Hiob

Der Staat zerschlagen, der Tempel geschleift, die Führung im Exil – normalerweise bedeutet dies den Untergang. Nicht so bei den Juden. Sie pflegen ihre Kultur unter den wechselnden Fremdherrschaften einfach weiter, egal, ob sie aus dem Exil zurückkehren nach Judäa oder draußen in der Welt als Minderheit in der Diaspora («Zerstreuung») bleiben. Im Jahr 515, mittlerweile haben die Perser das Sagen, dürfen die Juden in Jerusalem den Tempel wieder aufbauen. Ein Jahrzehnt vor Christi Geburt – es regieren die Römer – darf Herodes den Tempel sogar noch vergrößern und ausschmücken.

Aber im Jahr 70 nach Christus wird der neue Tempel nach einem jüdischen Aufstand von den Römern wieder zerstört, diesmal endgültig. Der nationale Mittelpunkt des Judentums ist verloren, Pilgerfahrten aus der Diaspora nach Jerusalem verlieren ihren Sinn. Rund weitere siebzig Jahre später zerstört Rom auch endgültig die letzten Reste jüdischen Widerstands, verwandelt Jerusalem in eine römische Provinzstadt, benennt sie in Colonia Aelia Capitolina um, baut Thermen, Theater, Reitbahnen und verbietet den Juden, die Stadt zu betreten. Die Geschichte Israels als Volk in Palästina ist zu Ende. Für rund neunzehn Jahrhunderte.

Die Juden zerstreuen sich in alle Himmelsrichtungen. Über fast zwei Jahrtausende wird ihr Leben in der Diaspora zur normalen Existenzform, und was sie diese Zeit überstehen lässt, ist das, was kein anderes Volk hat: die Schriftrollen der Tora, eine mobile Heimat, die man jederzeit einpacken und anderswo wieder auspacken kann.

In der Zerstreuung leben die Juden nicht isoliert, sondern sie bilden Gemeinden, feiern den Sabbat und die jüdischen Feste, helfen und unterstützen sich gegenseitig, befolgen die Tora so gut sie es können und so weit sie das jeweilige Gastland gewähren lässt. Und sie erfinden sich ein Überlebensmittel, das ebenfalls einmalig ist in der Welt: die Synagoge, eine um die Tora herum gebaute Mehrzweck-Einrichtung. Sie ist Bethaus, Gericht, Standesamt, Börse, Versammlungsraum und Hotel in einem. Dort, in der Synagoge und drum herum, findet nun über zwei Jahrtausende auf der ganzen Welt das jüdische Leben statt.

Zerstreut in alle Welt, aber zugleich miteinander verbunden, weltweit vernetzt – was ist daran eigentlich so schlecht? War die Zerstreuung wirklich eine Strafe Gottes für das Versagen des Staates Israel? Oder muss man nicht vielmehr aus dem Staatsversagen den Umkehrschluss ziehen, dass die staatliche Existenz vielleicht nicht die gottgewollte Form des Gottesvolkes ist?

Ist eine weltweit vernetzte Gemeinde dem Volk Gottes nicht viel gemäßer als ein gewöhnlicher Nationalstaat? Die Frage nach der richtigen Form des Gottesvolkes ist bis heute noch nicht endgültig beantwortet. Auch den Christen und den Muslimen stellt sie sich: Gottesstaat, Bündnis von Staat und Kirche, staatlich privilegierte Volkskirche oder freie, unabhängige Minderheit inmitten weltanschaulich neutral regierter Länder?

Die zahlreichen Krisen, welche die Juden im Lauf ihrer Geschichte überstehen mussten, haben diese gezwungen, alle vermeintlichen Gewissheiten immer wieder infrage zu stellen. Kaum ein Volk hat über sein Schicksal und dessen Gründe so intensiv nachgedacht wie die Juden. Das Nachdenken darüber führte dieses Volk bis an die Grenzen des Atheismus. Diese Grenze wurde erstmals berührt, als in Israel die prophetische Wenn-dann-Theologie überprüft wurde, der Glaube: Wenn Israel Gottes Willen befolgt, dann kommt es voran; wenn Israel es nicht tut, fährt es an die Wand. Auch den Christen wird seit zweitausend Jahren beigebracht: Haltet die Gebote, handelt nach Gottes Willen, und alles wird gut.

