Arne ist für mich nicht irgendeine unglückliche Liebe. In mir ist viel mehr als nur Arne kaputtgegangen. In mir ist der Märchenprinz kaputtgegangen. Ich will nichts mehr von Männern. Nie wieder.

Aber habe ich das nicht jedesmal gesagt? Jedesmal wenn ich unglücklich verliebt war? Habe ich da nicht jedesmal der Männerwelt abgeschworen, um dann kurze Zeit später auf den nächsten hereinzufallen?

liebes

kummer

jedesmal wieder

der aufschrei

der Verzweiflung

und des Schmerzes

nie wieder

will ich mich verlieben!

und

jedesmal wieder

ziehe ich meine

konsequenzen:

verbarrikadiere mich

hinter offenen türen.

Es hat doch keinen Sinn, todtraurig zu Hause zu sitzen. Ich mache mir doch selber was vor, wenn ich sage: nie wieder. Ich verknall mich ja doch wieder. Irgendwann. Das war doch bisher immer so. Warum sollte es diesmal anders sein?

Arne ist nicht irgendeine unglückliche Liebe. Arne ist mehr. Die Geschichte mir Arne hat so viel in mir kaputtgemacht. Männer sind doch alle gleich. Kurzer Rausch und langer Kater. Anderthalb Wochen Glück, ein Vierteljahr Unglück. Lohnt sich das? Es ist doch immer dasselbe. Woher soll ich noch Vertrauen zu Männern haben? Die wollen ja doch immer nur anderthalb Wochen. Es ist ja doch immer dasselbe. Am Anfang sind sie ganz lieb. Ich lasse mich auf meine Gefühle ein. Denke erst noch: na! Investier lieber nicht so viel. Aber dann kommen so lauter kleine Verhaltensweisen, die mir zeigen: Der ist ja wirklich in mich verliebt. Und dann höre ich auf, meine Gefühle unter Kontrolle zu halten. Und dann ziehen die Kollegen ihren Schwanz ein. Immer dasselbe.

Aber andere Frauen haben da doch mehr Glück als ich. Irgendwie scheine gerade ich dazu prädestiniert zu sein, immer wieder solche Erfahrungen zu machen. Irgendwas an meiner Person muß ja geradezu dazu angelegt sein, daß die Typen meinen, mit mir könne mann’s machen. Was ist das? Was habe ich für eine Ausstrahlung? Mir fehlt das gewisse weibliche Etwas, um Männer länger als anderthalb Wochen an mich zu «fesseln». Diese mystische weibliche Ausstrahlung. Die fehlt mir.

«Die hab ich auch nicht», sagt Sabine zu mir. Aber scheinbar hat sie sie ja doch gehabt. Jedenfalls hat sie Arne eine geraume Weile in ihren «Bann ziehen können».

Aber wenn ich mal richtig überlege, habe ich das auch schon «geschafft». Es gab auch Männer, die eine ganze Zeit gebraucht haben, um über mich hinwegzukommen. Wenn ich das zu meiner Bestätigung brauche: Da kann ich mir genüßlich auf die Schulter klopfen. Aber was hab ich davon eigentlich? Ich will keine Mystik. Kein «gewisses weibliches Etwas». Ich will Klarheit. Klarheit, warum mir mit Männern immer wieder dasselbe passiert. Es muß auch eine Erklärung in mir selber geben, warum ich immer wieder auf das gleiche reinfalle. Wenn ich das nicht endlich mal aufarbeite, wird es mir garantiert wieder passieren. Es wird Gründe dafür geben. Und wenn ich die rausfinde, kann ich darangehen, die Sachen in meinem Kopf zu verändern, die immer wieder dazu führen, daß ich mich nicht im Griff habe. Ich muß mit meinen Gefühlen haushalten lernen, anstatt ab und zu mal bockig zu sagen: so! Jetzt verliebe ich mich nie wieder! Und es dann doch wieder zu tun. Ich muß lernen, Situationen realistischer einzuschätzen: wann ich mich auf Männer einlassen darf und wann nicht. Dazu muß ich aufarbeiten. Aufarbeiten, wie das immer so läuft mit Männern und mir. Arne ist ein klassisches Beispiel. Arne ist nicht irgendeine unglückliche Liebe für mich. Arne ist eine besonders schlimme unglückliche Liebe. Aber trotzdem ein klassisches Beispiel. Ich werde die Geschichte mit Arne so gründlich aufarbeiten, daß ich an Hand dieser Geschichte für die Zukunft lerne. Ich werde ein Buch schreiben.

Schon am Morgen nach dem Gespräch mit Arne sitze ich an der Schreibmaschine. Ich beginne mit den schönen Szenen. Wie alles angefangen hat. Auf der Wiese. Und die ersten Abende mit ihm. Wenn ich die Augen schließe, kann ich sie fast wiederholen, diese Stunden, wo ich wirklich im Glück versunken war. Und ich hole sie mir wieder. Immer wieder hole ich mir diese Bilder hoch, lasse dieses Gefühl sich ausbreiten in mir — dieses Gefühl, mit ihm zusammenzusein. Ihn zu spüren, mit jeder Faser meines Körpers.

Ich will ein Buch schreiben. Und wenigstens ehrlich soll es sein. Ich will ein Buch schreiben, über Arne. Über meine Beziehung zu Arne. Über mich. Warum ich ihn liebe. Damit ich aufhöre, ihn zu lieben. Beim Schreiben Klarheit gewinnen. Klarheit, warum ich ihn immer noch liebe, obwohl ich schon seit einem Vierteljahr weiß, daß er mich nicht liebt. Seit einem Vierteljahr. Eine ganz normale unglückliche Liebe. Drei Monate sind doch gar nichts. Für eine wirkliche Liebe sind drei Monate gar nichts. Aber ich habe ihn doch nur drei, vier Wochen gekannt. Wie kann man jemannden, den man erst so kurz kennt, so lieben, daß man nicht aufhören kann, obwohl so klar ist, daß er die Gefühle nicht erwidert. Daß diese Gefühle einen unglücklich machen werden. Und man das nicht erst seit gestern weiß. Das nicht die erste Erfahrung dieser Art ist.

Frau ist schließlich nicht mehr vierzehn und in pubertärer Weltfremdheit zum erstenmal verliebt. Frau ist 24 und hat zehn Jahre einschlägige Erfahrungen mit Männern hinter sich. Wie konnte sie es sich erlauben, sich so schnell so blindlings zu verlieben. In einen wildfremden Menschen. Der heute nicht mehr wildfremd ist, und den sie immer noch liebt.

Ich will ein Buch schreiben. Um Klarheit zu gewinnen. Über Arne. Über mich. Warum ich ihn liebe. Damit ich aufhören kann, ihn zu lieben.

Kann ich aufhören, ihn zu lieben? Wenn nicht, wird mir darüber auch das Schreiben des Buches Klarheit bringen. Deshalb muß es ehrlich sein. Ehrlich vor mir selber. Sonst bringt es mir gar nichts. Und ehrlich gegenüber Arne. Weil dieses Buch vielleicht die letzte Möglichkeit für ihn ist, mich wirklich zu begreifen. Zu verstehen, wer ich bin. Mit wem er es zu tun gehabt hat. Mich noch einmal in meinen ganzen Zusammenhängen, Widersprüchlichkeiten, früheren Erfahrungen und so weiter ihm darstellen. Damit er... vielleicht... begreift, wie ich ihn erlebt habe, warum ich ihn so erlebt habe. Damit er vielleicht einiges von dem begreift, was ich ihm zu vermitteln unfähig bin, wenn ich ihm gegenübersitze und in Einzelpunkte zerpflückt, ihm meine Person begreiflich machen will. Er steht vor zerrupften, auseinandergerissenen Tatsachen und kann die Konturen nicht erkennen. Die Frau, die da krampfhaft versucht, ihm ihre ganze Persönlichkeit darzustellen. Er hat Kritik an Einzelpunkten, die er gerne haben könnte... Wenn er nur erst mal das Ganze begriffen hätte.

Ich schreibe dieses Buch für mich. Und für Arne. Er soll es lesen. Ich kann ihn nicht zwingen. Aber ich hätte gerne, daß er es liest. Indem ich das Buch für Arne schreibe, schreibe ich es aber auch für mich. Weil es für mich ein letzter Versuch ist. Weil es für mich ein letztes Mal wichtig ist zu versuchen, ob er mich nicht doch noch begreifen kann. Damit wir uns wenigstens dieses Stück näher sind. Vielleicht kann er mir dann verständlich machen, warum er mich nicht begriffen hat. Dann würde ich ihn wiederum besser verstehen. Und vielleicht würde dann alles wieder von vorne anfangen. Vielleicht würde er durch das Buch merken, daß er mich in Wirklichkeit auch liebt...

Ich betrüge mich selber. Ich darf mir keine Hoffnung mehr machen. Dieses Buch ist nicht dazu da, um mir Arne wiederzubringen, sondern um mir zu helfen, darüber hinwegzukommen, daß ich ihn für immer verloren habe. Mir Klarheit zu verschaffen, warum das so sein mußte. Deshalb muß es ehrlich sein.

Wenn ich ihn am Ende dieses Buches immer noch liebe... was hat das Schreiben dann für einen Sinn gehabt? Oder wichtiger noch: Was soll ich dann noch machen, um den Schmerz zu überwinden? Wieder lebensfähig zu werden? ...

Ich will ein Buch schreiben.

Und wenigstens ehrlich soll es sein.

U-Bahn. Alltag. Leute. Es gibt noch andere Männer. Überall laufen sie rum. Wirklich nette Männer. In die ich mich bestimmt auch verlieben könnte. Sehe mich um. In der U-Bahn. In der Uni. Bei Freunden, die ich treffe. Es geht nicht. Ich kann keinen Mann interessant finden. Einige Wochen versuche ich krampfhaft, andere Männer wenigstens anziehend zu finden. Der da zum Beispiel wäre normalerweise mein Typ. Etwas schüchtern, nicht so ’n Draufgänger und hübsch find ich ihn eigentlich auch...

Als ich feststelle, daß der und der andere auch, bei dem’s mir ähnlich ging, daß beide ’ne Freundin haben, sage ich nur laut, daß ich’s schade finde. Später merk ich, daß alles nur Sprüche waren. Daß ich in die Gegend posaune, daß ich den und den ganz attraktiv finde, nur um auch vor mir selber glaubhaft zu machen, ich könnte schon wieder auf andere Typen. Stelle mir vor, meine erotischen Bedürfnisse auf andere Männer zu richten. Männer, die bestimmt genauso zärtlich sind wie Arne. Es geht nicht. Ich will mit niemanndem schlafen. Ich will Arne.

Bin verzweifelt, als mir das so glasklar bewußt wird. Eineinhalb Jahre oder so hab ich jetzt jede Woche ’n neuen Typen ganz geil finden können. Hab zwar nie was gemacht, weil mir doch schon irgendwo schwante, daß mir irgendwelche Kurzzeitbeziehungen gar nicht das bringen, was ich wirklich will. Aber im Kopf hatte ich das schon. Daß frau ja mal hier, mal da mit jemanndem schlafen könnte. Aber eben nur im Kopf, rein theoretisch. — Jedenfalls fand ich auch immer noch tausend andere Männer wirklich attraktiv, erotisch anziehend und was weiß ich nicht alles; auch wenn ich in einen ganz besonders verknallt war.

Sehe mich um. In der U-Bahn. In der Uni. Auf der Straße. Überall. Sehe Männer. Vielleicht hat der eine oder andere von denen ein wirklich hübsches Gesicht, eine wirklich interessante Ausstrahlung, die ich sonst sofort registrieren würde. Bei mir kommt nichts mehr davon an. Ich will Arne.

Wenn ich Arne einfach so in der U-Bahn zum erstenmal gesehen hätte. Ob er mir wohl aufgefallen wäre? Ob ich ihn wohl einfach vom ersten Eindruck her interessant gefunden hätte? Wie er aussieht? Wie er sich bewegt? Was seine Augen sagen? Hätten mir seine Augen was gesagt, wenn ich vorher nichts über ihn gewußt hätte?

Vielleicht wäre er einfach so in die Bahn eingestiegen, hätte sich mir gegenüber gesetzt. Weil der Platz zufällig frei war. Vielleicht hätte ich ihn als ganz hübsch registriert und wäre die nächste Station ausgestiegen, ohne weiter an ihn zu denken. Vielleicht hätte ich mir auch eingestanden, daß er genau meinem männlichen Schönheitsideal entspricht und dann aber gedacht: Schöne Männer sind langweilig. Haben nichts im Kopf. Sind nur eingebildet.

Aber er «ist» ja gar nicht schön. Er entspricht nur meinem Schönheitsideal. Ich finde ihn schön. Andere Frauen haben mir schon gesagt, daß sie finden, daß er langweilig aussieht. Die meisten sogar. Er ist also gar nicht schön.

Er setzt sich mir gegenüber hin, weil der Platz gerade frei ist. Ich sehe ihn an. Er ist schön. Seine dunklen Augen. Die tiefschwarzen Augenbrauen. Die seiner Mimik so etwas Satanisches geben, wenn er sie hochzieht beim Reden. Wenn er in Fahrt ist. Vielleicht hätte er sich in der U-Bahn mit irgend jemand angelegt, wie es so seine Art ist. Sich mit einem Kontrolleur geprügelt oder so. Vielleicht hätte er auch nur irgendwas gesagt und mir wären dabei die Bewegungen seiner Hände aufgefallen. Seine Hände.

Ich liebe seine Hände, wenn er damit in der Luft herumfuchtelt und mir erklärt, wie er das Hack in der Pfanne anbrät. Wie er seine langen Finger nach vorne schleudert. Als ob man solche Erklärungen nicht ohne dieses Gefuchtel abgeben könnte.

Er hätte mir gegenüber gesessen und mich angesehen. Seine herausfordernden Augen. Sein Schnauzbart, der leicht rötlich schimmert, ganz weich aussieht und zum Schmusen einlädt. Seine weichen Lippen. Ganz sicher hätte er eine Anti-AKW-Plakette auf seinem Kapuzenjäckchen gehabt. Sein Kapuzen-Nicki, von dem er die Kapuze doch nie aufsetzt. Mir hätten seine schwarzen Haare gefallen, weil sie nicht zu lang sind. Gerade so, wie ich’s noch leiden mag. Sein rötlicher Schnauz, der gar nicht zu den schwarzen Haaren paßt. Und bestimmt wäre er wieder unrasiert gewesen. Ich kann keine Männer ab, die sich nicht wenigstens einmal am Tag die Zeit nehmen, sich zu rasieren und sich den Schwanz zu waschen. Aber vielleicht hätte es mich auch erst mal gar nicht gestört, daß er unrasiert ist. Hätte mir gedacht, kann ja jedem mal passieren, daß mann mal einen Tag keine Zeit dafür hatte.

Dann hätten wir zufällig an der gleichen Station aussteigen müssen. Unsere Blicke wären sich begegnet. Ich hätte Herzklopfen gekriegt. Hätte schüchtern meine Augen niedergeschlagen.

Als wir auf dem Bahnsteig stehen, sagt er dann zu mir: «Darf ich Sie ein Stück begleiten, junge Frau?»

Ich ziere mich ein wenig und zögere. Aber nicht zu lange. Damit er nicht auf die Idee kommt, ich wolle nicht. Reiche ihm meinen Arm. Wandle barfuß durch Wiesen und Wälder mit ihm. Kann vor Spannung gar nichts sagen. Die Berührung mit ihm macht mich fiebrig, zitterig. Als wir einen kleinen Bach überqueren müssen, läßt er mich los, springt tapfer und mutig voran, reicht mir seine Hand. Stützt mich, während ich mit gerafften Röcken über die Steine balanciere. Ich bin drüben, will seine Hand loslassen, blicke verschämt zu Boden. Da dreht er mich mit ganz, ganz sanfter Gewalt... ich könnte mich entziehen... ich will’s nicht... dreht mich mit ganz, ganz sanfter Gewalt zu sich herum... zieht mich an sich heran... ich hebe meinen Kopf... muß zu ihm hochsehen, weil er ein ganzes Stück größer ist als ich... ich spüre seine samtenen Lippen auf meinem Gesicht... sein Schnauz, der mich ein wenig in der Nase kitzelt... sein Kuß so sanft... so zart auf meinen Lippen, als würde er mich kaum berühren... fast wie einen Hauch nur spüre ich seine Lippen... seine Zunge... seine Lippen... seine Hände... die mich irgendwann ins Moos legen... irgendwann... als der Rausch mich schon weit fortgetragen hat... seine Küsse auf meinem Gesicht... seine Küsse... so zart, daß ich sie kaum ertragen kann... seine Zähne, die ganz zaghaft an meinem Ohrläppchen spielen... seine Lippen... die an meinem Hals saugen... auf meiner Schulter ruhen... seine Hände... die behutsam meine Bluse öffnen... meine Brüste freilegen... ich sterbe... seine Küsse auf meinen Brüsten... ich löse mich auf... mich gibt’s nicht mehr... alles, was von mir übrig ist, ist das Verlangen nach ihm... seinen sanften Lippen... seinen sanften Händen... seine Hände unter meinem Rock... das Fieber, als unsere nackten Körper sich berühren... seine heiße Haut, an der ich zerglühe... ein Taumel, der mich fortreißt... hochwirbelt... ich schwebe... seine Augen... seine Hände auf meinen Brüsten... seine Hände, deren Zärtlichkeit ich kaum noch ertragen kann... ich zerglühe, zerfließe unter seinen zarten Berührungen... die Hitze zwischen meinen Schenkeln... ihm entgegenfließend... Arne... komm zu mir... jetzt... komm... ich fühle nur noch, wie ich mich öffne... will ihn aufnehmen... ganz aufnehmen in mich... heiß und glühend fiebere ich ihm entgegen... kann es kaum noch erwarten... bis er ganz sachte... ganz, ganz langsam in meinen Schoß gleitet... ganz ruhig... so viel Zeit... Ewigkeiten von Zeit... genieße seine Hitze in mir... die Zartheit seiner Bewegungen... die Ruhe, mit der wir uns die Zeit nehmen, nur so zusammenzusein... ich spüre ihn mit jeder Faser meines Körpers... atme ihn ein... berauscht... seine weichen Haare auf meiner Schulter... sein leises Lachen an meinem Ohr... Stephansplatz... beim Ein- und Aussteigen bitte beeilen... Schneeregen und eisiger Wind in meinem Gesicht... Warten auf den Bus... um acht Uhr sitze ich auf der Arbeit.

