6.
Risa
Auf dem Friedhof lebt nur eine behinderte Bewohnerin. Da behinderte Menschen die Umwandlung nicht fürchten müssen, tauchen sie auch nicht auf dem Friedhof auf. Das kollektive Mitgefühl, das sich in dieser Regelung niederschlägt, ist löchrig wie ein Schweizer Käse: Glück haben die, denen diese Gnade erwiesen wird, Pech die anderen, die durch die Löcher fallen.
Dass Risa behindert ist, hat sie selbst entschieden. Sie hat eine Operation ihrer gebrochenen Wirbelsäule abgelehnt, weil sie das Transplantat eines umgewandelten Jugendlichen erhalten hätte. Eine Wirbelsäulenverletzung war früher unheilbar, und wer dieses Schicksal erlitt, musste bis zum Ende seiner Tage damit leben. Risa fragt sich, ob es damals schwieriger war oder heute, da sie weiß, dass sie geheilt werden könnte.
Sie wohnt in einer alten McDonnell Douglas MD-11, zu deren Haupteingang eine hölzerne Rampe führt. Das Flugzeug trägt den passenden Namen Barrierefrei-Mac, kurz BarMac. Derzeit teilt Risa es sich mit zehn Jugendlichen, die sich den Knöchel verstaucht haben oder anderweitig verletzt sind. Sie wohnen in Abteilen, die durch einen Vorhang voneinander getrennt sind und so die Illusion von Privatsphäre erzeugen. Risa hat mit der alten Kabine der ersten Klasse gleich neben dem Haupteingang den größten Wohnbereich, dabei kann sie Extrawürste nicht leiden. Schon das barrierefreie Flugzeug hebt sie von den anderen ab, und ihre kaputte Wirbelsäule macht sie zwar zur Heldin, verdammt sie aber zu ständiger Sonderbehandlung.
Das einzige Flugzeug, das auch eine Rampe hat, ist der Sanitätsflieger, in dem Risa arbeitet. Damit hat sie nur zu einer sehr beschränkten Anzahl von Räumen Zugang und verbringt ihre Freizeit draußen, sofern sie die Hitze ertragen kann.
Unter einem Tarnkappenbomber, dem sie den Spitznamen Hush Puppy gegeben haben, wartet Risa jeden Tag um fünf auf Connor.
Jeden Tag kommt Connor zu spät.
Die ausladenden schwarzen Tragflächen des Bombers werfen einen großen kreisförmigen Schatten und die radarabsorbierende Beschichtung vertreibt die Hitze aus der Luft. Es ist einer der kühlsten und coolsten Flecken auf dem Friedhof.
Endlich sieht Risa ihn. Mit seiner blauen Uniform sticht Connor zwischen den anderen Kids auf dem Friedhof deutlich hervor. »Ich dachte schon, du kommst nicht mehr«, sagt Risa, als er im Schatten von Hush Puppy angelangt ist.
»Ich habe das Zerlegen eines Triebwerks überwacht.«
»Klar«, erwidert Risa schmunzelnd. »Das kann ja jeder sagen.«
Zu diesen täglichen Treffen mit Risa bringt Connor seine gesamte Anspannung mit. Nur wenn er mit ihr zusammen sei, sagt er, fühle er sich wie ein normaler Mensch, aber richtig locker wird er nie. Im Grunde hat sie ihn, seit sie ihn kennt, nie entspannt erlebt. Da ist es auch nicht gerade eine Hilfe, dass Legenden durch die Welt geistern, die ein Eigenleben entwickelt haben. Diese Geschichten um Connor und Risa haben in der Bevölkerung tiefe Wurzeln geschlagen, denn kaum etwas ist faszinierender als die Romanze zwischen zwei Gesetzlosen. Sie sind die neuen Bonnie und Clyde, ihr Konterfei ziert Autoaufkleber und T-Shirts.
Kaum zu glauben, aber diese Berühmtheit haben sie der Explosion im Happy Jack Ernte-Camp zu verdanken. Der Rest der Welt geht natürlich davon aus, dass Connor, der als erster Wandler aller Zeiten in einem Stück aus einem Schlachthaus kam, tot ist. Risa gilt als vermisst, und mal heißt es, dass sie ebenfalls gestorben ist, mal, dass sie sich in einem flüchtlingsfreundlichen Land versteckt, sofern es so etwas überhaupt noch gibt. Risa fragt sich, was aus der Legende würde, wenn die Menschen wüssten, dass sie hier leben, in der Wüste von Arizona, staubig und von der Sonne verbrannt.
