CHEL AVERY

 

Eine Frage der Tradition

 

Ich hätte es ja wissen müssen, daß mir das früher oder später einmal passieren würde: Als ich dieses Jahr Chel darum bat, ihre Kurzbiographie auf den neuesten Stand zu bringen und ihr androhte, ich würde andernfalls irgend etwas hinzudichten, entgegnete sie mir, sie sei wirklich gespannt darauf, was sie da zu lesen bekäme. Aber wenn auch die Versuchung groß ist, etwas wirklich Haarsträubendes in die Welt zu setzen und von ihr zu behaupten, sie sei eine entlaufene Franziskanernonne, die jetzt in Timbuktu Judo unterrichtet oder auf Borneo Drachen hütet, so bin ich mir sicher, daß dieser Schwindel schnell auffliegen würde, denn viele meiner Leser werden sich daran erinnern, daß ich schon früher Geschichten von ihr abgedruckt habe, und dort kann man nachlesen, was ich das letzte Mal über sie geschrieben habe.

Ich weiß zwar, daß sie in der Zwischenzeit von Pennsylvania nach Virginia umgezogen ist, aber was sie jetzt genau treibt, ist mir nicht bekannt. Sollte sie jedoch dort tatsächlich Drachen hüten, so hätte ich darüber bestimmt etwas aus der Regenbogenpresse erfahren.

 

 

 

Leonie von Arilinn empfing den Erben von Hastur in ihren Privatgemächern – schließlich war er ihr eigener Zwillingsbruder.

Lorill stand etwas unbeholfen in der Tür. Die Bewahrerin von Arilinn war neben seinem Vater wohl der einzige Mensch in den Domänen, der vor Lorill nicht in Ehrfurcht versank. In früheren Jahren war Leonie gewöhnlich auf ihn zugestürmt und hatte ihn mit Küssen, einer liebenden Umarmung und herzlichem Lachen begrüßt. Aber nun war sie die Bewahrerin des mächtigsten der Türme, gekleidet in das Scharlachrot ihres Amtes, das allen Anwesenden gebot, Distanz zu wahren und darauf zu achten, auch nicht mit der geringsten Berührung oder Vertraulichkeit ihre Würde zu verletzen. Abgesehen von einem zarten Streichen ihrer Finger über sein Handgelenk hatte Leonie ihren Bruder seit mehr als drei Jahren nicht mehr berührt. Jedesmal, wenn Lorill sie sah, erschien sie ihm noch entrückter, noch unzugänglicher. Hatten sie seit jenem Tag, als Leonie den Schleier von Arilinn erstmals durchschritt, jemals wieder miteinander gelacht?

Leonie erhob sich nicht, sondern blieb in ihrer kargen Kammer auf dem Stuhl mit der hohen Lehne sitzen. Sie blickte ihrem Bruder direkt in die Augen, so wie es nur eine Bewahrerin oder eine nahe Verwandte wagen durfte, und Lorill bemerkte gedankenverloren, daß sie noch immer von betörender Schönheit war – wenn auch eher auf unpersönliche Weise, so wie man einen kunstvollen Wandteppich oder eine geschnitzte Täfelung aus Ebenholz als schön bezeichnen würde.

Auf ihrem Schoß lag ein derart winziges Bündel, daß es kaum die große Aufregung rechtfertigte, die es in den Hastur-Gemächern auf der Comyn-Burg verursacht hatte: ein Kleinkind, das im Schlaf zufrieden vor sich hin sabberte. Leonie sprach mit gedämpfter Stimme: »Ich heiße dich willkommen, mein Bruder. Darf ich raten, was dich hierher führt?«

»Ich glaube kaum, daß es da viel zu raten gibt. Selbst ohne die Hilfe deines Larans wirst du wissen, warum ich gekommen bin. Die Frauen im Gefolge unserer Mutter schwirren wie ein aufgescheuchter Bienenschwarm umher und zerreißen sich die Mäuler über den Skandal in Arilinn. Bitte sag mir, daß das alles nicht wahr ist.«

