GLENN R. SIXBURY
Das Urteil
Glenn Sixbury behauptet von sich, ein ›überzeugter Kansaner‹ und Einwohner von Manhattan, Kansas (nicht gerade der ›Big Apple‹) zu sein. Mit dieser Geschichte knüpft er an einige Erzählungen aus früheren Anthologien an und konnte damit gleichzeitig seine Schreibblockade überwinden. Zeitlich ist sie zwischen Landung auf Darkover und Herrin der Stürme angesiedelt. »Ich habe mir diesen Lord Aldaran immer als den Ururgroßvater von jenem Mikhael Aldaran vorgestellt, dessen aufbrausende und sture Art zu vielen der Handlungsverwicklungen in Herrin der Stürme führte.«
Glenn schreibt, daß er, ›solange mein erster sechsstelliger Vorschuß nicht eingetroffen ist, an der Kansas State University als Stellvertretender Rechnungsführer in der Abteilung für Fakultätsentwicklung, Unterabteilung Fortbildung, arbeitet. Wenn Sie diesen Bandwurm schon schwierig zu lesen finden, sollten Sie erst einmal probieren, ihn auf einer Visitenkarte unterzubringen.‹ Nein, danke.
Den ständigen moralischen Rückhalt für ›meine träumerische Veranlagung‹ findet er bei seiner Frau Brenda, seinen Kindern Brian und Amanda, und nicht zuletzt bei seiner Katze April, deren Aufgabe darin zu bestehen scheint, ›die meisten meiner Manuskripte ordentlich mit Katzenhaaren zu versehen, bevor ich sie verschicke.‹
Er schreibt weiter, daß seine Mutter, Carolyn Sixbury, alles tat, um seine Fantasie anzuregen, als er noch klein war. ›Trotz schwieriger Umstände, die die meisten Leute nie durchmachen müssen, hat sie meine Brüder und mich großgezogen. Ich möchte daher diese Geschichte meiner Mutter widmen.‹
Aber gerne doch!
Zweiundsiebzig Winter hatte Mikhael bereits hinter sich, aber heute fühlte er sich älter als je zuvor. Seine langen, grauen Haare fielen ihm wie ein zu Eis erstarrter Wasserfall auf die Schultern, und die Falten – Zeugen der vielen schwerwiegenden Entscheidungen, die er zu fällen gehabt hatte – gruben sich tief in sein Gesicht.
Auch heute würde er ein Todesurteil verkünden müssen, und wie jedesmal graute ihm davor, mehr als vor seinem eigenen zeitlichen Ende auf Darkover. Seine müden, silbrig-blauen Augen blickten im Verhandlungssaal umher, dessen Mauern im selben Jahr errichtet worden waren, als er seine Regentschaft als Lord von Aldaran angetreten hatte. In der geräumigen Kammer drängten sich seine Untertanen wie eine Herde Chervines, die der Schrei eines Banshees in einer Felsschlucht zusammengetrieben hatte.
Craven, der die Anklage vorgebracht hatte, löste sich aus der Gruppe seiner Dorfbewohner und trat hervor. Er war Mitte fünfzig, fast kahlköpfig und trug, wie ein einfacher Schafhirte, selbst in geschlossenen Räumen meist eine Mütze. »Das Volk von Aldaran fordert Gerechtigkeit«, erklärte Craven und deutete in eine Ecke des Verhandlungssaals. Zwei Wächter zerrten eine junge Frau vor den Richter. Craven richtete einen knorrigen Finger gegen sie. »Diese Frau, Lonira von Ravenshurst, hat ihr eigenes Kind getötet.«
Mikhael erkannte die Frau nicht, obwohl er ihre Mutter gelegentlich getroffen hatte. Lonira war die Tochter der alten Hebamme Reney; sie war erst siebzehn Jahre alt und so dürr wie ein Zweig im Winter und machte nicht den Anschein, irgend jemanden umbringen zu können. Jetzt stand sie mit zerzausten blonden Haaren und trüben, leblosen Augen vor ihrem Richter, blickte zu Boden und sagte nichts.