Sonntagmorgen.

Ich liege mit Uschi und Jan im Bett. Wir klönen. Meine Gedanken schweifen ab. Mein Bauch wird ganz warm. Arne soll mit mir schlafen. Ich will ein Kind von ihm. Er soll mir in meinem Bauch ein Kind machen. Arne. Sehe seine braunen Augen vor mir und fühle die Wärme in meinem Bauch.

Ich sage das Jan und Uschi. Uschi meint, ja, kannst du auch machen. Du darfst nur nicht denken, daß du ihn dadurch wiederkriegst.

Ich will natürlich eigentlich kein Kind alleine haben. Ich will, daß Arne auch ein Kind mit mir will. Aber das will er ja nicht. Und dann will ich wenigstens ein Kind von ihm. Wenn ich ihn schon nicht habe. Oder was ist das, was sich da in meinem Kopf abspielt? Ich spinne. Wo will ich denn zwei Jahre vorm Examen das Kind hintun. Alleine 24 Stunden am Tag Mutter sein, alleinstehende Mutter. Nur weil ich Arne liebe. Ich spinne.

Mein Bauch ist immer noch ganz warm. Mir ist feucht und heiß zwischen den Schenkeln. Ich will mit Arne schlafen. Ich will ein Kind von ihm.

Wenn ich mich ins Bett lege, um zu onanieren, dann tue ich das, um mit Arne zu schlafen. Ich lege mich nicht hin, um mir einen Orgasmus zu verschaffen. Ich lege mich hin, um in Gedanken seine Wärme zu spüren. Beim Orgasmus sehe ich Arne vor mir. Hinterher erlebe ich seinen Orgasmus mit. Danach muß ich weinen, weil seine Zärtlichkeiten kein Ende nehmen. Der Orgasmus ist eine der schönsten Nebensachen bei diesem Erlebnis. Ich habe mit ihm geschlafen.

Ich bin mit meiner Sexualität auf Männer fixiert. Ich onaniere selten. Wenn ich das Bedürfnis nach Sexualität habe, möchte ich mit einem Mann schlafen. Ich onaniere ungerne. Früher hatte ich deshalb ein schlechtes Gewissen. Abhängig, männerfixiert, unselbständig, unfeministisch. Überall wird mir erzählt, wie wichtig es ist, auch mit dem eigenen Körper allein Spaß zu haben. Daß ich gegen ein wichtiges Prinzip der Frauenbewegung verstoße, wenn ich das nicht habe. Daß ich unemanzipiert bin, wenn mir das Streicheln meines eigenen Körpers nicht genauso viel Spaß bringt, wie das Schlafen mit einem Mann. Ich traue mich kaum noch zuzugeben, daß Onanie für mich nur «Ersatzbefriedigung» ist. Aha! Die ist also noch nicht soweit. Die ist noch so unemanzipiert, daß sie lieber mit Männern schläft.

Ich schlafe nicht mit Männern. Es ist ja keiner da, mit dem es mir Spaß bringen würde. Arne will ja nicht. Ich schlafe nicht mit Männern. Aber ich möchte gerne mit einem Mann schlafen. Mit einem, mit dem es so schön ist wie mit Arne. Ich möchte eigentlich nicht onanieren. Daß ich es tue, ist eine Notlösung. Ob es nun emanzipiert ist oder nicht. Es ist nicht mein wirkliches Bedürfnis. Wenn ich es tue, dann ist es nur deshalb schön, weil ich Arne dabei fühle. Das ist zwar sehr unfeministisch, aber sehr schön.

Ich bin wütend. Wütend, daß in unserem Kampf für Befreiung von jeglicher Unterdrückung wieder Dogmen aufgestellt werden. Dogmen, die mich jahrelang unfrei gemacht haben. Andrea besucht mich. Im Gespräch sagt sie irgendwann ganz zögernd, daß sie nicht gerne onaniert. Daß sie das schon nirgends mehr sagen mag. Ich sage ihr, daß es mir genauso ging. Ich ärgere mich. Wieder einmal eine Frau, die ganz eingeschüchtert nicht zugeben mag, daß ihr Sexualität mit Männern mehr Spaß macht als onanieren.

Ich hatte ein paar Jahre lang ein schlechtes Gewissen, daß ich so unfeministische sexuelle Bedürfnisse habe. Heute weiß ich, warum ich diese Bedürfnisse habe. Das wichtigste an jeder Sexualität ist für mich, die Wärme und Nähe eines anderen Menschen zu spüren. Wenn ich onaniere, kann ich mir einen Orgasmus verschaffen. Ich kann mich auch streicheln. Aber das ist alles so nebensächlich. Ich brauche Wärme und Zärtlichkeit, Nähe und Zusammensein. Der Orgasmus ist eine der wichtigsten Nebensächlichkeiten dabei. Sollen andere onanieren, wenn es ihnen Spaß bringt. Wenn das ihre Bedürfnisse sind. Meine sind es nicht. Sollen sie onanieren. Aber sie sollen keine Dogmen aufstellen, daß das das höchste Emanzipationsgut ist.

Meine Sexualität bringt Probleme mit sich. Ganz massive Probleme. Das weiß ich. Wenn ich die Wärme und Nähe eines anderen Menschen suche, dann ist das schon etwas, was ich nicht in jeder Kneipe oder Disco finden kann. Ich meine schließlich wirkliche Nähe. Wenn ich nur mal so, ohne diese Nähe, mit jemanndem schlafen würde, dann könnte ich mich tatsächlich ins Bett legen und mir meine Körperfunktionen selbst erfüllen. Ich habe kein Interesse an oberflächlichen Bumsgeschichten.

Ich schreibe ein Buch. In den letzten zwei Wochen habe ich an die hundert Schreibmaschinenseiten gefüllt. Meine Nächte verbringe ich in angespanntem Halbschlaf. Kann nicht einschlafen. Sehe im Halbschlaf Schreibmaschinentastatur vor mir. Arnes Gesicht wird ein anderes als das, was es wirklich ist. Ich will ein Foto von ihm haben. Damit ich immer weiß, wie er wirklich aussieht. Ich werde ihn darum bitten. Sein Gesicht auf dem Foto wird nie das sein, was ich aus den ersten Tagen mit ihm erinnere. Seine Augen im Halbdunkel am Elbstrand. Nur Lichter von vorbeifahrenden Schiffen. Seine Augen. Kurz nachdem wir uns gestritten haben. Seine Augen, die mich liebten. Die mir sagten, daß Meinungsverschiedenheiten eben dazugehören. Das kann doch nicht vorbei sein. Ich will, daß seine Augen mich wieder lieben. Was nützt mir ein Foto? Ich will diese Augen wiedersehen. Ich habe noch nie erlebt, daß ein Mensch mich mit seinen Augen so lieben konnte.

Salzige, glänzende Perlen auf weißen Buchstaben. Tränen auf den Tasten meiner Schreibmaschine. Heute nacht werde ich wieder nicht schlafen können. Vor drei Tagen habe ich aufgehört, Alkohol zu trinken, um einschlafen zu können. Werde ich heute abend doch wieder in die Kneipe gehen? Vier Wochen lang habe ich täglich abends was getrunken. Jetzt will ich das durchhalten. Ich bin keine Alkoholikerin.

Ich schreibe ein Buch. Seit zwei Wochen mache ich nichts anderes. Plötzlich wird mir klar, daß sich nichts geändert hat. Ich habe Arne seit zwei Wochen nicht gesehen und schreibe ein Buch. Es hat sich nichts geändert. Ich liebe ihn. Und ich will nicht wahrhaben, daß es vorbei ist. Ich will Arne. Mir wird klar, daß ich anders vorgehen muß.

Als ich Uschi sage, daß ich doch am besten noch mal mit Arne... reden und so... mit ihnen zusammen... da sagt sie: «Fahr hin! Du mußt hinfahren. Fahr heute abend hin. Fahr immer wieder hin. So lange, bis dir klar ist, daß da nichts läuft.» Sie hat recht. Wenn ich hier zu Hause sitze, kann ich mir Luftschlösser bauen. Mir alles genauso ausmalen, wie ich es gerne möchte. Der reale Arne kann mir nicht dazwischenplatzen. Hier zu Hause habe ich es nur mit dem Arne zu tun, der auf seinem schillernden Rappen um meine Luftschlösser herumreitet. Ich muß hinfahren. Um mir in der Realität zu beweisen, daß er ganz normal zu Fuß durch seine Anderthalb-Zimmer-Wohnung geht.

Ich fahre nach Altona. Arne ist zu Hause. Allein. Sagt: «Das ist schön, daß du kommst», als ich in die Tür komme.

«Findest du es wirklich schön?»

«Ja. Es ist doch immer schön, wenn jemand kommt.» Umarmt mich, will mich zu sich heranziehen. (Zärtlichkeiten verweigern! Zärtlichkeiten verweigern! Zärtlichkeiten verweigern!) Sanft schmiege ich mich an seine Brust. Und finde es schön. «Na, ich bin ja nun nicht irgend jemand», sage ich und schmiege mich an seine Brust.

Arnes Schlafzimmer. Ein paar Matratzen, ein Bücherregal. Sein «Schreibtisch» besteht aus einem krummen Brett, das er auf die Heizung gelegt hat. Vorne ragt es ein paar Zentimeter über. Arne sitzt auf seinem Stuhl davor. Ich setze mich aufs Bett. Ich erzähle ihm, daß ich angefangen habe, ein Buch zu schreiben, um die Beziehung zu verarbeiten. «Aber ich komm einfach nicht drüber weg. Es will einfach in meinen Kopf nicht rein, daß es vorbei ist.»

«Ich glaub, es ist besser. Ich glaub, es ist besser, wenn es vorbei ist», sagt Arne. Aber vorher macht er noch etwas anderes. Als ich die ersten Sätze raushabe, daß ich nicht über ihn wegkomme, da lacht er plötzlich ganz doof. Total unvermittelt. Ich weiß nicht, was daran lustig ist. Frage ihn, warum er lacht. «Selbstironie», meint er. Als ich das nicht verstehe und nachbohre, sagt er, es war wohl Verlegenheit. Und dann sagt er, daß er glaubt, daß es besser ist, wenn’s vorbei ist. Arne sagt nicht: Es ist vorbei! — «Ich hab mir gestern beim Spazierengehen überlegt, daß ich auch gerne wieder mit ’ner Frau zusammen wäre.»

Ich horche auf. Sehe meine Chancen blühen und gedeihen. Aber dann kommt, daß er seinen politischen Weg vor Augen hat und sich überlegt, mit wem er denn gehen könnte. Das möchte ich auch mal wissen! Die Frau möchte ich mal sehen!

Ich möchte mal mit Uschi und Jan zusammen mit Arne reden. Wenn ich mit ihm alleine bin, höre ich scheinbar immer an den Sätzen vorbei, die mir deutlich machen würden, daß er nichts mehr von mir will. Wenn ich dann zu Hause bin, klingt in meinem Ohr nur noch so was nach wie: Ich hab mir überlegt, daß ich auch gerne wieder mit ’ner Frau zusammen wäre. Ich möchte mal jemanden dabei haben, der mich mit Gewalt auf die Sätze stößt, die ich scheinbar immer nicht hören will. Arne ist damit einverstanden. Er schlägt Freitag vor. Weiß es aber noch nicht genau und will vorher lieber noch mal telefonieren.

Arne lädt mich zum Essen ein. Ich erzähle ihm, daß ich in den letzten Tagen ganz viele Bilder gemalt habe. Alles Bilder von Zerstörung, Verwesung und Weltuntergang. Und dann erzähle ich dummerweise, daß mich mittelalterliche Geschichte wahnsinnig interessiert. Wie die Masse der Bevölkerung vor Hunderten von Jahren gelebt hat. Die Bauern und Handwerker. «Es wundert mich immer wieder, wie wenig Substanz du hast», sagt Arne. Ich frage, wie er das meint.

Ja, mein Geschichtsinteresse sei so rückwärts gerichtet. Sein Geschichtsinteresse sei vorwärts schauend. Ich sage ihm, daß der Spruch eine Unverschämtheit ist. Und daß ich mich selber für relativ stark halte. Mich über mangelnde Substanz nun wirklich nicht beklagen kann. Eigentlich hätte er für den Spruch eine Ohrfeige verdient. Eigentlich...

Ich esse meine Hammelkoteletts. Wir unterhalten uns weiter. Als wir mal eine Weile nichts gesagt haben und uns wieder angucken, zwickt Arne mich ohne was zu sagen in die Wange. Lächelt mich an. Arne, der Charmeur. Ich kriege Herzklopfen.

Ich sage ihm, daß ich Donnerstag auch in der Uni-Gegend einen Termin habe. Er doch auch. Ob wir nicht hinterher noch zusammen ein Bier trinken wollen. Arne weiß doch nicht genau, ob er hinterher Zeit hat. Mal sehen. Er sagt nicht, daß er keine Lust hat. Also hat er wohl Lust. Jetzt sind wir für Freitag wahrscheinlich und für Donnerstag vielleicht verabredet. Und er will noch anrufen. Ich fühle mich wohl mit ihm.

«Oh! Da ist der Christian. Den seh ich so selten!» springt er plötzlich auf. Hin zur Theke und holt zwei andere Typen an unseren Tisch.

Mich siehst du auch selten, denke ich. Aber ich sag nichts. Und die Unterhaltung, die dann losgeht, ist auch wirklich ganz toll. Selbiger Christian spricht mich auch ein paarmal direkt an, obwohl er mich noch nicht kennt. Ich taue sofort auf. Endlich mal nicht diese Freundin-von-Situation, wo ich neben Arne sitze und mir meine Redebeiträge erst erkämpfen muß.

Da kommt ein Typ in die Kneipe, trifft einen Freund mit einer Frau, die er nicht kennt, und bezieht die sofort ganz locker ins Gespräch mit ein. Leider keine Selbstverständlichkeit. Ich finde die beiden sympathisch. Unterhalte mich unabhängig von Arne mit dem einen weiter.

Als ich Arne sage, daß ich gehen will, fängt er an, mit meiner Hand zu spielen. Wir verstehen uns kaum, weil es laut ist und wir so weit auseinandersitzen. Uns nur quer über den Tisch unsere Hände zureichen können. Ich stehe auf und gehe um den Tisch herum zu ihm. Setze mich neben ihn auf die Bank, und wir umarmen uns. Ich kann ihn streicheln. Mich bei ihm ankuscheln. «Siehst du, ich find das ganz schön. Auch so zärtlich miteinander zu sein. Das muß nichts mit so ’ner Mann-Frau-Beziehung zu tun haben.» Er guckt mich ganz lieb an, während er das sagt.

«Aber kannst du nicht verstehen, daß mir das unheimlich schwerfällt, neben dir im Bett zu liegen? —Weil ich mehr will.» Ich sehe ihm die ganze Zeit in die Augen, als ich ihm das sage. Seine schönen braunen Augen. Er muß doch merken, daß ich ihn liebe.

«Doch. Das kann ich verstehen. Aber ich find’s trotzdem schön.»

Irgendwie ist das ganz schön übel, wie er sich verhält. Er geht da ja überhaupt nicht drauf ein, in was für Konflikte er mich da bringt! Aber in welcher Form sollte er denn darauf eingehen? Indem er mir die Zärtlichkeiten, die er selber will, verweigert? Das will ich auch nicht. Ich will doch mit ihm schmusen.

Als ich mich zu Hause unauffällig in die Wohnung schleichen will, sind Jan und Uschi grade auf dem Flur. Jan und Uschi, die mir seit Monaten dabei zu helfen versuchen, über Arne hinwegzukommen. Es immer wieder mit mir diskutieren. Und nun komme ich nach Hause und muß zugeben, daß ich rückfällig geworden bin.

«Na? Was war?»

«Er war sooo lieb», sage ich nur.

«Ach, du Schande!» meint Uschi. Weitere Worte brauchen nicht gewechselt zu werden.

«Aber es war so schön», setze ich noch ganz bockig hinterher. Und daß er Freitag für das Gespräch Zeit hätte. Wir gehen alle ins Bett. Ich kann nicht schlafen. Ich möchte bei Arne sein.

Am nächsten Abend telefoniere ich mit Jochen. Meine letzte feste Beziehung vor Arne. Ich erzähle ihm von meiner unglücklichen Liebe. Daß es jetzt schon ein Vierteljahr her ist. Daß ich nicht damit fertig werde. Und dann kann ich nicht mehr weiter erzählen, weil ich heulen muß. Unter Tränen lege ich auf. Es ist halb elf. Ich fahre zu Arne.

Er ist nicht zu Hause. Auch in seinen Stammkneipen finde ich ihn nicht. Treffe Bekannte von ihm. Frage sie. Keiner weiß, wo Arne ist. Ob sie ihm was bestellen sollen, wenn sie ihn sehen?

«Nee. Eigentlich nicht. Ich will ihn eigentlich noch selber treffen heute abend. Er kann mich mal anrufen!»

Jetzt kriegen die alle mit, daß ich durch sämtliche Kneipen ziehe, nur um Arne zu treffen. Daß ich hinter ihm herlaufe. Aber das ist mir doch egal. Sollen sie doch. Ich laufe hinter ihm her. Das kann ruhig jeder wissen. Sollen «die Leute» doch von mir denken, was sie wollen!