»Wie kann ich dir sagen, was wahr oder unwahr ist, bevor ich nicht weiß, was du gehört hast?«

»Ich habe gehört, daß Leonie von Arilinn persönlich ein neugeborenes Mädchen unter ihre Fittiche genommen hat und beabsichtigt, dieses als ihr eigenes Pflegekind großzuziehen, und das ausgerechnet hier innerhalb der Mauern des Turms von Arilinn. Über die Abstammung dieses Kindes habe ich die wildesten Gerüchte gehört, eines fantastischer als das andere, und die meisten davon skandalumwittert.«

Leonies Antwort fiel recht hochmütig aus. »Das Gerede müßiger Comynara und das Gegackere brütender Hennen schert mich nicht. Dennoch kann ich dir versichern, daß die Mutter des Kindes von edler Abkunft ist, eine Nedestro-Tochter Hasturs aus einer Verbindung mit einer hochstehenden Tochter aus dem Hause Aillard. Muß ich noch deutlicher werden?«

»Nein, du hast bereits genug gesagt, um mich den Rest der Geschichte erahnen zu lassen. Wenn ich, was die Mutter betrifft, mit meiner Vermutung richtig liege – und du weißt, daß ich allen Grund habe, daran interessiert zu sein – , dann hat dieses Kind nicht weniger als sechs mögliche Väter, allesamt Banditen aus den Kilghard-Bergen.«

Leonie zuckte nicht einmal bei dieser schlimmsten aller Beleidigungen zusammen. »Und wenn dem so wäre? Warum ist es einerseits ein so großer Skandal, daß eine Comyn-Tochter das Kind eines Banditen zu Welt bringt, wenn man andererseits nichts dabei finden würde, wenn die Mutter von niederer Geburt und Lord Alton oder ein Ridenow oder du, mein Bruder, der Vater wäre? In letzterem Fall würde man darauf achten, daß das Kind von anständigen Leuten großgezogen würde, und falls irgendein Zweifel daran bestünde, würde man eine Pflegschaft in der weitverzweigten Verwandtschaft arrangieren. Und hätte das Mädchen dann ein gewisses Alter erreicht, würde ganz zufällig eine Leronis durch ihren Ort reiten und sie auf ihre telepathischen Fähigkeiten hin überprüfen. Und sollte sie vielversprechendes Laran besitzen, würde man sie im Turm von Neskaya aufnehmen, oder man würde zumindest eine kleine Mitgift für sie aussetzen, damit man sie an einen Gutsbesitzer oder Offizier der Garde verheiraten kann. Warum also sollte dieses Mädchen hier verstoßen werden, nur weil ihr Vater, und nicht etwa ihre Mutter, von niederer Geburt ist?« Obwohl die Worte schwer wogen und sogar anklagend waren, behielt Leonie doch ihre sorgsam gewahrte Fassung. Mit der gleichen Gelassenheit hätte sie die Neubepflanzung der Gewächshäuser besprechen können.

Lorill nahm am Feuer Platz, ein Luxus, den sich seine Schwester in ihren eigenen Gemächern normalerweise nicht gönnte. Man hatte es wohl nur dem Kind zuliebe entfacht, aber Lorill war dennoch froh, etwas Behaglichkeit in Leonies asketischem Leben vorzufinden, und sei es auch nur ein offenes Kaminfeuer.

»Du verstehst mich falsch, Leonie. Ich habe keineswegs die Absicht, das Kind zu verstoßen oder zu bestrafen. Ganz im Gegenteil, ich möchte dir vorschlagen, das Kind einem meiner Männer anzuvertrauen, der auf sein Gut bei Armida zurückkehrt. Er ist di catenas mit einer rechtschaffenen Frau vermählt, die keine eigenen Kinder hat und die sich gut um die Kleine kümmern würde.«

Das Baby erwachte und begann zu schreien. Leonie läutete, und sogleich erschien eine wohlbeleibte, matronenhafte Frau, die das Kind auf den Arm nahm. Lorill fragte sich, wie es möglich gewesen war, eine Frau zu finden, die durch den Schleier von Arilinn gelangen konnte und trotzdem bereit war, als Amme zu dienen. Offenbar reichte Leonies Einfluß sehr weit, vielleicht sogar noch weiter als sein eigener.

