TONI BERRY
Die Rache des Falkners
»Bei sechs Kindern, über einem Dutzend Enkeln und einem Urenkel«, sagt Toni Berry, »kann wohl jeder nachvollziehen, daß ich kaum Zeit zum Schreiben hatte.« Wer wollte da widersprechen; ich selbst fand es schon mit drei Kindern schwierig genug. Dennoch bin ich fest davon überzeugt, daß man für die Dinge, die man wirklich tun will, immer Zeit findet. Sonst hätte ich nicht über sechzig Bücher schreiben können.
Toni meint weiter, daß sie diese Geschichte für ihre Tochter Amanda geschrieben hat, die ihr Exemplar der Herrin der Falken immer bei sich trägt. (Nanu? Unter der Dusche dürfte das reichlich schwierig sein!) Amanda behauptet auch felsenfest, sie würde bei ihren Pferden Laran einsetzen, sodaß sie ihr überall hin folgen würden. Das glaube ich gern; ich habe selber so eine Tochter.
Stephen MacAran versuchte die Sorgen abzuschütteln, als er am Ende eines langen und ereignisreichen Tages das Schlafzimmer seiner einzigen Tochter betrat. »Hallo Lira«, begrüßte es sie mit einem Lächeln und ließ sich auf dem Stuhl neben ihrem Bett nieder.
Lira saß halb aufgerichtet gegen ihre Kissen gelehnt und hatte ihn schon lange erwartet. Ihre großen grünen Augen waren verweint. »Muß Kedric sterben, Vater«, schluchzte sie, »so wie Bryl? Ich … ich habe gesehen, wie sie ihn reintrugen. Das viele Blut, es war schrecklich. Und was wird aus unseren Verrin-Falken?«
Stephan nahm sie in die Arme und spendete ihr Trost. »Ganz ruhig, mein Kleines«, flüsterte er besänftigend, während er ihre bronzeroten Locken streichelte. »Kedric wird schon wieder gesund. Es war gar nicht so schlimm wie es erst aussah. Und mach dir mal um unsere Falken keine Sorgen, die werden wie immer prächtig gedeihen.«
Nach einigen weiteren beruhigenden Worten richtete er ihre Kissen und ließ sie unter die Decke schlüpfen.
»Na siehst du, so geht es doch schon besser. Und wie wäre es jetzt mit einer Gute-Nacht-Geschichte?«
Sie nickte und schenkte ihm ein schwaches Lächeln.
Fast jeden Abend brachte Stephan seine Tochter so zu Bett, deckte sie zu und erzählte ihr noch eine Geschichte. Obwohl sie bereits zehn war, war es eine so liebe Angewohnheit geworden, daß beide noch nicht darauf verzichten wollten.
Wie meistens wollte Romillira eine Geschichte über ihre Großtante und Namenspatronin Romilly MacAran hören. Romilly, die legendäre Falknerin König Carolins, war Romilliras bevorzugte Heldin.
Als Stephan die Geschichte, wie Romilly die Banshees bekämpfte, zu Ende erzählt hatte, stellte er fest, daß seine Tochter friedlich eingeschlafen war.
Er zog die Bettdecke über ihre Schultern und küßte sie zärtlich auf die Wange. Eine Zeit lang betrachtete er noch das schlafende Kind, dann schlich er sich auf Zehenspitzen aus dem Zimmer.
Nachdem er die Türe leise zugezogen hatte, begab sich der großgewachsene, stämmige Meister von Falconsward in sein eigenes Schlafgemach zu seiner Frau. Stephan war jetzt einunddreißig, aber seine sorgenvolle Miene ließen ihn älter erscheinen; er mußte an den toten Lehrling Bryl denken, als er die Halle durchquerte. Manchmal ist es eine schwere Last, der MacAran zu sein.
Mallira, seine blonde und anmutige Frau, lächelte, als er den Raum betrat. »Komm, Geliebter, ohne dich ist es hier kalt und einsam.« Sie strich mit der Hand über das leere Bett an ihrer Seite.
Stephan seufzte und fuhr sich mit seiner starken, schwieligen Hand durch das üppige, rostbraune Haar. Ach Malli, ich mache mir schwere Vorwürfe. Wie konnte ich sie nur so früh in die Berge schicken? Ich war blind für die Gefahren. Und jetzt ist Bryl tot. Es ist meine Schuld!
Er übermittelte ihr diesen Gedanken mit Hilfe seiner telepathischen Fähigkeiten, mit seinem Laran, und Mallira antwortete ihm auf die gleiche Weise.
Du darfst dich nicht so quälen, Liebster. Diese Lawine konntest du doch nicht voraussehen. Und nie würdest du einen deiner Leute unnötiger Gefahr aussetzen, weder bewußt noch aus einer Laune heraus.
Ihr Rapport vertiefte sich noch, und Stephan ließ sich ganz von ihrer Wärme umfangen, als er in ihren Armen Trost suchte.
Viel später, Mallira schlief bereits fest, durchlebte Stephan noch einmal die Schrecken dieses Tages. Besonders schmerzvoll war die Erinnerung an den Moment, als sie Bryls zerschmetterten Körper fanden: Der junge, vielversprechende Lehrling des Falkners lag eingekeilt in eine enge Spalte, in die ihn die Wucht der Schneemassen geschleudert hatte. Kedric hatte mehr Glück gehabt. Lediglich sein Beine waren unter einem umstürzenden Baum begraben und verletzt worden.
