LENA GORE

 

Eine Frage der Wahrnehmung

 

Nur zwei Wochen, nachdem ich diese Geschichte gekauft hatte, traf ich Lena Gore persönlich bei der World Fantasy Convention in Georgia. Sie ist mit einem Offizier der Küstenwacht verheiratet, hat einen Sohn und eine Tochter, dazu noch einen Hund und die ›zwei obligatorischen Katzen‹. Sie lebte 17 Jahre lang in Kalifornien, bevor ihr Mann (und damit notgedrungen die ganze Familie) nach Texas versetzt wurde.

Im April hatte sie einen schweren Autounfall, der im Juni zu einer schwerwiegenden Wirbeloperation führte, gefolgt von einer langwierigen Physiotherapie. Sie hat mir erzählt, daß sie alle ihre Therapeuten, die meine Bücher noch nicht kannten, während ihrer Therapie dazu bekehrt hat. Anscheinend hat sie einen Großteil ihrer Therapie damit verbracht, auf dem Rücken liegend eines meiner Bücher zu lesen. Ich hoffe, daß hat sie etwas von den Schmerzen abgelenkt. Ich habe selbst eine Physiotherapie über mich ergehen lassen und ich kann versichern, daß es nicht gerade ein Honigschlecken ist.

Lena bat mich, einen Dank an die Physiotherapeutische Abteilung des St. Mary’s Hospital in Galveston, Texas, auszusprechen. Sie schreibt, daß ›ich es ihnen zu verdanken habe, daß ich wieder richtig gehen und meinen Kopf bewegen kann. Ihre unermüdlichen Bemühungen machten es mir möglich, die Reise nach Georgia zu unternehmen.‹ Ihrer Bitte komme ich hiermit gerne nach. Ein guter Physiotherapeut kann nicht mit Gold aufgewogen werden.

 

 

 

Branith und Dora schlenderten träge den Hügel hinunter. Es war Sommer und die Sonne brannte vom Himmel. »Schäl die Kartoffeln, hole Wasser, füttere die Tiere, tu dies und tu das! Oh, wie ich dieses Landleben hasse! Ich möchte in die Stadt ziehen, möchte auf Bälle gehen und tanzen und fröhlich sein«, jammerte Branith. »Ich bin schon fast siebzehn und habe noch immer kein Laran. Und so einen einfältigen Bauerntölpel als Mann – nein danke! Was wäre das denn für ein Leben?«

Dora schaute ihre Schwester vorwurfsvoll an. »Du drückst dich immer vor deinem Teil der Arbeit, möchtest immer wie eine Prinzessin behandelt werden, einen reichen Comyn-Lord heiraten und wie im Märchen leben.«

»Na und? Was ist denn daran verkehrt, wenn man reich sein und ein wenig Spaß haben will? Ach Dora, du bist ein Landei! Du denkst wohl nie an schöne Kleider und schneidige Männer. Dir fällt nichts besseres ein, als ständig mit diesen dämlichen Tieren zu reden, als ob die dich wirklich verstehen könnten. Komm, zieh du den Wassereimer hoch. Ich möchte keine Blasen und Schwielen an meinen Händen bekommen. Welcher Comyn-Lord wünscht sich schon eine Lady mit Bauernpratschen?«

»Welcher Comyn-Lord wünscht sich schon eine kopfblinde, faule Zimperliese?« gab Dora verärgert zurück.

Bockig warf Branith Dora den Holzeimer vor die Füße. Dann hob sie ihre Röcke hoch und drehte sich im Kreis, als ob sie bereits in ihrem Traumschloß tanzte.

Die beiden Mädchen unterschieden sich wie Tag und Nacht. Während Branith hellhäutig war, war Dora von der Sonne gebräunt. Branith hatte seidig blondes Haar, Dora hingegen mausbraune Zotteln. Braniths Augen leuchteten kristallblau, die ihrer Schwester waren matt und braun wie die Bergheide. Aber Dora besaß Laran, eine merkwürdige Mischung aus Anlagen der Ridenows, Altons und Aldarans, während Branith nichts von alledem hatte.

Dora hob zornig den Eimer auf. »Du bist selber einfältig, Branith, und faul dazu. Ich muß die ganze Arbeit machen, während du nur umherstolzierst. Na ja, ich hofft für dich, du bekommst, was du willst. Dein Schloß und einen feschen Prinzen mit allem drum und dran, denn hier bist du zu nichts nütze.«

»Und du ist nur eifersüchtig«, erwiderte Branith schnippisch. »Du wirst dein Leben lang ein Milchmädchen bleiben. Tust immer so, als ob du mit deinem blöden Laran Dinge sehen könntest, die kein anderer sieht. Damit willst du doch nur die Aufmerksamkeit auf dich lenken.«

»Aber ich sehe diese Dinge wirklich«, protestierte Dora hitzig. »Nur weil du sie nicht sehen kannst, heißt das noch lange nicht, daß sie nicht da sind.«

Dora hängte den Eimer an die Winde und trat verärgert gegen die Kurbel. Der Eimer sauste in den Brunnen hinab und schlug platschend auf der Wasserfläche auf. Dora befürchtete, daß der Eimer beim Aufprall vom Haken gerutscht sei und linste über den Brunnenrand in das dunkle Loch. Unten kräuselte sich das schwarze Wasser. Als die Wasserfläche sich wieder beruhigt hatte, sah Dora plötzlich, wie ein gelbes Augenpaar sie bösartig anstarrte. Sie schrie auf und stürzte fast ohnmächtig nach hinten.

