NINA BOAL
Scherbengericht
Auch Nina Boal ist den regelmäßigen Lesern dieser Anthologien keine Unbekannte mehr. Sie hat außerdem schon in der Reihe Pandorra und in anderen kleinen Magazinen Geschichten veröffentlicht.
Wie meine Mitbewohnerin Lisa ist auch Nina eine begeisterte Anhängerin des Eiskunstlaufs und läßt sich keine Veranstaltung in ihrer Heimatstadt Baltimore entgehen. Auf Grund der schwierigen Wirtschaftslage hat sie momentan nur Teilzeitjobs als Taxifahrerin und Lehrerin in einem Erwachsenenbildungsprogramm. Um ihre Berufsaussichten zu verbessern, möchte sie demnächst eine Ausbildung als Elektromonteur beginnen – naja, besser sie als ich.
Die vorliegende Geschichte behandelt eine außergewöhnliche Anwendung von Laran sowie die Pflichten eines Prinzen.
»Bring dem Prinzen sein Abendessen«, befahl Alaric Delleray, Regent des winzigen Bergkönigtums Serrano, seinem Leibdiener. Der weißhaarige Mann verbeugte sich und machte auf dem Absatz kehrt.
Alaric Delleray schaute in einen runden Spiegel und hielt dabei seinen Matrixkristall umfangen. Das Bild eines Salons, Teil einer üppig ausgestatteten Zimmerflucht, erschien in dem Spiegel. Ein vierzehnjähriger Junge mit kupferrotem Haar trug Seidengewänder in den grün-weißen Farben Serranos. Er spielte mit einem blonden, braunäugigen und offensichtlich nicht menschlichen Wesen eine Partie Schach. Alaric atmete beruhigt aus. In diesem Teil der Burg war alles wie sonst; der Spiegel, der ihm als tragbarer Matrixschirm diente, hatte ihm alles gezeigt.
Prinz Dyan-Rakhal Gareth Serrano war der Erbe des Königreichs und hatte sein gesamtes Leben in dieser hermetisch abgeschirmten Zimmerflucht verbracht. Kein einziges Mal war es ihm gestattet gewesen, die matrixgestützten Barrieren der Suite zu durchschreiten und sich in die Außenwelt vorzuwagen. Nur Alaric durfte den jungen Prinzen besuchen, was er auch regelmäßig tat, um ihn in den verschiedensten Dingen zu unterweisen. Loyu, der eigens für den Prinzen angefertigte Ri’chiyu Diener, war das einzige andere Lebewesen, mit dem Dyan-Rakhal sein Quartier teilte.
Alaric lehnte sich in den Kissen des gepolsterten Sessels zurück. Einige graue Strähnen in seinem sonst rötlich-braunen Haar fielen ihm in die Stirn. Es ist nur zu seinem Besten, versicherte er sich selbst. Das Laran der Serranos, das Dyan-Rakhal in vollem Umfang in sich trug, war besonders bedrohlich. Alaric mußte sicherstellen, daß es sorgfältig angeleitet und das Wissen um die Anwendung geheimgehalten wurde. Er hatte den Prinzen mit seiner Pflege durch die Schwellenkrankheit gebracht und seinem Zögling die notwendige Ausbildung im Umgang mit dieser Gabe vermittelt. Der Prinz schien sich in sein Schicksal zu ergeben, ja sogar damit zufrieden zu sein. Wie hätte er sich auch nach einem Leben in der Außenwelt sehnen können, von deren Existenz er so gut wie nichts wußte? Alaric steckte den Spiegel in seine Tasche zurück. Es ist zu seinem Besten und zum Besten des Königreichs.
Alaric grub seine Fingernägel tiefer ins Polster der Armlehne, als die Erinnerungen in ihm aufstiegen. Er war der Schwager und Friedsmann des verstorbenen Königs gewesen. Beide Eltern von Prinz Dyan-Rakhal waren bei einem Überfall durch Truppen aus Scathfell getötet worden. Alaric war es gelungen, den Erben in Sicherheit zu bringen, während die Soldaten Serranos die Scathfell-Truppen aufhielten und schließlich zum Rückzug zwingen konnten.