Ein Habicht war beständig über dem verunglückten Falkner gekreist und hatte dadurch den Suchtrupp bereits einen Tag nach der Lawine zu dem Verletzten geführt. Die Leronis, die vom Turm herbeigeeilt war, untersuchte Kedric mit ihren telepathischen Kräften und versicherte Stephan, daß er nicht viel mehr als ein leichtes Hinken zurückbehalten werde. Die größte Gefahr hätte für ihn darin bestanden, längere Zeit der Kälte ausgesetzt zu sein, aber man hatte ihn nach nur einer Nacht retten können, und der Schnee, der ihn zunächst in diese Situation brachte, hatte sich als wärmende Schutzschicht erwiesen.
Dafür würde Stephan ewig dankbar sein. Aber es konnte noch viele Wochen dauern, bis Kedric endgültig genesen war, und die Vögel brauchten tägliche Pflege.
Deshalb hatte Stephan, sobald Bryl in allen Ehren bestattet war, einen Boten nach Scathfell gesandt. Jetzt wartete er ungeduldig auf die Antwort seines Cousins Lord Scathfell; hoffentlich war er in der Lage auszuhelfen. Sein Falkner war allgemein als ausgezeichneter Lehrmeister bekannt, und Vardome, der Falkner-Lehrling, hatte seinen rasch wachsenden Ruhm weitgehend ihm zu verdanken.
Über diesen Vardome wurde in den Kilghard-Bergen viel geredet. Es hieß, er leiste hervorragende Arbeit bei der Ausbildung der wertvollen Verrin-Falken, die auf ganz Darkover bei der Jagd eingesetzt wurden. Stephan hoffte, diesen Mann leihweise zu verpflichten, bis sein eigener Falkenmeister die Arbeit wieder aufnehmen konnte. Burg Falconsward besaß einige der edelsten Verrin-Falken, und deren Pflege mußte sichergestellt sein.
Romillira stahl sich zu den Vogelverschlägen davon. Sie konnte kaum abwarten, den neuen Falkner zu sehen, der erst vor wenigen Stunden angekommen war. Bei dem unangenehmen Geruch, der ihr aus dem Inneren des Falkenhauses entgegenschlug, rümpfte sie ihre mit Sommersprossen übersäte Nase. Eine Zeit lang schlich sie um den Eingang herum.
Als sie schließlich hineinspähte, fuhr sie erschrocken zusammen – von dem großen, hageren Mann schien eine Aura des Bösen auszugehen.
Endlich! Endlich bekomme ich meine Chance! Diese Gelegenheit zur Rache verdanke ich dem Schicksal. Kein anderer Falkenmeister kann mich jetzt daran hindern, diese Vögel zum Werkzeug meiner Rache zu machen.
Plötzlich drehte sich der Falkenmeister um und bemerkte, wie Romillira ihn anstarrte. Mit seinen stechend grünen Augen erwiderte er den Blick. Ihr entsetzter Gesichtsausdruck verriet ihm, daß er unvorsichtigerweise seinen Gedanken allzu freien Lauf gelassen hatte. Ich Narr! schalt er sich selbst und verbarrikadierte seine Gedanken.
Romillira zitterte am ganzen Leib und wich vor ihm zurück, schaute aber weiter, wie gebannt vom Haß in seinen Augen, den Mann an. Mit drei schnellen Schritten türmte er sich vor ihr auf. Seine dunklen, buschigen Brauen zogen sich zornig zusammen, und die kurzgeschorenen, roten Haarstoppeln stand ihm wie unzählige Hörner vom Schädel ab.
»Laß dich hier nicht blicken, Damisela!« krächzte seine häßliche Stimme. »Laß dich bloß nicht mehr blicken!«
Wimmernd riß sie sich los und rannte davon, geradewegs in die Anne ihres Vaters.
»Lira! Was hast du denn?« Stephan versuchte, sie etwas von sich weg zu halten, um sie besser betrachten zu können. »Bist du verletzt, mein Kind?« erkundigte er sich besorgt.
Schluchzend schüttelte sie den Kopf und klammerte sich dann wieder so eng an ihn, daß ihr Gesicht ganz in seinen Kleidern vergraben war.
Da trat Vardome aus dem Falkenhaus heraus und entschuldigte sich verlegen grinsend. »Ich fürchte, das ist meine Schuld. Ich muß sie wohl etwas erschreckt haben, als ich ihr sagte, sie solle sich hier nicht herumtreiben. Nehmt meine Entschuldigung an, mein Lord. Ich wollte sie wirklich nicht beunruhigen.«
Stephan atmete erleichtert auf. »War es das, Lira? Hat dich der neue Falkenmeister erschreckt?«
Romillira nickte. »Er … er ist böse«, flüsterte sie zitternd.
»Aber, aber, ich bitte dich. Über einen völlig Unbekannten kann man doch kein solches Urteil fällen«, ermahnte Stephan sie und nahm sie bei der Hand.
»Aber es stimmt, Vater, er ist böse! Er will uns etwas Schlimmes antun. Ich habe es gespürt. Glaubt mir doch, bitte!« Sie wollte einfach nicht begreifen, daß ihr Vater ihre Worte bezweifeln konnte.
»Das ist doch Unsinn. Ich gebe ja zu, daß Vardome ein bißchen zum Fürchten aussieht, aber trotzdem kann ich deine Unverschämtheit nicht dulden, Romillira. Es gehört sich nicht und ist außerdem ungerecht.«
Romillira kämpfte mit den Tränen. »Aber Vater, darum geht es doch gar nicht …«
»Still jetzt, Lira«, unterbrach Stephan sie, der bereits wieder mit anderen Problemen beschäftigt war. »Wir werden später mit Mutter darüber reden.«
Romillira stapfte widerwillig neben ihrem Vater her. Tränen, die sie nicht zurückhalten konnte, trübten ihren Blick, genauso wie der Zweifel ihres Vaters das Vertrauen trübte, das sie bislang in die Welt hatte.