Als ich kurz vor Mitternacht das zweite Mal bei ihm vor der Tür stehe, kommt er gerade die Straße hochgelaufen. Begrüßt mich kurz und beiläufig. Als wenn es das Selbstverständlichste von der Welt ist, daß ich mitten in der Nacht bei ihm vor der Tür stehe. Ich tu auch so. Wozu soll ich sagen: Bin vorbeigekommen, weil ich... Wenn es ihn interessiert, soll er schon fragen. Als er telefonieren geht, hol ich mir erst mal mein Buch aus seinem Bücherregal. Blättere drin, als er wiederkommt. (Ich bin beschäftigt. Er soll nicht denken, ich will was von ihm.) Wir unterhalten uns über seine Blumen und andere unverfängliche Themen. Lächeln uns an. Warum nicht? Er soll nicht denken, daß mich seine Gegenwart verunsichert. Mitten im Gespräch erwähnt er, daß die Bilder an den Wänden von ihm sind. Nun muß ich sie mir aber mal ansehen. Landschaften, die mir gefallen. Ich wundere mich. Arne malt Bäume, Wiesen und Wälder. Arne, der sich gestern darüber aufgeregt hat, als ich ihm gesagt habe, daß ich gerne Bilder von unberührter Natur male. Der sich daraufhin gewundert hat, wie wenig Substanz ich habe. Arne malt Bilder, die von mir stammen könnten. Als ich ihn darauf anspreche, meint er: «Ja. Das ist mein Verhältnis zur Natur.»

Ob ich auch noch ’n Stück spazierengehen will? Ja. Gerne. Ich mach alles heute abend, was den Eindruck aufrechterhält, ich fühle mich hier wie zu Hause. Will ihn so lange provozieren, bis er mir sagt, ich soll ihn in Ruhe lassen. (Heute hat er schon nicht mehr gesagt: Schön, daß du kommst!)

Als wir zum Spaziergang losgehen, fragt er mich ganz beiläufig; «Wolltest du hierbleiben heute oder willst du noch wieder nach Hause?»

«Nein, ich wollt hierbleiben.»

Erzähle ihm auf dem Spaziergang über den Folklore-Tanz heute morgen und den blöden Pubertierling, mit dem ich getanzt habe. Bißchen über Kinder, bißchen über Politik. Wenn wir nichts zu reden haben, fühl ich mich trotzdem nicht fehl am Platze. Er muß schon sagen, wenn er mich nicht will.

Zu Hause gehen wir gleich ins Bett. Arne schläft auch bei Minustemperaturen mit offenem Fenster. Ich lege mich mit Pullover und Wollstrümpfen ins Bett. Arne zieht sich aus. Hat ein Unterhemd mit langen Ärmeln und einem weiten Halsausschnitt an. Während er sich auszieht, erzählt er mir, wie er die Wände hier gestrichen hat und guckt dabei an die Decke. Wie er da steht in seinem weißen Hemd mit diesem weiten Ausschnitt. Seine schwarzen Haare fallen ihm ganz weich in den Nacken. Unter seiner Haut spielen Adern und Sehnen, während er redet. Er redet und redet. Guckt an die Decke und zieht sich aus. Und ich starre auf seinen Halsausschnitt und möchte über ihn herfallen. Er sieht so niedlich aus in seinem weißen Hemdchen.

Seine Unterhose hat er sich wieder bis unter die Achselhöhlen hochgezogen. Na ja. Das ist vielleicht etwas übertrieben, aber mindestens bis zur Taille. Die Zipfel vom Unterhemd zieht er dann durch die Unterhose, so daß sie ihm links und rechts mindestens zwanzig Zentimeter unten aus den Beinlöchern raushängen und seinem Körper ganz bizarre Konturen verleihen. Die Schiesser-Werbefachleute würden die Hände über dem Kopf zusammenschlagen. Er widerspricht wirklich sämtlichen Idealen männlicher Unterwäsche-Kultur. Ich könnte ihn knuddeln.

Als wir im Bett liegen, warte ich nicht auf seine Hand. Ich nehme sie mir. Aber nicht, wie gewohnt mit meiner rechten Hand, sondern mit der linken, damit ich meinen rechten Arm zum Streicheln frei habe. Lege meinen Arm ganz selbstverständlich auf seine Schulter. Habe keine Lust, ihn zu streicheln. Bin müde. Aber wahrscheinlich lähmt mich nur wieder die Angst, und ich bin zu feige.

Aber ich will ihn doch nicht gegen meine eigene Lust anmachen. Ich hab gar keine Lust, mit ihm zu schlafen jetzt. Aber ich hab doch mit Uschi diskutiert, daß ich es «ausreizen» muß. Wenn ich aber doch nun selber nicht will...

Allmählich fängt meine Hand ganz von alleine an, Lust zu haben. Da sind auch keine Hemmungen mehr. Es bringt mir Spaß, mit seinem weichen Haar zu spielen. Mit meinen Fingern über seine Wangen zu fahren. Ganz sanft. Immer wieder. Ich kann nicht aufhören. Bin süchtig nach seiner weichen Haut. Seine Bartstoppeln sind inzwischen auch schon so lang, daß sie schon weich sind und nicht mehr kratzig. Als ich anfange, ihn zu streicheln, spreche ich dabei mit ihm. Über seine Bartstoppeln und daß er seinen Rasierapparat in Dortmund vergessen hat. Als uns der Gesprächsstoff ausgeht, brauche ich keinen mehr. Habe Mut gewonnen und kann ihn weiterstreicheln. Ohne zu reden. Das Reden hat meinem Streicheln einen so beiläufigen Charakter gegeben. Jetzt habe ich keine Angst mehr. Es muß nicht mehr beiläufig wirken. Er soll ruhig merken, daß ich ihn jetzt streicheln will und nichts anderes. Ich will nicht mit ihm schlafen. Ich will ihn streicheln. Aber nicht beiläufig, sondern wirklich lieb und zärtlich. Seine Haare. Sein Gesicht. Ich wage es, mit meinen Fingerspitzen kleine Ausrutscher zu seinem Hals zu machen. (Achtung: erogene Zone.) Werde mutiger, bleibe bei seinem Hals und seinem Nacken. Weiß, wie ich austicken würde, wenn mich jemannd da so ganz zart streichelt. Er sagt nicht, daß ich aufhören soll. Wenn er es nicht schön findet, soll er das sagen. Ich kann nicht aufhören, ihn im Nacken zu kraulen. Finde es schön. Fühle mich wohl. Werde irgendwann müde. Und fauler. Bin entspannt. Habe das ganz sichere Gefühl, heute nacht schlafen zu können. Als ich dann irgendwann meinen Arm von seiner Schulter nehme, läßt er meine Hand los und dreht sich auf die andere Seite.

Ich fühle mich immer noch wohl. Auch wenn wir uns nicht mehr berühren. Ich höre ihn atmen. Spüre seine Nähe. Fühle irgendwie Wärme. Obwohl es eiskalt im Zimmer ist. Ich mit Pullover und Wollstrümpfen unter der Decke liege. Finde es schön, neben ihm zu liegen.

Es wird laut. In der Wohnung über uns scheint jemand nach Hause gekommen zu sein. Außerdem hört man jedes Geräusch aus dem Treppenhaus. Aber nicht schlimm. Kann trotzdem leicht wegnippeln, weil ich mich entspannt fühle. Arne liegt neben mir. Berührt mich nicht. Aber ich spüre seine Nähe. Krieche mit meiner eiskalten Nasenspitze unter den Schlafsack und atme seine Nähe ein. Ich bin bei ihm.

Als der Wecker klingelt, belagere ich ihn sofort wieder. Schmuggle meinen Arm unter seine Bettdecke. Ohne zu zögern. Fange wieder an, ihn zu streicheln. Er will was vom Kopfkissen abhaben. Ich schiebe beide Kissen ein Stück näher zu ihm hin. Er kommt mit dem Kopf zu mir heran, obwohl es nicht nötig wäre. Es sind zwei Kissen, und er könnte sich eins rübernehmen. Aber er kommt mit dem Kopf ganz dicht zu mir heran, und wir liegen beide zusammen auf den beiden Kissen. Seine Haare sind eiskalt, weil das ganze Zimmer eiskalt ist. Ich bade mein Gesicht in seinen eiskalten Haaren. Streichle ihn weiter. Sein Gesicht, seinen Hals, seinen Nacken, seine Haare.

Als er nach dem Wecker guckt, stützt er sich auf mir wie an einem Stück Brett ab. Das ist die einzige Berührung, die er mir seinerseits widmet heute morgen.

Aber ich wollte es ja so haben. Ich mußte herfahren. Mir beweisen, daß es so ist. Daß er meine Zärtlichkeiten nicht erwidert.

Als er aus der Tür geht, strecke ich ein letztes Mal meinen Arm nach ihm aus. «Hast du nun Donnerstag abend Zeit?» Er geht vorbei, ohne sich zu bücken, ohne mich zu berühren. «Ich weiß noch nicht. Ich ruf euch noch an.»

Am Dienstagabend am Abendbrottisch gebe ich Uschi die drei Seiten zu lesen, die ich über meine Vergewaltigung geschrieben habe. Wie ich Arne von meiner Vergewaltigung erzählen wollte, und er dann mitten drin gesagt hat: «Das interessiert mich jetzt eigentlich weniger.»

Uschi sagt: «Mit einem Menschen, der sich mir gegenüber so verhält, würde ich nie wieder ein Wort reden wollen. Nie wieder!» Ihr sei richtig schlecht geworden, als sie das gelesen hat. Richtig erschüttert von dem, was ich da erlebt habe. Und wenn jemannd so was erzählt kriegt und dann nicht versucht, die Frau zu verstehen, die ihm das erzählt... dafür gäbe es keine Entschuldigung. Ich würde bestimmt wieder Gründe finden, weshalb er in der Situation nicht darauf eingegangen ist und so. Aber dafür gibt es keine Gründe. Wenn mann so reagiert wie Arne, dann zeugt das von Desinteresse und ganz starker Mißachtung.

Ich muß Uschi recht geben. Ich war wirklich schon wieder dabei zu begründen, daß Arne darauf nicht eingegangen ist, weil er was anderes diskutieren wollte. Daß wir ja in der Diskussion um unsere Beziehung, seine letzte Freundin und um mich waren. Um mich? Waren wir in der Diskussion um meine Person? ...

Ich sitze da und starre auf den Tisch. Auf die drei schreibmaschinenbetippten Seiten vor mir. Ich lese nichts. Ich sehe nichts mehr. Irgend etwas Dumpfes, Unergründliches geht in mir vor. Ich kann nicht fassen, was es ist, aber irgend etwas geht in mir vor. Ich kann nicht reden und nicht denken. Mein Gehirn arbeitet, aber ich kann nicht denken. Erinnerungsfetzen rumpeln unstrukturiert durch mein Gehirn. Wie dunkle, schwere Kugeln, die ich nicht steuern kann und deren Bewegungen allen physikalischen Gesetzmäßigkeiten widersprechen. Dumpfe Geräusche, wenn sie gegeneinandergeschlagen oder gegen eine Wand poltern. Irgendwie gehören sie alle zusammen. Das ahne ich. Aber ich weiß nicht wie. Ich versuche sie zu erkennen. Aber sie verschwinden im nebligen Grau, wenn ich sie einander zuordnen will. Ich kann nur dasitzen und auf den Tisch starren. Und warten. Warten, bis irgend etwas von alleine passiert mit diesen schweren, unhandlichen Kugeln. Manchmal bleiben zwei aneinander kleben, wenn sie zusammengestoßen sind. Bilden eine graue, pulsierende Masse, in der es laut und geräuschlos brodelt und hämmert. Ich kann nicht erkennen, was im Innern dieses fremdartigen und doch nicht unbekannten Gebildes vor sich geht. Ich sehe nur, daß es nach außen hin endlich Konturen annimmt. Daß dieses dumpfe Grau in meinem Kopf plötzlich wieder die Form ganzer Sätze annimmt, die ich aussprechen kann.

Mir wird klar, daß Arne mich immer so behandelt hat. Daß er mich immer mißachtet hat. Daß er mir nie zugehört hat, wenn ich ihm etwas erzählen wollte, was für ihn neu war. Etwas über mich. Etwas, das in seinem festgefahrenen Gedankengebäude keinen Platz hatte. Wo mann erst Platz für hätte schaffen müssen. Und manchmal wird eben eine ganze Mauer brüchig, wenn mann unten einen Stein auswechseln muß. Und dann kommt das ganze Gebäude ins Wanken und mann muß sich überlegen, ob mann nicht ganz viele Stellen neu bauen muß. Dann lieber gar nicht erst was akzeptieren. Unsicherheit. Denkfaulheit. So erklärlich, wie dieses Verhalten ist, so unentschuldbar ist aber auch die Menschenverachtung, die damit verbunden ist. Daß er einfach nicht berücksichtigt, daß es nicht nur andere Positionen und Gedanken sind, sondern daß die Gedanken aus einem Gehirn kommen. Daß dieses Gehirn einem anderen Menschen gehört. Daß er es mit Menschen zu tun hat. Mit Menschen, die mit ihm reden. Und nicht nur mit dem, was sie reden.

Als ich abends im Bett liege, habe ich zum erstenmal nicht mehr das Bedürfnis nach Arnes Zärtlichkeit. Als ich versuche, mir vorzustellen, Arne würde mich jetzt streicheln, spannt sich mein ganzer Körper zu einem einzigen: «Geh weg!» Ich würde ihn mit einer ganz spontanen und schnellen Handbewegung wegscheuchen. Ich überlege. Mache ich mir nichts vor? Ist es nicht nur der Wunsch, ich wäre damit fertig? Bilde ich mir das nicht nur ein? Aber meine Abwehr bleibt. Bei allem, was ich mir vorstelle. Arne soll weggehen!

Aber er ist ja gar nicht da. Ich will, daß er hier ist, damit ich ihm zeigen kann, daß ich jetzt wirklich will, daß er abhaut. Aber er kommt ja Freitag. Mir ist es egal, wann es ist. Ich weiß, daß ich ihm irgendwann meine Ablehnung zeigen kann. Diese Gewißheit beruhigt mich.

In den nächsten Tagen überschlagen sich die Ideen in meinem Kopf, was ich mit ihm alles aufstellen könnte. Meine Abwehr bleibt. Juhu! Ich bin drüber weg. Hat mir das Schreiben des Buches also doch geholfen. Wenn auch nicht in der Form, wie ich dachte.

Ich brauche am Freitag kein Gespräch mehr zu führen, um drüber wegzukommen. Ich kann mich mit Arne alleine verabreden. In einer Kneipe. Und dann drauf warten, bis er wieder irgendeine Schweinerei sagt. So was wie: «Es wundert mich immer wieder, wie wenig Substanz du hast.» Irgend so was. Es braucht ja nicht dasselbe zu sein. Aber wenn ich es geschickt anstelle, dann bringe ich ihn dazu, sich eine Sauerei zu leisten. So gut kenne ich ihn nun inzwischen, daß ich weiß, welche Themen ich anschneiden müßte, um ihn zu frauenfeindlichen Statements zu provozieren. Er ist berechenbar in seinem maßlosen Chauvinismus. Das ist das Gute an ihm. Auf seinen Chauvinismus kann frau sich verlassen. Und dann scheuer ich ihm eine. Setze mich vorher extra so hin, daß ich gut mit rechts ausholen kann und die Ohrfeige auch gut sitzt. Daß es ordentlich klatscht. Nicht so lasch wie das letzte Mal. Als ich ihm bei mir zu Hause eine gescheuert hab, das war ja fast gestreichelt. Das war ja nur, um ihm mal zu zeigen, daß ich das überhaupt kann: ihm eine scheuern.

Aber diesmal soll es richtig knallen und ihm peinlich sein. Deshalb will ich es auch in der Öffentlichkeit machen. In der Kneipe. Und dann nehme ich mein Bierglas, das ich vorher wohlweislich nicht ganz ausgetrunken habe und schütte ihm das Bier ins Gesicht. Daß er klitschnaß und verdutzt ist. Und dann verlasse ich mit aufrechtem Gang das Lokal und sage zum Kellner noch: Mein Bier bezahlt der junge Mann da drüben. Oder wenn der grade ein neues Bier für mich bringt: Geben Sie das man dem jungen Mann da drüben. Der kann ein Neues gebrauchen, glaub ich.

Aber vorher könnt ich ihn eigentlich noch mal versetzen, so wie er es mit mir immer gemacht hat. Wenn er am Freitagabend kommt, gehe ich weg und lasse ihm bestellen, daß es mir leid tut, aber daß mir ein ganz wichtiger politischer Termin dazwischengekommen ist. Und dann verabrede ich mich neu mit ihm. Und dann in ’ner Kneipe. Und dann scheuer ich ihm eine und kipp ihm Bier ins Gesicht.

Mir wird richtig wohler, wenn ich mir das so vorstelle. Abends, als ich ins Bett gehen will, stehe ich im Badezimmer vorm Spiegel. Ich finde mich wieder schön.

In den letzten Monaten sah ich immer so schrecklich aus. Ich habe so ein kantiges männliches Profil. Andere Frauen haben viel weiblichere Gesichtszüge. Und dann das ganze Gesicht voller dicker, knallroter Pickel. Ich hatte früher nie Akne. Auch in der Pubertät nicht. Erst als ich ein Jahr die Pille nicht mehr nahm, da ging es los. Ich habe die Pille gut vertragen. Nie Nebenwirkungen gespürt. Ich spreche mit anderen Frauen. Ein bis zwei Jahre nach Absetzen der Pille haben sie Akne gekriegt. Und hatten vor Einnahme der Pille keine Akne. Wie ich. Haben die Pille gut vertragen. Keine Nebenwirkungen gespürt. Auf keine Packung hat die Pharmaindustrie draufgedruckt: Kann nach Absetzung zu Akne infolge von Störungen des Hormonhaushalts führen.

Wer sagt denn, daß Ihre Akne von der Pille kommt, junge Frau? Das muß erst mal wissenschaftlich nachgewiesen werden. Solange steht da weiter: Nebenwirkungen nicht bekannt. Schon gar nicht Langzeitfolgen. Ein bis zwei Jahre danach! Sie spinnen ja, meine Damen! Wie wollen Sie denn da einen Zusammenhang herstellen?

