Jesus: Ein Radikaler im öffentlichen Dienst

Die Welt zur Zeit Jesu

In der Nacht vom 29. auf den 30. November 1947 lag im Jerusalemer Viertel Kerem Avraham ein kleiner Junge in leicht verschwitzten Straßenkleidern wach im Bett und sinnierte über das aufregende Ereignis, dessen Zeuge er wenige Stunden zuvor gewesen war. Erstaunt bemerkte er, dass plötzlich sein Vater zu ihm unter die Decke kroch, ebenfalls in verschwitzten Kleidern.

Ein paar Minuten lag der Vater schweigend neben seinem Kind, dann erzählte er dem Sohn flüsternd von seiner Kindheit in Osteuropa, von den Schikanen einiger Straßenjungen in Odessa und wie ihm gojische Jungs am Gymnasium in Wilna die Hose ausgezogen hatten. Auch die Mädchen hätten mitgemacht und gejohlt, und als sich am nächsten Tag sein Vater in der Schule wegen des Vorfalls beschwerte, hätten ihm die Rowdys der Schule nicht etwa die zerrissene Hose wiedergegeben, sondern seien vor seinen Augen auch über seinen Vater hergefallen, hätten auch ihm mitten auf dem Schulhof die Hose ausgezogen, und die Mädchen hätten gelacht und gesagt, die Juden seien alle so und so, und die Lehrer hätten zugesehen und nichts gesagt oder vielleicht sogar mitgelacht.

Danach sagte in jener Jerusalemer Nacht der Vater im Bett zu seinem Sohn, bestimmt würden auch ihm noch öfter irgendwelche Rowdys auf der Straße oder in der Schule zusetzen. Aber von heute an würden ihm die Rowdys niemals mehr deswegen zusetzen, weil er Jude sei und weil die Juden so und so seien. «Das – nicht. Niemals. Von dieser Nacht an ist hier Schluss damit. Schluss für immer.»

Nach einer kleinen Pause streckte der Junge die Hand aus, um das Gesicht seines Vaters zu berühren, aber statt der Brille spürten seine Finger plötzlich Tränen. Kein einziges Mal in seinem Leben, nicht vor dieser Nacht und nicht nach dieser Nacht, nicht einmal beim Tod seiner Mutter, habe er seinen Vater weinen gesehen.

An jenem 29. November 1947 hatte die Vollversammlung der Vereinten Nationen über das Vorhaben abgestimmt, auf dem britischen Mandatsgebiet in Palästina zwei Staaten zu errichten, einen jüdischen und einen palästinensischen. Der Plan wurde mit einer deutlichen Mehrheit angenommen. Damit war der Weg frei für die Neugründung des jüdischen Staates Israel. Knapp 1900 Jahre nach der Zerstörung des Tempels in Jerusalem erhielten die Juden dieser Welt wieder einen eigenen Staat. Heute leben in diesem Staat wieder so viele Menschen, wie von den Deutschen ermordet worden waren – etwas mehr als sechs Millionen.

Der kleine Junge, der damals seinen Vater zum ersten und einzigen Mal weinen sah, war Amos Oz. Er berichtet, mit welch ungeheurer Spannung damals die Menschen in seinem Viertel, in Jerusalem, in ganz Palästina in den Straßen und auf Plätzen übers Radio und öffentliche Lautsprecher den Bericht von der Abstimmung verfolgt hatten. Er berichtet von dem Schrei der Erlösung, dem lärmenden Jubel, dem Gesang und den Freudentänzen, die in allen jüdischen Vierteln Palästinas einsetzten, als das Ergebnis bekannt gegeben wurde. Und von der Stille in den arabischen Vierteln.

Ein halbes Jahr später, am 14. Mai 1948 wurde in Tel Aviv der jüdische Staat Israel ausgerufen. Nur wenige Stunden danach fielen, ohne Kriegserklärung, aus allen vier Himmelsrichtungen arabische Infanterie-, Artillerie- und Panzertruppen in Israel ein. Es begann der bis in unsere Tage dauernde Unfrieden in Nahost. Ein Prozent der damals in Israel lebenden Juden wurden getötet, und seitdem hörte das Sterben nicht mehr auf, nicht bei den Juden und nicht bei den Arabern. Bis heute nicht.

Aber Israel ist wieder ein Staat. Was ist sein Zweck? Nie mehr sollen Juden, wenn sie irgendwo auf der Welt wieder einmal verachtet, schikaniert, verfolgt, massakriert oder ermordet werden, diesem Schicksal alternativlos ausgeliefert sein. Sie haben jetzt eine Zufluchtsstätte auf dieser Welt.

