Kain und Abel – ein Bauernopfer

Was ist der Mensch? Eben noch war er das Ebenbild Gottes, die Krone der Schöpfung. Zwei Kapitel später ist er nur noch ein Sünder. Einer, der den Willen seines Schöpfers missachtete und darum hinausflog. Ein Hinausgeworfener.

Wie geht es weiter mit ihm? Die Antwort erhalten wir im vierten Kapitel, und sie ist kurz, sachlich und erschreckend.

Adam schlief mit seinem Weib Eva, sie wurde schwanger, gebar den Kain und freute sich: «Ich habe einen Mann gewonnen.» Danach gebar sie Abel, seinen Bruder. Und Abel wurde ein Schäfer, Kain ein Ackermann.

Die Brüder wuchsen heran, gingen ihrer Arbeit nach, und eines Tages brachten sie Gott ein Opfer dar. Kain opferte von den Früchten des Ackers, Abel von seinen Schafen. Gott sah das Opfer Abels gnädig an, das Opfer Kains aber ungnädig. Da ergrimmte Kain und senkte finster seinen Blick.

Gott fragte Kain: «Warum ergrimmst du? Warum senkst du deinen Blick? Gute Gedanken erheben dein Haupt, schlechte drücken es zu Boden. Du aber sollst über dich und deine Gedanken herrschen!»

Kain schwieg. Er ging mit seinem Bruder in die Felder, und dort schlug er ihn tot.

Gott fragte: «Wo ist dein Bruder Abel?» Kain antwortete: «Ich weiß es nicht. Soll ich meines Bruders Hüter sein?»

Gott rief: «Was hast du getan? Die Stimme deines Bruders schreit zu mir. Verflucht seist du auf der Erde. Dein Acker soll dir keinen Ertrag mehr bringen. Unstet und flüchtig sollst du sein auf Erden.»

Kain antwortete: «Meine Strafe ist zu schwer, als dass ich sie tragen könnte. Wer mich findet, wird mich totschlagen.»

«Nein», erwiderte Gott, «wenn dich einer totschlägt, soll es siebenfältig gerächt werden.» Daher machte Gott ein Zeichen an Kain, das ihn schützte. So ging Kain weg und wohnte im Lande Nod, jenseits von Eden.

 

Jenseits von Eden ist der Mensch jetzt angekommen. Adam und Eva im Paradies haben nur von den verbotenen Früchten gegessen. Ihr Kind aber schlägt gleich seinen Bruder tot.

Nach dem Sündenfall Evas, der Frau, die Adam verführt hatte, ist dies der Sündenfall Kains, des Mannes, der Abel erschlagen hatte. Hieß es nach der Vertreibung aus dem Paradies, dass Mühsal und Arbeit hinfort die ewigen Begleiter der Menschen sein werden, so gesellt sich nun der dritte Begleiter hinzu: die Gewalt. Schon mit der zweiten Generation des Menschengeschlechts kommen Mord und Totschlag in die Welt. Seit Eva ist die Verführung weiblich. Seit Kain ist die Gewalt männlich.

Schöpfung, Sündenfall, Vertreibung aus dem Paradies, Brudermord – enden wird das alles bald in der Sintflut. Dabei hatte es doch so verheißungsvoll begonnen. Jeden Schöpfungstag beschloss Gott mit dem Wort, dass es gut sei. Und nach der Erschaffung des Menschen hat er sogar gesagt, dass es sehr gut sei.

Hat Gott sich geirrt? Ist ihm der Mensch missraten? War die Schöpfung ein Fehler?

Uns modernen religionskritischen Menschen fällt sofort die merkwürdige Rolle auf, die Gott in dieser Geschichte spielt. Das Opfer Abels nimmt er an, das Opfer Kains lehnt er ab, und wir erfahren keinen einzigen vernünftigen Grund dafür.

Kains Zorn ist verständlich. Dass er deshalb gleich Abel erschlägt, kann man zwar nicht billigen, aber irgendwie erscheint Gott mitschuldig an der Geschichte. Seinetwegen kam es doch zum Brudermord.

Die Generationen vor uns, die frömmer und gottesfürchtiger waren als wir und die Bibel wörtlich nahmen, hatten ihre liebe Not mit dieser Geschichte. Sie fühlten sich gedrängt, Gott gegen Kain ins Recht zu setzen. Es musste einen vernünftigen Grund geben für Kains Zurückweisung, denn Gott ist doch gut, gnädig und gerecht.

Und so spekulierten sie: Kain opferte minderwertige Früchte. Kain opferte mit schlechter Absicht. Kain und Abel trugen einen alten Konflikt zwischen sesshaften Ackerbauern und nomadisierenden Hirten aus. Oder: Das Geheimnis von Erwählung und Verwerfung wird angedeutet. Oder: Kain war halt immer schon böse.

Nichts davon steht im Text.

