74.
Roberta
Hätte Roberta aufgepasst, wäre die Sache vielleicht anders verlaufen, das heißt, sie wäre vielleicht gar nicht verlaufen. Zu ihren Gunsten muss man sagen, dass sie ihren Handel mit Risa ehrlich gemeint hat, auch wenn er in höchstem Maße manipulativ war. Sie hatte ein paar Anrufe getätigt und ein paar Fäden gezogen, dann hatte die Jugendbehörde bestätigt, dass in naher Zukunft keine Razzien auf dem Flugzeugfriedhof geplant seien. Sollte sich in dieser Hinsicht etwas ändern, würde Roberta lange vorher gewarnt, sie hätte also genügend Zeit, weitere Fäden zu ziehen und eine solche Razzia zu verhindern. Roberta war es nie um Täuschung gegangen, immer nur um Ergebnisse.
Doch dann war sie so in die Medienkampagne eingebunden, mit der Cam zum Liebling der modernen Welt gemacht werden sollte, dass ihr die brennenden Häuser in Tucson und der dreiste Junge entgangen waren, der sie in Brand gesteckt und behauptet hatte, als Rächer aller Storche zu handeln. Ja, eigentlich sollte die Jugendbehörde Roberta durch ihre Mitarbeiter beim Proaktiven Bürgerforum über eine Razzia informieren. Aber wie bei jeder spinnenartigen Organisation wissen auch beim Proaktiven Bürgerforum die Fangarme nicht, was die Spinndrüsen tun. Als die Nachricht von der Razzia über die Sender gegangen war, hatte das Telefon in ihrer Tasche unablässig geklingelt, aber sie hatte die Nase voll davon gehabt, dass zu viele Menschen zu viel von ihrer Zeit beanspruchten – und hatte nicht abgenommen.
Deshalb weiß Roberta nichts von der Razzia, bis das Interview mit Risa und Cam beginnt. Und da ist es zu spät.
Roberta sitzt im Green Room, dem angenehmen kleinen Bereitschaftsraum des Studios, der reichlich mit altbackenen Plunderteilchen und dünnem Kaffee ausgestattet ist, und schaut auf einen Monitor, der die Übertragung aus dem Studio zeigt. Ihr entsetzter Gesichtsausdruck könnte selbst den laktosefreien Milchersatz gerinnen lassen.
»Ich bin weder jetzt für die Umwandlung noch war ich es jemals«, sagt Risa. »Umwandlung ist wahrscheinlich der schlimmste Akt, den die Menschheit je gutgeheißen hat.«
Obwohl der TV-Mann eigentlich bekannt dafür ist, in schwierigen Situationen ruhig zu bleiben, gerät er einen Moment lang ins Schleudern. »Aber all Ihre öffentlichen Erklärungen …«
»Lauter Lügen. Ich wurde erpresst.«
Roberta stürmt aus dem Green Room hinaus auf den Flur in Richtung Studio. Das rote Licht leuchtet. Das bedeutet »betreten verboten«, weil die Kameras laufen, aber Roberta hat nicht vor, dieses Verbot zu beachten.
Die Monitore auf dem Flur zeigen allesamt Risas gehässige Rede. Ihr Gesicht ist auf jedem Bildschirm zu sehen und schaut Roberta aus einem halben Dutzend verschiedener Richtungen an.
»Ich wurde von einer Gruppe namens Proaktives Bürgerforum bedroht und erpresst. Allerdings haben diese Leute noch viele andere Namen wie ›Vereinigung besorgter Steuerzahler‹ oder ›Nationale Gesellschaft für vollständige Gesundheit‹. Aber das ist alles nur vorgeschoben.«
»Ja, ›Proaktives Bürgerforum‹ sagt mir was«, meint der Reporter, »aber ist das nicht eine philanthropische Gruppierung? Ein Wohltätigkeitsverein?«
»Wohltätig zu wem?«
Als Roberta sich der Studiotür nähert, schneidet ein Wachmann ihr den Weg ab.
»Tut mir leid, Ma’am, Sie können da jetzt nicht rein.«
»Lassen Sie mich vorbei, oder ich verspreche Ihnen, dass Sie arbeitslos sind, bevor es hell wird.«
Er antwortet ihr, indem er stehen bleibt und Verstärkung anfordert, also steuert Roberta stattdessen den Regieraum an.
