Die Ausbrecher sind frei. In Ägypten machten sie die Erfahrung: Der Mensch lebt nicht vom Brot allein. Nur wer auch frei ist und in Würde lebt, kann sein Brot wirklich genießen. Deshalb flohen sie aus der Sklaverei in die Wüste. Dort merken sie nun: Von Freiheit allein lässt sich auch nicht leben.
Nur die Hoffnung, dass die Wüstenzeit bald überstanden sein wird und danach das eigentliche Leben beginnt, lässt sie die Not und die Entbehrungen aushalten. Diese Hoffnung treibt das Volk seinem Ziel entgegen, dem verheißenen Land, wo es auch wieder satt wird, jedoch in Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. Gottes Utopie soll bald Wirklichkeit werden.
Die Flüchtlinge lagern am Gottesberg Horeb. Dort erhält Mose die Anweisung zum letzten Marsch. Nach Kadesch-Barnea sollen sie ziehen, zum Jordan hinunter, an jene Grenze, an der die Wüste endet und das Kulturland beginnt. Elf Tage dauert es vom Horeb zum Jordan. Elf Tage, dann kann die neue Zeit beginnen.
Das Volk bricht auf, strebt seiner neuen Zukunft entgegen, erreicht nach elf Tagen Kadesch-Barnea und sieht das Ziel des Unternehmens Exodus zu seinen Füßen liegen: Kanaan, das fruchtbare Land, das nicht nur Freiheit verheißt, sondern auch Milch und Honig, Wohlstand, Überfluss.
Ein gewaltiger Jubel müsste jetzt eigentlich ausbrechen, ein Fest müsste gefeiert werden – aber Israel verhält sich merkwürdig still. Israel könnte jetzt einziehen. Und bleibt wie angewurzelt stehen. Israel müsste nur noch den Jordan überschreiten. Aber das Volk geht keinen Schritt weiter.
«Was ist?», fragt Mose. «Wir wissen nicht, was uns dort erwartet», sagen einige. «Lasst uns doch erst einige Kundschafter ins Land schicken, um zu sehen, ob man es gefahrlos betreten kann und ob es wirklich so fruchtbar ist, wie versprochen.»
Das Volk zweifelt. So nahe vor dem Ziel?
Mose versteht es nicht, «aber gut», sagt er, «Kundschafter auszusenden erscheint nicht unvernünftig, und ob wir gleich oder erst in ein paar Tagen ins verheißene Land einziehen, macht nach dem, was wir hinter uns haben, auch keinen großen Unterschied». Also benennt Mose zwölf Kundschafter und schickt sie ins Land. Nach vierzig Tagen kehren sie schwer beladen mit den Früchten des Landes zurück und sagen: «Wirklich, es ist ein Land, in dem Milch und Honig fließen.»
Kein Jubel braust auf. Fragen werden gestellt, Bedenken erhoben. Der Widerstand entzündet sich an den Details, die ebenfalls berichtet werden: Das Land ist nicht unbesiedelt. Es gibt befestigte Dörfer und Städte.
Ja und, ist nicht genug Land übrig für uns? Die Frage wird nicht gestellt. Stattdessen debattiert das Volk ausdauernd über die zu erwartenden Schwierigkeiten, und dabei wachsen in der Phantasie der Israeliten die Landesbewohner zu Riesen heran, die befestigten Siedlungen zu unbezwingbaren Städten, die Städte zu mächtigen Völkern, das verheißene Land zu einem Moloch, der Menschen frisst. Ein Wall von Angst und Bedenken baut sich auf. Und gegen Gott, dem man eben noch auf Knien dankte für die Errettung am Schilfmeer, erhebt sich der absurde Verdacht, das Volk dem Untergang ausliefern zu wollen.
Die Sklavenpest erfasst das Volk – die Scheu vor dem letzten Schritt, die Angst der Untertanen vor der Verantwortung. Ihre aus Ägypten mitgebrachte Käfigmentalität lässt die Entflohenen vor dem grenzenlos und gefährlich erscheinenden Reich der Freiheit erschauern. Unter den Schauern der Angst vorm eigenen Mündigsein kippt der Glaube um, meutert das Volk geradezu panisch gegen Mose. Wieder verklären die Sklavenseelen das sichere, sorgenfreie Leben im scheinbar gemütlich-warmen Mief der übersichtlichen kleinen Winkel des ägyptischen Käfigs.
Sie wollen tatsächlich einen Hauptmann küren, der sie zurückführt in die Steinbrüche Ägyptens, heim ins Reich der Unfreiheit, ins geregelte Leben der Sklaverei, in der man für nichts verantwortlich ist, sich um nichts kümmern muss, wo einem von morgens bis abends gesagt wird, was man zu tun hat, und die Fleischtöpfe stets gut gefüllt sind. Vor der Erinnerung an die Fleischtöpfe erscheint die eigene, mühsam erkämpfte Freiheit plötzlich wertlos. Vergessen sind Mühsal und Plage, vergessen die Schinderei und das Geschrei der Sklaventreiber, das unwürdige Leben als Zugvieh und Nutztier.