Beim Abendessen wurde sie erneut zurechtgewiesen. Sie hatte versucht, ihr Mißtrauen gegen den neuen Falkenmeister zu rechtfertigen, aber ihre Eltern wollten einfach nicht zuhören.
Dennoch machten sich beide große Sorgen über das ungewohnte Verhalten ihrer Tochter. Sie erklärten es sich schließlich damit, daß Kedrics Unfall und Bryls Tod sie so durcheinander gebracht hätten.
In dem Versuch, dem ganzen etwas die Spannung zu nehmen, hielt Stephan ihr die offene Handfläche hin; darauf ruhte ein blau glühender, kugelförmiger Stein. »Ich denke mir, du könntest jetzt gut ein neues Spielzeug gebrauchen«, meinte er heiter. »Es ist ein Drynn-Stein, und ich bin sicher, er wird dir gefallen.«
Als sie auf ihrem Zimmer war, starrte Romillira den Stein nur trotzig an. Wie kann er es nur wagen, mich mit so einem Spielzeug bestechen zu wollen! Er hält mich wohl für ein dummes und törichtes Kind, das gut und böse nicht auseinanderhalten kann. Aber ich weiß doch, was ich mitbekommen habe. Sie betrachtete wieder den merkwürdigen blauen Stein, der wärmend auf ihrer Handfläche lag. Schließlich war die Neugierde doch stärker, und sie versetzte dem Stein einen leichten Stoß in Richtung der Tür. Dieser beschrieb einen eleganten Bogen und kehrte dann in ihre Hand zurück. Offenbar aufgeladen und abgestimmt auf die Energie ihres Körpers, kam der Stein jedesmal zu ihr zurück, wenn sie ihn fortwarf.
Am nächsten Morgen entschloß sich Romillira, so viel wie möglich über den neuen Falkenmeister und seine Pläne mit ihren Verrin-Falken herauszubekommen. Wenn ich mehr weiß und damit zu Mutter und Vater gehen kann, werden sie mir vielleicht endlich glauben, überlegte sie sich. Und dann sollen sie sich dafür entschuldigen, daß sie mich für ein dummes Kind gehalten haben.
Doch an diesem Tag unternahm sie noch nichts. Statt dessen spielte sie draußen mit ihrem Drynn-Stein. Immer weiter schleuderte sie ihn weg, und stets kehrte der Stein zielsicher zu ihr zurück, selbst wenn sie versuchte, ihm auszuweichen. Dabei hielt sie sich ganz bewußt vom Falkenhaus fern, damit ihre Eltern glauben sollten, sie habe sich ihre Vorhaltungen zu Herzen genommen.
Am darauffolgenden Tag wiederholte sie ihr unschuldiges Spiel, allerdings mit dem Unterschied, daß sie sich diesmal immer näher an die Vogelverschläge heranpirschte. Vielleicht konnte sie ja unbemerkt etwas herauskriegen.
Scheinbar in ihr Spiel vertieft, näherte sie sich bis auf etwa zehn Schritte dem Eingang. Als sie versuchte, ihr Laran zu aktivieren, überkam sie plötzlich ein Schwindelgefühl. Panik ergriff sie. Die Schwellenkrankheit! Sie wollte etwas erzwingen, wozu sie noch nicht reif war, und die Folgen, die sich daraus ergeben konnten, waren ihr voll bewußt. Es war in zweifacher Hinsicht gefährlich. Zum einen konnte ihr erwachendes Laran jeden Augenblick außer Kontrolle geraten und schwere Schäden, ja vielleicht sogar ihren Tod verursachen. Zum anderen wäre Vardome eine ernsthafte Gefahr, falls er ihre Einmischung in seine Gedanken bemerken sollte.
Sie ging deshalb bei ihrem nächsten Versuch mit äußerster Vorsicht zu Werk. Auf jeden Fall mußte sie sich vor dem Falkenmeister hüten und durfte ihr Laran nur auf die Falken selbst richten.
Beim ersten Kontakt erlebte sie ein vorübergehendes Hochgefühl. Einige der Vögel dösten nur auf ihren Stangen, und Romillira überging sie. Dann streiften ihre Gedanken die eines Jungvogels, der ungestüm immer nur nach Freiheit schrie. Auch das konnte ihr nicht weiterhelfen, und so brach sie den Kontakt ab.
Schließlich konnte sie den Falken ausmachen, den Vardome gerade bearbeitete. Der Vogel schlug in panischer Angst mit den Flügeln, als Vardome versuchte, die unschuldigen Sinne des Tieres mit dem Inbegriff des Bösen zu vergiften. Er projizierte die niedrigsten Gefühle, deren die Menschen fähig sind, auf den Vogel: Haß, Raserei, Rache.
Die wirkungsvollen Bilder Vardomes drängten sich dem Geist des Falken, und damit auch Romillira, mit unerbittlicher Klarheit auf. Schritt für Schritt, wie in einer gut vorbereiteten Lehrstunde, entfaltete sich so ein Plan des Bösen in jeder Einzelheit.
Dem verängstigten Falken erschienen Bilder, wie er die MacArans angriff, und verwirrt schrie der Vogel seinen Protest heraus. Oder war es Romillira gewesen, die um Hilfe gerufen hatte? Sie riß sich aus der Gedankenverbindung los, kappte auch noch den letzten Faden des Kontakts – und sank zu Boden.
Wenig später fand ihre Mutter sie noch immer zitternd am Boden liegen. Ihr Gesicht war leichenblaß und ihre Augen starrten ausdruckslos ins Leere. Mallira rief immer wieder ihren Namen, als sie sich neben ihre Tochter niederkniete und Romilliras Kopf in ihren Schoß bettete. »Lira! Komm zurück, Lira!« rief sie verzweifelt und versuchte dabei, das Kind wachzurütteln.