Eine Brise fegt unter dem Bauch von Hush Puppy hindurch und treibt Risa noch mehr Staub in die Augen. Sie blinzelt.
»Bist du bereit?«, fragt Connor.
»Immer.«
Connor kniet sich vor Risas Rollstuhl und massiert ihr die Beine, damit an den Stellen, an denen sie nichts mehr spüren kann, die Blutzirkulation in Gang kommt. Diese Massage ist ihr tägliches Ritual, zugleich distanziert und klinisch und doch merkwürdig intim. Connor ist mit den Gedanken ganz woanders.
»Dir liegt doch was auf der Seele.« Es ist eine Feststellung, keine Frage. »Komm schon, raus damit.«
Connor seufzt, sieht zu ihr hoch und stellt die große Frage.
»Warum sind wir hier, Risa?«
Sie denkt nach. »Meinst du das im philosophischen Sinne, oder warum wir beide hier sind und jeder, der will, uns zusehen kann?«
»Lass sie gucken«, schnaubt er. »Ist mir egal.« Und das stimmt auch, denn auf dem Friedhof geht als Allererstes die Privatsphäre flöten. Nicht einmal der kleine Privatjet, den Connor für sich beansprucht, hat Vorhänge an den Fenstern. Nein, Risa weiß schon, dass seine Frage weder mit ihrem täglichen Ritual zu tun hat noch mit der großen Sinnfrage der Menschheit.
»Ich meine: Warum sind wir immer noch hier auf dem Friedhof? Warum haben uns die JuPos nicht schon lange abgeholt?«
»Du hast es doch selbst gesagt: Sie sehen uns nicht als Bedrohung.«
»Sollten sie aber«, erwidert Connor. »Die sind doch nicht doof … Es muss einen anderen Grund geben, warum sie uns noch nicht haben hochgehen lassen.«
Risa massiert Connor die angespannte Schulter. »Du denkst zu viel nach.«
Jetzt muss Connor doch lächeln. »Als wir uns kennengelernt haben, hast du mir vorgeworfen, dass ich nicht genug nachdenke.«
»Tja, scheint so, als ob dein Gehirn das jetzt aufholt.«
»Nach allem, was wir erlebt haben, was wir gesehen haben, ist das ja auch nur normal, oder?«
»Mir gefällst du als Mann der Tat besser.«
»Auch Taten müssen gut überlegt sein. Das hast du mir selbst beigebracht.«
Risa seufzt. »Ja, stimmt schon. Und ich habe ein Monster geschaffen.«
Ihr ist natürlich klar, dass die Revolte im Happy Jack Ernte-Camp sie beide tief verändert hat. Risa stellt sich gern vor, dass sie bei der Explosion miteinander verschmolzen sind wie Eisen im Hochofen, aber manchmal überwiegt das Gefühl, dass die brutale Hitze nur Verletzungen hinterlassen hat. Trotzdem ist sie froh, dass sie überlebt hat und die weitreichenden Folgen, die jener Tag nach sich zog, miterleben konnte. Zum Beispiel das »U-17«. Noch vor den Ereignissen im Happy Jack war vor dem Kongress ein Gesetzentwurf eingebracht worden, der die Herabsetzung der Altersgrenze für die Umwandlung um ein Jahr vorsah, also auf den siebzehnten statt auf den achtzehnten Geburtstag. Niemand hatte erwartet, dass die Gesetzesvorlage durchgehen würde, ja, viele hatten nicht einmal davon gewusst, bevor das Happy Jack in die Schlagzeilen kam und Lev Calders Gesicht sämtliche Titelseiten in Amerika zierte: ein unschuldiger Junge, ganz in Weiß, der allen adrett und freundlich und mit glänzenden Augen von einem Schulfoto entgegenlächelte. Die Frage, wie aus diesem perfekten Kind ein Klatscher geworden war, beschäftigte Eltern landauf, landab. Wenn Lev so etwas passieren konnte, konnten sie doch nicht ausschließen, dass auch ihr Kind eines Tages sein Blut mit Sprengstoff versetzen und sich voller Wut in die Luft sprengen würde. Dass sich Lev am Ende gegen die Explosion entschieden hatte, beunruhigte die Menschen noch mehr, denn so konnten sie ihn nicht einfach als schwarzes Schaf abstempeln. Sie mussten einsehen, dass er eine Seele, ein Gewissen hatte und dass die Gesellschaft möglicherweise ihren Teil zu seinem Werdegang beigetragen hatte. Als dann das U-17-Gesetz den Kongress passierte, beruhigte es das schlechte Gewissen der Bevölkerung. Nach dem siebzehnten Geburtstag durfte fortan niemand mehr umgewandelt werden.