Eigentlich reicht das schon als Zweck. Weiterer Rechtfertigungen bedarf es nicht. Dennoch fragen sich die Juden von damals bis heute, ob sich Israels Zweck in seiner Funktion als sicherer Hafen für die Juden der Welt schon erschöpft. Oder gibt es darüber hinaus eine Idee davon, was Israel sein oder werden soll?

«Es gab Leute», sagt Amos Oz, «die kamen in dieses Land mit dem Wunsch, hier eine westliche, liberale, soziale, säkulare, tolerante und moderne Demokratie zu gründen.» Den orientalischen Juden habe «eine Art marokkanisch-tunesische Republik jüdischer Prägung» vorgeschwebt. Nicht wenige hätten «ein marxistisch-zionistisches Paradies» schaffen wollen. Andere hätten die Wiederherstellung der biblischen Königreiche von David und Salomo erwartet. «Wieder andere wollten nur dasitzen und auf den Messias warten. Manche sahen sich selbst als Messias.» In seiner Kindheit sei Jerusalem ein total verrückter Ort gewesen. «Jeder war ein Erlöser. Jeder wollte irgendwen kreuzigen oder selbst gekreuzigt werden.»

 

Im Grunde war es im Israel des Jahres 1948 nicht prinzipiell anders als im Israel zur Zeit der Geburt Jesu. So chaotisch wie die Zeitgenossen von Amos Oz, so völlig uneins und zerstritten und dennoch geeint durch ihre gemeinsame Geschichte, ihre Herkunft und ihren Gott waren auch die Zeitgenossen Jesu vor zweitausend Jahren.

Damals, als in Bethlehem jenes Judenkind geboren wurde, von dem später die Christen behaupteten, es sei der von den Juden erwartete Messias, befand sich die Welt in jenem Normalzustand, in dem sie sich meistens befindet. Es gab eine Supermacht, Rom. Es gab einen Herrscher, Kaiser Augustus. Es gab einen römischen Statthalter, zunächst Quirinius, später Pontius Pilatus. Und es gab einen jüdischen König von Roms Gnaden, Herodes der Große, der selbstverständlich, um in den Genuss der Königsprivilegien zu kommen, ein zynischer Opportunist sein und sich mit Rom gegen sein eigenes Volk verbünden musste.

Dass Rom Israel einen eigenen König zugestand, erscheint auf den ersten Blick liberal, zeigt aber in Wahrheit nur, wie ökonomisch die Supermacht zu denken gelernt hatte. Ein eigener König mindert die Aufsässigkeit des Volkes, und die dann immer noch übrig bleibende Aufsässigkeit verteilt sich auf zwei Schultern. Nur eine Hälfte richtet sich gegen Rom, die andere gegen den eigenen König, und dieser mag allein zusehen, wie er damit fertig wird.

Schlau war es auch, sich aus allen religiösen Fragen der Juden herauszuhalten und ihnen zu erlauben, ihre politischen Angelegenheiten selbst zu regeln, denn diese Toleranz ersparte der Supermacht den Einsatz von Geld, Zeit und Personal. Aus dem gleichen Grund überließ Rom den Juden auch einen großen Teil der Gerichtsbarkeit. Es konnte dem römischen Kaiser egal sein, wer unter ihm als König in der Provinz das unterworfene Volk kujonierte, solange er nur die dem Volk abgepressten Steuern ordnungsgemäß nach Rom abführte und dafür sorgte, dass niemand gegen die römische Oberherrschaft aufmuckte.

Daher pflügte Rom nur diese zwei Felder: die Sicherung seiner Herrschaft und die Sicherung seiner Geldströme. Für die Herrschaft hatte man Soldaten, fürs Geld ein ausgeklügeltes System aus Steuereintreibern, Aufsehern, Zuträgern und Spitzeln, die alle bis hinauf zum kaiserhörigen Königsvasallen an dem System verdienten.

Die Steuern mehrten den Reichtum und die Macht Roms und erlaubten der Oberschicht, sich zu kultivieren. Augustus förderte die Künste und Wissenschaften und befreundete sich mit den Dichtern Ovid, Horaz, Vergil und dem Geschichtsschreiber Livius, die wiederum von Augustus’ Freund und Ratgeber Maecenas großzügig unterstützt wurden. Augustus beeindruckte die Welt mit dem Bau kostbarer Tempel und öffentlicher Gebäude im ganzen Imperium. Unter seiner Herrschaft erlebte das Römische Reich eine Zeit des Friedens, der Stabilität, des Wohlstandes und der kulturellen Blüte.