Mikhael brauchte kein Laran, um zu wissen, daß das Mädchen einen großen Seelenschmerz empfand. Doch nicht Schuld, sondern nur Verwirrung und Verzweiflung zeigte sich in den Falten, die ihr junges Gesicht entstellten. Mikhael wartete ab, und schließlich blickte sie auf und schaute ihn an.
Als er ihr Gesicht sah, verschlug es ihm fast den Atem. Einen Augenblick lang war ihm, als stünde Elline vor ihm.
Dieser flüchtige Eindruck erweckte in Mikhael die Erinnerung an einen Frühlingstag, der schon viel länger zurücklag als er wahrhaben wollte. Sein Gesicht und die starken Schultern badeten im wärmenden Sonnenschein, als er und Elline auf ihren Ponies durch die Wiesen um die Burgfeste von Aldaran galoppierten. Der klebrige, süßliche Geruch von Kireseth schwängerte die Luft – nicht stark genug, um gefährlich zu sein, aber doch ausreichend, um die Welt besser erscheinen zu lassen als sie war. Nirgends lauerte eine Gefahr, alles war erfüllt von einer grenzenlosen Liebe, die sich durch ihr gesteigertes Laran offenbarte. Er war mit Elline erst seit dem letzten Mittwinter verheiratet. In einem kleinen Tal teilte das jung vermählte Paar seine Leidenschaft unter einem strahlenden Himmel, von dem die rote Sonne die so seltene Wärme spendete: Es war ein Nachmittag des vollkommenen Liebesglücks. Jener Tag war der Höhepunkt eines Jahres, welches das beste in seinem Leben sein sollte. Als er sich jetzt daran erinnerte, erschien es ihm so, als ob er nur damals wirklich gelebt hätte.
Cravens monotone Stimme verscheuchte das Bild. »Als ich sah, wie Lonira ganz allein in den Wald ging, machte ich mir um ihre Sicherheit und ihre Ehre große Sorgen. Ich wußte ja, daß ihr Mann im letzten Sommer bei dem Gefecht mit den Ridenows umgekommen war. Deshalb folgte ich ihr.«
Mikhael konnte sich kaum ein wissendes Lächeln verkneifen. Craven galt zwar als ehrlich und eher fantasielos, aber vor allem stand er in dem Ruf, sich überall einzumischen und mehr an anderer Leute Angelegenheiten interessiert zu sein als an seinen eigenen.
»Und bei dieser Gelegenheit beobachtete ich, wie sie das Calebain sammelte.« Unter den Zuschauern wurde aufgeregt getuschelt. Craven trat einen Schritt vor und senkte seine Stimme, als ob er ein Geheimnis mitzuteilen habe. »Die meisten Leute kennen die Wirkungen dieser Wurzel gar nicht, aber meine Tante gehörte der Schwesternschaft der Heilkundigen an. Bei einem ihrer seltenen Besuche habe ich, als ich noch ein kleiner Junge war, belauscht wie sie meiner Mutter die Anwendung erklärte.«
Mikhael ließ Cravens Sachkenntnisse mit einer flüchtigen Handbewegung gelten. Er hatte dessen Tante, eine ehrenwerte Frau, gekannt. Wenn man den Gerüchten Glauben schenken durfte, war sie vor vielen Jahren von Trockenstättern umgebracht worden.
