Die Jünger hatten begriffen: Der Weg, den Jesus gegangen ist, endet zwar zuverlässig am Kreuz, aber er ist der einzig richtige. Und darum wollen wir ihn jetzt gehen.
Verflogen waren Angst und Feigheit, vorbei war es mit dem Zögern und Zagen. Und so gingen sie auf die Straßen und Plätze, verkündeten das Evangelium, riefen zur Umkehr auf, tauften und vergaben die Sünden. Zuerst verkündeten sie das Evangelium nur den Juden, denn für die war es bestimmt. Aber nur wenige nahmen es an.
Die Römer begannen schon bald, die Christen zu verfolgen. Viele ließen sich davon abschrecken, sich taufen zu lassen. Die christlichen Gemeinden wuchsen daher zu Beginn nur langsam.
Einer der römischen Christenverfolger war Saulus, der sich später zum Paulus wandelte und zum «Apostel der Völker» wurde. Mit ihm kam der große Umschwung, der Durchbruch, als er sich entschloss, das Evangelium denen zu verkünden, für die es gar nicht gedacht war, den Heiden im ganzen Römischen Reich. Es war, als ob viele nur darauf gewartet hätten. Sie ließen sich taufen in großer Zahl.
Im ganzen Reich wurden jetzt die Geschichten von Jesus erzählt, weitererzählt, teilweise aufgeschrieben und noch vor Ende des ersten Jahrhunderts in den Evangelien zusammengefasst. Das Neue Testament entstand, ein christlicher Kanon, ein Buch, dem damals noch nicht anzusehen war, dass es einst zum grundlegenden Text der christlich-abendländischen Kultur werden würde.
Die Wege zwischen Juden und Christen trennten sich, und man fragt sich: Warum eigentlich? Warum bleiben die Juden beim Alten Testament, das bei ihnen Tanach heißt, und die Christen schreiben ein neues? Sind die Unterschiede so unüberbrückbar groß? Jesus hat nichts gelehrt, was jüdische Schriftgelehrte nicht auch gelehrt hätten – außer, dass er der Messias sei.
Zunächst gibt es gar keine Trennung. Jesu Jünger waren ja auch Juden, betrachteten sich weiterhin als Juden. Die Trennung beginnt erst, als getaufte Heiden zur Gemeinde stoßen. Jetzt gibt es Judenchristen und Heidenchristen, zwischen denen es zu Spannungen kommt. Diese Spannungen lösen sich mit den Jahren durch die Macht des Faktischen. Es lassen sich viel mehr Heiden taufen als Juden. Sie setzen sich durch.
Diese Heidenchristen werden von den Juden als fremd betrachtet. So entwickelt man sich auseinander, und nach längerer Zeit wird der Graben zwischen beiden immer tiefer. Die Christen betonen jetzt die Unterschiede zu den Juden, konstruieren sogar Unterschiede, und diese Absetzbewegung führt zu drei Irrtümern, die noch heute populär sind.
Irrtum eins: Der Gott des Alten Testaments sei ein zorniger, eifersüchtiger, ja sogar rachsüchtiger Gott, vor dem man sich fürchten müsse. Der Gott, den Jesus verkünde, sei dagegen ein liebender, gnädiger und barmherziger Gott. Tatsächlich aber verkündet das Alte Testament nicht nur einen Gott, den man fürchten muss, sondern auch einen sorgenden Gott voll zärtlicher Liebe und Treue zu den Menschen. Und zweitens verkündet das Neue Testament nicht nur den «lieben Gott», sondern auch den Gott des Gerichts, der genau wie der jüdische Gott voller Zorn auf das Unrecht und Elend blickt, das seine Geschöpfe auf dieser Welt anrichten.
Irrtum zwei: Der Unterschied zwischen Altem und Neuem Testament sei der Unterschied zwischen Gesetz und Evangelium. Das aus über sechshundert Einzelvorschriften bestehende Gesetz verleite die Menschen zu einer bloß äußerlichen Gebotserfüllung. Es komme aber auf die innere Haltung an. Wer die besitze, bedürfe keiner Vorschriften, sondern nur der befreienden frohen Botschaft des Evangeliums.
