LEE MARTINDALE
Die Jahresbraut
Lee beschreibt sich als ›vollschlanke, fetzige Vierzigerin‹ und fügt hinzu, daß ihr Mann sie als ›rothaarige motorisierte Höllenbrut‹ bezeichnet. Das klingt nach einer recht stürmischen Ehe.
Lee lebt mit ihrem Mann, zwei Katzen und zahlreichen Computern in Dallas. Sie hat, wie gesagt, keine Kinder, aber ›in absehbarer Zukunft wartet ein schwarzer Schäferhundwelpe auf mich‹.
Lee hat schon Sachtexte verkauft, aber Die Jahresbraut ist ihre erste fiktionale Arbeit, die veröffentlicht wird.
»Es tut mir leid, mein Gatte, aber ich kann es einfach nicht verstehen. Warum mußt du eine weitere Frau haben?« In der Stimme der Braut lag so viel Traurigkeit, daß Dyffed glaubte, sein Herz müsse zerspringen, sollte er versuchen, jetzt darauf zu antworten.
Nach langer Überlegung sagte er schließlich; »Ich habe es dir doch schon erklärt, mein Schatz. Es ist nun einmal Brauch, und so ist es schon immer gewesen.« Er nahm die Hand seiner jungen Frau und schmiegte sie in seine, betrachtete sie und war den Tränen nahe. Dyffed war es gewesen, der Caitlin aus dem väterlichen Haus in New Skye nach Rockraven gebracht hatte, wo sie zwischen Mittsommer und Mittwinter zur Pflege aufgenommen und von den Frauen des Clans begutachtet und schließlich willkommen geheißen worden war. Dyffed hatte mit ihr vor seinem Vater gestanden, als sie ihm ein langes Leben und dem Clan der MacKenzies viele Kinder versprach. Ihr erstes Kind, ein kräftiger Junge, lag schlafend in der Wiege neben der Feuerstelle. Und inzwischen war erneut das Mittwinterfest gekommen.
»Jawohl, mein Gatte, du hast recht. Aber erkläre es mir noch einmal.«
Dyffed schaute die Frau, deren Stimme sich nun etwas gefestigt hatte, liebevoll an, aber Caitlin erwiderte den Blick nicht; sie hatte sich von ihm abgewandt, und zum ersten Mal in mehr als anderthalb Jahren blieben ihre Gedanken vor ihm verschlossen.
»Wenn ich nur die Zeit dazu hätte. Aber wir müssen aufbrechen. Sie werden schon bald das Signal zur Versammlung geben.«
Er sah, wie Caitlin nickte, sich dann erhob und mit jener verhaltenen Anmut, die ihn immer in ihren Bann schlug, zu der Wiege ging, in der das Kind noch immer friedlich schlief. Dann schaute sie von dem Jungen auf, zu Dyffed hinüber, und holte gerade tief Luft, um noch etwas zu sagen, als von unten der Klang des Horns schwach zu ihnen hinaufdrang. Einen Augenblick lang riß sie die Augen angstvoll auf, doch dann beherrschte sie sich und atmete langsam und geräuschlos aus. Sie hob einen festlichen Wollumhang auf und hielt ihn Dyffed hin, der ihn ihr um die Schultern legte, wobei sie ihm den Rücken zuwandte. Seine Hände verweilten in einer flüchtigen Liebkosung auf ihren Schultern. »Ich liebe dich, Caitlin«, flüsterte er ihr ins Haar.
»Und ich werde dich immer lieben, Dyffed«, flüsterte auch sie, bevor sie die Schultern straffte und sich zur Tür begab.