Als die Frau wieder gegangen war, erhob sich Leonie von ihrem Stuhl, trat ans Feuer und starrte in die Flammen. Nach einiger Zeit drehte sie sich wieder um. »Ich danke dir, Lorill, für dein großherziges Angebot. Ich freue mich, daß du dich um das Wohlergehen des Kindes kümmern willst, aber ich habe bereits andere Pläne. Ich beabsichtige, das Mädchen selber zu behalten.«

Lorill überhörte die Endgültigkeit, die in ihren Worten lag. »Leonie«, redete er sacht auf sie ein, »du mußt doch selbst wissen, wie grotesk dieses Vorhaben ist. So etwas ist noch nie vorgekommen! Zum Glück sind wir von den dunklen Zeiten weit entfernt, als man eine Bewahrerin unfruchtbar machte und sie damit ein Leben lang an ihre Stellung fesselte. Wenn du dich also so sehr nach einem Kind sehnst, dann gib dein Amt auf, und ich werde eine Heirat für dich arrangieren. Aber eine Bewahrerin kann kein Kind großziehen! Das hat noch keine getan!«

»Dann werde ich eben die erste sein. Ich möchte Arilinn nicht verlassen, sondern dieses Kind in Pflege nehmen. Darf ich dich daran erinnern, daß eine Bewahrerin einzig ihrem Gewissen verpflichtet ist?«

»Das ist richtig, und ich spreche dir dieses Recht auch nicht ab. Aber warum, Leonie? Welchen Grund hast du dafür? Du wirst allseits respektiert, bewundert, ja sogar gefürchtet. Willst du all das aus einer Laune heraus aufs Spiel setzen? Sag mir doch wenigstens warum!«

Leonie saß schweigend da. Sie wünschte, sie könnte sich Lorill auch ohne erklärende Worte verständlich machen, wünschte sich, sein Laran wäre stärker, so daß er es telepathisch erfassen könnte. Und sie wünschte sich, sie wäre nicht zu dieser anerzogenen, strikten Zurückhaltung verpflichtet, sondern dürfte ihren Gefühlen freien Lauf lassen. Dann würde Lorill sie verstehen …

»Bewahrerin zu sein«, setzte sie langsam an, »bedeutet auch zu lernen, kein Mensch mehr zu sein und sich so weit zurückzuziehen, bis man keine menschliche Begierde mehr verspürt, und auch die Begierden anderer einen nicht mehr berühren können. Es heißt, so vieles aufzugeben. Ich habe der Liebe und dem menschlichen Umgang mit meinen Altersgenossen entsagt. Aber ein Kind beeinträchtigt weder den freien Energonenfluß in meinem Körper, noch die Reinheit der physischen und psychischen Konzentration, die ich als Bewahrerin aufbringen muß. Es ist für mich möglich, ein Kind großzuziehen! Und dieses Kind wurde mir von einer Frau anvertraut, die dazu nicht länger in der Lage war und die sonst niemandem vertrauen konnte. Ich glaube, es ist recht getan, daß es bei mir bleibt.«

Lorill seufzte. »Ich wünschte, ich könnte auch so sicher sein. Begreifst du denn nicht, Leonie, daß ein Fehler zu diesem Zeitpunkt um so schwerer wiegt. Die alten Traditionen sind in Gefahr. Es gibt Menschen auf unserem Planeten, die von entlegenen Sternen kommen und von dort Sitten und auch Kräfte mitgebracht haben, die unsere eigene Lebensweise und sogar das Abkommen mit ihnen bedrohen. Sie halten sich bei den Aldarans auf, und bei Caer Donn haben sie einen sogenannten ›Raumhafen‹ errichtet – ein gigantischer Gebäudekomplex, höher als jeder Turm oder sonstiges Bauwerk in Thendara! Ich habe die Anlage nur aus einiger Entfernung gesehen, aber auch so war sie imposant und erschreckend. Etwas Vergleichbares hat es noch nie gegeben. Wenn es an der Zeit ist, Vaters Nachfolge anzutreten, habe ich vor, die Terraner auch nach Thendara zu holen, damit wir ihre Rolle auf unserem Planeten vielleicht besser festlegen können. Aber denk daran, Schwester, wie unsere eigenen Leute auf die Veränderungen reagieren werden, wie sie von den Neuerungen verlockt werden könnten und möglicherweise nicht länger auf die Führung durch den Comyn-Rat oder die Türme vertrauen! Und was werden sie erst denken, wenn sie sehen, daß selbst die Hasturs mit der Tradition brechen? Du bist eine Hastur und dazu noch Bewahrerin von Arilinn. Es ist eine große Verantwortung und heilige Aufgabe. Darum gib bitte dein Vorhaben auf, bevor sich die Gerüchte noch weiter verbreiten.«

