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Lara erwachte in den Armen eines Mannes, fest an ihn geschmiegt, alle Glieder miteinander verschlungen. Straffe Muskeln und raue Wärme umschlossen sie besitzergreifend.

So, wie sie ihn umfing.

Mit geschlossenen Augen genoss sie den Duft von dunklem Wasser und schneebedeckten Fichten … und das köstliche Band, das sie unwiderruflich an den starken Telepathen fesselte, an den einzigen Mann, den sie je hatte haben wollen.

Er ist mein.

Mit diesem Gedanken schlug sie die Augen auf, strich über Walkers Brust, über die feste glatte Haut mit den feinen dunkelblonden Haaren, die ihre Sinne erregte. Die Wölfin in ihr rieb sich wohlig unter der Haut, wollte den Mann zärtlich berühren.

»Bedingungslose Körperprivilegien.«

Die hatte ihr Gefährte ihr zugestanden. Und sie würde sie ausschöpfen, es verlangte sie so sehr nach dem gefährlich schönen Mann. Der entspannte Schlaf konnte die Kraft nicht verbergen, die in ihm steckte. Die breiten Schultern, der flache muskulöse Bauch und der stahlharte, unbeugsame Wille. Der Mann konnte dem stärksten Sturm standhalten. Und er gehörte ihr, berührte sie mit einer Hingabe, die so aufrichtig war, dass es ihr den Atem nahm.

Die Schönheit der Verbindung ließ sie erschauern, sie reckte sich. Sein Gesicht war kantig, die Haut gebräunt, denn Walker verbrachte viel Zeit außerhalb der Höhle. Aus diesem Blickwinkel warfen die Wimpern halbmondförmige Schatten auf seine Wangen, und die feinen Silberfäden in seinem dunkelblonden Haar leuchteten.

Tausend Schmetterlinge flatterten in Laras Bauch.

Walker gehörte zu den Männern, die im Alter nur noch schöner wurden, weil sich ihre Persönlichkeit noch deutlicher in den Gesichtszügen zeigte. Das würde es für sie nicht einfacher machen, denn bereits jetzt war er der anziehendste Mann, dem sie je begegnet war – ein einziger Blick von ihm genügte, und ihre Knie wurden weich wie gekochte Spaghetti.

Bei der Vorstellung, mit ihm zusammen alt zu werden, wurde ihr ganz warm, ihre dunkle Haut glühte geradezu. Sie platzte beinahe vor Glück, küsste Walker und spürte, wie seine Lippen sich zu einem Lächeln verzogen. »Ich wusste doch, dass du wach bist.« Die Wölfin in ihr tollte spielerisch umher.

Walker streichelte ihr den Rücken. »Müssen wir aufstehen?«

Die Zeit hätte Lara nicht geschert, wenn es nur um sie beide gegangen wäre, doch es gab Junge, die unter Walkers Schutz standen … und nun auch unter ihrem. Marlee und Toby gehörten zur Familie. Marlee war Walkers Tochter, Toby sein Neffe, doch er war beiden ein Vater geworden, hatte sein Leben aufs Spiel gesetzt auf die vage Möglichkeit hin, dass die Kinder Schutz bei den SnowDancer-Wölfen fänden.

»Nein«, sagte sie, nachdem sie sich mit einem kurzen Blick auf die Kommunikationseinheit auf dem Nachttisch vergewissert hatte. »Eine knappe Stunde haben wir noch.« Eine Stunde des Friedens, denn die Schlacht war gewonnen, der Feind so gründlich besiegt, dass es dumm von ihm gewesen wäre, noch einmal zurückzukehren.

Walker schlug die Augen auf, und helles Grün strahlte sie an. Es war kein weicher Blick. Walker würde nie weich sein. Doch er war … so offen, wie er noch nie gewesen war. Einladend.

Sengende Wärme ging von ihm aus. Sie fuhr ihm durchs Haar und fragte: »Ist mit den Kindern alles in Ordnung?«

Er streichelte sie weiter, die Schwielen an seiner Hand waren erotisierend.

So lange hatte sie auf seine Berührung warten müssen.

Als er ihr gesagt hatte, er könne es niemals tun, da sein Herz durch die eisige Kälte von Silentium zu sehr verletzt sei, war der Schmerz in ihr übermächtig gewesen.

Doch nun wusste sie, dass die Konditionierung ihm die Gefühle nie ganz auszutreiben vermocht hatte, denn sein Herz war so stark, dass er selbst im mitleidlosen Medialnet noch geliebt hatte.