Alaric hatte sich selbst und seinem Vater geschworen, dem Königreich den Erben zu erhalten. Dyan-Rakhal war das erfolgreiche Ergebnis des Laran-Zuchtprogramms, das Serrano durchgeführt hatte. Nach der großen Schlacht mit Scathfell hatte Alaric dafür gesorgt, daß der unmündige Erbe in dem abgeschirmten Quartier untergebracht wurde und den Ri’chiyu als Kamerad und Leibdiener erhielt. Dyan-Rakhal hing völlig von seinem Onkel ab, der ihn als einziger über den Lauf der Welt und seine Feinde draußen unterrichtete.
Plötzlich schoß ein entsetzlicher Gedanke Alaric durch den Kopf. Er zog rasch den Spiegel aus seiner Tasche hervor und hielt ihn in die Nähe des Kristalls. Neue Bilder huschten über den Schirm, diesmal Bilder der purpurroten, gezackten Bergkette, die sich hinter dem Gut erhob. Flammenrote Strahlen der untergehenden Sonne streiften über den Bergkamm und tauchten die Burg in die Abendglut.
Eigentlich eine stille und friedliche Szenerie, dachte Alaric und umklammerte mit feuchten Händen den Spiegel – aber wie trügerisch! Das Reich war von Feinden umgeben, wenn es auch schon weniger waren als früher. In den letzten Monaten hatte die frisch erwachte Gabe des Thronerbens Alarics eigene Kräfte unterstützt. Mit dieser Gabe brauchte man keine Armeen mehr; es war nicht länger nötig, daß Männer ihr Leben auf dem Schlachtfeld opferten. Serrano hatte sich gegen Leynier und Rockraven siegreich durchgesetzt und beide Reiche zum Treueeid gezwungen. Aber es gab noch immer hunderte andere, streitsüchtige Königreiche, die alle um die spärlichen Reichtümer Darkovers wetteiferten.
Alarics Ängste lösten sich in einem gepreßten Lächeln auf. Die kommenden Tage würden ihn seinem lang ersehnten Ziel näher bringen. Die Laran-Waffe, die der Prinz in sich trug würde Scathfell ebenso vernichtend schlagen wie Rockraven und Leynier im Winter. Dann wäre der Tod des Königs gerächt – und es würde die ständige Kriegsführung ein für alle Mal beenden. Dyan-Rakhal stand kurz vor seinem fünfzehnten Geburtstag, an dem er auch zum König gekrönt werden würde. An diesem Tag soll er nicht nur König von Serrano werden, sondern Herrscher über alle Bergreiche. Alaric Delleray würde dies für seinen Neffen, auf den er seine ganze Hoffnung und all seinen Ehrgeiz setzte, erreichen.
Natürlich würde der neue König, der vom Lauf der Welt nichts verstand auch weiterhin abgeschirmt bleiben müssen. Dyan-Rakhal sollte sich der eher geistigen und philosophischen Belange der Herrschaft annehmen, während Alaric sich um die alltäglichen Regierungsgeschäfte kümmern würde. Die Serrano-Gabe war überaus mächtig – vielleicht zu mächtig für einen allein. Alaric erzitterte bei dem Gedanken an mögliche Gefahren und verbannte ihn so schnell wie möglich.
Es hämmerte in Dyan-Rakhals Kopf. Er bemühte sich, das Schauern, das seinen Körper ergriff, zu unterdrücken. Seine Hände legten sich um das komplizierte Schnitzwerk der Armlehnen und sein Blick wanderte ruhelos zwischen Loyu und den zieselierten Figuren auf dem Spielbrett vor ihm hin und her. Er war am Zug.
Die Erinnerungen der letzten Monate wurden schmerzhaft aufgewühlt. Rasch zog er einen Bauern vor und überließ sich dann wieder der Flut der Bilder.
Dyan-Rakhal stand in der kleinen Matrixkammer, die sich seinen Gemächern anschloß, an einem Glastisch. Onkel Alaric wachte über ihn und schaute mit seinen blauen Augen ermutigend zu ihm hinab. »Es ist deine Pflicht, mein Neffe. Nutze deine Stärke, Chiyu, nutze deine Gabe. Es ist das größte Erbe, das du besitzt.«
Dyan nickte. Sein Onkel hatte ihm alles beigebracht, was er wissen mußte, hatte ihm die alten Legenden und Balladen vorgetragen und manches Mal mit einem Wiegenlied das ruhelose Kind in das Reich der Träume gesungen … Jetzt war er älter, fast schon ein Mann; ein Prinz noch, aber fast schon ein König. Und so mußte er auch die Pflichten eines Prinzen übernehmen, und das in einer grausamen, feindlich gesonnenen Welt.
