Lara musste in der Nähe der Krankenstation bleiben. Deshalb hatte ein Bautrupp schnell entschlossen die Wände zwischen Laras Wohnung und zwei anderen eingerissen und das Ganze in eine Wohnung für eine Familie umgewandelt. Für eine große Familie.
Lara hatte Walker erzählt, dass dieser Bereich schon immer für diesen Zweck vorgesehen war. »Heilerinnen haben stets Kinder um sich«, hatte sie gesagt, als er sie auf die enorme Größe angesprochen hatte. »Unsere eigenen, adoptierte, Rudelgefährten … zum Glück bist du das schon gewohnt.« Ein herzliches Lächeln. »Vielleicht übernachten einige auch hier. Das macht dir doch nichts aus, nicht wahr?«
»Nein.« Sie heilte ebenso mit ihrer sanften Zuneigung wie mit ihren anderen Fähigkeiten. Für ihn war es keine Last, dass sich das Rudel in seinem Heim willkommen und angenommen fühlte. »Die Familie ist auch mir sehr wichtig.« Und das Rudel gehörte zur Familie.
Das jüngste weibliche Mitglied ihrer eigenen kleinen Familie stellte gerade in ihrem Zimmer ein Puppenhaus auf, und Toby hängte Poster an seine Wände. »Beaufsichtigt« wurden beide von den neuen Urgroßeltern. Auch Laras Mutter Aisha kam immer mal wieder vorbei, wenn es ihre Verpflichtungen zuließen, und brachte jedes Mal etwas zum Naschen mit.
Walker hatte eigentlich nie eine Mutter gehabt und war schon als junger Mann in die Rolle des Patriarchen hineingewachsen, weshalb er überrascht war, dass Aisha ihn manchmal wie einen Sohn behandelte. Das war eigenartig, aber nicht unangenehm, da Aisha niemals vergaß, dass er ein erwachsener Mann war.
Witzigerweise war das bei seinem Auftragskiller-Bruder ganz anders, den sie wie einen Jugendlichen behandelte.
»Du mästest uns«, sagte Judd, als sie im Türrahmen auftauchte, und nahm sich zwei Erdnussbutterkekse vom Teller.
Aisha schnaubte und kniff in Judds feste Oberarmmuskeln. »Dann werde ich dich auf Diät setzen. Ab sofort …« Sie gab ihm noch zwei Kekse, reichte auch Walker ein paar und ging dann in die offene Küche. »Toby! Marlee! Auf dem Tresen stehen Kekse.«
Judd grinste, als die begeisterten Dankesrufe der Kinder zu hören waren. »Darf ich dich als Großmutter adoptieren?«
Aisha gab ihm einen Klaps auf den Hinterkopf, als sie die Wohnung verließ. »Wirst schon sehen, was du davon hast, wenn du mich zu einer alten Großmutter machst, mein Junge.«
Lachend rieb sich sein Bruder den Kopf, und Walkers Mundwinkel hoben sich.
Kurz danach kamen Lara und Brenna herein, die die letzten Kleidungsstücke aus der alten in die neue Wohnung transportierten. Walker spürte einen Stich im Herzen, als er Laras Lächeln sah und die wilden Locken, die sie mit einem smaragdgrünen Seidenschal zurückgebunden hatte und die im künstlichen Sonnenlicht der Höhle glänzten. Seine Gefährtin schien es nicht zu scheren, dass er anders war als die Gestaltwandler, mit denen sie aufgewachsen war, und auch niemals wie diese sein würde, wie lange er auch unter ihnen leben mochte.
Doch ein Teil von ihm war auf der Hut, achtete auf das kleinste Anzeichen, das darauf hindeutete, dass sie in ihrer Beziehung unglücklich sein könnte. Er wusste, dass dieser Teil in den Jahren entstanden war, in denen Glück ein ferner Traum und Überleben sein einziger Antrieb gewesen war, doch er konnte es nicht einfach auslöschen, konnte nicht plötzlich ein anderer werden.
Laras Blick traf ihn, Falten erschienen auf ihrer Stirn. Sie trat zu ihm, küsste ihn leicht auf den Mund und flüsterte: »Ich liebe dich, so, wie du bist.« Als hätte sie gehört, was er gedacht hatte.