Seine Tochter.

Seine Nichte und seinen Neffen.

Seine dahingegangene Schwester.

Seinen Bruder.

Sie waren damals eine Familie gewesen und waren es auch jetzt noch, weil es Walker gab, der sich geweigert hatte, die Bande zerreißen zu lassen, und nie einen von ihnen aufgegeben hatte, ob es sich um einen kalten Auftragskiller oder ein gebrochenes Kind gehandelt hatte.

»Ja, es geht ihnen gut«, beantwortete er ihre Frage, seine Züge verrieten nicht, dass er mit den Kindern telepathisch kommunizierte. »Toby und seine Freunde spielen mit Drew Basketball, und Marlee ist bei Ava.«

»Ava ist eine gute Freundin.« Klatsch verbreitete sich unter den Wölfen wie ein Lauffeuer. Wahrscheinlich hatte Ava schon zwei Minuten, nachdem Walker Laras Schlafzimmer betreten hatte, davon erfahren. Natürlich würde ihre beste Freundin sie nachher bedrängen, ihr alles haarklein zu erzählen, aber in der Zwischenzeit würde sie alles tun, damit Walker und sie ungestört waren.

»Marlee sagt, Ben schnarche in Wolfsgestalt, sie habe ihn müde gespielt.«

Lara musste über die Vorstellung eines zusammengerollten erschöpften Wolfswelpen lachen. »Der arme Ben.«

Avas Sohn bewunderte Marlee, die ungewöhnliche Freundschaft zwischen beiden war von spielerischer Unschuld. Ben war fünfeinhalb und Marlee vier Jahre älter, doch trotz des Altersunterschieds konnten sie einander zum Lachen bringen, bis sie auf dem Boden lagen und sich die Bäuche hielten. Lara war nicht die Einzige im Rudel, die sich fragte, ob die Freundschaft zwischen beiden nicht auf eine ganz andere Beziehung in der Zukunft hinauslief. Doch noch waren sie Kinder.

Bevor sie den Gedanken äußern konnte, sah Walker ihr tief in die Augen. »Ich werde kein einfacher Gefährte sein.«

Das kam unerwartet, doch sie hatte eine Antwort parat. »Du bist wunderbar. Einfach vollkommen.«

»Denk immer daran«, sagte er und sah sie immer noch mit einem so intensiven Blick an, dass ihre Haut kribbelte. »Vor allem in Zeiten, in denen du dich fragst, was du eigentlich mit mir zu schaffen hast.«

Plötzlich wurde Lara kalt, Angst stieg in ihr auf, da er so sicher schien, dass Schwierigkeiten auf sie zukämen. Sie schob die Befürchtungen beiseite, die Wölfin fletschte die Zähne und hielt an dem wunderbaren Band fest, das sich aus einem Ort ohne Furcht und Zweifel speiste, an dem die Schatten der Vergangenheit keine Macht besaßen.

»In Ordnung«, sagte sie. Sie kannte Walker. Er war gezeichnet von dem Leben, das er früher hatte führen müssen, von den Entscheidungen, die er damals getroffen hatte. Er brauchte Zeit, um dem Glück zu vertrauen, zu akzeptieren, dass von nun an immer jemand an seiner Seite war. »Aber versprich mir eines.«

Aufmerksam hielt er mit dem Streicheln inne.

»Rede mit mir, wenn es ein Problem gibt. Verschließ dich nicht.« Davor fürchtete sie sich am meisten. Im Medialnet hatte Walker die Fassade von Silentium aufrechterhalten, war allen erbarmungslos, eiskalt und herzlos erschienen, obwohl er für seine Familie gekämpft hatte. Nie hatte er in seiner Treue gewankt, hatte sich ihrer Rettung vollkommen verschrieben. Dennoch hatte niemand auch nur vermutet, dass Walker der herrschenden Ordnung nicht loyal gegenüberstand.

Eine solche Selbstkontrolle konnte jemanden in Stein verwandeln.

Walker stimmte nicht sofort zu. »Ich werde es versuchen.« Er drückte sie an sich. »Doch die Stille, wenn auch nicht Silentium, ist ein Teil von mir.«

»Ich liebe deine Stille.« Er ruhte so in sich, stand so fest auf dem Boden, dass er ihr Anker geworden war. »Es würde mich nur verletzen, wenn du die Stille als Waffe nutztest.«

»Das wird nie geschehen.« Ein Schwur.