»Sie behaupten, sie kontrollieren die Jugendbehörde«, fährt Risa fort. »Sie behaupten, dass sie viele Dinge kontrollieren. Vielleicht stimmt es, vielleicht auch nicht, aber glauben Sie mir, die Leute vom Proaktiven Bürgerforum vertreten im Grunde nur ihre eigenen Interessen.«
Die Kamera schwenkt auf Cam, der völlig perplex aussieht, dann zurück auf den Reporter.
»Ihre Beziehung zu Camus …«
»Ist nur ein Publicity-Gag. Ein vom Proaktiven Bürgerforum sorgfältig geplanter Publicity-Gag, der Cam Anerkennung und Bewunderung einbringen sollte.«
Roberta platzt in den Regieraum. Am Regiepult sitzt ein Techniker und der Sendeleiter lehnt sich hocherfreut in seinem Stuhl zurück. »Das ist cool«, sagt er zu seinem Techniker. »Die Prinzessin der Umwandlung beißt die abgetrennte Hand, die sie füttert! Besser geht’s nicht!«
»Stoppen Sie das Interview!«, ordnet Roberta an. »Stoppen Sie es auf der Stelle oder Sie und Ihr Sender haften für alles, was sie da sagt!«
Der Produzent lässt sich nicht beeindrucken. »Entschuldigung, aber wer sind Sie?«
»Ich bin … ihre Managerin, und sie ist nicht zu diesen Aussagen autorisiert.«
»Na ja, Lady, wenn Ihnen nicht gefällt, was Ihre Klientin zu sagen hat, dann ist das nicht unser Problem.«
»Ihre Zuschauer sollten sich Folgendes fragen«, sagt Risa. »Wer profitiert am meisten von der Umwandlung? Beantworten Sie diese Frage, dann, denke ich, wissen wir, wer hinter dem Proaktiven Bürgerforum steckt.«
Da taucht der Wachmann hinter Roberta auf und zieht sie unsanft zur Tür hinaus.
Roberta wird in den Green Room verbannt, bis das Interview vorbei ist und der Werbeblock läuft.
Der Wachmann ist immer noch in Alarmbereitschaft und will sie nicht durchlassen: »Ich habe Anweisung, Sie nicht ins Studio zu lassen.«
»Ich will zur Toilette.«
Sie drängelt sich an ihm vorbei und entwischt zur Studiotür. Risa und Cam sind weg und den nächsten Gästen werden die Mikros angelegt.
Roberta schlägt einen Bogen um den Wachmann – der, wie sie weiß, nicht zögern würde, sie zu betäuben – und biegt in den Seitenflur zu den Garderoben ab. Risas Garderobe ist leer, aber Cam ist da. Sein Jackett und seine Krawatte liegen auf dem Boden, als hätte er es kaum erwarten können, sie sich vom Körper zu reißen. Den Kopf in die Hände gestützt, sitzt er vor dem Schminktisch.
»Hast du gehört, was sie über mich gesagt hat? Hast du es gehört?«
»Wo ist sie?«
»Kopf in den Sand! Schildkröte im Panzer! Lass mich in Ruhe!«
»Konzentriere dich, Cam! Sie war mit dir im Studio. Wohin ist sie gegangen?«
»Sie ist weggelaufen. Sie sagte, es ist vorbei, sie ist Geschichte. Dann ist sie die Feuertreppe runter.«
»Sie wird tatsächlich Geschichte sein, wenn ich mit ihr fertig bin.«
Roberta nimmt die Feuertreppe. Sie befinden sich im ersten Stock, und Risa kann nur hinaus auf den Parkplatz gelaufen sein, der zu dieser Tageszeit fast leer ist. Mehr als fünfzehn Sekunden Vorsprung kann sie eigentlich nicht haben, aber sie ist nirgends zu sehen. Der einzige Mensch weit und breit ist ihr Fahrer. Er lehnt an seinem Wagen und isst ein Sandwich.
»Haben Sie sie gesehen?«, fragt Roberta.
»Wen?«, fragt er.
Und da beginnt Robertas Telefon zu klingeln, als werde es nie wieder aufhören.