Ich finde mich wieder schön. Ich habe fettige Haare und dicke rote Pickel im Gesicht heute abend. Ich finde mich wieder schön mit zippeligen, strähnigen, fettigen Haaren, den Pony aus der pickeligen Stirn gestrichen, so daß er keine Hautunreinheiten mehr kaschieren kann. Was könnten ein paar dünne, fettige Strähnen auch schon kaschieren? Ich finde mich wieder schön, mag mich wieder leiden. Finde meinen Mund schön und meine Augen. Meinen frechen Blick und mein sicheres Lächeln. Ich finde mich wieder schön.

Am Freitagabend gehe ich in einen Film von Anna Seghers. Danach habe ich mich mit Jochen im Leewenzahn verabredet, damit ich nicht auf die dumme Idee komme, doch zu Hause zu sitzen und auf Arne zu warten. Als ich um elf nach Hause fahre, fühle ich mich wohl. Habe das Gefühl, einen gelungenen Abend verbracht zu haben.

Arne hat nicht angerufen. Ist nicht gekommen. Scheiße. Dabei wollte ich ihn doch versetzen! Aber wenn er nicht kommt, kann ich ihn natürlich nicht versetzen. Aber irgendwann werde ich ihn wiedersehen. Und dann zieh ich das Ding mit der Kneipe durch. Dann wird’s zwar nichts mit Versetzten, wichtiger politischer Termin und so, aber das macht nicht so viel. Wär zwar noch besser gewesen, aber mein Hauptbedürfnis war sowieso die Kneipenszene. Das andere war nur ’ne kleine schmackhafte Einlage, die das Ganze noch pikanter gemacht hätte.

Am Sonntagabend rufe ich Sabine an. Erzähle ihr alles, was letzte Woche mit Arne gelaufen ist. Und was ich Freitag mit ihm vorhatte. «Freitag abend war er in der Zwiebel», sagt Sabine. In mir beginnt es zu kochen. Nicht daß er keine Zeit hatte, und die Tatsache, daß er mit mir verabredet war, mal wieder als derart unwichtig einrangiert, daß er nicht absagt. Nein! Er hatte Zeit und geht statt dessen in die Kneipe und macht sich ’n netten Abend.

Nach dem Telefongespräch sitze ich in meinem Zimmer und starre vor mich hin. Rasend vor Wut. Ohnmächtiger Wut. Was soll ich mit mir machen? Ich könnte ihn zusammenschlagen jetzt. Aber er ist nicht da. Ich halt das nicht aus. Dieses Schwein.

Uschi guckt in mein Zimmer. Sieht mich vor mich hinstarren. «Was ist denn los?»

Ich erzähle ihr, daß Arne am Freitag in der Zwiebel war.

«Haut dich das um?» fragt Uschi verwundert.

Ich wundere mich, wieso sie sich wundert. Aber dann wird mir wieder klar, daß es ja nichts Besonderes ist, von Arne sitzengelassen zu werden. Und Uschi diskutiert raus, daß es meine ohnmächtige, hilflose Wut ist, die mich so fertigmacht. Daß ich mit meiner Wut noch nicht mal an ihn rankomme.

Ich erzähle Uschi und Jan, was ich in der Kneipe mit ihm vorhatte. Die beiden sagen, daß es egal ist, ob ich es in der Kneipe mache oder bei ihm zu Hause. Daß ich jetzt noch nach Altona fahren soll, wenn ich meine Wut an den Mann bringen muß. Aber ich will nicht heute abend. Auf so was muß ich mich gut vorbereiten. Und ich würd mich lieber mit ihm in der Kneipe treffen, weil ich will, daß «es» in der Öffentlichkeit passiert. Und daß es aber in ’ner Kneipe sein soll, in der ich mich zu Hause fühle. Daß ich Schiß habe, jetzt nach Altona zu fahren und er dann da mit Leuten in ’ner Kneipe sitzt. Uschi meint auch, das sieht zu sehr nach Szene aus. Die Leute können das dann gar nicht einordnen, wenn ich da auftauche und ihm ’n Bier über ’n Kopf kippe. Weil die die Zusammenhänge gar nicht kennen. Es ist schon ’ne andere Situation, wenn Frau und Mann in der Kneipe zusammensitzen, und die Frau ihm dann eine scheuert.

Außerdem kommt es mir nicht drauf an, daß es heute ist. Wenn ich weiß, ich mache das und das, und ich mache es morgen oder so, dann beruhigt mich das schon. Aber es ist eben so schwierig, ihn in ’ne Kneipe zu kriegen, wo ich mich zu Hause fühle, wenn es einigermaßen bald sein soll. Weil er halt kein Telefon hat, und wenn ich zu ihm gehe, dann sind wir in Altona. Dann bietet es sich an dazubleiben.

Und plötzlich seine Lippen... zum Kuß geöffnet über meinem Gesicht. Sein weicher, zarter Kuß auf meinen Lippen, meine Hände schieben sich ganz von alleine unter seinen Pullover, unter sein Hemd, begierig nach seiner Haut.

Seine Haut. Meine Finger werden wahnsinnig auf seiner Haut. Meine Hände sind betrunken von seiner Haut. Seine Brust, seinen Rücken streicheln, seinen Kuß genießen. Mir wird heiß... heiß und feucht. Ich dränge mich ihm entgegen. Warum sind unsere Hosen dazwischen? Ich will ihn in mir haben, jetzt. Dränge mich ihm entgegen, schaudere. Habe fast das Gefühl, ihn schon in mir zu spüren. Mein Stöhnen ist lauter als das Gebrabbel der Leute nebenan. Wir sind nicht allein. Schauer laufen durch meinen Unterleib. Ich bin meiner nicht mehr frau. Will ihn, ihn, ihn. Ein verzweifeltes, übermächtiges Verlangen, dem wir jetzt nicht nachkommen können.

Als ich erwache, erschrecke ich. Warum träume ich doch wieder so was? Ich wollte doch drüber weg sein. Nie mehr mich nach seiner Zärtlichkeit sehnen. Dieses Schwein. Er soll doch nicht die Möglichkeit haben, mich mit seiner Zärtlichkeit zum Umkippen zu bringen. Stelle mir die Szene vor, wenn ich Arne schlage, ihn anschreie, mit ihm brechen will. Wenn er da wüßte, daß er nur mit seinen sanften Händen nach mir zu greifen brauchte, nur seine weichen Lippen auf meinem Gesicht spielen zu lassen brauchte, wenn er das wüßte...

Ich will nicht, daß er mich verführt. Ich will’s ihm zeigen. Es war so schön heute nacht. Ich möchte von ihm verführt werden.

Jan und Uschi machen mir klar, daß ich nicht so komplizierte Situationen aufbauen kann. Daß ich einfach hingehen soll und irgendwas machen. Irgendwas, daß er merkt, daß ich eine maßlose Wut auf ihn entwickelt habe. Daß er schnallt, daß er sich so verhält, daß eine Frau eine solche Wut auf ihn kriegen kann, daß sie ihm die Wohnung ramponiert oder sonstwas. Ihn aus der Reserve locken, seine Blumentöpfe von der Fensterbank reißen oder so was.

Bei der Idee mit den Blumen horche ich auf. Arne liebt seine Blumen über alles. Das würde ihn wirklich treffen, wenn frau ihm seine Blumen kaputtmacht. Da würde er sich schwarz ärgern. Aber das ist wieder so kompliziert. Weil es ja sein kann, daß ich mit ihm im Schlafzimmer stehe und nicht an der Fensterbank im Wohnzimmer. Ihn anspucken. Das ist die Idee. Ihn einfach anspucken. Das bedarf keiner Vorbereitungen und geht überall. Ihm einfach ins Gesicht spucken. Diesem Schwein. Und das ist viel besser als Blumentöpfe und Ohrfeige. Weil ich mich bei ’ner Ohrfeige bestimmt ärgere, wenn ich nicht gut treffe. Spucken ist nicht so kompliziert. Und drückt auch viel besser aus, daß ich nicht nur einfach wütend auf ihn bin, sondern daß er für mich wirklich ein Schwein ist. Ein so verachtenswürdiges Schwein, daß ich es für angebracht halte, ihn anzuspucken. Ich brauche mir noch nicht einmal die Finger an ihm schmutzig zu machen. Spucken ist wirklich die größte Verachtung, die frau jemanndem zuteil werden lassen kann.

Und ich werde ihm einen Brief schreiben. Einen Brief, daß er ein Schwein ist. Und warum er ein Schwein ist. Morgen früh. Und morgen nachmittag werde ich ihm den Brief hinbringen, mein Hemd abholen und ihn im Gespräch zu irgendwas provozieren. So daß ich einen Anlaß habe, ihn anzuspucken. Er wird mir einen Anlaß liefern. Er wird irgendein Chauvi-Verhalten an den Tag legen. Da bin ich ganz sicher. Irgendeinen Mackerspruch wird er bringen. Da hat er keine Schwierigkeiten. So was kann er immer.

Und am Mittwochmorgen werden Uschi und ich hinfahren und ihm mit lila Ölfarbe ans Fenster sprühen: «Auch hier wohnt ein Frauenfeind.» Morgens, wenn er auf der Arbeit ist. Und mein werde ich darunter setzen. Richtig schön in leuchtendem Lila. Wie gut, daß er Parterre wohnt.

Am Montagmorgen setze ich mich an die Maschine und tippe Arne fein säuberlich auf vier Seiten, warum er ein Schwein ist. Klar rausgearbeitet und gut strukturiert. So daß er nicht dran vorbei kann. Daß er weiß, warum er angespuckt wird. Daß er es nicht nach dem Motto abtun kann: Die ist mal im Affekt durchgedreht.

Als ich mir den Brief noch mal durchlese, bin ich zufrieden mit mir.

Hamburg, den 13.1.80

Lieber Arne!

Mir ist letzte Woche endlich klargeworden, warum ich Dir seit Monaten hinterherlaufe. Und zwar an Hand einer Szene aus meinem Buch, als ich sie Uschi zu lesen gegeben habe.

Vielleicht erinnerst Du Dich: Wir saßen bei mir am Küchentisch und haben uns über mich unterhalten. Ich hatte angefangen, Dir von meiner Vergewaltigung zu erzählen, und als ich mittendrin bin, sagst Du plötzlich: «Das interessiert mich jetzt eigentlich weniger.»

Total cool. Als wenn Du mich dabei unterbrichst, als ich Dir was von der Mettwurst im Sonderangebot erzählt habe.

Aber große Töne spucken, wenn es um die Frage der Verteidigung von Vergewaltigern geht! Du hast ja den politischen Durchblick. Was brauchst Du da noch ’ner Frau zuzuhören, wenn sie von ihrer Vergewaltigung erzählt? Das interessiert Dich eigentlich weniger. Viel mehr interessiert Dich, daß Du Deine «politisch richtige» Position in die Gegend posaunen kannst. Wozu eine Frau ernst nehmen, die da ’n anderen Standpunkt hat? Mann muß das politisch sehen. Wozu sich von ’ner Frau erzählen lassen müssen, wie sie vergewaltigt worden ist?

Mir ist am Dienstagabend klargeworden, daß das eine Schlüsselszene für unsere Beziehung ist. Daß Du damit die totale Mißachtung meiner Person zum Ausdruck gebracht hast. Mir fällt es heute noch unheimlich schwer, von meiner Vergewaltigung zu erzählen. Und das dürftest Du vielleicht auch inzwischen mal irgendwo gelesen haben, daß es den meisten Frauen nicht angenehm ist, darüber zu reden (wenn Du die Frauen-Artikel in der taz und im AK nicht regelmäßig überschlagen würdest). Und ich habe endlich angefangen, diese Scheu zu überwinden, weil ich es wichtig finde, gerade Männern, aber auch Frauen, zu vermitteln, was es eigentlich heißt, vergewaltigt zu werden. Aber es fällt mir jedesmal schwer und ich muß mich überwinden, der jeweiligen Person, der ich es erzählen will, das Vertrauen dazu entgegenzubringen. Ich bringe einem Menschen das Vertrauen entgegen, ihm von der erniedrigendsten Erfahrung meines Lebens zu erzählen. Und dieses Schwein sagt zu mir: «Das interessiert mich jetzt eigentlich weniger.» Kein Betroffenes: «Darauf kann ich mich im Moment gar nicht konzentrieren. Kannst du mir das morgen erzählen?» Sondern ein total Cooles: «Das interessiert mich nicht.»

Es interessiert Dich nicht, daß die Frau neben Dir vergewaltigt worden ist und mit Dir darüber sprechen möchte. Es interessiert Dich nicht!

Und an dieser Schlüsselszene ist mir klargeworden, daß Du mich wirklich die ganze Zeit mißachtet und mit Füßen getreten hast. Und ich Trottel bin Dir hinterhergelaufen, weil ich das nicht wahrhaben wollte. Weil ich von Dir doch noch als gleichwertiger Mensch akzeptiert werden wollte. Dafür wollte ich von Dir einen Beweis haben. Deshalb meine ständigen Diskussionen, aus denen ich immer das Ergebnis rausholen wollte: «Er nimmt mich doch ernst.» Ein Ergebnis, das da nie rauskommen konnte, weil Du mich immer mißachtet hast und mich immer mißachten wirst. Und daß Du so ’n Schwein bist, wollte ich einfach nicht wahrhaben. Ich wollte mir das Gegenteil beweisen.

Leider ist mir das die ganze Zeit nicht so bewußt gewesen. Deshalb habe ich Dir auch noch so lange die Möglichkeit gegeben, mich zu verarschen. Und Du hast sie fleißig genutzt. Dir immer neue Sauereien geleistet. Wie zum Beispiel: «Es wundert mich immer wieder, wie wenig Substanz Du hast.» —Und ich Trottel sage zwar sofort, daß der Spruch eine Unverschämtheit ist, lasse mich dann aber wieder auf eine Diskussion darüber ein. Lasse mich wieder darauf ein, Dir zu beweisen, daß ich doch «Substanz» habe. Du stellst mal wieder, alles durchblickend, fest, daß mein Geschichtsinteresse rückwärts gerichtetes Bewußtsein ist. Während Du natürlich ein vorwärts gerichtetes Geschichtsinteresse hast. Wenn ich ein Bild male mit Wiesen und Wäldern, dann ist das weltfremd, reaktionär, nicht ganz ernst zu nehmen. Wenn Du ein Bild malst mit Wiesen und Wäldern, dann drückt das Dein Verhältnis zur Natur aus. Du bist ein Schwein!

Und genau derselbe Konflikt ist an allen Ecken und Enden durchgebrochen. Bei all den Diskussionen, wo ich sagte: «Mir ist unklar, weshalb ich mit Dir immer an einem bestimmten Punkt die Diskussion abbrechen muß. Ich spüre, daß es immer dasselbe ist, aber ich weiß nicht, was es ist.» Jetzt weiß ich es. Wenn ich mir jedesmal beweisen will, daß Du doch nicht so voller Frauenverachtung steckst, wie ich es im Grunde spüre, und Du mir jedesmal beweist, daß es doch so ist... Und wenn ich in der Diskussion genau daran wieder vorbeigucken will, weil ich nicht wahrhaben will, daß Du ein Schwein bist, dann spitze ich natürlich auch die Widersprüche nicht zu. Lasse immer noch eine kleine Möglichkeit offen, wo ich mir sagen kann: Ja, guck mal, es ist doch gar nicht so sicher, daß er das so schweinisch gemeint hat.

Interessant ist, daß Du das mit Sabine genauso gemacht hast. Sie mit ihrem Kunststudium genauso von oben herab behandelt hast. Und nachdem sie mit Dir Schluß gemacht hatte, plötzlich ein total aufgesetztes Interesse an Kunst zur Schau getragen hast. Worin liegt eigentlich Deine «Substanz», wenn Du es nötig hast, die Frauen, mit denen Du zusammen bist, menschlich derart zu degradieren? Ich war nicht die erste, und ich werde wohl leider nicht die letzte Frau sein, der Du mit so einer Frauenverachtung gegenübertrittst. Du wirst nie in der Lage sein, ’ne wirklich menschliche Beziehung zu ’ner Frau aufzubauen mit dieser Haltung. Oder Du mußt Dir wirklich so ’n richtiges Dummchen suchen, die das mit sich machen läßt und zu Dir aufschaut.

Du bist an Sabine so rangegangen. Und auch an mich. Du hast nie meine Persönlichkeit akzeptiert und versucht, mich kennenzulernen. Du hast Deine Schublade gehabt. In der war ich drin: die Frau ohne Substanz. Weltfremd. Rückwärts schauend. Ohne Selbstbewußtsein. Eine schwache Persönlichkeit. Und das hast Du mir dauernd in allen erdenklichen Formen um die Ohren gefetzt. Und ich habe es lange mit mir machen lassen. Habe mich darauf eingelassen, mich zu rechtfertigen. Dir beweisen zu wollen, was andere Menschen von vornherein akzeptieren: Nämlich, daß ich eine ernst zu nehmende, gleichwertige Persönlichkeit bin. Daß ich «Substanz» habe. Du Schwein!

Habe mich darauf eingelassen, weil ich nämlich einen Schwachpunkt ja auch wirklich hatte. Nämlich den, daß ich Dich immer noch geliebt habe. Ich habe mich immer nur mit halber Kraft wehren können, weil ich Dich immer noch geliebt habe und nicht wahrhaben wollte, daß Du meine ganze Person mißachtest. Wie kann man das auch von dem Menschen wahrhaben wollen, den man liebt.

Scheiße, daß ich fünf Monate gebraucht habe, um das zu erkennen. Ach nee, es sind nur vier. Am 13. September hab ich Dich kennengelernt. Aber besser eine späte Erkenntnis als gar keine.