Er legte die Hand um ihren Nacken, bedeckte den Mund mit seinen Lippen, um die Frau zu schmecken, die Teile von ihm sah, von denen er gar nicht mehr gewusst hatte, dass sie noch existierten.
»Vergiss das ja nicht.« Ein heiserer Befehl, ehe seine Gefährtin mit Brenna in ihrem großen Schlafzimmer verschwand.
Als Walker sich umdrehte, sah er in goldgesprenkelte Augen. »Es tut dir gut, eine Gefährtin zu haben«, sagte Jud, und tiefe Bewegung zeigte sich auf seinem Gesicht. Nur deinetwegen bin ich noch am Leben und kann Brenna lieben. Und ich hielt es immer für ausgesprochen unfair, dass du nicht eine solche Liebe leben konntest.
Davon hatte Walker bislang nichts gewusst. Vor Lara war mir gar nicht bewusst, was mir fehlte. Die Sicherheit der Familie hatte für ihn immer im Vordergrund gestanden.
Wieder hörte er Judds klare telepathische Stimme. Aden sagte, es gebe ihm Hoffnung, dass wir es geschafft haben, uns ein richtiges Leben aufzubauen. Allerdings hat er andere Worte dafür gebraucht. Ich weiß nicht einmal, ob er überhaupt verstehen würde, was Hoffnung ist. Judd schwieg, während sie den Esstisch an die richtige Stelle rückten. Klingt vielleicht grausam, doch irgendwie bin ich auch froh, dass er nicht begreift, was es uns bedeutet, mit Brenna und Lara zusammen zu sein.
Walker dachte an das Leben, das Aden führte, das auch Judd einst geführt hatte. Meinst du, es könnte ihm den Verstand rauben?
Wäre es uns nicht so gegangen, wenn wir gewusst hätten, wie viel wir niemals erleben würden?
Walker schüttelte den Kopf. Eine hypothetische Frage. Man muss es erleben, um es zu begreifen. Worte konnten niemals beschreiben, wie herrlich Gefühle sein konnten.
»Stellt es da links ab«, sagte er, als Drew und Hawke mit dem zweiten Sofa hereinkamen, gefolgt von Indigo, die einen Stapel von sechs Kissen vor sich her trug und an der Seite vorbeischauen musste.
Die leuchtend blauen Augen der Offizierin, denen sie ihren Namen verdankte, sahen Walker an. »Eins muss ich ja sagen«, sagte sie mit übertrieben spitzer Stimme. »Für einen Typen, der Zierkissen mag, hätt ich dich nie gehalten.«
»Die habe ich gekauft«, sagte Sienna, die mit einer Tasche hereinkam. »Marlee und ich haben die Muster ausgesucht.« Walker sah in ihrem Blick die Erinnerung an die Freude, weil sie zum ersten Mal ihre Umgebung selbst gestalten konnte. Marlee und sie hatten Kataloge gewälzt und waren ganz aufgeregt gewesen, als sie die Kissen dann ganz nach Belieben überall verteilten.
Nur eine kleine Sache, aber doch etwas sehr Wertvolles.
»Alles erledigt?«, fragte er und strich ihr über die einzigartigen dunkelroten Haare. Kristine hatte auch solches Haar gehabt.
Sienna lehnte sich an ihn, die Sterne in den Kardinalenaugen funkelten. »Ich habe durchgefegt und aufgehoben, was noch herumlag, werde aber morgen mit Evie und den Kindern noch einmal durchwischen, damit alles für die nächsten Bewohner bereit ist.«
»Danke, meine Süße«, sagte Lara, die gerade aus dem Schlafzimmer kam. »Doch jetzt …« Sie ging zum Kühlschrank und holte eine Flasche Sekt und perlenden Traubensaft heraus. »Ein Dankeschön für alle.«
Das Anstoßen weitete sich zu einem improvisierten Abendessen aus, zu dem Riley und Mercy nach Beendigung eines Sicherungslaufs in San Francisco Essen mitbrachten und Laras Mutter den Nachtisch beisteuerte. Laras Vater gesellte sich ebenfalls dazu, als er von seinem Seminar für junge Ingenieure im Wasserwerk zurückkam.