»Wie bin ich dieser heiligen Aufgaben überdrüssig! Ich habe ihnen schon mein ganzes Leben und den größten Teil meiner Menschlichkeit geopfert.« So kontrolliert Leonies Stimme auch klang, es lag doch eine ungewohnt zornige Schärfe in ihren Worten. Einen Augenblick lang stand sie regungslos da, und Lorill beobachtete, wie sie ganz bewußt und bedächtig tief einatmete – eine der grundlegenden Übungen zur Kontrolle von Laran.

»Ich werde darüber nachdenken, Lorill«, versprach Leonie schließlich. »So viel kann ich dir jedenfalls versprechen.« Sie wandte sich vom Feuer ab und trat an seine Seite. »Wirst du mir beim Essen Gesellschaft leisten?«

»Leider nein. Ich muß auf der Stelle heimkehren.« Lorill stand auf, drehte sich dann aber doch noch einmal um. »Hat sie schon einen Namen?«

Leonie brauchte nur einen Moment, bevor sie begriff, daß er nach dem Kind fragte. »Ich habe sie Ferrika genannt. «

Lorill lächelte. »Als wir noch klein waren, hast du deine Freundin, die es nur in deiner Einbildung gab, immer so gerufen.«

»Und ich habe auch immer gesagt, daß ich meine Tochter, sollte ich einmal eine haben, Ferrika nennen würde.«

»Kein Hastur hat je einen solchen Namen getragen.«

»Jetzt schon.«

 

Als Leonie wieder allein in ihrer Kammer war, wünschte sie, sie wäre sich ihrer Sache nur halb so sicher, wie sie es gegenüber Lorill vorgegeben hatte. Konnte sie es wirklich tun? Konnte sie das Leben einer Bewahrerin führen, entrückt, unpersönlich, umhüllt von einem Mysterium, und dem Kind doch eine Mutter sein? Und wenn es ihr möglich war, warum hatte es dann noch keine Bewahrerin vor ihr getan?

Aber als sie die kleine Ferrika dann wieder in ihren Armen hielt, empfand sie auf eine Art und Weise neues Leben in sich, wie sie es in den langen Jahren der strengsten Disziplin als Bewahrerin schon vergessen hatte. Etwas von der Kälte in ihr wich, als sie das kleine, warme Bündel liebkoste und das Gewicht der schlafenden Ferrika auf ihren Armen spürte. Warum sollte sie auch darauf verzichten? Der Preis, den sie als Bewahrerin zu zahlen hatte, war schon hoch genug. War es nicht mehr als gerecht, wenn ihr dieses eine Glück im Leben gegönnt sein sollte?

 

Leise schlich Leonie in den angrenzenden Raum, wo die regungslose Hülle einer jungen Frau im durch Laran herbeigeführten Tiefschlaf lag. Leonie überwachte ihren Zustand, indem sie mit den Händen einige Zentimeter über dem Körper entlangstrich, und stellte zufrieden fest, daß keine Infektion oder gar Verfall eingesetzt hatte, sondern daß die Wunden sauber verheilten. Leonie selbst hatte ihr diese Wunden bei dem drastischen Eingriff zufügen müssen, den sie gesetzwidrig vorgenommen hatte. Nein, nicht gesetzwidrig – denn die Bewahrerin von Arilinn war sich selbst Gesetz und brauchte nur ihrem eigenen Gewissen zu gehorchen.