Mich kotzt Deine Unehrlichkeit an. Erst zu mir zu sagen, Du seist zu einem Gespräch mit Jan und Uschi bereit, Freitag abend vorzuschlagen, mit der Bemerkung: «Ich weiß noch nicht genau, ob ich Zeit habe.» Am Dienstagmorgen noch zu sagen: «Ich ruf euch noch an.» Und Dir dann ’n gemütlichen Abend in der Zwiebel zu machen. Ohne anzurufen natürlich. Sag doch gleich: «Ich bin dazu nicht bereit.» Sag doch gleich: «Mir ist es scheißegal, wie’s dir geht.» Das wäre wenigstens ehrlich, Du Schwein! Aber ehrlich sein konntest Du ja die ganze Zeit noch nicht, seit ich Dich kenne. Dazu hast Du leider etwas zu wenig «Substanz». Ich frag mich, wie oft ich jeden Abend bei Dir vor der Tür stehen müßte, bis Du endlich mal ehrlich sagst: «Du nervst mich.» Und Dich nicht mehr nur wie ein Aal hintenrum rauswindest, indem Du Verabredungen nicht einhältst. Leider war mir meine Zeit zu schade, um das mal ’ne Woche durchzuprobieren.

Ich hab ja auch unter Linken schon viele Sauereien erlebt. Aber so ein frauenfeindliches Schwein wie Du ist mir noch nicht untergekommen

Mit feministischen Grüßen

P. S.: Vielleicht könntest Du mir auch mal irgendwann mein Hemd wiedergeben. Solltest Du nicht in die Gegend kommen: Es gibt auch eine Post.

Ach und noch was: Bevor Du diesen Brief aus der Hand legst und sagst: «Die spinnt! Hysterisches Weibsbild!», solltest Du Dir vielleicht mal überlegen, wenn zwei Frauen, mit denen Du mal ’ne Beziehung hattest, genau die gleiche Kritik an Dir haben, ob das dann nicht was zu bedeuten hat.

Ich fahre in den Kopie-Shop, um mir den Brief zu fotokopieren. Dann nach Altona. Je näher ich seiner Wohnung komme, desto größer wird mein Herzklopfen. Aber nicht aus Angst, sondern aus Spannung. Ich klingle. Nichts rührt sich. Er ist bestimmt da. Hat sich nur nach der Arbeit hingelegt und schläft jetzt. Geil. Hoffentlich ärgert er sich, daß ich ihn aufgeweckt habe. Ich klingle noch mal. Endlich ertönt der Summer. Als ich in seine Wohnungstür trete, ist es dunkel im Flur. Ich kann ihn kaum erkennen. Er faßt mit beiden Händen nach meinem Kopf. Will mich streicheln. Ich weiche zurück: «Ich will mein Hemd abholen», sage ich nur. Ich will keine zärtliche Begrüßung. Ich will ihn anspucken. Entziehe mich seinen Händen und weiche ins Dunkel zurück. Ich würde gerne sehen, was für ein Gesicht er jetzt macht. Es ist zu dunkel. Es ist das erste Mal, daß ich ihm Zärtlichkeiten verweigert habe. Das erste Mal. Was er wohl denkt jetzt?

«Oh, hab ich das Licht hier angelassen?» meint er und macht das Licht im Wohnzimmer aus. Geht ins Schlafzimmer. Steht vor der Tür zur Küche. Reibt sich die Augen und brabbelt was von gestern abend, gesoffen haben und so weiter. «Wo ist mein Hemd?» frage ich zum zweitenmal. Er hat eine ganz schlabberige Unterhose mit kurzen Beinchen an und friert. Steht vor der Küchentür und reibt sich die Augen. Als er merkt, daß er mich mit seinen Saufgeschichten auch nicht hinhalten kann, geht er in die Küche. In der Zwischenzeit lege ich den Briefumschlag nebens Bett.

Er kommt mit dem Hemd. «Ist es denn nun inzwischen gewaschen?» frage ich. Er grinst verlegen. Gibt mir das dreckige Hemd wieder, das er sich vor zwei Monaten von mir geliehen hat, weil er was Sauberes anziehen wollte, den Abend, als er hoffte, seine Ex-Freundin würde ihn wieder aufnehmen. Das dreckige Hemd, mit dem ich ihn schon einmal wieder nach Hause geschickt habe, weil ich es eine Selbstverständlichkeit finde, daß er es wäscht, wenn er es sich sauber von mir geliehen hat. «Ich find das nicht lustig», sage ich und verstaue das Hemd in meinem Korb. «Ich hab dir da noch ’ne Kleinigkeit mitgebracht.» Ich deute mit einem kurzen Kopfnicken auf den Brief. «Weshalb bist du denn Freitag nicht gekommen?»

Er fängt wieder an, sich die Augen zu reiben. Wüschelt in seinem Gesicht rum und murmelt was von: «Freitag? Wieso Freitag, ach, war das Freitag? Nee, wir hatten doch... Donnerstag war das.»

«Mensch, Arne. Ich hab keine Lust mehr.» Ich sehe ihn haßerfüllt an.

Er wüschelt wieder in seinem Gesicht rum, reibt sich die Augen und entzieht sich so meinem Blick. Brabbelt wieder was von Freitag und tut so, als wenn er die Tage durcheinandergekriegt hat.

«Und warum hast du nicht mal angerufen?»

«Ja, das stimmt, hab ich nicht gemacht.»

«Du lernst es nie», sage ich hart und warte darauf, daß er mich anguckt. Sammle die Spucke in meinem Mund. Aber er guckt mich nicht an. Grabbelt sich wieder im Gesicht rum und reibt sich die Augen. Damit es so wirkt, als hätte er einen Grund, mich nicht angucken zu können. Aber ewig kann er sich auch nicht im Gesicht rumwüscheln. Als er mich wieder anguckt und wieder was brabbelt, als wenn er die Tage verwechselt habe, spucke ich ihn an, drehe mich um, ohne ihn noch einmal anzusehen und knalle seine Wohnungstür hinter mir zu.

Auf dem Nachhauseweg fühle ich mich wohl. Unheimlich wohl. So wohl, daß ich mich spontan entschließe einzukaufen und heute abend zu kochen. Porree, Paprika und Wurzeln. Und das Hack mit Schafskäse angebraten. So wie ich es bei Arne gelernt habe. Und dazu Reis. Zur Feier des Tages.

Weil ich Arne heute angespuckt habe, gibt es das Essen, was er mir beigebracht hat. Uschi und Jan mögen es auch gerne. Mir schmeckt es heute abend besser denn je.

Ich freue mich auf Mittwoch. Was er wohl für ’n Gesicht macht, wenn er von der Arbeit kommt und die Parole auf seiner Scheibe sieht.

Mir wird allmählich klar, warum ich mich so wohl fühle jetzt. Ich habe mit meiner Brief- und Spuckaktion den Bruch vollzogen. Habe etwas gemacht, wovon ich mir denken kann, daß es dazu führt, daß Arne jetzt gar nichts mehr mit mir zu tun haben will. Und daß ich das bewußt in Kauf genommen habe. Daß es mir wichtiger war, meine Wut an ihm auszuleben, als mir seine restlichen Sympathien zu erhalten. Das zeigt mir, daß ich einen ganzen Schritt weitergekommen bin. Auch wenn ich noch nicht sagen kann, Arne ist für mich erledigt. Aber meine Wut war stärker als das Bedürfnis, mir seine «freundschaftlichen» Gefühle zu erhalten. Dieses Bewußtsein baut mich unheimlich auf. Nicht das Gefühl, ihm eins ausgewischt zu haben. Sondern das Bewußtsein, einen ganz radikalen Schritt in meinem Loslösungsprozeß vollzogen zu haben. Und es ihm auch hautnah vermittelt zu haben. Ich bin stolz auf meinen Brief. Weil ich ganz sauber und klar rausgearbeitet habe, warum er ein Schwein ist. Daran kann er nicht vorbei. Ich fange an zu überlegen, was er wohl für ein Gesicht gemacht hat, als ich ihn angespuckt habe? Schade, daß ich mich nicht noch einmal umgedreht habe. Ich erinnere nur zwei riesige Spuckefetzen auf seinem dunkelblauen Kapuzennicki. Zwei Spuckefladen, die weiß und schnodderig an seiner Brust hängen. Groß und unregelmäßig da kleben, sich vor dem dunklen Hintergrund abheben. Ich bedaure es nicht, daß ich nicht sein Gesicht getroffen habe. Obwohl ich das eigentlich vorhatte. Aber ich hab dann einfach so geradeaus losgespuckt, und er ist halt einen Kopf größer als ich. Aber darauf kommt es auch nicht an. Es kommt darauf an, daß ich ihn angespuckt habe. Und getroffen hab ich ja. Zwei schnodderige weiße Fetzen auf seiner Brust.

Zum erstenmal fängt Arne an, mir leid zu tun. Nicht wegen der weißen Fetzen auf seiner Brust. Nein. Ich habe ein anderes Bild viel stärker im Kopf. Wie er da mit seinem blauen Nicki und in seinem viel zu großen Liebestöter vor der Küchentür steht und sich die Äuglein reibt. Ich stehe ein paar Meter von ihm weg und sehe ihn von der Seite. Wie er anfängt, mir was von seinen Saufgeschichten von gestern abend zu erzählen, weil er scheinbar ein paar belanglose Sätze mit mir wechseln will, um die Situation aufzulockern. Sich mit beiden Fäusten im Gesicht rumwüschelt. Die kurzen Beinchen seiner Unterhose, die ihm um die Oberschenkel schlabbern. Wie er da in seinem Liebestöter steht, sich die Äuglein reibt und irgendwas brabbelt. Und die Frau neben ihm, die zum zweitenmal fragt: «Wo ist denn nun mein Hemd?» Irgendwie fängt er an, mir leid zu tun, weil ich plötzlich merke, daß ich weiter bin als er. Daß er mit seinem Leben viel weniger klarkommt als ich. Sein ewiges Gesaufe («manchmal knall ich mir ganz gerne einen»). Warum sollte ein Mensch, der mit seinem Leben wirklich klarkommt, so viel saufen wie Arne. Armer Arne. Er wird noch lange brauchen, um wirklich ehrlich mit sich selber umgehen zu können, vielleicht wird er es auch nie schaffen. Vielleicht wird er es immer nötig haben, in solchen Situationen damit zu kommen, wie toll es wieder war und mit wem er gestern gesoffen hat. Vielleicht wird er es immer nötig haben, sich unangenehmen Blicken durch das Rumgereibe in seinen Augen zu entziehen.

Hinter seiner ganzen männlichen Unsensibilität steckt so viel Unsicherheit, daß sich langsam, aber sicher wieder von hinten rum ganz viel Sympathie in mein Mitleid einschleicht. War er nicht niedlich, wie er da in seinem Liebestöter stand und sich die Äuglein rieb?

Aber es bleibt Mitleid. Es ist nicht mehr das Gefühl, was ich vor einer Woche noch für ihn empfunden habe. Es bleibt Mitleid. Auch wenn bei der Erinnerung an die kurzen Beinchen seiner Unterhose ganz viel Zärtlichkeit mitschwingt.

Und ich erinnere mich, daß schon einmal Mitleid in einem sehr schwierigen Ablösungsprozeß eine Rolle gespielt hat. Bei Uli. Daß meine bedingungslose, unterwürfige emotionale Abhängigkeit von ihm nach drei Jahren in Mitleid umschlug, als ich merkte, daß ich ihn hinter mir lassen werde. Daß ich ihm im Endeffekt überlegen bin. Und daß dieses Mitleid der erste emotionale Schritt zur Bewältigung meiner Abhängigkeit war. Erinnere den mittelblauen VW, wie er mich bei meiner Oma vor der Tür abgesetzt hat. Wie er dauernd Gas gibt und noch nicht losfährt. Habe plötzlich die Assoziation eines großen schwerfälligen Käfers, der brummt und nicht von der Stelle kommt. Der Käfer ist nicht mehr das Auto, sondern Uli selber. Ein riesiger Maikäfer, der auf dem Rücken liegt. Hilflos und auf andere angewiesen, die sich seiner erbarmen. Alleine nicht mehr fähig, sein Leben fortzuführen. Hilflos brummt der große schwerfällige Käfer vor sich hin und tut mir leid, weil ich ihn nicht mehr liebe. Ich empfinde nur noch Mitleid für ihn. Und er möchte von mir geliebt werden. Und als mir das bewußt wird, tut er mir noch doppelt leid.

Ich werte das Mitleid, das ich Arne gegenüber empfinde, auch als Zeichen, daß ich anfange, drüber hinwegzukommen. Er ist nicht mehr ein nicht in den Griff zu kriegendes Etwas, das mich in meiner emotionalen Abhängigkeit in der Hand hat. Sondern er ist plötzlich jemannd, der viel schwächer ist, viel unsicherer als ich. Jemannd, den ich hinter mir lasse, wenn ich jetzt meinen Weg alleine weitergehe.

Aber bei allen Erklärungen für sein Verhalten: Es ändert nichts an der Tatsache, daß er sich total chauvinistisch verhält und nur mit Holzhammerschlägen vor den Kopf aufgeweckt werden kann. Dienstag nachmittag kaufe ich eine lila Sprühdose mit Ölfarbe. Im Sonderangebot für 6,95 DM. Immer noch ganz schön teuer. Aber das laß ich mir was kosten.

Am Mittwochmorgen schaffe ich es zum erstenmal wieder, ohne Schwierigkeiten ganz früh aufzustehen, obwohl ich tierisch wenig geschlafen habe die letzte Zeit. Aufregung und Vorfreude auf der Fahrt. Hoffentlich ist er nicht ausgerechnet heute krank oder aus irgendwelchen anderen Gründen nicht zur Arbeit gegangen.

Es ist dunkel bei ihm in der Wohnung. Wir können uns Zeit lassen. Wir wischen mit einem Lappen erst mal den Dreck von den Fenstern, damit die Farbe auch gut hält. Kann der Kerl froh sein, daß wir ihm noch die Fenster putzen. Und dann fangen wir an. Überlegen uns vorher gut, wie wir uns den Platz einteilen. Lassen uns Zeit. Sprühen sorgfältig. Erst schön dünn, damit die Farbe nicht runterläuft und es so dicke Farbnasen gibt. Und bei den wichtigen Buchstaben noch mal drübersprühen. Die Leute, die vorbeikommen, gucken, wundern sich vielleicht kurz und gehen weiter, ohne stehenzubleiben. Als wir fertig sind, machen wir in aller Ruhe noch Dias. Damit wir auch ’n Erinnerungsfoto an diesen historischen Augenblick haben. Es sieht wirklich toll aus. Auch von weitem gut zu lesen. Das Haus ist ganz dunkel. Rotes Mauerwerk und dunkelgrüne Fensterrahmen. In grellem Lila leuchtet uns «Auch hier wohnt ein Frauenfeind» entgegen.

Schade, daß ich nicht im Haus gegenüber am Fenster sitzen kann, um Arnes Gesicht zu sehen, wenn er nach Hause kommt. Nachmittags gegen halb vier werde ich immer aufgeregter. Jetzt kommt er von der Arbeit und steht grade vor seiner Haustür. In mir jubelt alles.

Am Abend kreisen meine Gedanken um die Zukunft. Wie sich mein Verhältnis zu Arne wohl in einigen Monaten oder gar in einigen Jahren gestalten wird? Wie es wohl in seinem Bekanntenkreis aufgenommen wird, was da an seinem Fenster steht? Hoffentlich läßt sich erst mal keine Frau mehr mit ihm ein. Wenn er grade hinter einer her ist und die ihn dann fragt: «Warum steht denn das an deinem Fenster?» Ob er ihr dann wohl meinen Brief zeigt? Ob er ihr die Wahrheit sagt? Ob die Frau dann sagt: «Also hör mal, Typ, wenn du so einer bist, will ich nichts mehr von dir.» Und dann ist er sie los. Ha! Dann kann er mit ihr nicht so ’n Chauvi-Kram machen wie mit mir. Das geschieht ihm recht. Und wenn er dasteht und die Farbe von seinem Fenster abkratzt. Hoffentlich kommen dann viele Linke vorbei, und es ist ihm ordentlich peinlich. Und alle wissen: Da hat eine Frau Gründe dafür gehabt, «Frauenfeind» an sein Fenster zu schreiben.

So in vier Wochen oder so, da werde ich eines Abends, so als wenn nichts gewesen ist, bei ihm vor der Tür stehen und ihn fragen, in welcher Kneipe er denn jetzt mit mir ’n Bier trinken möchte? Dann werd ich ihn mal fragen, was er aus unserer «Beziehung» gelernt hat. In aller Freundschaft ein Bier mit ihm trinken. Darauf freue ich mich. Aber erst in vier Wochen oder so. Im Moment will ich erst mal meine Ruhe haben. Ich habe nicht mehr das Bedürfnis, ihn bald zu sehen, ihm hinterherzulaufen.

Als ich am nächsten Abend am Abendbrottisch sitze, kann ich mich zum erstenmal wieder so richtig drauf freuen, daß ich gleich ’n Termin habe. Daß ich gleich über Afghanistan diskutieren werde. Ich kann mich wieder auf so was wie ’ne politische Diskussion freuen. Als er klingelt, steht Uschi auf und fragt durch die Sprechanlage: «Wer ist da?»

«Arne», tönt eine dunkle, weiche Stimme durch den Lautsprecher.

Uschi drückt den Summer, öffnet die Wohnungstür.

«Hast du das gehört?» fragt sie mich. Ja, natürlich habe ich es gehört. Ich sitze ja schließlich einen Meter daneben und esse. Gehört habe ich es. Aber es dauert eine Weile, bis es in meinem Kopf ankommt. Arne steht unangemeldet unten vor der Haustür. Heute. Am Donnerstagabend. Einen Tag nach der Sprühaktion.

Arne kommt in die Tür. Uschi, Jan und ich sitzen im Flur am Tisch und essen Abendbrot. Arne hängt seine Jacke an die Garderobe. «Wenn du Tee willst, mußt du dir ’ne Tasse aus der Küche holen», sage ich. Arne geht in die Küche. Wir drei grinsen uns verhalten an. Arne setzt sich mit seiner Tasse neben mich, schenkt sich Tee ein. Keiner von uns sagt was.