In den riesigen Kaminen der Großen Halle loderten die Feuer, und die harzigen Zweige und gebackenen Gewürzbrote erfüllten die Luft mit festlichen Gerüchen. Musikanten spielten den Paaren und Gruppen auf, die vor den reich gedeckten Tischen tanzten. Als Dyffed den Raum betrat, bemerkte er an den Festlichkeiten nichts Ungewöhnliches – so war es sein Leben lang gewesen. Aber Caitlin an seiner Seite sah noch etwas anderes, etwas, das sich unter die fadenscheinige Fröhlichkeit mischte. Hier und da standen Männer und Frauen, die sich voller Liebe und doch betrübt anblickten. Hände hielten sich fest umschlungen, so als ob ihre Besitzer nur äußerst widerwillig voneinander lassen wollten, bevor es unbedingt nötig wäre. Da erkannte Caitlin, daß sie nicht allein mit ihrem Kummer war, und das erleichterte ihr die Sache ein wenig.
Der alte MacKenzie stand auf, pochte auf den Tisch und bat gutgelaunt um Ruhe. Mit unverhohlenem Stolz blickte er im Saal umher, bis alle still waren und sich jedes Augenpaar auf ihn richtete. »Hört, meine Gefolgsleute, der Clan MacKenzie hat ein weiteres Jahr überlebt. Darauf wollen wir trinken!« Die Pokale wurden erhoben und Hochrufe erfüllten den Raum.
»Alles in allem ist es ein sehr gutes Jahr für uns gewesen. Natürlich haben wir auch schwere Zeiten durchgemacht – wir mußten in dieser Zeit erleben, daß der alte Morgan, unser Heilkundiger, von uns ging, und daß Donal der Jüngere bei jenem Eissturz im Frühjahr umkam. Melora starb im Kindbett – mögen die Götter ihr Frieden schenken. Wir trinken auf ihr Angedenken und wünschen ihnen immerwährenden Frieden.« Diesmal wurden die Pokale schweigend erhoben.
»Doch auch neues Leben regt sich in unser Mitte. Dyffed brachte uns mit Caitlin ein neues Weib, das uns Dyffeds Sohn Bran schenkte. Und Kenel holte Cassilda zu uns, die vor erst zwei Langwochen prächtige Zwillingstöchter gebar. Laßt uns auf den Fortbestand und die Stärke des Clans trinken!« Und diesmal waren die Rufe noch lauter, als die Toasts ausgesprochen wurden.
»Nun haben wir uns wieder zum Mittwinterfest versammelt. Die Ernte war üppig, unsere Handwerker haben unermüdlich gearbeitet und dem Clan reichhaltige Handelsgüter beschert, und wir können dankbar sein, daß dieser Winter bei weitem nicht der schlimmste ist, den Darkover je gesehen hat. Alles ist bestens geregelt, und nun ist es wieder an der Zeit, unsere Aufmerksamkeit den Mitgliedern des Clans zuzuwenden.« Der alte Mann hielt kurz inne, grinste den Tischgenossen zu und nahm einen kräftigen Schluck aus seinem Becher.
»Zur Stärkung des Clans und zum Wohle derer, die nach uns kommen, war es bei uns schon immer Brauch, daß unsere Frauen so vielen Männern wie möglich Kinder gebären. Deshalb spricht das Oberhaupt des Clans traditionsgemäß jedem Mann eine Frau als Jahresbraut zu. Im nächsten Jahr wird es ihre Pflicht sein, Bett, Herd und Tisch mit ihm zu teilen – und wenn es den Göttern gefällt, wird sie ihm ein Kind austragen. Die Pflicht des Mannes aber besteht darin, sich um seine Braut zu kümmern und für ihre Bedürfnisse zu sorgen. So ist es von Anfang an gewesen, und so soll es auch im kommenden Jahr sein.«
Der alte MacKenzie winkte seinen Verwalter zu sich, der ihm ein großes, in Leder gebundenes Buch brachte und es ungeöffnet auf den Tisch legte. Überall in der Großen Halle sah man Köpfe nicken, und manch einer schien daran zu denken, wie sonst das Zuchtregister geöffnet wurde, um darin zu verzeichnen, welche Hengste welchen Stuten zum Decken zugeführt wurden. Aber heute war Mittwinterfest, und an diesem Morgen hatte man andere Angelegenheiten festgelegt.