Im Schlaf verriet das Gesicht, das einst so schön und noch immer beklagenswert jung war, wenig von den Qualen, die so tiefe Spuren hinterlassen hatten, daß Leonie vor einigen Langwochen dann doch eingewilligt hatte, die verzweifelte junge Adlige hier in Arilinn zu empfangen.

Vieles, was dieses arme Mädchen damals gewesen war, traf jetzt auf sie nicht mehr zu: sie war eine Frau gewesen; schwanger; mit einem ehrenwerten Namen, wenn auch der Schatten eines Skandals darauf lastete. Völlig gebrochen stand sie kurz vor dem Selbstmord. Eben diese Drohung – und Leonies Gewißheit, daß es das Mädchen ernst damit meinte – hatten die Bewahrerin schließlich davon überzeugt, ihrem Flehen nachzugeben und die verbotene Sterilisation vorzunehmen. Nur so glaubte das Mädchen, der ungewollten Aufmerksamkeit der Männer entgehen zu können und nicht länger in Angst und Schrecken vor Entführung und Vergewaltigung leben zu müssen. Aber dieser Eingriff durfte erst nach der Geburt des Kindes erfolgen.

»Ich werde bestimmt nie wieder den Namen Elorie Lindir tragen«, hatte ihr die Kindfrau geschworen. »Ich möchte nur noch vergessen. Könnt Ihr auch die Erinnerung an das, was sie mir angetan haben, von mir nehmen?«

»Nur auf Kosten deines Larans. Möchtest du wirklich kopfblind weiterleben, nur um zu vergessen?«

»Ja!« hatte das Mädchen beharrt, aber Leonie ließ sich am Ende trotzdem nur auf einen Kompromiß ein: Ihr Gedächtnis und Laran wurden getrübt, aber nicht unwiederbringlich gelöscht.

»Es ist schon einschneidend genug, deinen Körper so zu verändern, daß du nie wieder ganz als Frau leben, nie wieder Kinder gebären, nie wieder körperliche Liebe erfahren kannst.«

»Das sind alles Entscheidungen, die auch Ihr für Euch getroffen habt.«

»Ja, aber nicht unwiderruflich. Und da ich den Preis dafür kenne, tue ich dir dies nur mit dem größten Bedauern und voller Zweifel an. Ich tue es aus Mitgefühl für deine Schmerzen, auch wenn du dafür keine der Entschädigungen erhalten wirst, die ich empfangen habe. Aber ich werde nicht auch noch den Teil deines Geistes auf ewig zerstören, der dich zu dem macht, was du bist, und der dich die Entscheidung, die du getroffen hast, verstehen läßt, falls einmal der Tag kommen sollte, an dem du sie bedauerst.«

»Dieser Tag wird niemals kommen. Nie! Nie!«

 

Leonie brachte das Mädchen auf Arilinn unter und schirmte es während der Schwangerschaft vor allen äußeren Einflüssen ab. Nachdem Elorie entbunden hatte und erschöpft im Kindbett lag, vollzog Leonie die Operation, um die sie so inständig gefleht hatte, wobei sie auch das Gedächtnis des Mädchen trübte, damit die entsetzlichen Erinnerungen an Vergewaltigung und Verstoßung und die Geburt eines Kindes, das sie nie sehen würde, Elorie nicht stärker verfolgen würden, als sie es ertragen konnte.

Und im Gegenzug behielt Leonie das Kind bei sich.

 

Als die Amme später die kleine Ferrika zurückbrachte, nahm Leonie sie auf den Arm, ging mit ihr vor dem Fenster auf und ab und summte ein kleines Wiegenlied, das ihre eigene Amme oft angestimmt hatte und das Leonie schon vergessen zu haben schien.