»Lonira hatte nicht bemerkt, daß ich ihr gefolgt war«, fuhr Craven fort. »Von meinem Versteck hinter den Bäumen beobachtete ich ungläubig, wie sie die Wurzeln ausgrub und sich dann davonstahl.« Mit erhobener Stimme und mehr an die Zuhörerschaft als an Mikhael gewandt erklärte er: »Ich schwöre, daß es mir nicht im Traum eingefallen wäre, sie könne die Wurzeln für diesen schändlichen Zweck mißbrauchen! Ich nahm an, sie seien für ihre Mutter, die ja auch eine Heilkundige ist. Aber als mir ihre Mutter erzählte, das Kind sei gestorben, da wußte ich natürlich, was passiert war: Lonira hat die Wurzeln selbst gebraucht. Sie hat sie gebraucht, um damit ihr Kind zu töten.«
Im Gerichtssaal wurden zustimmende Rufe laut. Mikhael wartete, bis wieder Ruhe eingekehrt war. »Lonira was hast du zu deiner Verteidigung zu sagen? Wirst du hier zu unrecht beschuldigt?«
Das Mädchen zitterte und starrte auf den Boden. Ihre Lippen versuchten, eine Antwort zu formen, aber kein Ton war zu hören. Sie versuchte es noch einmal, und diesmal gelang ihr ein flüsternd vorgebrachtes »Nein.« Gegen ihre Tränen ankämpfend fügte sie hinzu: »Ich verdiene meine Strafe.«
Mikhael schüttelte traurig den Kopf. Es war so gekommen, wie er es vorausgeahnt hatte – jetzt blieb ihm keine andere Wahl. Er versuchte, aufrecht auf seinem Richterstuhl zu sitzen, aber die Verantwortung lastete derart schwer auf seinen alten Schultern, daß er immer wieder zurücksackte. Er wollte ihren Tod nicht anordnen, wollte nicht, daß schon wieder die Flamme eines jungen Lebens durch seine Hand vorzeitig gelöscht wurde.
»Klagt nicht sie an, mein Lord. Es ist meine Schuld. Ich habe ihr den Gebrauch der Wurzel beigebracht.«
Mikhael erkannte Loniras Mutter, die jetzt aus der Menge hervortrat. Reney war eine stämmige Frau mit blonden, schon leicht ergrauten Haaren. Ihre kräftigen Arme hatten schon so manches Baby aus dem Schoß der Mutter geholt und dabei beiden das Leben gerettet.
Aber Mikhael war nicht in der Stimmung, die Untersuchung unnötig in die Länge zu ziehen. Wie eine alte Eule, die am Tag ihr Gefieder plustert, schüttelte er die ihn überkommende Schläfrigkeit ab. »Ich weiß, daß Lonira deine Tochter ist und daß du sie beschützen willst, aber ich darf mich hier nur für das interessieren, was wirklich vorgefallen ist. Ich bin zu alt und starr, um von Bitten um Gnade umgestimmt zu werden.«
»Aber Ihr versteht mich nicht recht, mein Lord. Hinter dieser Geschichte verbirgt sich mehr.«
»Jetzt versucht sie hier die gleichen schäbigen Tricks wie schon im Dorf«, behauptete Craven. »Sie möchte doch nur Zeit für ihre Tochter schinden!«
»Das tue ich nicht, mein Richter. Aber wenn Ihr meine Tochter schon zum Tode verurteilt, solltet Ihr dann nicht wenigstens anhören, warum sie so handelte?«
Mikhael schloß die Augen und rieb sich mit den Fingern die angespannten Nackenmuskeln. Die Gelenke knackten dabei und erinnerten ihn daran, wie alt er geworden war und wie lange er schon über diese Leute zu Gericht saß. Wie viele Male habe ich mich dabei wohl geirrt? fragte er sich selbst. »Ich werde mir anhören, was sie zu sagen hat.«
Die Amme nickte und knickste vor ihm. »Für eine Witwe ist das Leben hier in den Bergen nicht einfach, mein Lord. Es gibt so viele unverheiratete Frauen, da möchte kein Mann eine nehmen, die schon ein anderer besessen hat. Aber anderes verlangen sie schon! Wenn nun eine Frau wie meine Tochter ganz ohne den Schutz von Ehemann, Bruder oder Vater lebt, glaubt ein Mann die Freiheit zu besitzen, sich von ihr zu nehmen, was er will.«
»Nicht unter meiner Gerichtsbarkeit«, erklärte Mikhael scharf und beugte sich weit über den Richtertisch vor. Er blickte die Menge im Saal durchdringend an. War seine Autorität mit den Jahren schon so ins Wanken geraten? Er konnte sich nur zu gut daran erinnern, wie Beltran die Burgfeste erobert und dann seine minderjährige Schwester Lori vergewaltigt hatte. Lori war bei der Geburt von Domenic, dem Balg des Banditen, gestorben. Aber das lag nun auch schon sechsundfünfzig Jahre zurück.