Walker lauschte dem Stimmengewirr und dem Lachen am Tisch, ein unerwarteter Klang in seinen Ohren. Seine Familie war in wenigen Jahren um das Mehrfache angewachsen. Jeder Laurengefährte hatte seine Familie und Freunde mitgebracht, die an ein Band anknüpften, das Judd, Sienna und ihn selbst miteinander und mit den Kindern verband. Und diese Beziehungen würden sich weiterentwickeln, das Leben aller würde sich miteinander verschränken, ineinandergreifen.
Ihr Netzwerk war außergewöhnlich, wunderschön und sehr stark. Niemals mehr musste ein Mitglied seiner Familie allein kämpfen, allein Verletzungen ertragen.
Er sah die wilden Locken der Frau, die die schmerzhafte Einsamkeit vertrieben hatte, die ihn so lange erfüllt hatte, dass er glaubte, sie sei ein Teil von ihm. Lara unterhielt sich mit Indigo, lachte über etwas, das die Offizierin gesagt hatte, und doch lag ihre Hand auf seinem Schenkel, spürte er die nun schon vertraute Wärme. Er legte den Arm auf ihre Rückenlehne, streifte mit den Fingern ihr Haar. Was auch immer die Zukunft für sie bereithielt, eines wusste er genau: Er konnte nie wieder zu den Zeiten zurück, in denen sein Körper nur ein nützliches Werkzeug gewesen war. Nun war er so viel mehr, war eine Quelle der Lust für sich und die Gefährtin.
Fuchsbraune Augen sahen ihn an. »Glücklich?«
Instinktiv wickelte er sich eine ihrer Strähnen um den Finger. »Ja.«
Lara lächelte nur für ihn … wie auch in der Nacht, als sie ihn drängte, sich auf den Rücken zu legen, und ihn leidenschaftlich und besitzergreifend erkundete, bis alle Synapsen feuerten und die Lust so übermächtig wurde, dass sie wie eine donnernde Welle über ihm zusammenschlug.
Ein paar Nächte nach dem Umzug knurrte Lara, als sie ihr Hemd beim Ausziehen zerriss, weil die Krallen ausgefahren waren.
Walker hielt beim Aufknöpfen inne und sah sie in einer Weise an, wie er es oft tat. Als könne er durch ihre Haut hindurchschauen. »Musst du jagen?«
»Heilerinnen fällt es schwer zu jagen«, murrte sie und spürte urplötzlich Ärger, weil er sie durchschaute, ihr aber vieles in ihm immer noch verborgen war. »Jagen widerspricht dem Instinkt zu heilen. Aber ein langer Lauf würde mir guttun.« Sie holte tief Luft, um den Nebel aus ihrem Kopf zu vertreiben.
Die Wölfin kratzte von innen an ihrer Haut, wollte in den Wald, den Wind im Pelz spüren, Nachtdüfte riechen und einatmen. Beinahe spürte sie schon die kühle Brise um die Nase, das Rascheln der Blätter unter den Pfoten – das Bedürfnis, sich zu verwandeln, war übermächtig geworden.
Walker knöpfte sein Hemd wieder zu, verbarg einen Anblick, der sie trotz ihrer Verärgerung erfreut hatte. »Ich werde Judd bitten, ein Auge auf die Kinder zu haben.«
»Nein, du bleibst hier«, sagte sie, streifte die Schuhe ab und zog den Rock aus. »In einer Stunde bin ich zurück.« Wenn sie den Frust losgeworden war, der erbarmungslos an ihr nagte.
Gespannte Stille, dann sagte ihr Gefährte in ruhigem, aber dennoch warnendem Tonfall: »Glaubst du wirklich, ich lasse dich allein da draußen herumlaufen, wo noch vor knapp zwei Wochen unsere Feinde vor der Tür gestanden haben?«
Lara ließ sich nicht einschüchtern. »Glaubst du etwa, du könntest meine Intelligenz beleidigen?« Sie knurrte, bereit zum Kampf. »Ich bin kein Kind und weiß genug, um mich nur in den gefahrensicheren Abschnitten aufzuhalten.«
Walker schrie sie nicht an, er wurde auch nicht wütend, was ihren Zorn aber nur verstärkte. Stattdessen trat er zu ihr und zog ihren steifen Körper an sich. Nackte Haut traf auf rauen Stoff. Das war zu viel für sie, und sie schob ihn von sich. »Ich kann das jetzt nicht ertragen.«
Er ließ sie los, doch der entschlossene Ausdruck auf seinem Gesicht machte deutlich, dass sie nicht allein gehen würde. Na schön, dachte sie, zum Teufel mit der Unterwäsche. In einem Funkenregen verwandelte sie sich in die Wölfin.