Wenigstens sind solche Spekulationen harmlos im Vergleich zu anderen frommen Rechnungen, die aufgemacht wurden: Abel sei der Vorläufer von Jesus und Kain der Vorläufer jener Juden, die Jesus kreuzigen ließen. Der Kirchenvater Augustinus malt das Feindbild weiter, wenn er Kains berühmte ausweichende Antwort – Soll ich meines Bruders Hüter sein? – den Juden in den Mund legt: Sie hätten die Hüter Christi sein sollen, aber sie hätten behauptet, Christus nicht zu kennen.

Mittelalterliche Theologen verweisen auf die Parallele zwischen Kains Schicksal und dem der Juden nach der Zerstörung Jerusalems im Jahre 70. Unstet und flüchtig sollst du sein auf Erden, sagte Gott zu Kain. Heimatlos und in alle Welt zerstreut lebten die Juden seit der Zerstörung Jerusalems. Das sei Gottes gerechte Strafe für die Kreuzigung Christi, lügen die Christen und bereiten das Feld für die immer wieder über die Juden hereinbrechenden Pogrome. Fliehen die Juden in andere Länder, so bestätigen sie angeblich nur den «flüchtig-unsteten jüdischen Lebenswandel».

Im Jahr 1215 tagte im römischen Lateranpalast, der Kathedrale des Papstes, das 4. Laterankonzil und unterwarf Juden einer strengen Kleiderordnung, damit man sie gleich erkannte, so wie man den Brudermörder Kain am Kainszeichen erkennen konnte. Angeblich wollte man «nur» verhindern, dass die Christen mit Juden Kontakt aufnähmen oder gar Mischehen eingingen. Aber natürlich ging es auch um das Kainsmal, das längst schon zum Schandmal uminterpretiert war.

Sieben Jahrhunderte später, nach zahlreichen Pogromen, Repressalien und Beschränkungen des jüdischen Lebens in ganz Europa, wurden die Juden in Deutschland zum Tragen des Judensterns verpflichtet und in die Gaskammern getrieben. Die Ursünde Kains hatte sich fort und fort gezeugt, der älteste Menschenmord entwickelte sich zum jüngsten Völkermord.

Gott hatte Kain gezeichnet, um sein Leben zu schützen. Christen haben das Schutzzeichen zum jüdischen Schandmal umgedeutet, die Nazis benutzten es als Lizenz zum Töten. Kains Urmord war an sein perverses Ende gekommen.

Was macht den Menschen zum Mörder? Was teilt die Menschheit in Täter und Opfer? Darum geht es in der Geschichte von Kain und Abel. Nicht um die Frage, ob Gott gerecht sei, hier nicht.

Über Kain sagt Eva: Ich habe einen Mann gewonnen mit Hilfe des Herrn. Beim zweiten Sohn heißt es nur: Und weiter gebar sie Abel, seinen Bruder.

Die Freude über den zweiten Sohn ist also schon deutlich geringer. Verständlicherweise, denn die Freude über Kain war nicht nur die einer Frau über ihr erstes Kind. «Ich habe einen Mann gewonnen» bedeutet: Ich habe einen männlichen Nachkommen geboren und damit endgültig meinen Mann für mich gewonnen.

Abel wurde ein Schäfer, Kain ein Ackermann. Umherziehender Nomade und sesshafter Bauer, das sind zwei verschiedene Weisen, seinen Lebensunterhalt zu bestreiten, zweierlei Sorgen und Nöte, zwei Blicke auf die Welt. Diese Verschiedenheiten des Lebens, und mit ihnen die wachsende Zahl möglicher Konflikte, bilden möglicherweise den Hintergrund der Geschichte von Kain und Abel. Im Vordergrund steht das Bruderpaar. Mittendrin kommt der Dritte ins Spiel: Gott.

Im Dreieck Gott – Kain – Abel steckt die Menschheitserfahrung, dass dem einen mehr Glück und Erfolg beschieden ist als dem anderen, ohne dass sich sagen ließe, warum. Schönheit, Gesundheit, Begabung, Ruhm, Kraft und Reichtum – alles, wonach wir streben, ist ungleich verteilt. Sosehr sich jeder bemüht, möglichst viel davon zu erlangen, so unterschiedlich fallen die Ergebnisse aus.

Für den gläubigen Erzähler ist Gott die Ursache dieser Ungleichheit unter den Menschen. Gott wird seine Gründe dafür haben. Wir müssen sie nicht verstehen. Für uns Heutige ist die natürliche Ungleichheit das Ergebnis eines Würfelspiels namens Leben. Es ist ein Schicksal, gegen das wir uns auflehnen, das wir mit Wissenschaft, Politik und Technik zu korrigieren versuchen, oft vergeblich.

Kain lernen wir in dieser Geschichte zunächst als den vom Schicksal Bevorzugten kennen. Er ist der Erstgeborene, der mit den größeren Rechten, der Haupterbe und künftige Familienchef. Er ist, wie wir schon durch seinen Namen – «Kain» bedeutet «Lanze» oder «Schmied» – erfahren, der Starke. Wahrscheinlich ist er, der sesshafte Ackerbauer, auch der Reichere.