Romillira öffnete die Augen, schien aber ihre Mutter kaum wahrzunehmen. Dazu tobten in ihrem Kopf noch zu viele Schreckensbilder, die sie wieder und wieder einzuholen drohten.
»Meine arme Kleine«, redete ihre Mutter beruhigend auf sie ein. »Warum haben wir bloß nicht an die Schwellenkrankheit gedacht? Kein Wunder, daß du so verwirrt warst. Wir müssen sofort den Turm zu Hali benachrichtigen.«
Romillira schloß kurz die Augen. »Aber Mutter, es geht doch gar nicht um mich, sondern um den armen, gequälten Falken! Wer hilft ihm? Wie kann er sich gegen solche Geisteskrankheit wehren?«
»Ganz ruhig, mein Kind. Du bist krank, und nicht der Falke. Das mußt du doch einsehen.«
»Nein, Mutter, der Falkenmeister ist krank. Sein Geist ist krank, ganz schrecklich krank. Wieso kann das außer mir keiner sehen? Ich kann die armen Vögel doch nicht allein retten!«
»So, Romillira, das reicht. Für solche Frechheiten gibt es keine Entschuldigung, Schwellenkrankheit hin oder her. Trotzdem wird dein Vater erleichtert sein, wenn er erfährt, woran es gelegen hat.«
Romillira warf ihrer Mutter nur noch einen verzweifelten Blick zu. Weitere Beteuerungen hatten offenbar keinen Sinn.
Nach dem Abendessen saß sie in ihrem Zimmer und versuchte sich vorzustellen, warum der Falkenmeister ihre Familie so sehr haßte. Was hatte er vor? Und wieso wollte er die unschuldigen Vögel beeinflussen?
Laran war eine ganz besondere Gabe, die auch große Verantwortung mit sich brachte. Romillira wußte das; schließlich hatte man sie ihr Leben lang darauf vorbereitet: Verletze niemals die Privatsphäre anderer; setze niemals dein Laran ein, jemandem Schaden zuzufügen; nimm auf die Kopfblinden besondere Rücksicht; Tiere sind ganz besonders zu achten, denn sie sind wahrhaft unschuldig.
Vardome verstößt gegen alle Gebote! Wie kann er es nur wagen, den Rapport mit diesen vertrauensseligen Vögeln zu mißbrauchen! Und was bezweckt er damit?
Während man noch auf die Ankunft der Leronis wartete, achtete man sorgfältig darauf, daß Romillira nicht mehr in die Nähe des Falkenhauses kam. Tagsüber war ständig jemand in ihrer Nähe, und selbst in der Nacht schauten ihre Eltern mehrmals nach, ob sie auch ruhig in ihrem Bett lag und schlief.
Schließlich traf die Leronis ein. Sie bestätigte, daß bei Romillira ein frühzeitiges Erwachen der Laran-Kräfte vorlag. Ihre Eltern sollten sie so bald wie möglich in den Turm schicken, damit sie dort richtig unterwiesen werden könne. Sie habe aber auch vollstes Vertrauen, daß ihre Eltern Lira helfen könnten, die kommende schwere Zeit zu überstehen.
Am nächsten Morgen verabschiedete sich die Leronis schon früh. Sie war zuversichtlich, daß Romillira ihr in absehbarer Zukunft folgen würde.
Bevor sich Stephan wieder an seine Arbeit machte, ermahnten die Eltern Lira noch, beim Ausprobieren ihres Larans äußerst vorsichtig zu sein und sie sofort zu rufen, falls es sich von allein aktivieren sollte. Dann schenkten sie ihr einen kleinen Welpen. Obwohl man ihr schon lange einen Hund versprochen hatte, war sich Romillira sicher, daß auch dies, gerade zu diesem Zeitpunkt, ein Versuch war, sie auf andere Gedanken zu bringen.
Das änderte aber nichts daran, daß sie den kleinen Hund sofort ins Herz schloß. Sie nannte ihn Sher, und beide verband unverzüglich ein vollständiger Rapport. Die Wärme und Liebe, die das Tier ihr erwiderte, trösteten Lira.
Mehrfach tollten die beiden auch in der Nähe des Falkenhauses herum. Romillira wußte, daß Vardome auch weiterhin seine Haßlektionen predigte und daß seine Verbitterung irgendetwas mit seinem Großvater zu tun hatte. Jedesmal, wenn sie mit ihrem Laran Kontakt zu den Falken aufnahm, mußte sie feststellen, daß gerade wieder einer der Vögel Vardomes Gehirnwäsche unterzogen wurde.
Romillira war auch an jenem Tag dabei, als einer der Jungvögel gequält aufschrie und aus lauter Angst starb; sein kleines Herz zerbrach unter schrecklichen Todesqualen. Romillira hatte selbst gespürt, wie sich in ihrer Brust etwas zusammenkrampfte, und stürzte zu Boden; auch sie schrie vor Schmerz und Zorn laut auf. Shers mitfühlendes Winseln und seine kalte Zunge auf ihrer Wange hatten aber genügt, sie wieder zur Besinnung zu bringen. Lira umarmte ihren Liebling und ließ sich von seiner Zuneigung besänftigen.
Ihr Narren! Der Falkenmeister schäumte vor Wut. Ich versuche euch Macht zu verleihen, und ihr flattert nur aufgeregt mit den Flügeln. Wer hat nur behauptet, daß Verrin-Falken intelligente Vögel seien? Dennoch ließ er nicht nach. Mit unerbittlicher Entschlossenheit setzte er seine Haßtiraden fort.