Das Alte Testament selber zertrümmert diese Logik mit einer einzigen Geschichte. Im Buch Hiob wird erzählt, wie Gott sich auf eine Wette mit dem Teufel einlässt, die auf dem Rücken des unschuldigsten Menschen ausgetragen wird, den Gott kennt und von dem er selber sagt: Seinesgleichen ist nicht auf Erden.

Aber der Teufel sagt zu Gott: «Dieser Hiob, auf den du so große Stücke hältst, ist doch überhaupt nichts Besonderes. Hiob geht’s gut, er hat sieben Söhne und drei Töchter, ist reich, gesund, stark, mächtig, der Größte im ganzen Morgenland, da ist es doch ein Leichtes, tugendhaft zu sein und Gott zu loben. Seine wahre Tugend würde sich erst im Unglück zeigen. Wenn du ihm alles wieder wegnähmst, was du ihm gegeben hast, und er danach immer noch zu dir stehen und dich loben würde, dann erst wäre erwiesen, dass er tatsächlich so gut ist, wie du von ihm denkst.»

«Gut», sagt Gott zum Teufel, «nimm ihm alles weg bis aufs Leben, und dann wollen wir sehen, was Hiob tut. Ich wette, er wird sich bewähren.» Der Teufel macht sich sogleich ans Werk, nimmt Hiob seinen ganzen Besitz, sogar die Kinder. Gott schaut zu, wie die Familie seines treuesten Knechts brutal erschlagen wird.

Und Hiob? So viel «Hiobsbotschaften» auch eintreffen, er bleibt Gott treu. Er klagt, aber klagt nicht an, und als Gott und der Teufel sich wieder treffen, sagt Gott triumphierend: «Siehst du? Alles hat Hiob verloren, und dennoch hält er treu zu mir.»

«Es geht ihm eben noch nicht schlecht genug», antwortet der Teufel. «Hiob ist jetzt zwar arm, aber gesund. Nimm ihm die Gesundheit, und du wirst sehen, wie er dich verflucht.» Gott willigt ein, und der Teufel plagt Hiob mit Geschwüren vom Fuß bis zum Scheitel, sodass Hiob eine Scherbe nahm, um sich damit zu kratzen, und sich in den Aschenhaufen setzte. Seine Frau kommt zu ihm und sagt mit dem der Frau eigenen Verstand: «Sag dich los von diesem Gott, der mit Füßen auf dir herumtrampelt.»

Hiob hält nichts von gesundem Frauenverstand, schilt seine Frau als töricht und erklärt mit seltsamer Logik: «Haben wir Gutes empfangen von Gott, sollten wir das Böse nicht auch annehmen?»

Drei Freunde besuchen Hiob. Sie erkennen ihn kaum wieder, bemitleiden ihn, und Hiob klagt und stöhnt, wünscht, er wäre nie geboren worden, aber sagt kein böses Wort über den, der ihn so grundlos leiden lässt.

Grundlos oder nur scheinbar grundlos? Nur scheinbar, sagen die Frommen. Wir kennen zwar den Grund für das menschliche Leidenmüssen nicht, aber Gott kenne ihn, und darum sollen wir es annehmen. Leiden habe stets einen verborgenen höheren Sinn.

Wir wissen: Das ist frommes Gewäsch. Wir kennen den Grund für Hiobs Leiden. Keine Spur von einem «höheren Sinn». Einer Wette zwischen Gott und dem Teufel hat Hiob sein Leiden zu verdanken! Hiob leidet für den göttlichen Zeitvertreib.

Weder Hiob noch seine Freunde wissen das. Aber während seine Freunde trotz Hiobs Leid weiter blind am althergebrachten Dogma festhalten – Gott ist gerecht, er belohnt die Guten, straft die Bösen –, kommen Hiob erste Zweifel. Er fragt: Nichts, gar nichts habe ich getan, was eine solche Strafe rechtfertigte, warum also muss ich leiden?