»Du denkst wieder an Lev, stimmt’s?«, fragt Connor.
»Woher weißt du das?«
»Weil dann die Zeit stehen bleibt und deine Augen zur dunklen Seite des Mondes wandern.«
Sie stupst seine Hände an, da er aufgehört hat, ihr die Beine zu massieren, und er macht weiter.
»Wegen ihm wurde das U-17 verabschiedet«, sagt Risa. »Ich frage mich, was er davon hält.«
»Ich wette, er hat Albträume.«
»Oder er sieht es von der guten Seite.«
»Siehst du es denn so?«, fragt Connor.
Risa seufzt. »Manchmal schon.«
U-17 war gut gemeint, doch schnell wurde klar, dass es nicht gut gemacht war. Natürlich herrschte Jubelstimmung, als in den Nachrichten am nächsten Morgen die Entlassung Tausender von Siebzehnjährigen aus den Ernte-Camps gezeigt wurde. Es war ein Sieg des menschlichen Mitleids, ein Triumph für die Umwandlungsgegner. Doch genau aus diesem Triumphgefühl heraus verschlossen die Leute die Augen vor dem Gesamtproblem. Die Umwandlung war zwar noch da, aber sie konnten wieder wegsehen und sich ein reines Gewissen einreden.
Dann folgte eine Medienschlacht, eine Flut von Werbekampagnen, die die Bevölkerung daran »erinnerte«, wie viel »besser« seit dem Umwandlungsabkommen alles war. »Umwandlung: die natürliche Lösung«, hieß es in der Werbung, oder: »Gestörte Teenager? Wenn Sie sie lieben, lassen Sie sie gehen.« Und natürlich Risas absoluter Favorit: »Erleben Sie eine Welt außerhalb Ihrer selbst: Tauchen Sie ein in den geteilten Zustand.«
Risa musste eine traurige Wahrheit erkennen: Die Menschen glauben, was ihnen erzählt wird. Vielleicht nicht gleich beim ersten Mal, aber spätestens beim hundertsten Mal wird auch aus der verrücktesten Idee eine unverrückbare Tatsache.
Was sie zu Connors Frage zurückbringt: Wenn seit dem U-17 zu wenige Wandler im System sind und die Öffentlichkeit es gewohnt ist, dass es ausreichend gibt und man immer jeden Körperteil bekommt, wenn man ihn braucht, warum wurde der Friedhof dann noch nicht hochgenommen? Warum sind sie noch hier?
»Wir sind hier, weil wir hier sind«, sagt Risa. »Und wir sollten dankbar dafür sein, solange es so ist.« Dann berührt sie ihn sanft an der Schulter, damit er mit der Massage aufhört. »Ich muss zurück zum Sanitätsflieger. Da warten bestimmt schon eine Menge Kratzer, blaue Augen und fiebrige Erkältungen, um die ich mich kümmern muss. Danke, Connor.« Obwohl er sie nun schon so oft massiert hat, ist es ihr immer noch peinlich, dass sie auf seine Hilfe angewiesen ist.
Er rollt die engen Beine ihrer kakifarbenen Hose herunter und stellt ihre Füße auf die Ablage des Rollstuhls. »Danke nie einem Kerl dafür, dass er dich begrapscht.«
»Nicht überall«, sagt Risa kokett.
Connor schenkt ihr ein verschmitztes Lächeln, das Worte überflüssig macht.
»Ich glaube, unsere gemeinsame Zeit wäre noch schöner, wenn du wirklich bei mir wärst.«
Connor streckt die rechte Hand aus, um ihr über die Wange zu streicheln, hält aber noch rechtzeitig inne und nimmt stattdessen die linke. Die, mit der er geboren wurde. »Es tut mir leid, es ist nur …«
»… dein Gehirn muss noch einiges aufholen, ich weiß schon. Aber ich freue mich auf den Tag, an dem wir zusammen sein können, ohne dass die Gefahr über uns hängt wie ein Damoklesschwert. Erst dann können wir uns sicher sein, dass wir gewonnen haben.«
Sie umfasst die Räder ihres Rollstuhls und macht sich auf den Weg zum Sanitätsflieger. Wie immer quält sie sich allein über den unebenen Untergrund, denn niemals würde sie sich von jemandem schieben lassen. Niemals.