Diese Gabe. Seine Gabe.
Sorgfältig holte er seinen Kristall aus dem seidenen Beutel hervor. Er konzentrierte sich auf die weißen Linien des Kraftfeldes, die sich windungsreich über die Tischplatte schlängelten und sich plötzlich zu einer dreidimensionalen Form auftürmten – vor ihm entstand Burg Rockraven, im Winter tief verschneit, dessen Banner im eisigen Wind der Hellers flatterte. Onkel Alaric reichte Dyan-Rakhal eine dünne, weiß-blaue Scherbe. Er nahm sie in die Hand, zielte genau und stieß sie dann mitten in das Modell der Burg. Die Form fiel auf dem Tisch in sich zusammen.
Auf einem Matrixschirm, der eine ganze Wandseite einnahm, konnte der Prinz das Ergebnis seiner zerstörerischen Kraft sehen. Auf Rockraven jenseits der Bergkette brachen riesige Steinblöcke aus den Zinnen und stürzten hinab. Bald standen nur noch die traurigen Überreste einer einst stolzen Burg. Schreie hallten durch die Ruine, bis sie unter herabfallenden Felsen und zerberstenden Balken erstarben …
Dyan-Rakhal kämpfte gegen die tobenden Bilder und die aufsteigende Übelkeit an. Als er seine Gabe das erste Mal gegen Leynier eingesetzt hatte, waren auch Gebäude zusammengestürzt und die Angstschreie der Menschen zu hören gewesen. Aber ihm war das zunächst kaum anders als der Verlust einer Figur in einem Schachspiel vorgekommen. Es sind bloß deine Gegner, hatte sein Onkel ihm erklärt, genau wie die grünen Steine, die auf dem karierten Spielbrett seinen roten Figuren gegenüberstanden.
Es sind lebende Menschen, keine Schachfiguren, rief ihm seine innere Stimme zu. Lebende Menschen, die einen realen Tod zu erleiden hatten, die in Kämpfen umkamen, deren Gründe Dyan-Rakhal nie begreifen konnte, ganz gleich, wie oft Onkel Alaric sie ihm erklärte. Die hämmernden Kopfschmerzen setzten wieder ein. Er zwang die weißen Kraftlinien seines Larans zu einem Schutzschild, das seine geheimsten Gedanken gegen weitere Nachstellungen durch den Onkel abschirmen sollte.
»Ich glaube, ich habe da deinen König Schachmatt gesetzt, Janu.« Die angenehme Tenorstimme seines Spielpartners durchdrang seine finsteren Gedanken. Loyu deutete lächelnd auf das Spielbrett und Dyans hoffnungslos verfahrene Stellung.
Loyu benutzte nie die offizielle Anrede ›Meister‹ oder ›vai Dom‹, sondern den vertrauten Kosenamen des Prinzen. Dyan-Rakhal hatte seinen Diener schon vor langer Zeit darum gebeten. Im Lauf der Jahre war Loyu ihm weitaus mehr als nur ein Diener geworden. Loyu war das ganze Gegenteil eines Comyn-Erben; er war kopfblind und das Ergebnis einer künstlichen Züchtung. Und dennoch hatten die beiden vor einer Langwoche, kurz nach der Zerstörung von Burg Rockraven, sich gegenseitig geschworen, Bredin zu sein.
Die Zeremonie hatte ganz im Geheimen stattgefunden. Onkel Alaric hätte eine derartige Verbindung zwischen einem Ri’chiyu und dem Erben von Serrano strengstens verboten. Dyan-Rakhal blickte seinen triumphierenden Partner an und versuchte, in dessen fremdvertrauten, tiefbraunen Augen zu lesen. Du kannst dem Wind nicht Einhalt gebieten oder den Goldglockenblumen verbieten zu blühen.
Dyan-Rakhal seufzte in Gedanken. Sein Onkel verbietet so vieles. Sein Blick glitt zu dem winzigen Fenster hinüber, das den einzigen Ausblick auf die Außenwelt gewährte. Liriels lavendelfarbenes Mondlicht erhellte den Abendhimmel. In Dyan-Rakhal tauchten Visionen und Gedanken auf, die er eigentlich nicht zu denken wagte. Zumindest noch nicht.