Sie lächelte, zeigte ihm offen, was sie für ihn empfand. Ein Außenstehender hätte leicht annehmen können, dass sie in der Beziehung den Kürzeren zog, weil sie ihre Gefühle so offen zeigte, während er die seinen kontrollierte, doch sie wusste es besser. Nie würde sie den Tag vergessen, an dem er ihr sein Herz geschenkt hatte.

»Es ist geheilt, solange du dich nicht an den vielen Narben störst.«

Vernarbt und geschunden war sein Herz ein Geschenk, dessen Wert sie gar nicht hoch genug schätzen konnte.

»Marlee muss eine große Überraschung für alle gewesen sein«, sagte sie von Gefühlen überwältigt. Walkers Tochter redete viel, war immer fröhlich und hatte ein ansteckendes Lachen. Sie zeigte so offen und unschuldig ihre Freude, dass sie jünger wirkte, als sie war – doch ihre Arbeiten in der Schule zeugten von großer Intelligenz. Marlee liebte das Leben, so einfach war das.

»Ich weiß auch nicht, woher sie das hat.« Das leichte Lächeln auf Walkers Lippen verschwand. »Die Marlee, die du kennst, ist eine andere als das Mädchen im Medialnet.«

Lara erinnerte sich an den Tag, als die Laurens in die Höhle gekommen waren. Mehr als drei Jahre war das her. Sienna hatte die bewusstlose Marlee getragen, Walker Toby. Der Junge war so viel kleiner und zarter gewesen als jetzt. Beide Kinder hatte die Trennung vom Medialnet schwer getroffen: der brutale Schnitt von dem geistigen Netzwerk, das die Medialen mit dem überlebenswichtigen Biofeedback versorgte und sie gleichzeitig gefangen hielt, der Gnade des Rates und eines Programms ausgeliefert, das Freude und Liebe verbot. Die Laurens hatten die Trennung nur überlebt, weil sie sich sofort in einem kleinen Familiennetzwerk miteinander verbunden hatten.

Als Ersten hatte Lara Judd gesehen, dessen Killerblick die grimmigen Wolfssoldaten nicht aus den Augen ließ, die die Familie zur Krankenstation brachten. Sie wusste sofort, dass er töten würde, um die anderen zu schützen. Dann traf sie ein Blick aus den blassgrünen Augen eines Fremden, der ein Kind in seinen Armen hielt, und sie begriff, dass der äußerlich ruhig erscheinende Mann eine noch größere Gefahr sein konnte.

Als Marlee aus ihrer Ohnmacht erwachte, stand sie unter Schock, die großen Augen hatten dieselbe Farbe wie die Augen ihres Vaters und leuchteten in dem blassen Gesichtchen. Erst Monate später war ihre lebhafte Persönlichkeit zum Vorschein gekommen. Walker hatte jahrelang mit ansehen müssen, wie seine Tochter zu einem funktionierenden Rädchen der gut geölten Medialenmaschinerie gedrillt wurde, wie man ihren Geist zerstörte.

Sie nahm sein Gesicht in beide Hände. »Du hast sie dort herausgeholt, nie mehr wird sie ihre Persönlichkeit Silentium unterordnen müssen.«

Unerwartet blitzte Belustigung in seinen Augen auf. »Ihr jetzt noch Silentium aufzudrücken, das sollte erst einmal jemand versuchen.«

Lara lachte und schnappte nach Luft, als sie seine Hände auf ihrem Hinterteil spürte. »Du scheinst ganz wach zu sein.«

»Hmm.« Das tiefe Brummen war ihr schon vertraut, so hörte sich ihr Gefährte an, wenn er an etwas ganz Bestimmtem Interesse hatte.

Sie küsste ihn, als er sie auf sich zog und seine Hand in ihrem Haar vergrub. Ihre Brustwarzen rieben sich an rauen Härchen, und sie wollte sich gerade der schönsten Art des Aufwachens hingeben, als es an der Kommunikationseinheit läutete.

Stöhnend richtete sie sich auf. »Ich muss rangehen.« Sie war die Heilerin der Wölfe und nahm jeden Anruf entgegen.