Kurz darauf hallte sein wahnsinniges Gelächter nach draußen und drang Romillira bis ins Mark. So ist’s besser. Sie sollen es mir alle büßen! Und dann rief er laut: »Mikhails Erben werden schon bald den Tag bereuen, an dem er seinen eigenen Nedestro-Sohn verstieß. Als ob er nicht gerade so gut sein eigen Fleisch und Blut war. Aber sie haben Großvater Loran alles verweigert: sein Geburtsrecht, ja selbst die Fürsorge seiner Mutter Nelda. Haben ihn einfach nach Scathfell abgeschoben. Aber jetzt wäre er stolz auf mich! Diese Rache wird gelingen!«
Romillira war wie betäubt. Der Tod des Falken hatte sie schon geschwächt und mitgenommen, aber diese Enthüllung lastete auf ihr noch viel schwerer. Ihre Familie war stolz und tugendhaft; sie gehörten der Cristoforo-Gemeinde an. Solche Dinge durften nicht vorkommen! Sie dachte an ihren Vater und war sich sicher, daß er seine Familie nie so entehren würde. Und auch Urgroßvater Mikhail hätte es nie getan!
»Ach, Sher«, vertraute sie sich ihrem einzigen Freund an. »Was soll ich denn nur tun? Ich weiß ja, daß Nedestro-Kinder gezeugt werden. Aber von Urgroßvater kann ich mir das einfach nicht denken. Und schon gar nicht, daß er ihn verstoßen hätte!«
Tagelang trug sie diese bedrückende Erkenntnis mit sich herum. Wie konnte sie es nur ihren Eltern erklären? Würden sie überhaupt zuhören? Eines Abends, als Stephan sie wieder zu Bett brachte, fragte sie ihn nach Mikhail.
»Ich habe ihn nicht mehr persönlich gekannt, Lira«, antwortete ihr Vater. »Er war schon tot, als ich zur Welt kam.«
Er lehnte sich bequem zurück und fuhr fort. »Mein Vater hat mir erzählt, daß er in seiner Jugend ganz anders war, nämlich streng und unnachgiebig. Besonders als er glaubte, Romilly für immer verloren zu haben.«
»Aber als Romilly zurückkam und sich mit ihm aussöhnte, da hat er ihr vergeben. Und auch ihren Brüdern. Und dann lebten sie alle glücklich und zufrieden«, sprudelte Romillira mit glänzenden Augen hervor.
»Genauso war es«, lächelte Stephan. »Schließlich wurde mein Vater Rael Oberhaupt der MacArans, und jetzt ist die Reihe an mir.«
»Eine Frage, Vater.« Sie zögerte. »Könnte es sein, daß Urgroßvater … könnte er Luciella entehrt haben? Ich meine, hat er vielleicht einen Sohn …«
»Romillira! Du solltest dich schämen!« Stephan sprang empört auf. Sein Gesicht lief so rot an wie die Sonne von Darkover.
Romillira wich beklommen seinem Blick aus. »Es tut mir leid, Vater, aber ich meine doch nur …«
Stephan hob abwehrend die Hand, als ob er sich vor etwas schützen müßte. »Kein Wort mehr, Romillira! Kein einziges Wort!« Er drehte sich um und verließ rasch und zornig das Zimmer.
»Es geht auch alles schief«, schluchzte sie in ihr Kissen. »Jetzt werden Vater und Mutter mich hassen. Und alles nur wegen dem schrecklichen Mann!« Sie weinte sich in den Schlaf.
Sobald sie ihr Frühstück beendet hatte, kam Mallira mit einer langen Liste von Stellen aus dem Buch des heiligen Lastenträgers zu ihr. Sie sollte diese Stellen nicht nur lesen, sondern auch Buchstaben für Buchstaben abschreiben.
»Und wenn du damit fertig bist, werden wir zwei uns einmal gründlich zu unterhalten haben«, wies ihre Mutter sie an. »Geh jetzt, bevor mir noch mehr dazu einfällt.«
Romillira beendete ihre Strafarbeit und ging damit zu ihrer Mutter. In ihren Händen hielt sie die abgeschriebenen Stellen, die alle davon handelten, daß Kinder ihre Eltern und die Erwachsenen ehren sollten. Nichts von alledem traf ihrer Meinung nach auf sie zu, und Romillira war wild entschlossen, zu Wort zu kommen.
»Komm her, mein Kind, setzt dich zu mir«, forderte ihre Mutter sie auf. »Jetzt wollen wir einmal sehen, was der heilige Lastenträger darüber zu sagen hat.«
»Zuerst wollen wir einmal sehen« widersprach Romillira trotzig, »worüber wir überhaupt reden! Ich muß Euch etwas erzählen, Mutter! Ich muß es einfach! Wenn Ihr es gehört habt, könnt Ihr immer noch entscheiden, ob Ihr auf dieser Lektion besteht. Dann werde ich auch gehorsam zuhören.« Obwohl sie mit bebender Stimme sprach, klang sie doch so überzeugend, daß Mallira darüber nachdenken mußte. Und das nutzte Romillira sofort zu ihrem Vorteil. »Der Falkenmeister meint, sein Großvater sei Mikhails Sohn, den man versteckt hielt, um keine Schande über die Familie zu bringen. Das glaubt er jedenfalls. Ich habe mir das nicht ausgedacht! Wieso sollte ich auch? Er ist davon überzeugt, und deshalb haßt er uns!« Jetzt erst setzte sie sich hin und verschränkte die Arme, als ob sie damit zu verstehen geben wollte: so, jetzt weißt du es, und nun entscheide du.