Es läutete. »Das wird unser Abendessen sein, Janu«, flötete Loyu fröhlich. Er schlüpfte sofort wieder in die Dienerrolle, für die er eigentlich vorgesehen war, und erhob sich, um die Mahlzeit abzuholen. Dyan-Rakhal versuchte, den Aufruhr in seinem Magen zu beruhigen, den seine Ängste ihm verursachten. Er mußte sich zum Essen zwingen, denn er brauchte alle nur erdenkliche Kraft für die Arbeit, die sein Onkel ihm heute Nacht abverlangen würde. Und mehr noch für die Aufgabe, die er sich selbst abverlangen wollte.
Dyan-Rakhal legte die Hand auf seinen Kristall. Lebensgroße Bildschirme bedeckten die Wände der Matrixkammer und reflektierten sowohl seine eigene Gestalt als auch die seines Onkels. »Scathfell!« kam der schneidende Befehl von Alaric. »Am Tag deiner Krönung wird Scathfell dir gehören, genau wie Rockraven und Leynier und vielleicht alle Bergreiche.« Berauscht von seinem Ehrgeiz begann sich seine Stimme zu überschlagen. »Eines Tages wird das alles dir gehören.«
Dyan-Rakhal machte sich daran, das Kraftfeld der Matrix zu aktivieren und mit seinen eigenen Kräften zu verbinden. Er starrte in das bläulich-weiß schimmernde Licht. Immer neue Linien züngelten hervor und bildeten Stränge, die für seinen Onkel unsichtbar blieben. Damit baute Dyan einen inneren Schirm auf, der seine wahre Absicht verbarg.
»Errichte jetzt die Burg«, drängte Alaric ihn. Die weißen Fäden, die noch ungeordnet auf dem Tisch lagen, formierten sich tänzelnd zu einer grauen, aus Stein gehauenen Burg, hinter der sich die Hellers erhoben. »Endlich werden wir die Mörder deiner Eltern zur Rechenschaft ziehen. Tue jetzt deine Pflicht! Es ist die Pflicht eines Prinzen!«
Zorneswellen durchzuckten Dyan-Rakhal. Was an Wut und Empörung in all den Jahren der Isolation aufgestaut und unterdrückt geblieben war, brach sich jetzt Bahn und schlug in lodernden Flammen aus seiner Matrix hervor. Sein Geist arbeitete unablässig und brachte immer neue weiße Ranken hervor. Die Wände der steinernen Burg veränderten sich und nahmen eine vertraute Form. an. Ein Banner stieg am Fahnenmast auf – es war das grün-weiße Banner Serranos.
Dyan-Rakhal stellte sich dem Regenten entgegen und starrte ihn herausfordernd an. »Ich werde die Mörder meiner Eltern zur Rechenschaft ziehen. Das ist die Pflicht eines Prinzen.« Ganz bewußt wiederholte er die Worte seines Onkels. Er ergriff eine blaue Scherbe, die auf dem Tisch lag. Dann stieß er die Scherbenspitze in die Nachbildung seiner eigenen Burg.
Ein knarrendes, ohrenzerreißendes Geräusch entstand, daß sich bald zu einer ganzen Schreckenssymphonie steigerte. Inmitten des Aufruhrs stand Alaric Delleray regungslos und kreidebleich da. Seine zitternden Lippen formten nur ein Wort. »Warum?« Direkt hinter ihm stürzte ein Steinblock krachend zu Boden.
»Die Mörder meiner Eltern«, flüsterte Dyan-Rakhal. »Die Lords und Könige, die mit Laran diese Kriege führen, als ob sie dabei nur ein paar Figuren in einem Schachspiel hin- und herschieben. Alaric Delleray, Regent von Serrano, du bist genauso schuldig wie all die anderen. Auch du willst mich und meine Gabe benutzen, um zu erobern und zu herrschen. Du willst der Herrscher aller Bergreiche sein.« Jetzt haßte er nur noch den Mann, für den er einst Liebe empfunden hatte. Du hast viel für mich getan, aber immer nur um meiner Gabe willen, dachte Dyan-Rakhal verbittert. »Es ist besser, wenn das Königreich zugrunde geht und keiner herrscht, als daß ein Monstrum wie du die Macht hat.«
Schwere Eichenbalken ächzten und krachten, Staub wirbelte auf, Glas zerbarst und Scherben flogen. Dyan-Rakhal floh aus der Matrixkammer. Herabstürzendes Gebälk begrub und erstickte die Schritte, die ihm zu folgen versuchten.