Walker streckte schon die Hand zum Touchscreen aus. »Es ist aber kein Notruf.«

»Das heißt gar nichts. Es gibt Jugendliche, die sich das Bein brechen und dann nicht den Notruf wählen, weil sie den Schmerz aushalten können.« Sie legte sich auf den Rücken und versuchte ihre Enttäuschung zu überwinden. Walker drückte den Audiokanal und meldete sich: »Ja, bitte?«

Überraschtes Schweigen, dann die zögerliche Stimme einer Jugendlichen. »Emm … kann ich Lara sprechen?«

Lara wusste sofort, wer es war, und setzte sich auf. »Silvia?« Das Mädchen gehörte zu den stabilen Jugendlichen im Rudel, sie würde nicht anrufen, wenn es nicht wichtig wäre. »Was ist passiert?«

»Ich bin gerade mit einem der Evakuierungstransporte zurückgekommen.«

Die Wölfin in Lara stimmte ein Freudengeheul an, denn immer mehr Junge kehrten aus den gefahrlosen Gebieten, wo sie während der Kämpfe untergebracht waren, in die Höhle zurück. »Weiter«, ermutigte sie das Mädchen, als diese zögerte.

»Ich weiß, dass ihr erschöpft seid.« In jeder Silbe lag eine Entschuldigung. »Doch das Junge, für das ich zuständig bin, weint ununterbrochen, weil Vater und Mutter nicht da sind. Ich hätte auch im Kindergarten anrufen können, aber ich weiß ja, wie sehr Mason dich mag …«

»Bin gleich da.« Lara war schon aufgestanden und zog eine Jeans über, Walker tat es ihr gleich. »Sag Mason, dass es seinen Eltern gut geht. Ihr seid ein wenig zu früh zurück, seine Eltern sind noch an der Grenze.«

Als sie sich umdrehte, hielt Walker ein Handy hoch. »Ich rufe die beiden an.«

Heute Nacht würde sie sich der schönen Brust widmen, nahm Lara sich vor und warf ihm eine Kusshand zu. Dann begab sie sich zu den Neuankömmlingen.

»Lara!«, wimmerte Mason und hing sofort an ihrem Hals wie ein kleiner Affe.

»Schon gut, mein Kleiner.« Sie drückte ihn und hielt ihn dann ein wenig von sich weg, um ihm in die Augen sehen zu können. Im Gegensatz zu Silvia war sie eine Erwachsene, und die Rollen waren klar definiert – Masons Wolf war sofort aufmerksam, auch wenn seine Augen noch in Tränen schwammen. »Deine Eltern sind auf dem Weg«, sagte Lara, denn sie war sicher, dass Walker dafür sorgen würde. »Es geht ihnen gut.«

Seine Unterlippe zitterte. »Kommen sie her?«

»Ja, und sie freuen sich auf dich.« Sie küsste die feuchte Wange und flüsterte verschwörerisch: »Dein Bus ist unglaublich früh hier gewesen, damit hatten sie nicht gerechnet. Hattet ihr Flügel?«

Der Junge schüttelte den Kopf. »Nein … ich hab keine gesehen.«

»Sollen wir mal nachschauen?«

Zu dritt liefen sie um das gepanzerte Fahrzeug herum, und Mason inspizierte jeden Winkel auf Flügel, bis zwei Erwachsene außer Atem auf der Lichtung erschienen. »Mason!«

»Mami! Papi!«

Lara lächelte, als das Junge in Wolfsgestalt gleich auf zwei Armpaare sprang. Dann zog sie Silvia an sich. »Hast du gut gemacht, Süße.« Das Mädchen hatte ihren Verstand benutzt und nicht einmal aufgegeben, als unerwartet ein Mann am anderen Ende der Leitung war.

In dem dunkelbraunen Gesicht leuchtete ein erleichtertes Lächeln auf. »Tut mir leid, dass ich dich und Walker gestört habe.«

»Woher weißt du, dass es Walker war?«

Das Lächeln wurde zu einem breiten Grinsen, und Silvia tippte sich auf die Nase. »Ich bin eine Wölfin.« Sie zögerte kurz. »Und ich habe vor einer ganzen Weile gesehen, wie ihr euch heimlich geküsst habt.«

Dann lief die Jugendliche lachend davon, und Laras Wölfin wandte sich dem Duft von dunklem Wasser zu, in dem tausend Geheimnisse verborgen waren.

»Ich werde kein einfacher Gefährte sein.«

Und obwohl sie wusste, wie stark ihre Liebe war, und dass sie nie und nimmer schwach werden oder gar zerbrechen würde, tat ihr das Herz weh, als sie sich fragte, ob er seine Geheimnisse eines Tages mit ihr teilen würde … oder ob ein Teil von ihm ihr für immer verschlossen blieb.