»Wer soll das getan haben?«
»Was nützt es jetzt noch, wenn ich es verrate? Ich werde es nicht sagen.« Reney blickte sich nervös im Saal um, so als ob sie einen Schlag von hinten erwartete. »Ich habe meine Gründe dafür.«
Craven knurrte angewidert. »Natürlich sagt sie nichts. Weil so etwas nie passiert ist! Oder vielleicht ist sie öfters mit einem gegangen, und jetzt kann sie es nicht mehr so genau auseinanderhalten. Ich habe doch selbst gesehen, wie Lorina in diesen unanständig engen Hosen im Garten umherstolziert ist und dabei mit ihren Hüften wackelte …« Er leckte sich die Unterlippe und starrte Lorina an. Plötzlich fuhr er zornig fort: »Sie fordert mit ihrem Verhalten die Männer ja förmlich dazu auf, zu ihr zu kommen.«
»Genug davon. Ich habe mir deine Version angehört, Craven. Jetzt ist Reney an der Reihe.«
Craven schlich sich zu seinem Platz zurück und kam dabei an Lonira und Reney vorbei, die er beide herausfordernd anstarrte. Lonira wich seinem Blick aus und senkte die Augen, aber Reney hielt ihm stand, auch wenn ihre Hände dabei nervös zuckten, so als ob sie am liebsten einen Dolch gezückt hätte. Sie wartete, bis Craven ans andere Ende des Saales gegangen war, bevor sie weitersprach. »Es ist nicht wahr, was er sagt. Lonira würde sich nie einem Mann hingeben. Sie weiß, was es für sie bedeuten würde.«
Reney runzelte die Stirn und trat unruhig von einem Bein aufs andere. Leise und langsam, bewegt von den vielen Erinnerungen, begann sie ihre Geschichte zu erzählen. »Kurz nach Loniras Hochzeit am Mittsommerfest letzten Jahres stellten wir fest, daß sie ein Kind erwartete. Wir freuten uns alle so sehr. Aber dann starb ihr Mann, noch bevor der erste Schnee gefallen war.« Sie unterbrach sich; ihre kummervolle Miene verriet, daß sie schon zu viele hatte sterben sehen. »Zwei Langwochen vor Loniras Niederkunft, zur Zeit des ersten Tauwetters, mußte ich an einem einzigen Tag gleich drei Babys entbinden. Das war in Remkraig. Ich ritt mit dem ersten Vater, der mich gerufen hatte, zu seinem Dorf. Sobald ich einmal dort war, setzten auch bei zwei anderen Frauen die Wehen ein, und alle drei Geburten verliefen ungewöhnlich schwer. Liriel und Mormallor standen voll am Himmel, und bei solch einer Konstellation haben wir Hebammen immer alle Hände voll zu tun.«
Dieser Satz traf Mikhael wie ein Dolchstoß ins Herz. Er zitterte, als die Erinnerung an Elline und die Szene in ihrem Schlafgemach wieder in ihm aufstieg. Er sah, wie sich in der Glasscheibe des einzigen kleinen Fensters sowohl die Flammen des Kaminfeuers als auch Ellines Augen spiegelten. Seine Frau sang ein albernes Kinderlied, dessen Text sie dennoch ernst nahm, so wie es alle werdenden Mütter tun, die der langen Warterei müde sind:
Wenn zwei der Monde am Himmel steh’n,
sollst du in ihrem Schein spazieren geh’n.