Loyu! Wo bist du? Dyan-Rakhal sandte verzweifelt seine Gedanken aus, er vergaß dabei, daß sein Bredu kopfblind war und ihn so nicht wahrnehmen konnte. Aber schon griff eine zierliche Hand nach der seinen, und ein Paar brauner Augen, die eben noch tief besorgt waren, schauten ihn erleichtert an. Vor ihnen tat sich in der Mauer ein Loch auf, und zusammen, wie zu einer Person vereint, sprangen Dyan-Rakhal und Loyu ins Freie.
Die Hirschponies mühten sich einen von Tannen gesäumten Hang hinauf. Dyan-Rakhal und Loyu hingen unsicher in den Sätteln. Keiner von ihnen hatte je reiten gelernt. Wie durch ein Wunder schienen die Tiere zu erlahmen und anzuhalten, wenn man an den Zügeln zog. Dyan-Rakhal hatte davon einmal in einem Märchenbuch gelesen, das sein Onkel ihm gegeben hatte. Sie glitten beide vom Rücken der Hirschponies.
Die aufgehende Sonne schaute zwischen den höchsten Gipfeln hervor und sandte ihre roten Strahlen ins Tal, in das die zwei jetzt hinabblickten. Ein schwacher Schein erhellte den Schutthaufen, wo einst eine mächtige Burg gestanden hatte.
Es dröhnte in Dyan-Rakhals Gedanken. Noch auf der Flucht hatte er die Angst- und Schmerzensschreie gehört. Seine Gabe hatte wieder nur Zerstörung und Tod gebracht. Immer wieder schossen ihm Zerrbilder von stürzenden Steinen, splitterndem Holz und klaffenden Fleischwunden durch den Kopf. Es galt, eine letzte Pflicht zu erfüllen.
Er griff in die Stulpe seines Stiefels, in der eine einzelne blaue Scherbe steckengeblieben war. Dann holte er seine Matrix aus dem Seidenbeutel hervor.
»Bist du sicher, daß es nötig ist, Janu?« lautete Loyus besorgte Frage.
Dyan-Rakhal nickte und dann sprach er es laut aus. Er mußte sich von nun an daran gewöhnen, alles in Worte zu fassen, denn es würde das einzige Mittel sein, mit dem er sich nicht nur Loyu, sondern auch allen anderen verständlich machen konnte. Und so stellte er die entscheidenden Fragen. »Was würde passieren, wenn ein anderer Herrscher von meiner Gabe erfährt und mich gefangen nimmt? Oder wenn die Machtgier meines Onkels mich plötzlich selber überkommt und ich ihr nachgebe? Wer könnte mich dann noch aufhalten?«
»Ich verstehe«, erwiderte Loyu, und in seinen braunen Augen lag das gleiche Bedauern, das auch seinen Bredu noch bewegte.
Dyan-Rakhal atmete tief ein und blickte zu dem Sternenband auf, das den Himmel in der Morgendämmerung überzog. Dann rammte er die Scherbe in die Mitte seiner Matrix. Der Kristall erzitterte und zersprang in tausend Stücke. Und auch Dyans Geist zerriß es in einem alles verzehrenden Schmerz. Dann schien plötzlich alles zu schrumpfen. Er taumelte und suchte, wirr umhertastend, nach Halt, den er schließlich an Loyus Schultern fand. Ihm war so, als ob er einen Teil seiner Sehkraft verloren hätte; er glaubte, blind zu sein.
Doch dann schien sich der Schatten um ihn zu lichten. Nur ein eigentümlicher Schleier umhüllte nach wie vor seine Gedanken. Er mußte damit leben und lernen, sich an die neue Situation anzupassen, denn diesen Schleier würde er nie wieder los.
War das so schlimm? Loyu hatte diesen Gedankenschleier sein Leben lang getragen. Und nicht nur er, sondern auch die Diener, Bauern und Handwerker, die den Großteil der Bevölkerung ausmachten. War es wirklich Blindheit? Oder war es nicht vielmehr eine andere Gabe, eine andere Art zu sehen?
Dyan-Rakhal hielt Loyu an der Hand. Er war nicht länger der hochgeborene Prinz, jetzt herrschte er über nichts mehr. Er und sein Bredu waren frei, die Welt mit anderen zu teilen, die jetzt ihm gleichgestellt waren. Und dann ließ er seinen neuen Blick über das Sternenband, über die Bergketten der Hellers und die Tannen, die sich leise im Wind wiegten, streichen.