Sie hatte den Eindruck, daß sich so vieles verändert hatte. Entzückt stellte Leonie fest, mit welcher Kraft die kleinen Hände Ferrikas bereits ihren Finger umschlossen. Zärtlich strich sie über die kleine Stupsnase, die sich eines Tages nach oben kräuseln würde. So viele einfache Dinge hielten neue Freuden bereit – Dinge, von denen sie keine Notiz genommen hatte: die Wärme des Feuers, die Weichheit des Pelzbesatzes an ihrem Umhang, die Würze des Bieres und der Geschmack des Nußkuchens, den man ihr zum Abendessen servierte.

Durch ihre Ausbildung zur Bewahrerin hatte Leonie gelernt, stark zu sein, geringfügige Unannehmlichkeiten nicht zu beachten und sich von den kleinen Freuden nicht ablenken zu lassen; aber das brauchte doch nicht zu bedeuten, daß man all diese gewöhnlichen Wonnen, die das Leben lebenswert machten, völlig vergaß! Ganz gewiß konnte sie gleichzeitig stark sein und Freude empfinden. Sie würde gleichzeitig Bewahrerin und Pflegemutter sein.

 

Als Ferrika eingeschlafen war, gab Leonie sie wieder in die Obhut der Amme und schloß sich dann den anderen des Ersten Kreises an, die sich auf die Nachtschicht vorbereiteten. Bei ihrem Eintreten verstummten die Gespräche im Raum, und selbst die Gedanken wurden rasch unterdrückt.

Sie haben also wieder über mich geredet. Dabei besteht für dieses abrupte Schweigen keinerlei Anlaß. Als ob wir hier irgendwelche Geheimnisse voreinander hätten!

Schon seit einigen Monaten war ihr bekannt, daß Mario, der junge Techniker, der jetzt aufstand, um ihr seinen Platz anzubieten, sie in heimlicher und hoffnungsloser Liebe verehrte. Leonie war sich ihrer eigenen Schönheit und deren Wirkung auf einige der Männer in Arilinn nur vage bewußt. Mario war bestimmt nicht der erste, und höchstwahrscheinlich auch nicht der letzte, der ihren Reizen erlag, aber die heilige Aura, die sie umgab, und auch die scharlachrote Robe hielten die Männer auf Distanz und veranlaßten sie, ihre Gefühle sorgfältig in Schach zu halten. So war die Bewahrerin imstande, darüber hinwegzusehen, und das Schmachten der Männer war für sie kaum je beunruhigender als ein plötzlicher leichter Schneefall an einem warmen Tag.

Alida Ardais, die Erste Technikerin, gab gar nicht erst vor, irgend etwas verbergen zu wollen. Sie war einige Jahre älter als Leonie, und nur ihre Unzufriedenheit mit dem abgeschirmten Leben und ihre Vorliebe, sich sowohl in die Angelegenheiten der Türme als auch der Domänen einzumischen, hatten sie davon abgehalten, selbst eine einflußreiche Bewahrerin zu werden. Ihr Wort hatte Gewicht.

»Leonie, du bist die mächtigste und unumstrittenste Bewahrerin seit Menschengedenken. Aber wenn du auf diesem lächerlichen Vorhaben beharrst, gefährdest du nicht nur deinen eigenen Ruf, sondern auch Arilinns führende Position unter den Türmen. Ich möchte mir nicht anmaßen, dich zu kritisieren, aber …«

Leonie schnitt ihr das Wort ab. »Dann laß es auch«, gab sie ungeduldig zurück. Wieder senkte sich Schweigen über die versammelte Runde. Ich muß sie dazu bringen, dachte Leonie, diesen neuen Schritt zu verstehen oder wenigstens zu akzeptieren. Aber das kann ich erst, wenn ich diesen Schritt selbst besser verstehe.

»Laßt uns endlich anfangen!« ordnete sie an und führte die Mannschaft in den angrenzenden Raum, in dem die Matrix der neunten Ebene zum Schürfen von Erz untergebracht war.

