69.
Lev
Lev hat den Vorteil, dass sich die Kämpfe vor ihm abspielen. Er sieht, wo die Front verläuft, erkennt die Taktik der angreifenden JuPos, und da ihnen bislang noch niemand Augen in den Hinterkopf gepflanzt hat, kann er sich frei bewegen.
Für Nelson gilt genau dasselbe.
Der Fluchtjet steht noch an seinem ursprünglichen Platz und die Polizisten richten ihr Augenmerk auf die bewaffneten Kids am nördlichen Ende des Mittelgangs. Lev erspäht Nelson. Er hat seinen Kastenwagen ganz im Westen des Friedhofs abgestellt und ist jetzt zu Fuß unterwegs. Der Teilepirat trägt inzwischen eine JuPo-Uniform. Er wird sich einfügen und als einer von ihnen durchgehen. Lev kann nur als EA durchgehen und das bringt ihn nicht weit, im besten Fall bis zur Bewusstlosigkeit. Er muss vorsichtig sein.
Er muss herausfinden, wo in diesem Kriegsgebiet Connor sein könnte, und auf einmal wird ihm klar, dass er diesen Connor eigentlich gar nicht kennt. Dem alten Connor war es nur darum gegangen, die eigene Haut zu retten. Aber ist er immer noch so? Inzwischen ist er schließlich für alle auf dem Friedhof verantwortlich. Connor hat einmal ein Baby gerettet. Und er hat Lev gerettet. Nein, Connor würde nicht weglaufen und sich verstecken. Er wird hierbleiben, bis der letzte Wandler niedergestreckt ist, und dieser letzte könnte durchaus er selbst sein.
Nelson weiß das nicht. Er sieht nur eine Seite von Connor: den kleinen miesen EA. Er wird Connor nicht im Getümmel suchen, sondern am Rand, und tatsächlich sieht Lev ihn weit draußen, wo vereinzelt Flüchtlinge betäubt auf dem Boden liegen. Wie ein Geier, der an Aas pickt, hebt Nelson ihre Köpfe an und betrachtet die Gesichter, lässt sie wieder fallen und geht zum nächsten.
Lev lässt Nelson viel Raum. Er hält sich hinter ihm im Dunklen und arbeitet sich so näher an die Gefahrenzone heran, wo BePos und bewaffnete Kids aufeinandertreffen. Dort wird auch Connor sein – aber wie soll Lev ihn vor Nelson und den JuPos retten?
Als ihm die Antwort dazu einfällt, muss er trotz der schrecklichen Kämpfe um ihn herum grinsen. Die Antwort ist einfach. Aber auch erschreckend. Unmöglich. Und doch könnte es funktionieren.
Lev nähert sich gerade dem Mittelgang, als der Dreamliner losrollt und die BePos gegen die drängelnden Kids vorgehen, die es nicht an Bord geschafft haben.
Hundert Meter entfernt sieht er, wie eine Gestalt in Tarnkleidung an der bröckelnden Front furchtlos einen JuPo angreift, der auf ihn schießen will. Der Typ schaltet den JuPo aus, und zwar nicht mit einem Geschoss, sondern mit seinem Gewehrkolben. Und irgendwie kommt Lev die Art, wie der Typ sich bewegt, bekannt vor.
Lev kämpft gegen den Strom von Flüchtlingen an, die ihm entgegenkommen. Er beachtet weder die Schüsse noch die heulenden Düsentriebwerke oder das knirschende Metall, als der Dreamliner beim Start einen Straßenkampfwagen rammt.
Das umgekippte Fahrzeug geht in Flammen auf, als das Flugzeug sich in die Lüfte hebt, und das Licht von der Explosion beleuchtet das Gesicht des Typen in Tarnkleidung. Lev hat ihn gefunden.
»Connor!«
Aber Connors Blick ist fest auf das Fluchtflugzeug gerichtet. »Steh hier nicht rum, lauf weg!«, ruft er ihm zu. »Ihr müsst alle weglaufen!«
»Connor, ich bin’s. Lev.«
Selbst als Connor Lev anschaut, erkennt er ihn nicht gleich, und das liegt nicht nur an den langen Haaren. Keiner der beiden ist noch derselbe wie vor einem Jahr.
»Lev? Was machst du hier? Ist jetzt die ganze Welt verrückt geworden oder habe ich den Verstand verloren?«
»Bestimmt beides, aber ich bin wirklich hier.« Lev beugt sich nach unten und nimmt dem JuPo, den Connor gerade bewusstlos geschlagen hat, die Betäubungspistole ab. »Ich bin gekommen, um dich zu retten.«
»Das ist der größte Blödsinn, den ich je gehört habe.«
»Das ist sicher richtig, aber ich muss dich warnen: Ein Teilepirat ist hinter dir her.«
»Das ist gerade mein geringstes Problem.«
Ein Junge mit einem automatischen Gewehr rennt zu Connor. »Wir haben keine Munition mehr! Was sollen wir tun?«
»Stöcke, Steine und Flugzeugteile«, antwortet Connor. »Oder du versuchst dein Glück und rennst. Starkey hat uns nicht viele Wahlmöglichkeiten gelassen.«
»Verdammter Starkey!« Der Junge wirft seine nutzlose Waffe weg. »Viel Glück, Connor.« Er rennt davon und verschwindet in der Dunkelheit.
Ein Stück weit entfernt taucht der Suchscheinwerfer eines Polizeihubschraubers die Kids in helles Licht. Die BePos haben sie umzingelt: Vierhundert Jugendliche sitzen in der Falle, während riesige Transporter den Mittelgang herabrollen, um sie einzuladen und wegzuschaffen.
»Du kannst jetzt nichts für sie tun«, sagt Lev zu Connor.
»Ich lasse sie nicht im Stich.«
»Deshalb lasse ich dir keine Wahl.« Lev hebt die Betäubungspistole, die er dem bewusstlosen JuPo abgenommen hat, und schießt Connor in den Arm.
Connor wird von der Wucht des Schusses umgerissen und geht zu Boden. Das Betäubungsmittel wirkt sekundenschnell. Lev fängt ihn im Fallen auf und Connor schaut ihn aus halb geöffneten, fast schon blicklosen Augen an.
»Er hat nicht funktioniert, Lev«, sagt er schwach. »Mein Plan hat nicht funktioniert.«
»Ja«, antwortet Lev, während Connor langsam das Bewusstsein verliert, »aber vielleicht funktioniert ja meiner.«