Denn steh’n sie voll am Himmelszelt,
bringst endlich du dein Kind zur Welt.
Nachdem Elline gesehen hatte, daß beide Monde über dem östlichen Bergkamm aufgegangen waren, verließ sie das Zimmer und wollte auf den Burgwall hinaus. Mikhael hatte noch versucht, es ihr auszureden, aber ihre freudige Erregung hatte auch ihn ergriffen. Und so waren sie, gegen die Kälte des Mittwinters gut verpackt, gemeinsam durch den Schnee gestapft, während ihr Atem Traumgebilde in die Abendluft zauberte.
Diese Erinnerung und die Enge des Richterstuhls bedrückten Mikhael, der jetzt seine Aufmerksamkeit wieder Reney zuwandte.
»Ich kam zu spät, mein Lord. Als ich heimkehrte, hatten die Wehen bereits seit langem eingesetzt, aber nichts verlief so, wie es sollte. Lonira blutete stark, und trotzdem wollte das Baby sich nicht rühren. Ich versicherte ihr immer wieder, daß das Kind gesund zur Welt käme, aber dabei wußte ich ganz genau, daß es nicht stimmte.«
Mikhael starrte sie mit offenem Mund an. Seine alten Kieferknochen hingen ihm schlaff herunter. Reney war gewiß eine kluge Frau, die alles tun würde, um für ihre Tochter Mitleid zu erregen, aber Ellines Schicksal konnte sie nicht kennen – Reney war noch nicht einmal geboren, als es passierte. Überhaupt wußte außer Mikhael keiner alle Einzelheiten; zum Schluß war er ganz allein bei Elline geblieben. Die Hebamme war am gleichen Tag noch einmal weggerufen worden, um ein anderes Baby zu entbinden. Es war ganz in der Nähe, sogar noch in Sichtweite der Burgfeste. Aber als einer der Stürme, die zur Mittwinter-Zeit so häufig waren, über die Hellers fegte, saß sie dort fest und konnte unmöglich zurückkehren, ebensogut hätte sie jenseits des Walls um die Welt sein können.
Mikhael hatte alles in seinen Kräften stehende getan. Mit seinem Laran hatte er Kontakt zu dem noch ungeborenen Kind aufgenommen und erkennen müssen, daß es am Ersticken war, der Mutterkörper, der es so lange genährt hatte, erdrosselte das kleine Leben mit genau jenen Preßwehen, die es eigentlich ans Licht der Welt bringen sollten. Noch bevor das Baby kam, noch bevor Elline irgend etwas ahnte, wußte Mikhael bereits, daß es tot geboren werden würde; er hatte es sterben spüren. Und als nach der Geburt Elline um ihr eigenes Leben rang, hatte er die anderen Frauen fortgeschickt, blind vor Zorn wie ein Mann, der aus Zandrus tiefster Hölle verzweifelt schrie.
Mit seinem Laran versuchte er, wie schon so oft zuvor, die Wunden zu schließen und die Blutungen zu stillen, er versuchte, das Leben der einzigen Frau zu retten, die er je geliebt hatte und die er immer lieben würde – aber es mißlang. Zum Ende hin hatte sie nicht einmal mehr die Kraft, ihm ein liebendes Wort zuzuflüstern. Es gab keine Ermutigung und auch nicht das kleinste Zeichen, das ihn glauben machen konnte, ihr Kampf, ihm ein Kind zu schenken, sei nicht völlig vergebens gewesen. Sie wurde ihm einfach genommen, und er blieb mit nichts außer unerfüllten Träumen und einer Sehnsucht zurück, die er auch jetzt noch, fünfundvierzig Jahre später, verspürte.