Mose versteht die Welt nicht mehr. Aaron ist verzweifelt. Josua und Kaleb, zwei der Kundschafter, die noch bei Verstand sind, zerreißen wütend ihre Kleider und schreien das Volk an: Spinnt ihr? Das Land, das wir gesehen haben, ist gut! Es hat genug Platz für uns alle. Es ist fruchtbar. Wir können in Freiheit und Wohlstand darin leben. Niemand auf dieser Welt, außer Gott, hat uns noch etwas zu befehlen.
Das Volk will die zwei steinigen.
Da fährt Gott hernieder, voller Verachtung, zornentbrannt, finstere Drohungen ausstoßend, und erwägt wieder einmal seine scheinbar altbewährte Lösung: vernichten, ausrotten, die Pestilenz will er dem unwürdigen Volk an den Hals hetzen und mit seinen letzten Getreuen – Mose, Aaron, Josua, Kaleb – abermals ganz von vorn beginnen. Mose redet es ihm mit klugen Argumenten aus. «Wenn du dein Volk jetzt umbringst, werden die Heiden sagen, du habest mitnichten dein Volk in das Land bringen können, das du ihm verheißen hattest. Willst du, dass man dich der Lüge zeiht?»
Das sieht Gott ein, aber sein Groll ist groß, und es erscheint ihm unmöglich, so zu tun, als ob nichts gewesen sei. Das Volk hat seine gute Gabe nicht nur zurückgewiesen, sondern madig gemacht, schlecht geredet, verhöhnt. Nach so einem Aufstand einfach wieder zur Tagesordnung übergehen, das geht nicht.
Darum schickt er sein Volk zurück in die Wüste. Für die Generation der Erwachsenen, die über zwanzig Jahre alt sind, zieht er seine Verheißung zurück. Auf sie, die Generation, die versagt hat, wartet die ziellose Wüstenexistenz. Sie werden darin umkommen. Die zweite Generation wird unter der Führung Josuas den Jordan überschreiten und das Land einnehmen.
Natürlich haben wir es auch bei dieser Geschichte wieder «nur» mit Theologie zu tun, aber einer sehr lebensnahen: Man sehnt sich nach Freiheit und glaubt, wenn man sie erlangt, sei man automatisch glücklich. Aber so ist es nicht. Freiheit ist eine notwendige, aber keine ausreichende Bedingung für Glück. Wer seine Fesseln abstreift, lernt erst einmal neue Zwänge kennen. Er selbst muss jetzt über jeden Schritt, den er geht, selber entscheiden, muss selber denken, selber handeln, die Verantwortung für seine Entscheidungen übernehmen und die Folgen seines Tuns tragen. Freiheit ist der Zwang, sein Leben selbst gestalten zu müssen.
Woran soll man sich dabei halten? Wie sich orientieren? Man ist zur Freiheit verdammt. Wer das erfährt, hält wie gelähmt inne und fürchtet sich vor dem ersten selbständigen Schritt, fürchtet sich schon vorher, noch im Käfig, vor dem letzten Schritt in die Freiheit – so, wie das Volk Israel vor dem letzten Schritt über den Jordan.
Wer seinen Käfig verlässt, verlässt auch seine Futterstelle und alle Sicherheiten, muss um der Freiheit willen eine Zeit lang Not und Entbehrung in Kauf nehmen und lernen, sich in der neu erkämpften Freiheit zurechtzufinden. Alte Rollenmuster und Verhaltensweisen, die im Käfig funktionierten, funktionieren nicht mehr. Neue stehen aber nicht gleich zur Verfügung, sondern müssen erst mühsam erarbeitet werden. Freiheit ist anstrengend. Deshalb liegt vor dem Gelobten Land die Wüste.
In der Wüste, frei von allen Bindungen, kann man aber nicht auf Dauer verharren. Man muss vorwärts oder wieder zurück. Israel weiß, wenn es durch den Jordan geht, wird es neu geboren und neu gebunden. An Gott. Jeder Einzelne weiß: Jenseits des Jordan beginnt die Auslieferung meines eigenen Willens an einen fremden Willen, Gottes Willen. Er ist der neue Anker, an den ich gebunden werde. Er ist der Punkt, an dem ich einen Halt und Orientierung finde.
Wer aber über den Jordan geht, muss darauf vertrauen, dass es schon gut gehen wird und Gott es gut mit ihm meint. Das ist das Abenteuer des Glaubens.
Die Abenteuerlichkeit seines Vorhabens wurde dem Volk in Kadesch-Barnea bewusst. Deshalb brach es nicht in Jubel aus, sondern verharrte erst einmal unschlüssig vor dem Jordan wie vor einer magischen Grenze. Trotz der gelungenen Flucht aus Ägypten, trotz der erfolgreichen Durchquerung der Wüste war das Vertrauen zu Gott noch nicht groß genug. Erst die zweite Generation bringt den notwendigen Mut auf und überschreitet den Jordan, die Grenze zum Gelobten Land.