«Aber irgendetwas muss es geben, etwas, wovon wir nichts wissen, was du dir vielleicht selbst nicht eingestehst und der Grund der Strafe ist», sagen die Freunde. «Ihr seid mir schöne Freunde», empört sich Hiob, «dass ihr mir unterstellt, etwas verbrochen zu haben, nur weil ich leide.»

Dieser Aberglaube, dass sich an dem Glück eines Menschen dessen Erwähltsein ablesen lasse, dass Glück und Gelingen ein Zeichen für Gottes Segen sei und Leid und Misslingen ein Zeichen für Verworfenheit und göttliche Strafe, wird von Hiob verabschiedet, viele Jahrhunderte später aber vom Calvinismus wieder eingeführt und unbeabsichtigt zum Motor des Kapitalismus gemacht.

Wer arm ist, ist selber schuld. Tüchtig sein, rastlos beten und arbeiten von früh bis spät, die Früchte der Arbeit und des Gebets nicht genießen, sondern sie wieder in den Hof, den Handwerksbetrieb, die kleine Fabrik investieren und an die Kinder vererben, die es genauso machen – daraus erwachsen später große Vermögen und große Unternehmen, die von den Eignern als «Gottes Segen» verstanden werden.

Hiob dagegen glaubt nicht mehr, dass Glück und Reichtum ein Zeichen für die besondere Zuwendung Gottes seien. Warum leben denn die Gottlosen, werden alt, groß und stark? … Ihre Häuser sind in Frieden, ohne Furcht; die Rute Gottes schlägt sie nicht. … Der eine stirbt im Vollbesitz seines Glücks, vollkommen ruhig und sorglos; seine Tröge fließen über. … Der andere aber stirbt mit betrübter Seele und hat nie Gutes geschmeckt: Gemeinsam liegen sie im Staube, und Gewürm bedeckt sie beide. Das Leben jedes Einzelnen – offenbar wird es von Gott ausgewürfelt oder ausgelost, und offenbar hat Gott die Lostrommel mit mehr Nieten als Treffern bestückt.

Hiob erkennt einen Gott, der sich dem menschlichen Verstehen entzieht, von dem nicht nur das Gute kommt, sondern auch das Böse. Das beklagt Hiob. Dafür verlangt er von Gott eine Erklärung. Dieser aber verweigert die Antwort. Nur wir wissen: Die Antwort wäre für Gott peinlich. Statt Hiob zu antworten, fährt Gott ihm donnernd übers Maul. Wie ein tyrannischer Gewaltherrscher spricht er aus dem Gewittersturm zu Hiob und faucht ihn an: Wer verfinstert da Gottes Rat mit seinen unverständigen Reden? … Will der Tadler mit dem Allmächtigen hadern?

Und dann ergeht eine lange, einschüchternde Rede an Hiob, eine Rede, die eine einzige Machtdemonstration ist, in der Gott Hiob im Stil eines Mafiabosses zu verstehen gibt, wer hier der Herr ist und wer der Wurm. Dieser Gewaltherrscher ist dem Wurm, den er zertritt, keine Rechenschaft schuldig. Seitenlang spricht Gott nur von seiner Macht. Und nicht ein einziges Mal von seiner Gerechtigkeit.

Am Ende scheint Hiob zu resignieren und sich dieser Macht zu beugen. Obwohl er sich doch wirklich keiner Schuld bewusst ist, will er im Staube und in der Asche Buße tun. Am Aschermittwoch erinnert sich die Christenheit daran. Im Bußgottesdienst wird dem Sünder das Aschenkreuz auf die Stirn gebracht.

Aber bis heute weiß die Christenheit nicht so recht, wofür Hiob büßte. Meistens hat Hiobs Geschichte, wie die von Isaaks Beinahe-Opferung, im Lauf der Jahrhunderte dazu herhalten müssen, bei kaiserlichen und kirchlichen Untertanen gehorsame Leidensbereitschaft und hündischen Untertanengeist zu erzeugen.

Der jüdische Umgang mit dieser Geschichte war klüger. Die Juden drangen damit zu einem neuen Gottesbild vor. Mit einfacher Krämerlogik ist Gott nicht beizukommen, sagt diese Geschichte. Es ist wahr: Alles kommt von Gott, nicht nur das Gute, sondern auch das Böse, und seine Verteilung folgt nicht dem Schema «Lohn für die Guten, Strafe für die Bösen», sondern folgt Kriterien, die wir nicht durchschauen. Wir haben also zwei Möglichkeiten.