»Was ist denn jetzt schon wieder los, Dora? Hast du den Eimer wieder verloren? Ich hab’ wirklich keine Lust, andauernd nach dem doofen Ding zu angeln. Mach Platz und laß mich mal sehen.«

»Nein!« stieß Dora atemlos hervor. »Da … Augen … im Brunnen … Schreckliche gelbe Augen! Dämonenaugen! Geh nicht hin, Bran!

»Was redst du da für Zeug? Hat dir die Sonne zu sehr aufs Hirn gebrannt, und spielt dein Laran wieder mal verrückt? Laß mich selber sehen, bevor wir uns von Vater ein Donnerwetter anhören müssen, weil wir schon wieder einen Eimer verloren haben.«

Branith näherte sich dem Brunnen und spähte angestrengt auf die dunkle Wasserfläche hinab. Mit einem Mal entrang sich ihr ein Freudenschrei. »Dora, rasch, hilf mir! Da unten ist ein Mann! Er muß in den Brunnen gefallen sein, und … oh, er sieht fantastisch aus!«

Dora starrte ihre Schwester ungläubig an. Dann raffte sie all ihren Mut zusammen, trat an die Brunneneinfassung und zwang sich, noch einmal über den Rand zu blicken. Sie erzitterte am ganzen Leib, als der Dämon aus dem Wasser auftauchte und sein fürchterlicher Gestank ihr fast den Atem raubte.

»Was ist, hilfst du mir nun oder nicht, du Dussel?« Branith rüttelte sie heftig durch.

»Ich … ich kann nicht, Bran. Das ist kein Mann, das ist ein Dämon! Laß uns verschwinden und Vater alles sagen. Bitte, Bran, bitte!« flehte Dora.

»Du bist wohl übergeschnappt, wie ein Kralmak mit Sonnenstich. Das da unten ist ein Mann, und du wirst mir helfen, ihn herauszuholen, hast du verstanden? Hier, nimm dieses Seil und hilf mir, ihn hochzuziehen!« Branith schubste Dora unsanft zum Brunnen.

Benommen fragte sich Dora, ob Branith am Ende nicht doch recht hätte und das Laran ihr tatsächlich einen Streich spielte. Zitternd ergriff sie das Seil. Als sie sich über den Brunnenrand beugte, um das Seil nachzulassen, funkelten ihr die gelben Augen wieder entgegen. Es ist sicher nur eine Halluzination, hervorgerufen durch die Schwellenkrankheit. Ich darf jetzt nicht nachgeben. Ich muß Bran helfen.

Unterdessen zerrte Branith emsig an dem Seil und zog den stattlichen, schweigsamen Mann immer weiter nach oben.

Wer er wohl ist? Vielleicht ein reicher Mann aus der Stadt, der hier vorbeikam und am Brunnen etwas trinken wollte und dann hineingefallen ist. Gute Göttin, laß ihn bitte reich sein und mich auf sein Schloß mitnehmen, um mir für seine Rettung zu danken! Im Geiste sah sich Branith bereits in seinen Armen über den Marmorboden eines sagenhaften Schlosses schweben.

Sie hatten ihn jetzt ganz nach oben gezogen, und beide Mädchen ergriffen je einen Arm, um ihm herauszuhelfen. Dora würgte den Ekel herunter, als sie die schleimige und schuppige Haut der Kreatur spürte; Branith staunte, als sie den reichen Seidenbrokat und weichen Samt seiner Gewänder berührte.

Seine starken und edlen Gesichtszüge mit den tiefblauen Augen wurden von flammend rotem Haar umrahmt. Und da sage noch einer, Wünsche gingen nicht in Erfüllung! lächelte Branith selbstzufrieden.

Der stattliche Mann trat auf sie zu und sprach sie mit honigsüßer Stimme an.

»Mein Name ist Jaramond Weatherby, und ich danke Euch von ganzem Herzen. Wie kann ich mich je für Eure Güte erkenntlich zeigen?« fragte er und verbeugte sich dabei tief. »Würdet Ihr mir die große Ehre erweisen, mich heute abend auf mein Schloß zu begleiten und mit Eurer Schönheit meine bescheidene Tafel zu zieren. Nur ganz selten kann ich so anmutige Gäste wie Euch zu Tische laden.«

Die Zisch- und Kehllaute, die das Untier hervorbrachte, raubten Dora fast den Verstand. Sie glaubte, einen unaussprechlichen Namen zu hören, der so etwa wie Krakendrathlothvayen klang. Was geschieht nur mit mir? Verliere ich wirklich den Verstand? Vater muß mich zu einem der Türme schicken, wo sie mir mein Laran ausbrennen können, bevor es mich tötet. Heilige Evanda, ich hoffe, es tut nicht allzu weh. Danach werde ich für den Rest meines Lebens kopfblind sein.

Tränen rannen ihr die Wangen hinab, als sie ihrer Schwester nachblickte, wie sie Arm in Arm mit dem schleimigen, schwanzwedelnden Dämon aus dem Brunnen davonschritt.

Branith plauderte angeregt mit dem rothaarigen Mann, als sie auf den Wald zuschlenderten. Plötzlich trieb der schöne Fremde sie zur Eile. Auf seiner Hand, die auf Braniths Schulter ruhte, zeigte sich eine erste grüne Schuppe.