Mallira schwieg unschlüssig, als sie überlegte, ob ihre Tochter nicht vielleicht doch die Wahrheit sagte. Romillira hielt die Warterei nicht länger aus und lief zappelig im Zimmer auf und ab; ihre Finger spielten nervös mit der Spange ihres Kleides. Schließlich faßte Mallira sie energisch bei der Hand. »Wenn dein Vater mit seiner Arbeit fertig ist, werden wir der Sache auf den Grund gehen!«
Ihre Eltern hörten aufmerksam zu, als Romillira in allen Einzelheiten ihre Kontakte mit dem Falkenmeister und den Vögeln berichtete. Dann erhob Stephan sich und ging genauso unruhig wie zuvor seine Tochter im Zimmer hin und her. Noch konnte er sich zu keinem Urteil durchringen, aber Romillira meinte, an seiner besorgten Miene erkennen zu können, daß er ihr glaubte.
Schließlich brach er sein Schweigen. »Ich bin noch immer nicht bereit, dir alles vorbehaltlos abzunehmen, was du da gesagt hast. Die Geschichte klingt einfach zu fantastisch. Immerhin hast du mich soweit überzeugt, daß ich einige Untersuchungen anstellen werde. Wie lautete noch gleich der Name seines Großvaters?«
»Ich … ich bin mir nicht ganz sicher. Loran, hat er gesagt, oder vielleicht auch Doran. Ich hatte solche Angst, da kann ich es auch falsch verstanden haben. Seine Mutter hieß, glaube ich, Velda.«
»Als erstes sollte ich die alten Aufzeichnungen durchgehen. Aber das kann dauern, es liegt ja schon so lange zurück.« Stephan strich sich die Haare zurück und schaute Romillira besorgt an. »Du mußt mir eines versprechen, Lira: Überlaß das bitte mir. Wenn es stimmt, was du sagst, dann ist dieser Mann sehr gefährlich. Du mußt dich unbedingt von ihm fernhalten, hörst du!«
Dankbar und erleichtert willigte sie ein.
»So, und nun komm mit mir«, erklärte Mallira. »Wir dürfen deinen Vater nicht länger von seiner Arbeit abhalten.«
Stephan klopfte ihr ermutigend auf die Schulter. »Es kann schon sein, daß wir uns bei dir entschuldigen müssen.«
Zwei Tage lang wartete Romillira geduldig ab, froh darüber, daß die Eltern ihr nicht länger böse waren. Am dritten Tag war es mit ihrer Geduld vorbei. »Wie lange hält Vater denn noch Gerichtssitzung?« fragte sie ihre Mutter. »Und hat er schon in den Aufzeichnungen nach dem Großvater des Falkenmeisters geforscht?« Sie spielte nervös an den Haarbändern und rutschte unruhig auf dem Stuhl hin und her, während Marilla sie kämmte.
»Nein, bisher ist er noch nicht dazu gekommen. Er hat mich nur wissen lassen, daß er noch einige Streitfälle schlichten und einen Wilddieb verurteilen muß. Und dann sollte ich dich noch an dein Versprechen erinnern. «
»Ja, ja«, maulte Romillira. »Wenn nur schon der schreckliche Mann weg wäre.«
»Nur Geduld, mein Kind. Dein Vater ist sich sicher, daß der Mann damit nie durchkommen wird. Und deinem Vater könntest du schon ein bißchen mehr vertrauen. So, und jetzt halte endlich still, damit ich deine Haare richtig bürsten kann.«
»Aber ich habe doch Vertrauen zu Vater. Ich weiß, daß er alles kann. Aber ich weiß auch, daß der Falkenmeister uns allen den Tod wünscht! Und ich weiß, daß die Falken schrecklich unter ihm leiden!«
»So, das wäre geschafft«, meinte Mallira ohne groß darauf einzugehen. Statt dessen gab sie Romillira einen freundlichen Klapps. »Und jetzt kannst du mit Sher rausgehen und etwas spielen. Aber bitte denk an dein Versprechen.«
Sie schaute noch eine Zeit lang zu, wie Romillira und Sher im Gras umhertollten, und machte sich dann wieder an ihre Hausarbeit.
Sher bereitete Romillira nichts als Freude. Der Hund strotzte nur so vor Energie, war neugierig und stets darauf bedacht, seiner jungen Herrin zu gefallen. Wenn Lira den Drynn-Stein fortwarf, rannte Sher ihm hinterher, wenn der Stein plötzlich die Richtung änderte, verlor der Hund ihn aus den Augen und sprang aufgeregt im Kreis umher, bis er ihn wieder auf Lira zukommen sah. Dann hechelte auch er zu ihr zurück und jaulte heftig, um ihre Aufmerksamkeit zu erregen.
Während sie noch so spielten, regte sich, fast wie aus eigenem Antrieb, ihr Laran und versuchte, einige Gedankenfetzen aus den Vogelverschlägen aufzufangen. Aber aus dieser Entfernung war das vergeblich. Sie konzentrierte sich noch stärker und legte dabei ihre Stirn in Falten.