Entweder wir bemühen den gesunden Menschenverstand, wie Hiobs Frau, die ihrem Mann sagt: Vergiss diesen Gott. Auf einen Gott, der dich grundlos leiden lässt, kannst du getrost verzichten. Oder, schärfer noch, wie der Philosoph Bertrand Russell sagte: «Die Welt, in der wir leben, lässt sich als Resultat von Wirrwarr und Zufall verstehen, aber wenn sie das Ergebnis einer bewussten Zielsetzung ist, dann muss dies die Zielsetzung eines Satans gewesen sein.»

Möglichkeit zwei drückt sich in Hiobs Haltung aus. Er hört seine Frau reden. Was sie sagt, erscheint ihm verständlich, klingt vernünftig, dennoch hält er fest an Gott. Grundlos leidet Hiob, grundlos glaubt er weiter. Hiob ist an jenen Punkt gelangt, an dem wahrer Glaube erst beginnt. Es gibt keinen Gottesbeweis. Es gibt keinen Grund für den Glauben. Hiob ist am Ende, und erst in diesem Ende findet er zu wirklichem Glauben.

Alle großen Glaubenden der Kirchengeschichte erreichen diesen Punkt. Auch Dietrich Bonhoeffer war dort angelangt, bevor er aufs Schafott ging. «Früher», sagte Bonhoeffer, «wollte ich ein Heiliger werden.» Aber das, so erkannte er, hat mit Glauben wenig, mit Eitelkeit viel zu tun. Erst «wenn man völlig darauf verzichtet hat, aus sich selbst etwas zu machen – sei es einen Heiligen oder einen bekehrten Sünder oder einen Kirchenmann –, dann wirft man sich Gott ganz in die Arme, dann nimmt man nicht mehr die eigenen Leiden, sondern das Leiden Gottes in der Welt ernst, dann wacht man mit Christus in Gethsemane, und ich denke, das ist Glaube».

Als Hiob durch diesen Punkt ging, war er wirklich frei und ein echter Glaubender. Dies versucht der falsche Schluss der Geschichte auszudrücken: Gott gibt Hiob alles doppelt zurück, was ihm genommen wurde. Falsch ist dieser Schluss, weil er die soeben erledigte Krämerlogik – Glaube zahlt sich am Ende doch aus, sogar doppelt – wieder auferstehen lässt. Es ist ja wahr: Glaube hat seinen eigenen Lohn, aber dieser Lohn ist nicht von der Art, die Krämerseelen erwarten. Darum ist dieser Schluss falsch.

Die Juden verstanden die Geschichte trotzdem, denn in Hiob erkennen sie die zwei Pole wieder, zwischen denen sie leben. Im ersten Pol steckt ihre Fähigkeit, trotz des Gefühls, von Gott und der Welt verlassen zu sein, einfach grundlos weiter zu glauben, im anderen Pol steckt ihre tiefe Sehnsucht und Hoffnung, von aller Gottverlassenheit erlöst zu werden.

Aus dieser etwas melancholischen Existenz wächst aber eine große Freiheit. Und ein tiefer Humor, zu dem bis heute offenbar nur der jüdische Glaube fähig ist. Die besondere Art dieses Humors zeigt sich in folgender Geschichte: Rabbi Joshua und Rabbi Jakob können sich über die Auslegung eines Tora-Abschnitts nicht einig werden. Sie diskutieren und streiten Tag und Nacht, essen nicht und trinken nicht, streiten immer weiter, sieben Tage und sieben Nächte lang, bis Gott sich ihrer erbarmt und ruft: «Schluss jetzt! Hiermit entscheide ich: Rabbi Joshua hat Recht, und Rabbi Jakob hat Unrecht. Jetzt geht heim und schlaft euch aus!» Da richtet Jakob seine Augen nach oben und sagt: «Allmächtiger Gott, du hast die Tora an die Menschen gegeben, jetzt halte dich raus!»