Das Argument gründet in der Selbstverständlichkeit, mit der sich Jesus über manche Vorschrift hinwegsetzt. Die Schriftgelehrten werfen ihm vor, dass er am Sabbat Kranke heile, was in Israel verboten ist. Sie werfen ihm vor, dass seine Jünger am Sabbat durch die Kornfelder gingen und dort die Körner aus den Ähren streiften, um sie zu essen. Auch verboten. Aber Jesus sagt dazu: Der Sabbat wurde um des Menschen willen geschaffen, nicht der Mensch um des Sabbats willen. Damit jedoch bleibt Jesus im Rahmen der jüdischen Tradition. Er weist selbst, Jesaja zitierend, darauf hin, dass die äußerliche Gesetzesreligion schon im Alten Testament verurteilt wird: Dieses Volk naht sich zu mir mit seinem Mund und ehrt mich mit den Lippen, aber ihr Herz ist fern von mir.
Besonders eindrucksvoll wendet sich der Prophet Amos gegen die oberflächliche Gesetzesfrömmigkeit. Er lässt Gott sagen: Ich hasse, ich verachte eure Feste und mag eure Festversammlungen nicht riechen! Wenn ihr mir auch euer Brandopfer und Speisopfer darbringt, so habe ich doch kein Wohlgefallen daran, und das Dankopfer von euren Mastkälbern schaue ich gar nicht an. Tue nur hinweg von mir das Geplärr deiner Lieder, und dein Harfenspiel mag ich nicht hören! Es soll aber das Recht einherfluten wie Wasser und die Gerechtigkeit wie ein unversiegbarer Strom!
Fluten von Recht und Gerechtigkeit will Gott und nicht das fromme Gedöns, das dem der Heiden zum Verwechseln ähnlich sieht. Die Unterscheidung – hier «das jüdische Gesetz», dort «das christliche Evangelium» – ist also irreführend.
Der dritte Irrtum lautet, Jesus habe die Liebe zum Nächsten und sogar die Feindesliebe gepredigt und mit dieser Hinwendung zum Einzelnen das Individuum in den Mittelpunkt gerückt. Das Alte Testament dagegen sei kollektivistisch. Es kenne nur die Gesellschaft, das Volk, und von Nächsten-, gar Feindesliebe sei nicht die Rede.
Dass aber Gott sehr wohl den Einzelnen sieht, beweist schon seine Methode, sich immer einzelner Menschen – Abraham, Mose, David, die Propheten – zu bedienen. Und wer trotzdem zweifelt, lese den berühmten Psalm 23, der mit dem Satz beginnt: Der Herr ist mein Hirte; mir wird nichts mangeln. Er weidet mich auf grünen Auen und führt mich zu stillen Wassern. Das soll Kollektivismus sein?
Schließlich die Liebe. Die sei nun aber wirklich typisch christlich, hat nicht Jesus gesagt, Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst? Richtig. Hat er gesagt, genauer: zitiert. Das Alte Testament – drittes Buch Mose 19,18 – hat er zitiert.
Und die Feindesliebe? Liebt eure Feinde, segnet, die euch fluchen, tut wohl denen, die euch hassen, und bittet für die, welche euch beleidigen und verfolgen – tatsächlich sucht man einen Satz in dieser Deutlichkeit im Alten Testament vergeblich. Andererseits findet man im zweiten Buch Mose (23,4) die Anweisung: Wenn du das Rind deines Feindes oder seinen Esel antriffst, der sich verlaufen hat, so sollst du ihm denselben auf jeden Fall wiederbringen. Und bei Hosea heißt es: So kehre nun um zu deinem Gott, halte fest an Liebe und Recht und hoffe stets auf deinen Gott.