»So ein hübsches, junges Gesicht, und schon solche Falten«, hänselte Stephan sie, der plötzlich neben ihr aufgetaucht war und sich seufzend auf einem umgestürzten Baumstamm niederließ. »Es war ein äußerst anstrengender Tag, Lira. Dinge, die zunächst einfach erschienen, erwiesen sich als verwickelte Rechtsfälle.«
»Aber jetzt seid Ihr fertig, ja?« erkundigte Romillira sich eifrig. »Wirst du jetzt mit dem Falkenmeister sprechen und ihn fortschicken?«
»Noch nicht, mein Liebes. Ich hatte noch keine Zeit, die Akten zu studieren. Ich halte es nicht für klug, ihn heute schon damit zu konfrontieren.«
»Bitte, Vater«, drängelte Romillira. »Sonst wird noch irgend etwas fürchterliches passieren. Ich spüre es!«
»Ich muß mich doch erst einmal mit den Tatsachen vertraut machen, bevor ich den Mann zur Rede stelle. Das wirst du doch verstehen, Lira. Schließlich gehört er nicht zu Falconswards Dienerschaft, sondern zu Scathfell. Und wenn ich mit falschen Anschuldigungen komme, wird man mich dafür zur Rechenschaft ziehen. Selbst wenn ich dir voll und ganz glaube, steht immer noch dein Wort gegen seines. Betrachte es einfach als eine kleine Geduldsprobe. Das wird dir bestimmt nicht schaden.«
Er erhob sich und lächelte. »Und uns allen würde es nicht schaden, jetzt einen netten, kleinen Spaziergang zu machen. Was meinst du? Laß uns Mutter holen. Vor dem Abendessen bleibt uns gerade noch genug Zeit.«
Wenig später schlenderten die drei MacArans lachend und scherzend auf dem Gutsgelände von Falconsward umher, wie sie es früher so oft getan hatten, bevor das Lawinenunglück ihr Leben so sehr verändert hatte. Sher folgte ihnen, sprang bald hierhin, bald dorthin und schnüffelte an allem, was ihm über den Weg kam. Romillira teilte in Gedanken alles, was der kleine, neugierige Welpe wahrnahm.
Die Sonne malte gerade ein feuriges Abendrot an den Himmel, als plötzlich ein junger Verrin-Falke auf sie herabstieß. Seine Flügel wurden zum Zeichen flammender Zerstörung, als er über ihnen kreiste, um dann auf sie herabzustürzen.
Romillira und ihre Mutter schrien entsetzt auf, hielten die Arme vors Gesicht und versuchten so, die tödlichen Krallen abzuwehren, die über ihren Köpfen die Luft zerteilten. Sher rannte winselnd zu Romillira und fand zwischen ihren Füßen kauernd Schutz.
Unterdessen suchte Stephan verzweifelt nach einem sicheren Platz. Gleichzeitig stellte sein Laran die Verbindung zu dem Falken her, aber unwillkürlich schreckten seine Sinne vor dem Vogel zurück, der von einem vernichtenden Wahnsinn befallen war. Der durchaus artgemäße Blutdurst des Raubvogels war zu einem alles verzehrenden Haß auf Stephan und seine Familie gesteigert worden.
»Versucht bis zu den Felsen zu kommen! Die bieten uns etwas Schutz!« rief er ihnen zu und drängte sie in Richtung der Felsblöcke, unter deren Vorsprung sich eine höhlenartige Vertiefung auftat. Romillira nahm Sher auf den Arm und kletterte hinein, während der aufgestachelte Falke erneut zur Attacke ansetzte.
Seine scharfen Klauen rissen Stephans Rücken auf, und Romillira konnte spüren, mit welcher Gewalt, Wut und Empörung das Laran ihres Vaters zurückschlug.
Auch Mallira griff den Vogel voller Zorn und Ekel an. Verschwinde! befahl ihr Laran. Verschwinde, du Mißgeburt! Die breiten Schwingen des Falken schlugen heimtückisch, als er zu seinem nächsten Angriff flog. Mallira schüttelte im Zorn die Faust. »Verschwinde endlich!«
Selbst Sher winselte aufgeregt, und Romillira konnte spüren, wie die Saat des Zorns in der kleinen Welpenseele aufging, als sein Gekläff immer bösartiger wurde.
Aber natürlich! Das erklärt alles! Der Falke und Sher nehmen den Zorn von Mutter und Vater auf. Das also hat der Falkenmeister dem Vogel beigebracht. Zorn nährt sich selbst, und einmal entfacht wütet er wie ein verheerender Waldbrand. Dieser arme, wunderbare Vogel! Die Erkenntnis traf sie wie ein Blitz. Sogleich versuchte sie, Wellen des Trostes und der Besänftigung auszusenden.
Sei mir willkommen, mein Freund, begrüßte ihr Laran den wütenden Falken. Friede sei mit dir. Falken und Menschen waren stets Freunde.
»Streckt Euren Arm aus«, rief sie ihrem Vater zu, ohne dabei den Kontakt zu dem Falken abreißen zu lassen. »Begrüßt ihn, er ist unser Freund.«
Ihre Eltern begriffen sofort, was Romillira meinte, und begegneten nun ihrerseits dem Vogel mit Güte und Verständnis.
Der Falke kreiste erneut, aber mit ihrem Laran konnten sie spüren, wie er zum ersten Mal unentschlossen war und im letzten Augenblick abdrehte. Aber kaum schien sich sein Zorn zu legen, da tauchten zwei weitere aufgehetzte Falken auf und rissen auch ihn wieder in den Strudel von Vardomes fanatischer Rache.
Stephan tat alles was er konnte, um seine Familie zu schützen, und bekam dabei die volle Wucht der Angriffe ab. Mit den Armen bedeckte er Augen und Gesicht und versuchte gleichzeitig, gegenüber dem Vogel Ruhe zu bewahren.
»Stephan!« schrie Mallira, »dort – der Falkenmeister! Er kommt selbst und treibt sie weiter an.«
Ich weiß. Beachte ihn nicht. Wir müssen den Vögeln auch weiterhin freundlich gesonnen bleiben. Das ist jetzt unsere einzige Hoffnung.
»Ja, du hast recht!« erwiderte Mallira und begrüßte auch die anderen Verrin-Falken mit ihrem Laran.