Die plötzlich eingetretene Stille brachte Mikhael wieder zu sich. Reney hatte ihre Geschichte beendet und wischte sich mit dem Handrücken ein paar Tränen aus dem Gesicht. »Ich bin eine gute Hebamme, aber trotzdem bin ich mir nicht sicher, ob ich das Kind hätte retten können, selbst wenn ich rechtzeitig da gewesen wäre. Aber eines stand für mich fest. Lonira konnte, ja durfte nie wieder Kinder kriegen. Dazu ist ihr Körper einfach nicht mehr in der Lage. Bei einigen Frauen ist das eben so.«
Sie trat noch etwas näher auf Mikhael zu. »Als sie erneut schwanger war, ließen wir dieses Kind von einer Frau untersuchen, die dafür besonders begabt war. Es wäre ein Junge geworden, noch weitaus kräftiger als ihr erstes Kind. Lonira wäre bestimmt daran gestorben, wenn sie versucht hätte, dieses Kind auszutragen. Da hätte sie sich auch gleich ein Messer in die Brust stoßen können!«
Schweigend und mit tränenüberströmtem Gesicht umarmte Reney ihre Tochter ein letztes Mal; dann trat sie zurück, um Mikhaels Entscheidung abzuwarten.
Mikhael schloß die Augen und ließ den Kopf hängen. Mochten die Leute doch denken, er döse vor sich hin. Das spielte jetzt keine Rolle mehr. Er war so ergriffen und brauchte Zeit, seine Gedanken zu ordnen. Die Lords auf Darkover regierten nicht nur, weil schon ihre Vorfahren herrschten, selbst wenn diese Ansicht beim einfachen Volk weit verbreitet war; sie regierten das Land auch, weil ihr Laran sie mit einer Vielzahl von Fähigkeiten ausstattete, die den Kopfblinden nicht zur Verfügung standen. Zumindest gab es ihnen die Möglichkeit, bessere Regenten zu sein.
Mikhael steckte eine Hand unter seine Robe und berührte seinen Sternenstein. Eine abstoßende Welle des Zorns und der Verurteilung brach über ihn herein. Offenbar hatte Reneys Rede die Menge keineswegs so bewegt wie ihn. Wenn er jetzt Lonira für unschuldig erklären und freilassen würde, würden die Bürger von Aldaran das Gesetz selbst in die Hand nehmen und sie umbringen. Damit wäre auch sein Ansehen als weiser und gerechter Regent dahin. Sprach er sie aber schuldig, konnte er in seinem Urteil keine Gnade walten lassen. In diesem Teil Darkovers herrschten strenge Ansichten. Kinder galten als etwas Heiliges, ob nun geboren oder noch ungeboren. Für die meisten seiner Untertanen war es ein ebenso großes Verbrechen, eine Schwangerschaft abzubrechen, wie ein Kind im Alter von drei Jahren zu vergiften.
Für Mikhael lag der Fall nicht so klar. Hätte er damals vorhersehen können, was Elline bei der Entbindung widerfahren sollte, er hätte selbst zu der Calebain-Wurzel gegriffen. War er also genauso schuldig wie Lonira?
Als er das unruhige Scharren der Füße und die immer häufigeren Flüstereien hörte, wußte er, daß die Entscheidung nicht länger aufzuschieben war. Seine alten Gelenke ächzten, als er sich mühsam erhob. Die zornigen und erwartungsvollen Blicke der Bürger machten ihm klar, daß er nur ein einziges Urteil fällen konnte. Als er es verkündete, geschah dies mit schleppender Stimme voller Traurigkeit. »Ich bin davon überzeugt, daß Lonira die Geburt ihres Kindes verhindert hat.« Aus der Menge kamen sofort scharfe Zwischenrufe, aber Lord Aldaran brachte seine Bürger mit einem einzigen Blick wieder zum Schweigen. »Auch ich habe getötet. Manchmal, um mich selbst oder Aldaran zu verteidigen. Manchmal, um meine Familie zu schützen. Und manchmal auch als Strafe, so wie man heute von mir erwartet, eine solche Strafe zu verhängen.« Mikhael richtete sich auf, wie ein alternder Falke, der noch einmal sein Reich überblicken will, aber schon zu müde ist, um zum Flug anzusetzen. »Dies werde ich nicht tun. Heute wird es kein Todesurteil geben.«
Mehre Bürger sprangen schreiend auf und drängten sich empört nach vorne. Lonira wurde hin- und hergestoßen. Die Wachen von Aldaran eilten herbei, um sich schützend zwischen sie und den wütenden Mob zu stellen.