«Schöner Spruch, den ihr da angemalt habt. Aber ich mach ihn nicht weg», meint Arne endlich und eröffnet damit die Konversation. Ich auch nicht, denke ich mir, sage aber nichts. Grinse nur. Arne grinst auch. Ganz freundlich. Er behauptet, daß ihn die Parole am Fenster nicht stört. «Irgendwann mach ich es sicher weg. Irgendwann sicher. Aber nicht sofort. Warum denn? Mich stört es nicht.» Er sei gekommen, um den Brief zu diskutieren. Nur wegen des Briefs sei er gekommen. Nicht wegen des Fensters.

Uschi, Jan und ich müssen innerlich grinsen. Wie er da sitzt und uns glauben machen will, ihn hätte das alles nicht berührt. Er sei nur gekommen, weil er die Inhalte aus dem Brief diskutieren will. Keiner glaubt ihm das. Arne, der heute am Donnerstag Plenum hätte. Arne läßt einen politischen Termin sausen, um mit mir zu diskutieren. Arne steht einen Tag nach der Sprühaktion vor der Tür. Arne, der sich sonst nach jedem Brief von mir erst mal zwei Wochen Zeit gelassen hat, meine Telefonnummer noch mal zu verlegen. Und dann sich dagegen gesträubt hat, für eine Diskussion mit mir mal ’n Termin eher zu beenden. Arne steht einen Tag später vor der Tür und will mit mir diskutieren und behauptet, ihn würde das alles nicht stören, er käme nur wegen des Briefes. Arne, der heute abend Termin hätte!

Aber Gott sei Dank habe ich keine Zeit heute. Endlich habe ich mal einen politischen Termin, der mir wichtiger ist als eine Diskussion mit ihm.

Wir bieten ihm den nächsten Abend an. Ich will, daß Jan und Uschi diese Diskussion mitmachen. Morgen abend haben wir alle Zeit. Aber Arne hat ’n Termin. Kann erst ab neun, halb zehn. Ich werde unfreundlich. Halb zehn ist mir zu spät. Sage ihm, daß ich mich auf neun noch einlassen würde, aber halb zehn sei mir zu spät. Wir einigen uns darauf, daß Arne versucht, so schnell wie möglich hier zu sein. Dann frage ich ihn noch, ob er was dagegen hat, wenn Sabine an der Diskussion auch noch teilnimmt. «Nö!» da hat er nichts gegen. Ich rufe Sabine an. Sie ist nicht da. Schade. Aber nicht so wichtig. Wichtig ist mir im Moment, daß ich in Arnes Gegenwart die Telefonnummer aus dem Kopf wußte. Daß Arne mitkriegt, daß sich zwischen Sabine und mir was abspielt. Und er weiß nicht genau was. Ich möchte zu gerne wissen, was sich in seinem Kopf abspielt, wenn er sagt, das mache ihm nichts aus. Sich demonstrativ so verhält, daß alle Welt mitkriegen muß: Arne ist durch nichts zu verunsichern.

Uschi und Jan wollten mich sowieso mit dem Auto mitnehmen und mich unterwegs absetzen. Jetzt nehmen wir Arne auch noch mit. Im Auto unterhalten wir vier uns über irgendwelche belanglosen, lustigen Dinge. Ich bestehe darauf, daß ich zuerst zu meinem Termin gefahren werde, weil ich es wichtiger finde, daß ich noch rechtzeitig komme, als daß Arne auf seinem Scheißplenum erscheint.

Am Freitagvormittag sagt Jan irgendwann beiläufig zu mir: «Du hast ihn geknackt.» Habe ich ihn wirklich geknackt? Wie meint Jan das? — Am Abend sitze ich mit Jan und Uschi beim Abendbrot. Meinen Brief an Arne in der Hand. Eigentlich bin ich viel zu faul, noch was vorzudiskutieren. Arne wollte neun, halb zehn kommen, und es ist schon acht Uhr. Ich will mich vorher noch ’ne halbe Stunde hinlegen.

Jan und Uschi bohren in mir rum. Ich will nicht. Ich bin müde. Na gut. Bis halb neun. Dann hab ich noch ’ne halbe Stunde, wenn Arne um neun kommt. Aber ich weiß gar nicht, was ich diskutieren soll. In meinem Kopf ist alles durcheinander und verschwommen. Ich kriege keine klaren Gedanken zusammen. Irgendwie sage ich dann, ich würde Arne zurückweisen, wenn er was von mir wollte. Uschi sagt, sie sieht nicht, daß er meinetwegen kommt. Er kommt nur seinetwegen. Jan meint auch: «Er will kein Schwein sein. Das hat ihn getroffen. Er ist hergekommen für sich selber. Und das Wichtigste ist für ihn schon gelaufen. Er ist nicht abgewiesen worden. — Er will nicht, daß wir denken, er sei ein Schwein.» Und dann meint Uschi noch, daß sie gehofft hätte, daß ich weiter sein würde. Aber ich bin’s nun mal nicht. Ich habe schon wieder die Illusion im Kopf, daß der Scheißkerl doch was von mir will. (Du hast ihn geknackt.) Wenn auch nur, damit ich ihn diesmal abweisen könnte. Um ihm endlich mal zu zeigen, wie das ist.

Aber ist ja egal. — Tatsache ist, daß ich mir wieder Hoffnungen gemacht habe, daß Arne nun endlich doch was von mir will. Und es ist nicht das erste Mal so, daß ich denke: So! Jetzt bin ich mit dem Scheißkerl endgültig fertig. Siehe Umzug: Da hab ich auch fast eine Woche lang gedacht, jetzt sei ich drüber weg. Jetzt könne er mir gestohlen bleiben, weil er mich zum drittenmal hat sitzenlassen. — Und dann meldet dieser Scheißkerl sich immer so lange nicht, bis das Bedürfnis, ihn zu sehen, meine Wut auf ihn doch wieder besiegt hat. — Daß ich doch wieder umgekippt bin, wenn das Telefon endlich klingelt. Und nun muß ich vor Uschi und Jan und mir selber zugeben, daß er es auch diesmal wieder geschafft hat.

Und es ist so wahnsinnig anstrengend, darüber überhaupt nachzudenken. Ich will ins Bett. Es ist auch schon halb neun. Ich will mich endlich hinlegen. Ich habe keine Kraft, mir noch irgendwelche vorbereitenden Gedanken für dieses Gespräch zu machen. Kann bestimmt nicht die einleitenden Worte übernehmen. Ich will nichts sagen, woraus Arne entnehmen könnte, daß ich doch noch Sympathien für ihn hege. Ich will den Eindruck aufrechterhalten, daß ich ihn für ein Schwein halte. Für ein absolutes Schwein. Ich will ihm keinen kleinen Finger reichen heute abend. Deshalb will ich das Gespräch auch nicht anfangen. Bitte Jan und Uschi, das für mich zu tun. Die wollen es auch nicht. Sagen, daß ich schon mit ihm reden muß. Daß ich irgendwie aktiv in die Diskussion reingehen muß. Daß sie mich nur unterstützen können.

Plötzlich klingelt es. Arne steht vor der Tür. Es ist neun Uhr. Nichts mehr mit hinlegen. Nicht einmal eine halbe Stunde Zeit, um noch einmal Abstand zu gewinnen. Noch einmal aufzuatmen.

Wie das Gespräch nun wirklich angefangen hat, kann ich nicht mehr sagen. Als ich ihn frage, was er denn nun meint, meint er erst mal gar nichts. «Ich hab dir doch ’n Brief geschreiben.»

Ja, aber da könne er nicht viel mit anfangen. Ich soll ihm das noch mal erklären. Ich fand meinen Brief eigentlich sehr klar. Sehr schlüssig. Ich weiß nicht, weshalb er da nichts mit anfangen kann. Wir fangen also noch mal bei dem Beispiel mit der Vergewaltigung an. Arne sagt, daß er es damals so gemeint hätte, daß ich es nicht zu erzählen brauche, wenn es mir schwerfällt. Und daß er mit einer Frau, natürlich der Anke, darüber geredet hat und die ihm auch gesagt hätte, es sei klar, daß es bei mir so angekommen ist, wie es angekommen ist. Und auf Jans Nachfragen hin kommt dann auch, daß er eben selber Schwierigkeiten hat, sich so was anzuhören, wenn ’ne Frau ihm erzählt, wie sie vergewaltigt worden ist. Und dann bringt er seine Heimerziehung ins Spiel. Daß er praktisch achtzehn Jahre lang vergewaltigt worden ist, und...

Den Rest kriege ich nicht so recht mit. Ich hake nach. «Wolltest du damit sagen, daß du auch achtzehn Jahre lang vergewaltigt worden bist und das ist genauso schlimm. Oder wie?»

Nee. Da hab ich ihn Gott sei Dank falsch verstanden. So hat er es nun doch nicht gemeint. Er meinte, daß es für ihn darauf ankommt, wie jemand diese Erfahrungen verarbeitet hat, da heute mit umgeht. Er findet es unwichtig, in den konkreten Ereignissen der Vergangenheit rumzustochern. Deshalb erzählt er seine Sachen auch nicht.

Okay. Die Entscheidung kann er ja für sich getroffen haben. Deshalb kann er nicht von anderen verlangen, da genauso ranzugehen. Und wenn er merkt, daß ich sehr wohl das Bedürfnis habe, mit ihm über meine ganz konkreten Erfahrungen zu sprechen, ihm zu erzählen, wie ich vergewaltigt worden bin, dann muß er das akzeptieren. Dann kann er nicht sagen: «Ich habe mich aber dafür entschieden, nur noch über die Verarbeitung zu sprechen, nicht über die Sache selber.» Und außerdem hätte er dann auch mal das sagen müssen, was er im Kopf hatte. Und nicht: «Das interessiert mich jetzt eigentlich weniger.» Und er hat ja auch nicht nachgefragt, was diese Erfahrung denn heute für mich bedeutet. Auch wenn er das gestern steif und fest behauptet hat. Obwohl ich ihm gesagt habe: «Das stimmt nicht. Wir haben da nie drüber geredet.» Er ist dann «ärgerlich» geworden und meint immer noch, wir hätten darüber geredet. — Ich bin auch doof. Ich hätte ihn doch einfach fragen können: Ja? Und was haben wir da diskutiert? Was ist aus der Diskussion rausgekommen? Was weißt du darüber, wie ich es verarbeitet habe? Dann wäre er nämlich fein still gewesen und hätte selber gemerkt, daß er darüber nichts weiß, weil wir uns darüber nicht unterhalten haben. Aber dazu war frau mal wieder zu blöd, um im richtigen Moment auf diese Frage zu kommen.

Arne hört sich das alles an, was wir ihm sagen. Ab und zu fallen seine beiden Standardsätze: «Das seh ich anders.» Manchmal in der Variation: «Das seh ich etwas anders» und «ich hör mir das erst mal an». Arne hört sich immer erst mal an. Und überdenkt dann. Bei jeder Diskussion. Ich erinnere mich an keine Diskussion über persönliche, ihn betreffende Themen, wo Arne nicht die Rolle des «ich hör mir das erst mal an» eingenommen hätte. Nur in politischen Diskussionen. Da hört Arne nicht erst mal an. Da legt er los und hört sich leider viel zuwenig an. — Aber heute hört Arne sich erst mal an. Ab und zu bringt er dann auch ein paar längere Monologe. Wie er das sieht. Er sieht das etwas anders.

Er fängt nicht immer sofort an, von sich zu «quatschen». Dazu braucht er auch Vertrauen. Er guckt sich erst mal an, was jemand so macht. Und vor allem, was jemand politisch so macht. Das ist für ihn sehr wichtig, sehr wichtig. Wenn er so sieht, was jemand politisch so macht, dann kann er auch so schrittweise... so nach und nach... dann fängt er an, sich zu öffnen. Aber das Politische, das ist sehr wichtig für ihn. Sehr wichtig. Und so schrittweise, von beiden Seiten... Vertrauen entwickeln, sich lange kennen. Aber nicht gleich sofort anfangen, über so persönliche Sachen zu «quatschen». Dazu braucht er Vertrauen. Und muß jemanden in der politischen Arbeit kennenlernen. Er guckt sich erst mal an, was jemand so macht.

Irgendwie ist das Gespräch dann kurz unterbrochen. Ich versuche, den roten Faden wiederaufzunehmen. «Was hatten wir eben grad am Wickel?»

«Arne hat uns gerade seine Theorie ausgebreitet, Vertrauen zu entwickeln durch schrittweises Nicht-Öffnen», meint Jan.

Alle müssen lachen. Auch Arne. Der so selten richtig lacht. So selten, daß ich die wenigen Male, wo ich ihn richtig habe lachen sehen, in ganz deutlicher Erinnerung behalten habe. Arne lacht so, daß man seine Zahnlücke sieht, die eigentlich ganz schön weit hinten ist. So daß man sie immer nur sieht, wenn er mal ganz doll lacht. So wie jetzt. Ich freue mich immer, wenn ich Arne so lachen sehe. Aber diesmal freue ich mich nicht nur darüber, daß er lacht. Sondern auch darüber, daß er mit uns lachen kann.

«Arne hat uns gerade seine Theorie ausgebreitet, Vertrauen zu entwickeln durch schrittweises Nicht-Öffnen.» Eine Bemerkung, die Arnes ganze breit ausgewalzte Darlegung so treffend ad absurdum führt. So treffend, daß selbst Arne darüber lachen muß. Wir sagen ihm noch, daß wir das etwas anders sehen. Vor allem, daß ich mich ihm ja geöffnet habe. Daß ich ja Vertrauen zu ihm hatte. Daß es ja gar nicht darum ging, daß er was von sich erzählen sollte in dem Moment. Arne hört sich das erst mal an. Und dann reitet er wieder darauf herum, daß er gegen so ’n Aufrechnen ist. Daß ihn an mir stört, daß ich auch was von der Gegenseite «verlange», wenn ich mich öffne. Daß ich ihm schon ein paarmal gesagt habe, daß ich mich nicht mehr öffnen kann, wenn ich ein paarmal was von mir rauslasse und nie was zurückkommt. Das findet er nicht gut.

Mit anderen Worten: Arne verlangt einen Vertrauensvorschuß. Den hab ich ihm nun aber reichlich gegeben. Wenn ich bedenke, was ich ihm alles von mir offenbart habe und wie wenig er mich an sich rangelassen hat! Und dann geht wieder die Platte mit dem politischen Vertrauen los. Wir schaffen es sogar, ihn davon zu überzeugen, daß das auch bei ihm nicht immer so einfach läuft. Daß auch er nicht immer nur da menschliche Beziehungen entwickelt, wo er jemand in der politischen Arbeit kennenlernt. Dem stimmt er auch zu. Aber trotzdem meint er, daß seine Theorie weitgehend richtig ist. Muß ich mich erst mal in meiner politischen Arbeit «bewähren», damit Arne ein rein menschliches Vertrauen zu mir gewinnt? Ich fange an, ziemlich wütend loszuholzen. Wo denn die Leute seien, zu denen er ein Vertrauensverhältnis hat. Ich würde keine kennen. Aus seiner BI höre ich auch immer nur, daß die Leute an ihm kritisieren, daß er sich nicht öffnet.

Nee, in Hamburg hätte er auch nicht solche Beziehungen. Aber in Dortmund. Ich glaub ihm kein Wort. Mit Dortmund kann er natürlich ankommen. Das kann ich nicht nachprüfen. Aber von Sabine hat er mir auch mal erzählt, daß er eine viel größere Vertrautheit zu ihr empfindet als zu mir. Und als ich dann mal bei Sabine selber nachgefragt habe, da hörte sich das auch etwas anders an. «Die in Dortmund wundern sich, daß da nach so langer Zeit immer wieder derselbe ankommt. Nicht kleinzukriegen!» klingt mir Arnes Satz von neulich im Ohr. Also kennen die Leute in Dortmund ihn auch in erster Linie als den ungebrochenen Politmacker. Immer wieder derselbe. Keinen persönlichen Schwankungen unterlegen. Und das sollen die Leute sein, denen er sich öffnet! Na ja.

Aber an Arne ist nicht ranzukommen in dem Punkt. Er hat sein abgeschlossenes Weltbild über sich selber. Und die Grundfeste hat er in Dortmund gelegt, wo keiner aus unserer Runde was zu sagen kann. Jan kommt irgendwie darauf zu sprechen, daß er Uschi auch in erster Linie als Mensch kennengelernt hat und nicht geguckt hat: Jetzt muß ich mir erst mal ihre politische Arbeit angucken, bevor ich Vertrauen zu ihr entwickeln kann. Uschi und ich lachen. Und daß Uschi für ihn die wichtigste Vertrauensperson geworden ist, ohne daß er sie nach ihrer politischen Arbeit «beurteilt» hat.

«Das wäre bei mir auch so. In so einer Beziehung», ist Arne ganz schnell dabei. Wenn er eine Beziehung zu einer Frau hätte... daß wäre für ihn auch so. Da würde er sich öffnen...

«Das ist ja gelogen», fahre ich ihm dazwischen. «Bei Sabine hast du das ja auch nicht gemacht. Und da hast du ja nun lange genug Zeit gehabt. Das ist ja einfach gelogen.» Ich bin wütend. Er soll seine Widersprüche endlich mal einsehen. Wieso bleiben Uschi und Jan denn so ruhig? Und halten mich sogar noch zurück, wenn ich auf ihn losgehen will! Ich bin wütend. Sauwütend. Der Kerl widerspricht sich am laufenden Band, und man kann ihn noch nicht mal auf seine Widersprüche festnageln. Weil er dann immer nur noch dasitzt und sich das «erst mal anhört».

Auf meine Frage: «Was hast du eigentlich gedacht, als ich dich angespuckt habe?» kommt: «Nichts. Nichts hab ich mir dabei gedacht. Was soll ich mir dabei gedacht haben?» Und auf das vollgesprühte Fenster hin hat er sich auch nichts gedacht. «So was laß ich auflaufen. Einfach auflaufen.» Es ist ja auch das Normalste von der Welt, wenn einen eine Frau anspuckt und «Frauenfeind» aufs Fenster sprüht. Was soll mann sich da schon denken?