 

Die nächtliche Arbeit verlief in gewohnter Routine. Leonie bündelte die versammelten Geisterkräfte und richtete mittels der Matrix ihre gesamte Konzentration auf den ausschließlichen Zweck ihrer Aufgabe. Sie war sich aber schwach bewußt, daß die Anstrengung heute mehr an ihren Kräften zehrte als sonst; ihre Verbindung zu den anderen Kreismitgliedern war nicht wie üblich scharf und klar, sondern verschwommen. Die Sehnsucht des jungen Mario nach ihrer Liebe, die sie ansonsten so leicht übergehen konnte, nagte an ihrer Aufmerksamkeit; ihr war, als ob ein geistiger Klotz an ihrem Bein sie in ihrer Konzentration beeinträchtigte. Als der Überwacher Donal den Kreis eine halbe Stunde früher als sonst auflöste, fragte Leonie sich, ob es nicht besser wäre, Mario fortzuschicken, anstatt durch das erdrückende Gefühl seiner verbotenen Liebe zusätzlich belastet zu werden.

Alida murrte über die kümmerliche Arbeitsleistung der Nachtschicht. »Da stimmt doch was nicht. Liegt es an uns, Donal? Ist einer von uns krank?«

»Nein«, erwiderte Donal. »Alle scheinen nur ziemlich erschöpft zu sein, besonders Leonie. Das soll vorkommen. Mach dir deshalb keine Sorgen.«

Leonie wartete Alidas Antwort nicht mehr ab. Sie nahm sich noch eine Frucht, wünschte allen eine gute Nacht und ging zu Bett.

 

Ferrikas Geschrei weckte Leonie mitten aus ihren Träumen. Die Amme hob die Kleine auf und wollte sie wegtragen. »Ich werde sie stillen, Mylady, und danach wird sie bestimmt ganz ruhig schlafen.«

Aber Leonie konnte nicht wieder einschlafen. Ihre Träume bedrückten sie. In ihnen mischten sich Bilder von Elorie Lindirs Qualen mit solchen von Marios Sehnsucht, die er so tapfer zu unterdrücken versuchte; und schließlich waren da Bilder von gefangenen Vögeln, die mit ihren Schwingen gegen die Stäbe ihrer Käfige schlugen und dabei ihre Flügel zerbrachen.

Als die Amme das Baby zurückbrachte, sagte Leonie: »Gebt sie mir. Ich werde sie in meinem Bett schlafen lassen.« Sie merkte, wie sehr die Amme dies mißbilligte, aber die Frau würde es nie wagen, einer Bewahrerin zu widersprechen. Ferrika wurde auf das Bett gesetzt, und Leonie legte sich daneben. In Gedanken konnte sie den zufriedenen Zustand des Säuglings nachempfinden – der wohltuende Nachgeschmack der Milch und die Tiefe des Schlafs. Allmählich wurde auch Leonie schläfrig und sank zurück in ihre Träume. Die Vögel schlugen jetzt nicht mehr gegen die Gitterstäbe, sondern kauerten auf ihren Stangen beieinander, falteten die Flügel zusammen und putzten ihre Federn. Aber auch das Bild von Mario kehrte zurück. Fast schon mit Behagen nahm Leonie die Zärtlichkeit wahr, die er ihr gegenüber empfand, spürte sein Entzücken an ihrem Gesicht, und in ihrem übersinnlichen Rapport …

Leonie schreckte hellwach auf. Gnadenreiche Avarra, sie haben allen Grund besorgt zu sein! Als Bewahrerin hatte sie gelernt, jede Form von sexuellem Verlangen, jede Leidenschaft, ja selbst alle Gedanken oder Gefühle auszublenden, die möglicherweise die Energiebahnen in ihrem Körper unterbrechen konnten, in denen sie während der Matrixarbeit den Fluß der Kräfte kanalisierte. Schonungslos hatte man ihr beigebracht, jeden ihrer Gedanken, jede Gefühlsregung und jede Wahrnehmung vollständig zu kontrollieren. In gleicher Weise hatten alle anderen um sie herum gelernt, nie mit körperlicher Berührung oder heimlichen Gedanken in ihren inneren Frieden einzubrechen. Aber was ihr jetzt widerfuhr, war viel heimtückischer, als sie sich hatte vorstellen können!