»Hört mich an!« donnerte Mikhael mit seiner Befehlsstimme. Augenblicklich herrschte Ruhe. »Ich vertraue auch auf Reneys Erfahrung und Sachkenntnis.« Er trat in die Mitte des Gerichtssaals und zog Lonira zu sich. »Seht euch diese Frau an! Auch ohne das Wissen einer Hebamme kann jeder erkennen, daß sie dieses Kind nicht hätte zur Welt bringen können. Sie wäre bestimmt bei der Geburt gestorben, und nicht nur sie, sondern höchstwahrscheinlich auch das Kind. Und das wußte sie.«
Er ließ Lonira wieder los und schleppte sich zu seinem Richterstuhl zurück. Nachdem er sich darauf niedergelassen hatte, nahm er sich die Zeit, die dichtgedrängte Menge im Saal zu überblicken. Plötzlich war er sich seiner Sache nicht mehr sicher und fürchtete sich fast vor den Worten, die er jetzt zu sagen hatte. »Ich erkläre hiermit, daß Lonira in dem Glauben handelte, ihr eigenes Leben zu schützen, als sie das Leben ihres Kindes nahm.« Und noch bevor sich dagegen Protest erheben konnte, fügte er hinzu: »Ich erkläre aber auch, daß Lonira nicht schuldlos ist. Wenn wir sie auf freien Fuß setzen, besteht die Gefahr, daß sie eines Tages wieder in die gleiche Lage gerät. Deshalb verfüge ich als ihre Strafe, daß sie in meine persönlichen Dienste treten muß und künftig nie mehr mit einem Mann zusammen sein darf, es sei denn, dieser Mann ist schon zu alt, um noch Kinder zu zeugen.«
Mikhael, der sich bislang so aufrecht gehalten hatte, ließ jetzt die Schultern hängen. Er hatte all seine Kräfte verausgabt. Die Dörfler in der Menge diskutierten aufgeregt das Urteil, aber keiner wagte es, ihn hier direkt anzugreifen. Er ahnte, was sie jetzt über ihn dachten: auf seine alten Tage muß er wohl den Verstand verloren haben; läßt sich von der Schönheit eines jungen Mädchens einwickeln. Noch jahrelang würde man hinter ihm hertuscheln, wenn er vorüberging, und mit leisen Worten über ihn spotten, von denen sie glaubten, ein alter Mann wie er könne sie nicht mehr hören.
Aber was machte das schon?
Wollust und Egoismus waren Motive, die seine Untertanen verstehen und vielleicht sogar akzeptieren konnten. Gnade und aufrichtiges Mitgefühl für die Notlage einer jungen Frau würden schon auf weit weniger Verständnis stoßen.
Mikhael gab seinen Wachen ein Zeichen. Lonira wurde weggeführt und der Gerichtssaal geräumt. Als er allein in dem großen Raum saß, sann er über die Länge werdenden Schatten nach und fragte sich, ob er die richtige Entscheidung getroffen hatte.
Er erinnerte sich noch einmal an Elline. Nicht an die sterbende Frau, sondern an seine lebenslustige Gefährtin an jenem Frühlingstag unter dem weiten Himmel vor Darkover, der so angefüllt war mit Lachen und Liebe Und Lord Aldaran konnte wieder lächeln.