Und dann sagt Arne plötzlich, daß es ihm jetzt genug sei. Daß er die Diskussion abbrechen möchte. Sonst werde es ihm zuviel auf einmal. Das könne er dann nicht verarbeiten. Wir machen also Schluß. Was sollen wir auch anderes machen? Gehen zum gemütlichen Teil des Abends über. Holen Wein und Gläser. Jan hat Whisky. Das ist natürlich was für Arne. Reden über Horst Mahler. Ich sage, daß es irgendwie nicht in meinen Kopf rein will, wie Leute, die mal ernsthaft auf unserer Seite gestanden haben, so umkippen können. Ich verstehe es wirklich nicht. Arne sagt, daß er von sich auch nicht sicher sagen kann, daß er nicht umkippen würde. Daß keiner von uns gegen eine Gehirnwäsche ganz sicher gefeit ist.

Er hat recht. Ich war noch nie im Knast. Habe nicht in Isolationshaft gesessen. Ich habe gut reden. Aber daß ausgerechnet Arne sagt, er könne keine Garantie dafür geben, sich nicht umdrehen zu lassen... damit habe ich nicht gerechnet. Wenn selbst der starke, selbstsichere Politmacker Arne so was sagt... wahrscheinlich habe ich wirklich keinen Begriff davon, was Isolationsfolter heißt. Ich kann mir zwar anhören, was die Gefangenen selber darüber sagen. Es kommt auch wirklich irgendwo in meinem Kopf an. Aber — kann mann/frau sich das vorstellen, was das wirklich heißt, wenn sie’s nicht am eigenen Leibe erfahren hat?

Plötzlich merke ich, daß Arne bewirkt hat, daß in meinem Kopf etwas zu rotieren anfängt. Dabei habe ich doch immer gesagt, daß mir die politischen Diskussionen mit ihm nichts gebracht hätten. Nichts. Und Arne hat gesagt, er sei dagegen, immer alles so einseitig und absolut zu sehen. Er sieht das anders.

Aber es ist doch wirklich so, daß er meistens an meinen Argumenten vorbei «diskutiert» hat. Das ist doch so! Und nun stelle ich plötzlich fest, daß Arne eben was gesagt hat, was mir bei meinen akuten politischen Fragen weiterhilft. Ich will da Grund reinkriegen. Klarheit darüber gewinnen, warum frau manchmal mit ihm diskutieren kann und manchmal nicht.

Irgendwo quer in meinem Gehirn hängt die Anti-Strauß-Debatte. Sperrig und unhandlich.

Als Arne mitkriegt, daß es schon nach zwölf ist, springt er plötzlich auf. Die letzte Bahn ist schon weg. Ich stehe mit ihm auf dem Flur, und wir gucken zusammen in den Fahrplan. Kopf an Kopf. Als ich mich mit meinem Kopf fast in seinen Haaren wiederfinde, weiche ich zurück. Ich will das doch nicht mehr!

Der Nachtbus fährt auch erst in einer Stunde. Scheiße. Was soll ich denn jetzt noch so lange mit ihm anfangen? Jan und Uschi schlagen vor, er könne doch im Hochbett schlafen. Er nimmt das Angebot an. Daß ihm mein Bett nicht mehr zu Verfügung steht, ist von allen Seiten eine unausgesprochene klare Sache. Wieso eigentlich?

Es dauert noch eine Weile, bis wir alle mit Zähneputzen und ähnlichem fertig sind. Ich lasse meine Zimmertür noch offen, als ich schon im Schlafanzug zwischen Bett und Schreibtisch rumturne. Kann mich nicht entschließen, ins Bett zu gehen. Kann mich nicht entschließen, Arne reinzurufen. Obwohl ich jetzt gerne noch ein paar belanglose Worte mit ihm wechseln würde. Arne traut sich von alleine auch nicht. Steht mit seinem Whiskyglas auf dem Flur rum. Dabei hab ich die Tür doch extra aufgelassen, damit er noch mal ganz zufällig reinguckt! Ich finde noch ein paarmal Gründe, mein Zimmer zu verlassen. Gehe über den Flur. An Arne vorbei. Er hat die totale Fahne. Ich hab das gar nicht mitgekriegt. Der muß mehr als ein Glas getrunken haben. Ich hab das vorhin gar nicht gemerkt.

Ich lege mich mit dem AK ins Bett. Irgendwie auch doof. Der merkt bestimmt, daß ich die Tür nur seinetwegen noch auflasse. Irgendwann ist Arne dann nicht mehr auf dem Flur. Ob er schon im Bett ist? In Jans Zimmer ist noch Ficht. Eigentlich möchte ich ihm noch gute Nacht sagen. Die Zimmertür ist angelehnt. Ich gehe nicht rein. Soll der bloß nicht denken, ich will noch was von ihm!

Am Morgen warte ich auf die Geräusche, die mir anzeigen, daß Arne sich Frühstück macht. — Sie kommen nicht. Er wollte so um acht aufstehen, weil er um zehn in Altona sein muß. Ich habe auch gesagt, daß ich um die Zeit normalerweise aufstehe. Ich bleibe liegen. Fühle mich unendlich müde. Will ausschlafen. Wenn ich jetzt aufstehe... müßte ich mit Arne reden... mit ihm frühstücken. Ich will nicht. Will nicht mit ihm am Frühstückstisch sitzen. Will nicht dieses Tauziehen durchmachen, ob ich ihn zum Abschied umarme oder nicht. Ich will nicht, daß irgendeine kleine liebe Geste von ihm mich wieder zum Umkippen bringt. Er soll denken, daß ich ihn so doof finde, daß ich nichts mehr mit ihm zu tun haben will. So! Deshalb bleibe ich liegen.

So gegen halb zehn höre ich Geräusche. Ganz kurz nur. Die Wohnungstür klappt. Arne ist weg. Hat nicht gefrühstückt. Ist nur aus dem Zimmer gekommen, hat sich auf dem Flur wohl seine Schuhe angezogen und weg war er. Keiner von uns hat ihm gute Nacht gesagt gestern. Er hat uns auch nicht gute Nacht gesagt. Und nun ist er weg. Ohne ein Wort des Abschieds. Irgendwie ist das ganz schön komisch alles.

Aber ich habe ihm gezeigt, daß ich nichts mehr mit ihm zu tun haben will. Das ist gut. Jetzt habe ich endlich Ruhe. Bin mit ihm fertig. Schreibe jetzt mein Buch, um die Sache endgültig für mich abzuschließen. Ob er sich noch mal meldet? Will ich, daß er sich noch mal meldet? Wenn mein Buch fertig ist, werd ich’s ihm schicken. Oder vorbeibringen. Und dann wird er Augen machen. Wenn er endlich noch mal im Zusammenhang liest, was er alles gemacht hat.

Am nächsten Tag meint Uschi: «Die Sache mit dem Bruder war auch komisch. Ich wollt nur nicht zuviel auf einmal anschneiden.»

Wieso? Mit dem Bruder? — Ach ja. Arne hatte erzählt, daß er letztes Wochenende seinen Bruder besucht hat. Und daß er ihn lange nicht gesehen hatte. «Und dann wird man natürlich gleich zum Saufen eingeladen.» Und als er Sonntag abend wieder nach Hamburg kam und in der Kneipe war, da hat auch dauernd einer einen ausgegeben. Und so ist er das Wochenende aus dem Saufen nicht rausgekommen.

Uschi sagt: «Wenn ich jemanden lange nicht gesehen hab, dann besauf ich mich doch nicht mit dem. Dann will ich doch was von dem haben!»

Ja, da hat sie recht. Das war mir gar nicht aufgefallen. Arne besucht jemanden, den er lange nicht gesehen hat, und dann wird er «natürlich» zum Saufen eingeladen.

Ich trete ein. Der alte Mann setzt Teewasser auf. Ich setze mich auf einen Stuhl. Stütze meine Ellbogen auf den Tisch. Zwischen vertrocknete Käseecken und harte Brotknüste. Eine halb volle Whiskyflasche und ein paar schmutzige Gläser mit angetrockneten Whiskyresten. Der alte Mann tut das Teesieb in die Kanne, schüttet Teeblätter hinein. Mit ganz selbstverständlichen Handgriffen macht er das. Als wenn er sein ganzes Leben nichts anderes getan hat. Gießt das kochende Wasser über den Tee. Stellt mir eine Tasse hin und bringt die dampfende Teekanne an den Tisch. Eine Fahne von Schnaps und Schweiß, als er mir näher kommt. Ich mag gar keinen Tee im Moment. Will mich nur an der Tasse festhalten können. Die Wärme der Teetasse in meinen kalten Fingern spüren. Ich nehme keinen Zucker. Keine Milch.

Der alte Mann setzt sich mir gegenüber an den Tisch. Schlürft aus seiner Tasse. Seine ehemals starken Hände zittern nur unmerklich. Ich sehe in sein Gesicht. Tief eingefallene Wangen. Welke Haut. Einige Tage alte Bartstoppeln. Unter dem Tisch hat er seine Füße in meine Richtung ausgestreckt. Ich rieche seinen Fußschweiß. Als er die Teetasse zum Mund führt, sehe ich die schwarzen Ränder unter seinen Fingernägeln. Seine leicht angegrauten Haare, die strähnig und fettig auf den Hemdkragen fallen.

Ich höre kaum, was er mir erzählt. Es sagt ja auch so gar nichts, was er mir erzählt. Ihn anzusehen, sagt so viel mehr. Ich sehe einen alten Mann mit etwas grauen Haaren, unrasiert und ungewaschen, rieche, daß er nach Säufer riecht. Höre, daß er mir irgend etwas erzählen will, das den Eindruck macht, als sei alles in Ordnung. Sehe die halb volle Whiskyflasche.

Ich lasse meine Teetasse los. Bedecke mein Gesicht mit meinen Händen und weine. Arne, sag, daß du es nicht bist. Du bist es nicht, nein. Ich muß lange weinen. Schluchze laut. Warum konnte ich dir nicht helfen, als wir beide jünger waren? Warum mußt du mit vierzig Jahren so ein armer alter Mann sein? Ich weine. Weine lange.

Ob er versteht, warum ich weinen muß, wenn ich ihn ansehe? Auch wenn er es nicht versteht. Er wird etwas spüren. Spüren, daß ich mit meinem Leben etwas anfangen konnte. Daß ich trotz aller Schwierigkeiten vielleicht doch so etwas wie ein Mensch unter Menschen geworden bin. Und daß er allein ist. Entsetzlich allein. Er tut mir leid. Entsetzlich leid. Es tut mir so weh. So weh.

Aber auch dadurch, daß ich mit ihm leide, wird sein Leid nicht geringer. Wenn ich ihm doch durch meinen Schmerz nur etwas, nur etwas abnehmen könnte. Aber irgendwann werde ich diesen Raum verlassen und ihn wieder allein lassen. Allein. Allein. Arne. Sag, daß du es nicht bist!

Langsam senke ich die Hände vor meinem Gesicht. Nehme ihn durch das Meer in meinen Augen wieder verschwommen wahr. Den alten Mann. Den alten Mann, dessen eisgraue Konturen sich vor der fleckigen Wand hinter ihm unwirklich und gespenstisch abheben. Auf dem Herd hinter ihm dampft immer noch Wasser im Kessel. Die Luft über seinem Kopf flimmert von dem aufsteigenden Wasserdampf. Die einzige Bewegung im Raum.

Ist das mein Märchenprinz gewesen? Mein Märchenprinz, der einst mit seiner jugendlichen Schönheit auf grüner Au mein Herz erflammen ließ? Arne. Sag, daß du es nicht bist.

Aber dann sehe ich in seine Augen und erschrecke. Er ist es. Ich sehe in seine Augen und bekomme Angst. Schreckliche Angst. Seine Augen, in denen ich ganz entfernt noch die Schönheit vergangener Tage erkenne. Angst. Angst. Angst. Weil ich nicht weiß, ob ich wirklich nur die Augen sehe, denen ich jetzt gegenübersitze. Aus denen der Teufel immer noch nicht ganz gewichen ist, obwohl sie kraftloser geworden sind. Angst, weil ich nicht weiß, ob in meinem Kopf vielleicht alles durcheinandergeht. Die leuchtenden Augen des Märchenprinzen sich dazwischenschieben, so daß ich den Mann mir gegenüber gar nicht mehr erkennen kann. Die Augen, deren Lachen mich auf unserem ersten Spaziergang schon verwirrt haben. Diese Augen, deren ernster Blick mich dann auf der Wiese so durcheinandergebracht haben, daß ich meine Augen schließen mußte. Die Augen, die so schön waren, als sie mich ansahen, während wir miteinander geschlafen haben. Diese braunen Augen, die mich immer wieder anstrahlten, bei jeder Umarmung. Diese Augen, die dann später, als sie mich nicht mehr liebten, unter den schwarzen Augenbrauen so teuflisch blitzen konnten. Die Augenbrauen, aus denen auch die Farbe und Kraft allmählich weicht.

Wovon hat er mir eigentlich erzählt vorhin? Als ich nicht zugehört habe. — Doch, ja. Ich habe die Sätze gehört vorhin. Sie sind nur nicht bis zu mir durchgedrungen. Aber jetzt. Jetzt kann ich sie wieder zurückholen. Habe sie wieder im Ohr und kann ihre Bedeutung erfassen.

Als meine ersten Blicke hier durch die Küche schweiften und an der Fensterbank hängenblieben. Er anfing, von seinen Blumen zu reden. Seine Fensterbank voller Grünzeug.

Arne. Ich bin doch nicht gekommen, um mit dir über deine Blumen zu reden. Ich wollte fragen, wie’s dir so geht. Was aus dir geworden ist. Was du so machst. Aber ich brauche nicht zu fragen. Ich sehe es. Ich sehe Arne. Er ist vierzig. Ein alter, abgetakelter Säufer. Abgewrackt, die Furchen auf seinen Wangen noch tiefer, unrasiert und dreckig. Er stinkt nicht mehr nur ungewaschen, sondern auch nach Schnaps. Säuferfahne, nicht nur aus dem Mund. Ich ekle mich vor ihm und mag ihn doch noch, er tut mir leid. Ich möchte ihn in den Arm nehmen, diesen alten Mann. Ihm ein bißchen Wärme geben. Er ist so allein.

Ach ja. Und daß es lustig war gestern abend, hat er mir erzählt. Vorhin. Als die Blumen auf der Fensterbank nicht mehr ausreichten, dieses entsetzliche Schweigen zu füllen, das laut schreiend den Raum zwischen unseren Gesichtern ausfüllte. Daß es lustig war in der Kneipe. Und daß er von einem Freund zum Saufen eingeladen war. Und daß dann noch andere Leute kamen, die er lange nicht gesehen hatte. Und daß sie bis nachts um drei gesoffen hätten. Und ein paar prominente Größen aus der linken Szene waren auch dabei. Es war sehr schön. Sehr schön. Und diskutiert hat er mit dem und dem. Und der eine hatte ’n schwarzen Stern an seiner knallroten Mütze. Das sah vielleicht toll aus. Und lustig war’s. Und gesoffen haben sie. Und so viele Leute waren’s, die da bis nachts um drei Uhr zusammengesessen haben.

Er ist so allein. Ich sehe ihn an. So viele Leute. Bis drei Uhr nachts. Und er ist so allein. So allein.

Ich muß weinen. Ich kann doch nichts dafür. Bin nicht schuld an diesem Elend.

Als mein Schluchzen verebbt und ich ihn wieder ansehe, seine Augen sehe und erschrecke, bin ich gelähmt. Unfähig, meine Hand zu ihm auszustrecken. Sehe ihn nur an. Unfähig, zu ihm zu gelangen. Sein Blick sagt mir, daß er nicht versteht, was in mir vorgeht. Nur ahnt, welche Trauer mich erschüttert. Daß es mit ihm zu tun hat. Langsam, ganz langsam strecke ich ihm meine Hand entgegen. Lege meine geöffnete Hand auf den Tisch. Sehe in seine Augen. «Komm, Arne. Gib mir deine Hand.»

Ich spüre seine große, sehnige Hand in meiner. Erst sachte tastend, abwartend, bevor wir beide wagen, den Druck unserer Hände zu verstärken. Unsere Hände, die sich schließlich ineinanderklammern. Fest. Ganz fest. Was geschieht mit uns, Arne? Was geschieht mit uns? Unsere Körper, die nur durch unsere Hände miteinander in Verbindung stehen. Unsere Blicke, fest ineinander verschweißt. Wie unsere Hände. Was geschieht hier? Fühlen wir uns wirklich? Fühlst du, was meine Hand deiner Hand sagt? Siehst du, was meine Augen deinen Augen sagen? Fühle ich wirklich, was in dir vorgeht? Verstehen wir beide etwas von dem wirklichen Menschen, der uns gegenübersitzt?

Ich halte deine Hand fest. Fest, ganz fest. Und sehe dir in die Augen. Und muß wieder weinen. Weinen. Weinen.

Da war auch mal was mit Frauen zwischendurch. Ja. Mit einer hat es sogar drei Jahre gedauert. Drei Jahre. Und er versteht sich heute noch sehr gut mit ihr. Sehr gut. Aber es gab eben Schwierigkeiten. Und... da hat sie sich von ihm getrennt. Aber sie verstehen sich heute noch sehr gut. Sehr gut.

Ich kann sie nicht durchbrechen, diese Mauer aus: «Es geht mir gut. Sehr gut. Es ist alles in Ordnung.»

Noch einmal meine Zähne in die Mauern dieser Fassade schlagen? Vielleicht eine brüchige Stelle finden. Morsches Mauerwerk. Es müssen doch Steine lose sein! Ein Loch nagen. Ein Loch nagen, um an das Innere zu gelangen!