Es war gar nicht Ferrikas Anwesenheit, die ihre Fähigkeit beeinträchtigte, diese vollständige Kontrolle auszuüben. Es war vielmehr ihre nachlassende Willenskraft, diese Fähigkeit einzusetzen. Sie selbst, Leonie, wollte nicht länger das Wissen um Marios Liebe ausblenden, wollte nicht länger unerreichbar bleiben. Was ihr zuvor gleichgültig gewesen war, verlangte sie jetzt zu spüren: die Wärme des Feuers, die Weichheit des Pelzes, die Zuneigung eines Mannes …

Ihre Geisteskraft war gebrochen. Aber Leonies Willenskraft, sich mit all ihren Gedanken und Gefühlen dieser Geisteskraft zu unterwerfen, geriet ins Schwanken.

Keine Bewahrerin sollte das je durchmachen müssen.

Tieftraurig und von einer düsteren Ahnung erfüllt, stand Leonie von ihrem Bett auf, hob behutsam die schlafende Ferrika hoch und trug sie zu ihrer Wiege. Sie gestattete sich nicht einmal, der Wärme, die von dem kleinen Bündel auf ihren Armen ausging, nachzuspüren. Sie war wieder die alte Bewahrerin, schonungslos gegen sich selbst. Und sie ermahnte sich selbst, nicht zu vergessen, daß sie seit jenem Tag, an dem sie erstmals das Scharlachrot anlegte, nicht mehr geweint hatte.

 

»Ich danke dir, Lorill, daß du so schnell zurückgekehrt bist.«

»Man wird sich auf der Alton-Domäne bestens um sie kümmern. Du brauchst dir keine Sorgen um sie zu machen. «

Vor dem Turm wartete ein Paar mittleren Alters, das vor Stolz strahlte. Die Stiefel des Mannes und die Art, wie er sein Schwert trug, verrieten den altgedienten Gardeoffizier. Die Amme bestieg ihr Pferd, bereit, den beiden zu folgen.

»Glaubst du wirklich, Lorill, daß es so schrecklich wichtig ist, die Traditionen ganz ohne Veränderungen zu bewahren?«

»Vielleicht nicht immer, aber jetzt ganz bestimmt. Was werden die kommenden Jahre bringen? Die Aldarans im Bündnis mit den Terranern, von denen wir so wenig wissen – da laufen wir Gefahr, unsere Selbständigkeit, ja sogar unsere Identität zu verlieren. In solchen Zeiten des Umbruchs brauchen wir einen festen Halt, an den wir uns klammern können. Die Bewahrerin von Arilinn ist einer unserer Garanten für Stabilität. Was immer es dich auch kosten mag, Leonie, es lohnt den Preis.«

»Ich hoffe, du hast recht, Lorill. Ich hoffe inständig, daß es den Preis lohnt.« Leonie erhaschte einen letzten Blick auf Ferrika, als die Amme sie in eine warme Decke wickelte. »Denn der Preis ist sehr hoch.«

Als sie die kleine Gruppe davonreiten sah, überkam Leonie eine Vorahnung davon, wie Ferrika einer Zukunft entgegenschritt, von der sie selbst nichts wissen konnte, und wie Ferrika sich Kenntnisse von der Welt aneignete, der Leonie ihr Leben lang dienen sollte, ohne sie je wirklich zu begreifen. Und Leonie fragte sich, ob sie tatsächlich die Tradition aufrechterhielt oder ob sie nicht vielmehr dazu beitrug, das Schicksal dieser Tradition zu besiegeln.

Sie erinnerte sich an ein Sprichwort über den Unterschied zwischen Mensch und Tier, das ihre Mutter gern zitierte: »Nur der Mensch lacht, nur der Mensch tanzt, nur der Mensch weint.« Lachen, Tanzen, Weinen – die Bewahrerin von Arilinn tat nichts von alledem.

Leonie hüllte sich noch tiefer in ihre rote Robe und versenkte sich, hinter ihren mentalen Barrieren gegen jede Ablenkung geschirmt, in ihre Gedanken. Sie durchschritt den Schleier von Arilinn und kehrte zu dem Leben zurück, für das sie bestimmt war.