Der Clan beobachtete amüsiert seinen Anführer, wie er dastand und den Buchdeckel scheinbar eine angemessene Zeit lang musterte. Und wie jedes Jahr schaute er zum gleichen Zeitpunkt in gespielter Überraschung im Saal umher. »Aber ich sollte keinen der Anwesenden länger auf die Folter spannen, nicht wahr«, scherzte er und öffnete das Hauptbuch auf jener Seite, die mit einem Band gekennzeichnet war. Dann machte er sich daran, die Namen der Männer aus seinem Clan aufzurufen, wobei er mit den Ältesten begann. Sobald ein Mann aufgerufen wurde, führte er seine Frau vor den Lord und kehrte an seinen Platz zurück. MacKenzie verlas die Liste der Kinder, die die Frau dem Clan bislang geboren hatte, und von wem sie gezeugt worden waren. Dann nannte er den Mann, dem sie nun als Jahresbraut zugedacht war. Dieser trat vor und führte die Frau zu dem Platz an seiner Seite.
Bei den älteren Paaren bemerkte Caitlin, daß sich die Trennung gewöhnlich freundschaftlich und ohne große Tränen vollzog. Caitlin erklärte sich dies damit, daß sie sich schon an diese Regelung gewöhnt hatten und in manchen Fällen vielleicht sogar froh waren, neue Gefährten zugeteilt zu bekommen. Je jünger die Paare aber wurden, desto trauriger gestalteten sich die Abschiedsszenen, und desto länger dauerten die Umarmungen und Küsse. MacKenzie schien darüber wohlwollend hinwegzusehen und widmete seine Aufmerksamkeit einer anderen Sache, sollte einmal ein Paar allzu lange brauchen, um sich zu trennen.
»Dyffed, mein Sohn, komm zu mir«, sagte er schließlich. Caitlin erhob sich und nahm Dyffeds Arm, wobei sie ihn einmal kurz anblickte und leicht verlegen lächelte. Als er sich zur ihr beugte, um sie zu küssen, hörte Caitlin, wie er ihr rasch ins Ohr flüsterte: »Vater hat mir bereits gesagt, wen er für dich ausgesucht hat. Du braucht keine Angst zu haben. Er ist ein guter und sanftmütiger Mann, und er wird dich behutsam lieben.« Seine Lippen berührten ihre ein letztes Mal – dann stand sie allein da.
»Nun, mein Kind, ich nehme an, daß Dir dies alles noch reichlich merkwürdig vorkommt«, wandte sich MacKenzie nicht ohne Mitgefühl an Caitlin. »Aber auch Du wirst nach einiger Zeit verstehen lernen, wie sehr diese Regelung uns allen nutzt. Kenel, tritt vor und nimm deine Jahresbraut in Empfang.«
Nach dem Fest wurden die Paare, eines nach dem anderen, in die Gemächer der Frauen geführt. Es überraschte Caitlin nicht, daß Dyffeds Sachen bereits weggeräumt worden waren und nun Kenels an ihrer Stelle dort lagen. Auch Brans Wiege war verschwunden – man hatte sie, dem Brauch gemäß, für die nächsten Tage in die Kinderstation gebracht.
Die beiden jungen Leute, die nun zum ersten Mal allein zusammen waren, schauten einander verlegen an. Dann ergriff Kenel Caitlins Hand zärtlich.
»Ich weiß, wie sehr du Dyffed liebst«, begann er zögernd. »Und für mich gilt das gleiche; ich könnte mir nie vorstellen, je eine andere als Cassie zu lieben.« In seinen Augen standen Tränen, und seine neue Jahresbraut wußte keinen Grund, warum sie ihre Tränen jetzt noch länger verbergen sollte.
So kam es, daß beide jeweils ein Paar starker Arme fanden, in denen jeder den Verlust des Geliebten beweinen konnte. Und irgendwann in dieser Festnacht, noch bevor die blutrote Sonne aufging, fanden in dem Verlangen nach Trost und Beistand auch ihre Körper zusammen. Und sie begriffen. So war es immer, und so würde es immer sein.