Abel, dessen Name «Hauch» bedeutet oder «Nichtigkeit», ist der Schwache. Er ist der Schwache bis zu jenem Tag, an dem das Opfer des Starken abgelehnt wird und das Schicksal sich zu wenden scheint. Jetzt, so sagt die Geschichte, ist Abel der «Liebling der Götter» und Kain der Glück- und Erfolglose. Aber Abel nützt es nichts, denn genau deshalb wird er erschlagen.

Wie werden zwei Brüder damit fertig, dass der eine Glück und Erfolg hat und der andere nicht? Und wenn es plötzlich umgekehrt ist? Dominieren Hass, Neid und Missgunst oder Geschwisterliebe?

Die Konflikte der beiden Brüder erleben schon die Kinder im Kindergarten und später in der Schule, Jugendliche in ihren Cliquen, die Erwachsenen mit ihren Arbeitskollegen. Wir vergleichen uns, und schon wittern wir Ungerechtigkeit, unverdientes Glück, grundlose Bestrafung. Der Konflikt zwischen den vom Schicksal Begünstigten und den Zukurzgekommenen ist unausrottbar. Rivalität gehört zum Menschsein.

Daher fragt Gott den Kain in uns: Warum ergrimmst du? Und warum senkst du deinen Blick?

Gott weiß, wie es in Kain brodelt, deshalb versucht er, Kain zur Vernunft zu bringen. Die Sünde lauert vor der Tür. Du aber sollst über sie herrschen!

Zum Erwachsenwerden gehört, dass man zu seinem Schicksal steht, es erhobenen Hauptes annimmt und mit Würde trägt, statt mit gesenktem Blick anklagend, neidzerfressen und Mordgedanken hegend auf die vermeintlich Bessergestellten zu schielen. Darum sagt Gott: Reiß dich zusammen, Kain, zügle deinen Zorn, mäßige dich, beherrsche dich.

Aber Kain schweigt, hebt seinen Blick nicht.

Der Erzähler will verstehen, was in Kain vorgeht, warum er zum Mörder wird und wie so ein Mensch nach vollbrachter Tat lebt.

Und er hat verstanden: Gewalt entsteht keinesfalls aus dem Nichts. Wohl gibt es äußere Umstände. Aber, sagt der Erzähler, dass darüber einer zum Mörder wird, das ist dem Mörder zuzuschreiben, nicht den Umständen.

Der Erzähler nimmt den Menschen ernst. «Du sollst über die Sünde herrschen» heißt, du bist ein freier Mensch und nicht das Opfer äußerer Umstände. Diese mögen dich zum Handeln drängen, aber ob du diesem Drängen nachgibst, liegt an dir.

Kain aber schweigt. Er glaubt, dem Druck nicht mehr widerstehen zu können. Ich kann nicht mehr anders, sagt es in ihm. Damit nimmt die Katastrophe ihren Lauf.

Nachdem Gott seinen Fluch über ihn ausgesprochen hat – wenn du den Acker bebauen wirst, soll er dir hinfort seinen Ertrag nicht geben, unstet und flüchtig sollst du sein auf Erden –, jammert Kain, seine Strafe sei zu schwer, und er fürchte sich, selber totgeschlagen zu werden. Der Täter fühlt sich als Opfer.

Eigentlich habe Kain ja sein Leben verwirkt, suggeriert uns der Erzähler, der vermutlich fünf oder sechs Jahrhunderte vor Christus lebte und gewiss etliche außerjüdische Varianten der Kain-und-Abel-Sage kannte. Vermutlich haben diese Varianten auch stets mit dem Tod des Bruder-Mörders geendet.

Aber die biblische Erzählung endet überraschend optimistisch: Wer Kain totschlägt, sagt Gott, der zieht sich siebenfache Rache zu! Und Gott gab dem Kain ein Zeichen, damit ihn niemand erschlage, wenn er ihn fände.

Das Kainszeichen ist also kein Schandmal, zu dem es später uminterpretiert wurde, sondern ein Schutzzeichen. Der Mörder soll leben können. Seine Tat wird nicht entschuldigt, nicht beschönigt, nicht vergessen. Aber er soll nicht auf seine Tat reduziert werden, soll Mensch und Geschöpf Gottes bleiben dürfen. Eine andere, bessere Zukunft soll ihm nicht verbaut werden.

Du bist ein Gezeichneter, sagt die Geschichte, aber trotz des Verbrechens, trotz des erneuten Versagens will Gott seine Geschichte mit den Menschen fortsetzen.

Kain gewinnt später die Liebe einer Frau, die ihm mehrere Kinder gebärt. Eva wird noch einmal schwanger und gebärt den Seth. Adam, Kain und Seth heißen die Väter der Menschheit. Einer der drei war ein Mörder.