Natürlich beruhte auch diese Kultur auf der Existenz von Sklaven, Leibeigenen und ausgebeuteten Bauern, Arbeitern und Handwerkern. Wer gegen die Staatsmacht aufbegehrte, bekam die ganze Härte des Systems zu spüren und erkannte das andere Gesicht der Freunde und Förderer der Künste und Wissenschaften. Schon aus geringen Anlässen bekam man die Peitsche zu spüren. Schnell landete man im Kerker, auf der Galeere oder zum Gaudium des Volkes unter den wilden Tieren in der Zirkus-Arena. Und gern hat Rom seine Feinde ans Kreuz gehängt.

Zur Zeit der Geburt Jesu war es gerade erst 44 Jahre her, dass Cäsar ermordet worden war. Augustus war ein Großneffe Julius Cäsars. Kleopatras Selbstmord lag dreißig Jahre zurück, und in den Schaltzentralen der Supermacht verbrachten die führenden Schichten ihre Jahre und Jahrzehnte mit den üblichen Lügen, Affären und Attentaten.

Dass auch diese Supermacht an sich selbst zugrunde gehen würde, war bereits absehbar, und spätestens seit dem Jahr 9 nach der Geburt Jesu hätte den Verantwortlichen in Rom die Erkenntnis dämmern müssen, dass man nun an die Grenzen seiner Macht gelangt war. In jenem Jahr hatte der Germane Hermann der Cherusker im Teutoburger Wald die römischen Truppen des Varus vernichtend geschlagen.

Nach Augustus’ Tod am 19. August des Jahres 14 n. Chr. trat sein Stiefsohn Tiberius die Nachfolge im Römischen Reich an. Unter Tiberius und Pontius Pilatus, der ab dem Jahr 26 römischer Statthalter in Judäa war, wurde Jesus gekreuzigt.

Die Welt, in die Jesus hineingeboren wurde, war schon globalisiert. Etwa dreihundert Jahre vor ihm hatte Alexander der Große die Thraker und Illyrer besiegt, Theben zerstört, die Perser besiegt, ganz Kleinasien erobert, Ägypten besetzt und sein Reich schließlich über Arabien und das Pandschab bis zum Indus ausgedehnt. Als sich Alexander zu Tode gesiegt hatte, zerfiel das zusammengeraffte Imperium wieder, aber dem griechischen Handel blieben die neuen Verkehrswege erhalten. Das Alexandergeld stellte eine einheitliche Währung dar, die die Entstehung eines Welthandels und Weltverkehrs förderte und eine Kultur begründete, die wir heute hellenistisch nennen.

Rund siebzig griechische Städte mit Tempeln, Theatern und Gymnasien wurden von Alexander gegründet. Viele von ihnen, wie etwa Alexandria in Ägypten und Antiochia in Syrien, bildeten wirtschaftliche und kulturelle Zentren. Alexandria besaß bald die größte Bibliothek der Antike und wurde zu einem Zentrum der Wissenschaft. Hier entstanden kritische Ausgaben literarischer Werke und Kommentare zu Werken der klassischen Literatur.

Hier und im ganzen Reich fand auch ein Austausch zwischen griechischem und orientalischem Wissen statt. Zwei Kulturen befruchteten einander, und was dabei geschaffen wurde, beeinflusste noch Rom, das europäische Mittelalter, die Renaissance und die Aufklärung.

Die Grundordnung blieb jedoch die Gleiche: Die Herren verfügten über Grundbesitz und bestimmten, was ging und was nicht. Kaufleute und Reeder durften mitreden. Lohnarbeiter und Handwerker wurden gering geachtet und schlecht bezahlt. Weil größere Familien den Hunger fürchten mussten, setzten viele ihre Kinder aus, vor allem die Mädchen. Eine organisierte Sozialfürsorge gab es nicht. Reiche Bürger spendeten allerdings oft größere Summen für die Getreideversorgung der Armen oder auch für öffentliche Bauten, um ihr Ansehen zu mehren.

Diese Welt fanden die Römer vor, sie wurde ihnen zur Beute und diente ihnen zum Aufbau ihres Imperiums. Als Jesus geboren wurde, hatte das Imperium den Zenit seiner Macht erreicht. Als Pontius Pilatus Jesus kreuzigen ließ, konnten weder er noch sein Kaiser ahnen, dass dieses Imperium schon drei Jahrhunderte später langsam untergehen und sein Erbe an jene Leute abtreten würde, die Anhänger des Gekreuzigten waren.