Aber auch, wenn die Fassade von außen die gleiche zu sein scheint: Die Mauern sind dicker geworden im Laufe der Jahre. Er hat innen weitergebaut. Einen Stein an den anderen. Immer dicker die Mauern. Noch einmal meine Zähne in die Mauern dieser Fassade schlagen? Nach zähem Ringen mit blutigem Kiefer zurückweichen.

Vielleicht ist irgendwo noch die kleine Tür, in die er mich früher mal reingelassen hat. Vielleicht hat er sie nicht zugemauert. Die kleine Tür, die aufgeht, wenn er mit einer Frau zärtlich ist, die er liebt. Wenn er eine Frau streichelt und ihr in die Augen sieht. Wenn er mit ihr schläft.

Diese kleine Tür, die wenige Wochen auch für mich offengestanden hat. Und dann plötzlich zu war. Ich ohne den Schlüssel davorstand. Eine verschlossene Tür, an der nicht einmal eine Türklinke zu finden war. Eine Tür, durch die ich gerne gegangen bin, weil der Weg durch sie schön war. Sehr schön.

Aber auch die einzige Tür, die jemals offen war. Die einzige. Ansonsten Mauern. Graue, hohe Mauern. Undurchdringlich. Unanfechtbar. Schutz und Trutz. Eine uneinnehmbare Burg.

Verdammt. Wenn du doch damals begriffen hättest, daß ich zu so vielem bereit gewesen wäre. Daß ich dir geholfen hätte, diese Mauern abzutragen, die du jetzt noch fester um dich gezogen hast. Diese Mauern, die es dir unmöglich machen, andere Menschen zu dir zu lassen und selber zu anderen zu gelangen. Wenn du das doch damals begriffen hättest. Damals. Als ich dich geliebt habe. Heute empfinde ich nur noch Mitleid mit dir. Mit Mitleid kann ich dein Leben nicht ändern. Du kannst dein Leben auch nicht ändern. Du wirst so weiterleben... leben...?

Meine Hand erschlafft in seiner. Unsere Hände sind kalt geworden. Eiskalt in den Fingerspitzen. Ich bin müde. Entsetzlich müde. Ich will hier raus. Will hier raus. Raus.

Ich will vergessen. Alles vergessen. Diese Küche. Den Teekessel. Die fleckige Wand und den alten Mann. Die halb volle Whiskyflasche. Sein altes Gesicht und seinen Geruch. Und daß ich ihn einmal geliebt habe. Daß er mein Märchenprinz war.

Ich kann hier nicht raus. Es hat keinen Sinn rauszulaufen, weil ich diese Stunde nie vergessen werde. Sie wird mich verfolgen. Wird mir Vorwürfe machen: Warum hast du ihm nicht geholfen?

Ich bin doch nicht schuld. Konnte doch nicht mehr für ihn tun, als mir den Kiefer blutig zu beißen!

Ich bin müde. Entsetzlich müde. Der Tee in meiner Tasse ist kalt. Er wärmt meine Finger nicht mehr. Mir ist übel. Ich kann nicht gehen. Bin hilflos. So hilflos. Ich kann ihn nicht allein lassen. Wenn ich ihm schon nicht zum Leben verhelfen kann, dann eben... Aber es darf ihm nicht weh tun. Muß schnell gehen.

Als ich die Tür hinter mir zuziehe und auf die Straße hinaustrete, schlägt mir ein eisiger Wind ins Gesicht. Es ist dunkel geworden. Schnee liegt auf den Bäumen. Der Frühling wird neues Leben bringen. Ich bin 38. Wenn ich damals ein Kind von ihm bekommen hätte, hätte ich jetzt vielleicht einen vierzehnjährigen Sohn mit schwarzen Flaaren und leuchtenden braunen Augen.

Schon wieder ein Traum von Arne.

Arne, der neben mir im Bett liegt und sich an mich ankuschelt. Und ich, die seine Umarmung erwidert. Irgendwann muß ich aufs Klo. Überlege mir noch, ob ich jetzt gehen soll. Aber man kann ja hinterher weiterschmusen. Ich gehe aufs Klo. Er auch. Ich freue mich darauf, gleich wieder mit ihm im Bett zu liegen. Mein Gesicht in seinem baden zu können. Und in seinen Haaren. Es war so schön warm und kuschelig eben.

Plötzlich Arne angezogen in der Küche. Lauter Leute. Spiegeleier. Jetzt komm ich nicht mehr an ihn ran. Nichts mehr von wegen weiterschmusen. Wäre ich bloß nicht aufs Klo gegangen! Was für ein Quatsch! Wenn Arne wirklich mit mir hätte weiter im Bett liegen wollen, dann hätte er sich nicht angezogen. Dann hätte er die Tatsache, daß Leute da sind, nicht als Anlaß genommen, sich auf diese Art und Weise von mir zu entfernen. Er wollte sich von mir entfernen. Die Aufs-Klo-Geherei war nur der Anlaß.

Aber vielleicht wäre es doch noch weitergegangen, wenn ich ihm nicht so einen Anlaß gegeben hätte. Aber das ist doch letzten Endes egal. Mach dir doch nichts vor. Er wollte nicht mehr. Er wollte nicht mehr. Wollte nicht mehr!

Ich sehe ein Bild in der Zeitung, wo ein Mann eine Frau umarmt, die auf ihm liegt. Ich muß an Arne denken. Wie ich das letzte Mal mit ihm geschlafen habe. Wie ich auf ihm saß und er seine Arme ganz lieb und selbstverständlich um mich schlang. Und sich ganz ruhig in mir bewegte. Ganz langsam. Und dabei seine langen, kräftigen Arme um mich schlang.

Ich habe mich oft gefragt, warum mich diese Umarmung damals so glücklich gemacht hat. Warum eigentlich? Irgend etwas an dieser Geste habe ich als so wahnsinnig zärtlich empfunden. Eine ganz normale Umarmung. Warum hat sich die in meinem Kopf so festgesetzt?

Mir dämmert so ganz allmählich, daß ich das vorher nie so erlebt habe. Ich kann mich nicht erinnern, daß ein Mann mich jemals so umarmt hat, wenn ich mit ihm geschlafen habe. Wie war denn das früher? Wenn ich auf Uli gesessen habe, hat er wohl an meinen Brüsten rumgefummelt. Richtig erinnern kann ich mich nicht mehr. Aber es muß wohl so gewesen sein. Fleischbeschau und Voyeurismus. Und dann wird mir klar, was an Arnes Umarmung so zärtlich war. Er war einfach mit mir zusammen, während er mit mir geschlafen hat. Er brauchte mir nicht an der Brust rumzufummeln oder ich ihm sonstwo. Es war einfach schön, sich nur zu umarmen, wenn man miteinander schläft. An nichts mehr denken. Sich nur umarmen und sich ineinander bewegen.

Ich erinnere mich daran, daß es das einzige Mal war, daß ich nicht im Rausch mit ihm geschlafen habe. Daß ich keinen Orgasmus kriegen konnte. Und daß ich unbedingt wieder einmal mit ihm schlafen wollte. Weil wir so lange nicht mehr miteinander geschlafen hatten und daß ich es lieber hätte bleiben lassen sollen. Mich nicht wohl gefühlt habe hinterher. Onaniert habe, als er draußen war. Daß ich mit ihm schlafen wollte, weil ich ihn geliebt habe. Und wenn er mir schon nicht sagt, daß er mich auch liebt, dann soll er mir wenigstens zeigen, daß er doch Gefühle mir gegenüber hat, indem er mit mir schläft.

Selbstbetrug. Ich wollte eine körperliche Nähe zu ihm, die auf anderer Ebene schon nicht mehr da war. Ich habe es gespürt und konnte deshalb nicht mehr. Ich habe keinen Orgasmus gehabt, weil ich gemerkt habe, daß wir nicht mehr wirklich zusammen sein konnten. Daß wir aneinander vorbeigeschlafen haben. Er hat einen Orgasmus gehabt. Männer können das.

Mir wird klar, daß irgendwas nicht in Ordnung ist. Ich werde traurig. Weiß, daß ich nicht mit ihm hätte schlafen dürfen in dieser Situation. Aber ich wollte doch!

Aber was ich wollte, war doch, seine Liebe zu spüren, wenn ich mit ihm zusammen bin.

Ich habe mit ihm geschlafen. Was bleibt, ist trotz allem eine Erinnerung an seine Umarmung. Seine Umarmung, die trotz allem so zärtlich war, daß ich sie nicht vergessen kann. Daß ein Bild mich an diese Umarmung erinnert. Es war schön. Teufel noch mal. Selbst in dieser Situation war irgend etwas an seiner Zärtlichkeit so schön, daß mir sogar dieses Erlebnis mit ihm als wehmütig schöne Erinnerung hochkommt. Wie er seine Arme um mich schlang und wir uns ineinander bewegten. Seine Arme. Seine langen, kräftigen Arme, mit denen er auch irgend etwas anderes hätte machen können, einfach nur um mich schlang. Vier Monate später. Ich sehe ein Bild, auf dem ein Mann mit nackten Armen eine Frau umarmt, die auf ihm liegt. Ich fühle Arnes Arme um mich. Weich und zärtlich.

In meinem Kopf ist alles durcheinander. Ich träume dauernd von Arne. Ich tagträume dauernd von Arne. Wieso sind andere glücklich verliebt? Wieso haben die einen abgekriegt? Ich kriege bei anderen immer nur mit, daß die nahtlos von einer Beziehung in die nächste schlittern. Ich will auch einen abhaben.

Aber welchen denn? Ich möchte mich wieder verlieben. Versuche mir vorzustellen, wie der wohl aussehen müßte. Was das wohl für einer sein wird, in den ich mich als nächstes verliebe? Ob er wohl blond ist? Oder dunkelhaarig? Ob er wohl groß ist? Oder klein und schmächtig? Ob er wohl ’ne Brille trägt? Oder ’n Bart hat? Ich kann ihn mir nicht vorstellen. In meiner Phantasie ist das absolute Loch, was meinen Traummann anbelangt. Ich kann mir nicht vorstellen, daß da überhaupt noch mal einer ankommt, der mich interessiert. Arne interessiert mich. Aber über den will ich ja grade hinwegkommen. Deshalb will ich mich ja neu verlieben. Warum krieg ich nie einen ab?

«Du kriegst sofort einen», sagt Uschi. «An jeder Straßenecke kriegst du einen. Du kriegst sogar einen, der dich heiratet. An jeder Straßenecke kriegst du ’nen Ehemann. Du mußt nur deine Ansprüche runterschrauben. Du darfst nicht einen verlangen, mit dem du dich über alles auseinandersetzen kannst. Aber wenn du nur ’n Mann haben willst: Den kriegst du sofort.»

Sie hat recht. Ich sehe natürlich immer nur die traute Zweisamkeit. Wenn ich in der U-Bahn so einem händchenhaltenden Liebesglück gegenübersitze, verdränge ich, daß die sich vielleicht abends vorm Fernseher oder in der Disco anschweigen. Früher hatte ich auch andere Ansprüche an eine Beziehung. Konnte meine Zeit mit Männern verbringen, mit denen ich mich nicht offen unterhalten konnte. Zum Ausquatschen war die Freundin da. Früher war die Tatsache, einen Mann zu haben, wichtiger als meine eigenen Interessen. Hatte ich kaum einen anderen Lebensinhalt. Heute geht das nicht mehr. Zu viele Sachen haben eine so wichtige Bedeutung in meinem Leben eingenommen, als daß mich Männer noch interessieren würden, mit denen ich mich darüber nicht auseinandersetzen kann. Und dann passiert es eben so selten, daß frau jemannden kennenlernt, mit dem sie so viele Gemeinsamkeiten hat, daß sie sich in ihn verlieben kann. Da gehört ja schließlich so was wie «die gleiche Wellenlänge» dazu.

Mit sechzehn, siebzehn war es so einfach, alle drei Wochen einen neuen zu finden. Sich dauernd wieder zu verknallen. Da wußte ich noch nicht so genau, was ich wollte. Heute weiß ich das. Heute interessieren mich nur noch Männer, mit denen ich das, was ich will, zusammen verwirklichen kann. Ich will keinen Ehemann. Ich will mein Leben leben. Ich kann nur einen Mann gebrauchen, der meinen Lebensstil teilt. Wenn es den nicht gibt, lebe ich lieber allein.

Aber es gibt doch Leute, die haben solche Beziehungen, wie ich sie mir wünsche. Es gibt also Männer, die meinen Vorstellungen entsprechen. Andere Frauen aus meinem Freundeskreis haben doch auch einen abgekriegt. Ich will ’n Mann. Einen, mit dem ich über alles reden kann. Einen, der sich für die gleichen Sachen interessiert wie ich. Einen, mit dem ich meinen Alltag teilen kann, ohne daß er mich einschränkt.

Was soll das? Warum mache ich mir so viele Gedanken über ungelegte Eier? Es steht absolut kein Mann zur Diskussion. Ich kenne keinen, der diese Kriterien erfüllt. Ich kann mich nicht verlieben. Es liegt überhaupt nicht an, mir darüber stundenlang Gedanken zu machen. Ich muß von dieser Männerfixiertheit runter. Anstatt mir über nicht vorhandene Männer Gedanken zu machen, sollte ich lieber mal andere Beziehungen nicht so schluren lassen. Ich isoliere mich immer mehr. Mein Freundeskreis? Ich habe keinen mehr. Eine Handvoll Leute noch. Alle anderen habe ich vernachlässigt. Seit zwei Jahren ungefähr. Gar nicht mal wegen einer Beziehung, sondern schon vorher. Warum, kann ich eigentlich gar nicht sagen. Es war plötzlich so. Ich bin allein. Fühle mich wahnsinnig einsam.

Und plötzlich liege ich nachts im Bett und fange an zu weinen. Ich, die seit Jahren nicht mehr weinen kann. Nur ganz selten. Mir meistens keine Trauer erlaube. Zu oft die Tränen bewußt heruntergeschluckt habe. Heute brauche ich sie nicht mehr runterzuschlucken. Heute funktioniert meine Verdrängung von alleine. Wenn es mir dreckig geht, presche ich die Problemlösung mit Siebenmeilenstiefeln an. Was hilft mir Selbstmitleid?

dickicht ringsum

zweige

peitschen ins gesicht, treffen

auf offene wunden.

der schmerz

ist schon eins

mit mir.

ein lichtstrahl zwingt

den blick nach oben, wo

verschwommene klarheit

in der weite lauert — vielleicht

ist der himmel

blau —

Nachdem ich ein paarmal die Erfahrung gemacht hatte, daß es aus jeder verfahrenen Problemsituation einen Ausweg gibt, habe ich mich immer dazu angetrieben, ihn möglichst schnell zu finden. Auch wenn ich im Moment der Verzweiflung nur meinte, daß der Himmel «vielleicht» blau ist...

Im Grunde war ich mir immer sicher, daß ich eines Tages wieder blauen Himmel zu sehen kriege. Wozu dann den Schmerz länger als nötig ertragen? Auch wenn ich die Klarheit nur verschwommen erahnt habe... im Grunde war ich zuversichtlich, daß mir nach der Lösung des jeweiligen Konflikts wieder etwas klarer sein wird.

Und aus dieser Zuversicht heraus habe ich mich immer zu stark unter Druck gesetzt, den Schmerz schnell zu überwinden. Ich muß wieder lernen, auch Traurigkeit auszuleben.

Aber das weiß ich schon seit Jahren. Seit vier Jahren weiß ich, daß ich meine Tränen eigentlich nur unterdrücke. Daß sie nicht weg sind. Nur schon runtergeschluckt, bevor ich mir ihrer überhaupt bewußt bin. Was nützt mir die Erkenntnis? Ich möchte weinen, aber ich kann es nicht mehr. Ich habe es verlernt. Nur ganz selten geht es noch. Wie jetzt zum Beispiel. Jetzt liege ich im Bett und weine. Halte nichts mehr zurück. Ich brauche meine Tränen. Was habe ich von der noch so emanzipierten Forderung, daß Männer keine Tränen wert sind, wenn sie mich doch nur kaputtgemacht hat?

Am nächsten Abend erzähle ich das Jan und Uschi. Daß ich nur noch heulen konnte heute nacht und nicht mehr weiß, wie ich mit mir umgehen soll. Zum einen lechze ich nach einer wirklich tollen Liebesbeziehung. Zum anderen fällt mir meine sonstige Isolation auf den Wecker. Ich will soziale Kontakte, aber ich habe keine Lust, welche zu pflegen, weil ich mich doch unzufrieden fühle. Ich sitze da mit Leuten und denke: Ich möchte verliebt sein und jemannden haben. Mit ’ner Zweierbeziehung würd ich mich auch unter Leuten wohler fühlen.

Und dann setze ich mich unter Druck, kontaktfreudiger zu sein. Und jetzt muß ich mir endlich eingestehen, daß ich im Moment kein, fast kein Interesse an Menschen habe. Ich bin unglücklich so alleine, aber ich habe wirklich kein Interesse, auf andere zuzugehen. Ich merke, daß ich mich mit mir selber beschäftigen muß, will. Daß ich ohne zeitliche Zwänge jetzt eine Einsamkeitsphase ausleben muß. Und daß es schön sein kann, sich vorrangig mit sich selber zu beschäftigen. Es ist keine verschenkte Zeit, die frau mit sich selber verbringt. Und dann wird sicher irgendwann von alleine der Punkt kommen, wo ich wieder Interesse an Menschen habe. Wann der kommt ist egal. Wie das aussehen wird auch. In mir gärt und brodelt etwas. Wo es hinführen wird, weiß ich nicht. Ich lasse es brodeln. Es wird schon irgendwann gar sein. Dann werde ich schon sehen, wie es schmeckt.

Mit der Erkenntnis, meine innere Unruhe erst einmal in Ruhe zu lassen, abzuwarten, fühle ich mich wieder stark.

schwarze vögel haben mich verlassen,

wie gut,

daß ich sie fortgeschickt habe.

leiser schon

das schlagen ihrer schwingen.

lichter schon