Vardome erschien und raste vor Zorn. »Jetzt sollt Ihr selbst spüren, was es heißt zu leiden, MacAran! Dies ist die Rache meines Großvaters, und noch im Tod sollt Ihr daran denken!«
Er hob eine Handvoll Steine auf und startete seinen Angriff. Allerdings zielte er, geblendet von seinem Zorn, schlecht, so daß die meisten Würfe ihr Ziel verfehlten. Dennoch trafen einige äußerst schmerzhaft. Romillira schrie auf, als ein scharfkantiger Stein auf ihrem linken Schienbein eine klaffende rote Wunde hinterließ.
»Avarra steh uns bei! Er wird uns alle umbringen!« rief Mallira, als ein faustgroßer Steinbrocken Stephan an der Schläfe traf und er daraufhin langsam zu Boden sackte.
»Verdammt!« Vardome zog den Kopf ein, als ein Verrin-Falke gefährlich nah an ihm vorbeistieß.
Mallira stand vor Entsetzen starr und sah, wie das Blut an Stephans Wange herablief.
»Ihr dürft nicht nachlassen, Mutter«, keuchte Romillira. »Falken töten nicht aus reiner Rachsucht. Macht ihnen das klar. Bitte, Mutter!« Und doch schlug gerade einer der Falken seine Klauen tief in Stephans ausgestreckten Arm.
Benommen beugte sich Mallira nieder und hob vom Boden eine Feder auf. Sanft gurrend strich sie damit dem Vogel übers Gefieder, obwohl dieser sie mit haßerfüllten gelben Augen anstarrte.
Romillira wurde von einem weiteren Stein getroffen und fiel neben ihrem Vater auf die Knie. Sie konzentrierte sich jetzt ganz auf den Falken, der Stephans Arm noch immer in seinen Klauen hielt. Nicht doch, mein Freund, nein. Du bist ein Falke, und Falken sind Freunde des Menschen, nicht seine Gegner. Glaube dem Falkenmeister nicht, er hetzt euch gegen eure Natur auf: Im Rapport mit uns lag immer Vertrauen und gegenseitige Achtung. Geh in Frieden! Geht alle in Frieden! Und vergebt uns, denn wir sind nicht alle schlecht.
Schlagartig war alles vorbei und der Zorn verflogen. Mit einem Freudenschrei erhoben sich die drei Falken in den Abendhimmel – und Romillira flog mit ihnen. Unter sich sah sie das Gelände vorbeiziehen, sah auch die verängstigten Kleintiere, wie sie fluchtartig ins Gebüsch huschten. Und überrascht nahm sie wahr, daß sie plötzlich ein Heißhunger auf Rabbithorn überkam.
Doch Vardomes Zorngebrüll brachte sie in die Realität zurück. Gerade stürzte er sich auf den am Boden liegenden Stephan. »Ihr werdet alle sterben!« Seine krallenartigen Finger gruben sich tief in die Haut, als er Stephans Gurgel umklammerte und würgte.
Aber jetzt griffen Romillira und ihre Mutter den Falkenmeister an. Ihre Fäuste prasselten wie Trommelschläge auf ihn herab. Während Mallira seinen Kopf an den Haaren zurückriß, bearbeitete Lira ihn weiter mit Faustschlägen. Auch Sher kam ihnen zu Hilfe und biß so kräftig er konnte Vardome ins Bein.
Stephan kam wieder zu sich und schloß sich dem Kampf an. Er befreite sich aus Vardomes Würgegriff und streckte seinen deckungslosen Gegner mit zwei gezielten Kinnhaken nieder. Sofort stürzten sich alle drei MacArans auf ihn und drückten ihn zu Boden. Schließlich gelang es ihnen, ihren Feind zu überwältigen und mit Romilliras Haarband und einem Lederriemen von Stephans Stiefel zu fesseln.
»Morgen werden wir dich nach Scathfell bringen«, erklärte Stephan, als er Vardome hochzog. »Dort soll dich mein Cousin und dein Herr für die Verbrechen verurteilen, die du gegen uns, gegen diese unschuldigen Falken und gegen die natürliche Ordnung verübt hast.«
»Nein, kein MacAran soll mich richten!« Vardome starrte seinen Feind mit Todesverachtung an. Und im gleichen Moment starb er – er hatte sich mit seinem Laran selbst gerichtet!
»Er hat es so gewollt«, stammelte Stephan, als er den leblosen Körper vor sich sah. »Er ist zu bedauern. Wenn er mir doch nur rechtzeitig seine Geschichte erzählt hätte! Ich hätte versucht, alles aufzuklären. Auf seine leider irregeleitete Art war er hochbegabt.«
»Welch eine Verschwendung von Leben und Talent.« Mallira konnte eine Träne nicht verbergen. »Aber auf Darkover dürfen wir solche Laster nicht dulden.«
»Wir werden jemanden beauftragen müssen, seinen Leichnam nach Scathfell zu bringen«, sagte Stephan und legte seine Arme um Frau und Tochter. »Kommt, wir wollen nach Hause gehen.«
»Aber was wird jetzt aus den Falken?« erkundigte sich Romillira bedrückt auf dem Rückweg.
Stephan zwinkerte ihr aufmunternd zu, und voller Stolz auf seine Tochter machte er ihr einen Vorschlag. »Kedric wird schon bald wieder gesund sein, und die paar Tage kommst du sicher auch noch ohne die Pflege im Turm aus. Was hältst du davon, wenn du mir solange mit den Falken hilfst? Gemeinsam werden wir es schon schaffen, meinst du nicht auch?«
Romillira war überglücklich. »Herrin der Falken«, flüsterte sie ehrfurchtsvoll.