Mit gesträubtem Fell tappte sie aus der Wohnung und aus der Höhle. Dann rannte sie los, sollte er doch sehen, ob er mitkam. Ihr Gefährte war nicht so schnell wie sie, aber sehr klug. Er folgte trotz allem ihrer Spur. Der Wölfin gefiel das, sie mochte seine Zielstrebigkeit. Deshalb wich sie ihm nicht mehr aus, sondern lief schließlich Seite an Seite mit dem gefährlichen Mann, der ihr gehörte, unter den glitzernden Sternen der Sierra. Die nächtlichen Waldwesen erstarrten kurz, als die Wölfin mit ihrem Gefährten vorbeikam, und wandten sich dann wieder ihren Geschäften zu.
Jedes Haar an Walkers Leib richtete sich auf bei dem gespenstischen Heulen, das in die Luft stieg, als Lara und er auf einem Hügel stehenblieben. Ihre Herzen klopften schnell, als sie hinunter auf die silbrig glänzenden Fichten und das sich sanft wiegende Gras schauten.
Die Wölfin stand wie ein Schattenriss vor dem tief hängenden Mond, dann warf sie den Kopf zurück und stimmte in den Gesang ein. Noch nie hatte Walker etwas ähnlich Schönes gehört, es klang so lebendig, so wild, als hätte sich die dünne Schicht der Zivilisation aufgelöst und nur die innerste Seele zurückgelassen – nur zu gerne hätte er mit eingestimmt.
Erst nachdem das Heulen verklungen war, als eine Stille eingesetzt hatte, die so dicht und geballt war, dass er begriff, dass Lara weit mehr als er in ihr vernahm, setzte er sich zu ihr, legte ihr die Hand auf den Rücken, auf das dichte Fell, das so herrlich weich war. »Irgendetwas ist doch nicht in Ordnung, und du solltest es mir erzählen.«
Sie legte den Kopf auf eine Art schief, die er verstand, obwohl er kein Wolf war.
»Ja, das ist ein Befehl.« Er ertrug es einfach nicht, wenn sie unglücklich war. »Du hast mich gebeten, mich nicht vor dir zu verschließen. Nun bitte ich dich darum, es auch nicht vor mir zu tun.« Niemand anders konnte ihn so tief verletzen wie sie, konnte so großen Schaden in ihm anrichten, doch am schlimmsten traf es ihn, wenn sie ihm die Liebe vorenthielt, die ein Teil seines Lebens geworden war.
Die Wölfin sah fort … dann spürte er einen Luftzug unter den Fingern, sah den Funkenregen. Er erstarrte, sein Herz schlug schnell. Das große Vertrauen machte ihn fassungslos, er konnte kaum glauben, wie viel er ihr bedeutete. Niemals werde ich dich enttäuschen. Das hatte er sich schon geschworen, als er sie in Besitz genommen hatte.
Einen Herzschlag … oder auch ein ganzes Jahrhundert später lag seine Hand auf kühler Haut, und eine Frau mit fuchsbraunen Augen kniete vor ihm, nahm sein Gesicht in beide Hände. »Es hat nichts mit uns zu tun. Du bist mein Ein und Alles.«
Etwas in ihm zerbrach, er hätte nicht sagen können, was es war, spürte nur einen Kloß im Hals. »Komm her«, sagte er mit rauer Stimme.
Auf seinem Schoß streichelte er sie, bis sie sich zusammenrollte und die Hand auf sein Herz legte. Obwohl er wusste, dass sie Kälte gut vertragen konnte, zog er sein Hemd aus und reichte es ihr.
Sie wies es nicht zurück, legte den Kopf an seine Schulter. Er strich über die seidige Haut der Beine, und sie seufzte wohlig. »Niemand wird mich je davon überzeugen können, dass es einen schöneren Ort auf Erden gibt.«
Walker konnte ihr nicht widersprechen. Die nächtliche Sierra war von fast schmerzhafter Schönheit, doch alle Aufmerksamkeit galt seiner Gefährtin, er wollte wissen, was sie dazu gebracht hatte, ihn auf diese ungewöhnliche Art anzuknurren. Ihm fiel nur eine mögliche Erklärung ein.