Bleibt die Messiasfrage übrig. Ihretwegen gehen die getauften Heiden einen anderen Weg, jenen Weg, den Jesus eigentlich seinem Volk der Juden gewiesen hatte. Daher betrachteten sich jetzt die getauften Heiden, die neuen Christen, als das neue Volk Gottes. Die Radikalität, die Jesus seinem Volk der Juden vergeblich abverlangt hatte, die zeigten nun die christlichen Urgemeinden. Ihr Wissen, dass der Weg Jesu am Kreuz enden kann, hinderte sie nicht, ihn zu gehen. Sie sind ihn wirklich gegangen, mit oft tödlicher Konsequenz.
Die Apostelgeschichte beschreibt, wie sie dreihundert Jahre lang einen radikal anderen Lebensstil lehrten, damit ihre Umgebung provozierten, überall aneckten und die klügsten Köpfe ihrer Zeit herausforderten. Die Anhänger dieses neuen Glaubens hatten anders gedacht, anders gesprochen und anders gehandelt als der Rest der Welt. In den Gemeinden, die sich gebildet hatten, waren die Gesetze der Welt außer Kraft gesetzt. Da gab es nicht mehr Juden und Griechen, nicht mehr Sklaven und Freie, nicht mehr Mann und Frau, die Gräben zwischen verschiedenen Rassen, Völkern und Kulturen, verschiedenen Klassen und zwischen den Geschlechtern existierten nicht mehr und auch nicht mehr der Gegensatz zwischen Arm und Reich.
Die ersten Christen hatten alle Dinge gemeinsam. Sie verkauften Güter und Habe und teilten sie aus unter alle. … wer von ihnen Äcker oder Häuser besaß, verkaufte sie und brachte das Geld für das Verkaufte und legte es den Aposteln zu Füßen; und man gab einem jeden, was er nötig hatte. Agape nannte man das damals. Später, in der Neuzeit und der Aufklärung entwickelte sich daraus das, was man bis heute Solidarität nennt.
Dass auch Arme und Schwache eine Würde haben, dass sich der Wert des Menschen nicht aus seiner Leistung speist und auch nicht aus seiner Herkunft, seiner Rasse, seinem Alter, seinem Besitz oder seinem Geschlecht, das rührt von diesen Geschichten her, das kommt von der Zusage Gottes, ihm sei jeder Mensch gleich viel wert. Der soziale und demokratische Rechtsstaat, die allgemeinen Menschenrechte haben ihre Wurzeln in jener Geschichte, die vor dreieinhalbtausend Jahren am Schilfmeer ihren Anfang genommen hatte und vor zweitausend Jahren zwischen Jerusalem und Rom noch einmal wiederholt wurde.
Wenn es heute jemandem gelänge, hieb- und stichfest zu beweisen, dass all die Geschichten, die in der Bibel stehen, sich niemals ereignet haben, dass sie reine «Literatur» sind, Erfindungen und Projektionen von Menschen – es würde den bleibenden Wert dieser Geschichten nicht schmälern. Wenn diese Geschichten reine Erfindungen sein sollten, dann sind es geniale Erfindungen. Diese Geschichten bleiben wahr, weil sie beschreiben, wie menschliches Zusammenleben gelingen kann. Das ist ihre Wahrheit. Das kann man ruhig glauben.
Damals, vor zweitausend Jahren, entstand in den Gemeinden eine eigens christliche Lebensform, von der Europa noch heute zehrt und die Kirche heute noch lebt. Diese Lebensform prägte die Wirklichkeit neu und führte dazu, dass im Leben eines Getauften kaum noch etwas so geblieben ist, wie es vorher war. Viele gaben ihren Beruf auf, weil die neue Existenz damit nicht mehr vereinbar war. Getaufte Lehrmeister konnten nicht mehr die römische Staatsreligion lehren, Künstler keine heidnischen Götterfiguren mehr darstellen, Beamte nicht mehr bei den Göttern schwören. Man ging nicht mehr zu Schauspielen, Gladiatorenkämpfen und Tierkämpfen und boykottierte heidnische Prozessionen und Bräuche.
Wegen dieses Boykotts und wegen der hartnäckigen Weigerung, dem römischen Kaiser zu geben, was nur Gott zusteht, nämlich göttliche Verehrung, waren die Christen Staatsfeinde, wurden von der römischen Herrschaft gnadenlos verfolgt, interniert, zur Zwangsarbeit verurteilt, gefoltert, enthauptet und zur Belustigung des Volkes wilden Tieren zum Fraß vorgeworfen. Auch gehasst wurden sie. Bösartige Gerüchte über sie wurden verbreitet.
Trotzdem siegte die Kirche über den römischen Staat. Warum eigentlich? Die frühen Christen hatten damals im staatlich geförderten Heidentum eine große und mächtige Konkurrenz.
Wahrscheinlich liegt gerade darin eine der wichtigsten Ursachen für die Durchsetzung des Christentums. Mit der massenhaften Verfolgung der Christen erreichte die bis in die Knochen morsch gewordene Staatsmacht das Gegenteil dessen, was ihr Ziel gewesen war.
Die große Zahl der christlichen Märtyrer hat die Urkirche nicht geschwächt, sondern gestärkt. Jeder Märtyrer war ein sichtbares Beispiel für die tiefe Überzeugung der Christen. Um jeden Märtyrer sammelten sich hundert Christen, die seiner gedachten und sich an dessen Mut und Glaubensstärke aufrichteten. Dass die Märtyrer nicht mit Hassparolen in den Tod gingen, sondern mit Gebeten für ihre Peiniger, verringerte den Hass gegen die Christen, entzog vielen bösen Gerüchten den Boden und ließ die staatliche Christenverfolgung in der heidnischen Öffentlichkeit immer fragwürdiger erscheinen.
Und jeder Märtyrer schreckte hundert Ängstliche und tausend Opportunisten ab, der neuen Religion einfach um persönlicher Vorteile willen, oder weil es gerade Mode war, beizutreten. Wer Christ wurde, wurde es mit tödlichem Ernst, war sich der Gefahr bewusst, in die er sich begab. Das blieb nicht ohne Wirkung auf die Heiden.
Auch der Lebensstil der Christen machte großen Eindruck. Die Liebe und Fürsorge, die sie einander angedeihen ließen, ihre Gleichgültigkeit gegenüber Rang, Besitz und Reichtum, die Pflege der Alten und Kranken, das alles sprach sich herum unter Heiden, und sie begannen, sich mit der neuen Lehre auseinander zu setzen. Sklaven, Bauern, Handwerker profitierten von der Bildung, dem Geschmack und der Kultur der intellektuellen und wohlhabenden Gemeindemitglieder. Man unternahm alles gemeinsam, lernte voneinander. So entstand eine neue Gesellschaft, die Gemeinden wuchsen und die Urkirche errang den gewaltlosen Sieg über den römischen Staat. Sogar der römische Kaiser Konstantin ließ sich taufen. Das war im Jahre 337.
Für diesen historischen Sieg des Christentums gibt es etliche Erklärungen – die stärkste ist, dass die Urchristen drei Jahrhunderte lang in der Kraft ihrer für alle sichtbaren Wahrheit lebten. Die urchristlichen Gemeinden bildeten eine Kontrastgesellschaft. Sie unterschieden sich weithin sichtbar vom Rest der Welt. Sie waren wirklich ein Licht in der Finsternis, die «Stadt auf dem Berg», an der man sich orientieren konnte, auch wenn man nicht dazugehörte. Sie zeigten, wie man leben muss, wenn das Leben gelingen soll.
Gottes Plan wurde nun vor aller Augen ausgeführt. Die Utopie Gottes hatte aufgehört, Utopie zu sein. Das Evangelium war nicht mehr bloßes Wort, sondern Fleisch gewordene Wirklichkeit von enormer Durchschlagskraft. Sie hat sogar die römische Supermacht umgehauen.