Mittwoch & Donnerstag
Zwei Tage später kam Hackenholts Kollege Sven Leichtle gegen Mittag in sein Büro und ließ sich zufrieden auf den Besucherstuhl fallen.
»Was habe ich gehört? Du wolltest auf Reis laufen und hast dabei die zulässige Höchstgeschwindigkeit überschritten?« Er grinste gutmütig, um Hackenholt zu zeigen, dass er ihn nur foppen wollte.
»Ja, die Landung war allerdings ein bisschen härter als beabsichtigt.« Hackenholt seufzte. »Aber wenn du einen Krankenbesuch machen willst, kannst du gleich wieder gehen. Ich fühle mich schon wieder großartig.«
»Nein, ganz im Gegenteil, das hier ist ein hochoffizieller Besuch. Ich habe dir doch von den Pillen erzählt, die die Russin dabeihatte?«
Hackenholt nickte. »Auch mein Gedächtnis arbeitet wieder ausgezeichnet«, frotzelte er. »Du weißt ja, leichte Schläge auf den Hinterkopf erhöhen das Denkvermögen, deshalb kommst du mit deinen Neuigkeiten leider zu spät. Ich habe meinen Teil des Falls bis auf ein paar kleine Ungereimtheiten nämlich aufgeklärt.«
Leichtle staunte nicht schlecht über das, was Hackenholt ihm anschließend berichtete. »Aber um noch mal auf die Pillen zurückzukommen«, sagte er, als Hackenholt endlich mit seinen Erklärungen fertig war, »genau solche Pillen sind jetzt in einem Fitnessclub aufgetaucht. Sie haben dieselbe Prägung wie die, die wir bei der Russin gefunden haben. In der kurzen Zeit konnten wir sie noch nicht analysieren, aber ich bin überzeugt, dass es GHB-Pillen sind. Die Männer haben behauptet, sie hätten das Zeug übers Internet bestellt. Einer ihrer Sportkollegen hat sie ihnen empfohlen. Ein gewisser Michael Lochner.« Etwas in Hackenholts Reaktion ließ Leichtle innehalten. »Kennst du den etwa?«
Hackenholt nickte. »Das war Jonas’ Sportlehrer.«
Leichtle pfiff durch die Zähne. »Oh Mann! Jetzt wird mir so einiges klar. Pass auf.« Er schwieg einen Moment, sammelte seine Gedanken, dann erzählte er Hackenholt ausführlich von der gestrigen Razzia in dem Fitnessclub und den anschließenden Verhören der Anwesenden. Zunächst waren sie nur recht widerwillig mit dem Namen des Bekannten herausgerückt, der ihnen die Bezugsquelle empfohlen hatte. Allerdings bestritten alle, je direkt von Lochner Pillen gekauft zu haben. Er habe ihnen erzählt, selbst durch eine Empfehlung auf die entsprechende Internetseite aufmerksam geworden zu sein.
Die Beamten hatten also zunächst nur gewusst, dass der Lieferant irgendwo im World Wide Web zu finden war. Dennoch war es ein Leichtes gewesen, die Domain und die E-Mail-Adresse zuzuordnen, obwohl der Inhaber falsche Angaben gemacht hatte: Alles gehörte Michael Lochner höchstpersönlich. Leichtle hatte Hackenholt ursprünglich nur besuchen wollen, um ihm diesen Sachverhalt und seine daraus resultierende Vermutung mitzuteilen. Da außer der Russin, die immer noch in U-Haft saß, nun noch jemand die Pillen vertrieb, nahm das Ganze eine Größenordnung an, die für die Machenschaften eines einzelnen Schülers zu weitläufig waren. Deswegen war Leichtle zu dem Schluss gekommen, dass Jonas damit wahrscheinlich doch nichts zu tun gehabt hatte. Mit dem Wissen, dass der Junge Michael Lochner gekannt hatte, lagen die Dinge allerdings wieder ganz anders.
»Ich werde mir diesen Lochner jetzt sofort vorknöpfen. Eine Durchsuchungsanordnung habe ich vom Ermittlungsrichter schon eingeholt. Kommst du mit?«
Hackenholt nickte. Ein Punkt, der ihm die letzten zwei Tage erhebliches Kopfzerbrechen bereitet hatte, war Sergejs wiederholt geäußerte Behauptung, Boris und er hätten bei ihrem ersten Besuch schon fertige Pillen bei Jonas gefunden. Eine Schutzbehauptung? Das würde bedeuten, dass nicht sie es gewesen wären, die Jonas ursprünglich auf die Idee mit der Drogenherstellung gebracht hatten. Diese Hypothese passte auch deswegen ins Bild, weil GHB im russischen Raum wesentlich seltener verwendet wurde als andere Drogen wie zum Beispiel Crystal-Meth. Andererseits waren die Ermittler davon überzeugt gewesen, dass die Deutschrussen Jonas die Wahl der Droge überlassen hatten. Hauptsache, er brachte überhaupt etwas zustande, was sie verkaufen konnten. Vielleicht ergab sich ja mit der neuen Spur zu dem Lehrer auch eine ganz neue Lösung.
»Guten Tag, die Herren. Heute mal in Begleitung eines anderen Kollegen?«, begrüßte Lochner Hackenholt gut gelaunt. »Kommen Sie herein, Sie haben wirklich Glück, dass Sie mich erwischen! Eigentlich wollte ich schon längst los, nach Gunzenhausen an die Seenplatte. Hoffentlich brauchen Sie nicht so lange, sonst rentiert es sich für mich nicht mehr, noch loszufahren. Worum geht es denn? Immer noch um Jonas, oder ist er inzwischen wieder aufgetaucht?« Anders als beim ersten Besuch redete der Sportlehrer heute ohne Punkt und Komma.
Hackenholt sah ihn durchdringend an. »Wir haben Jonas letzten Freitag gefunden, Herr Lochner.«
»Na, dann ist ja alles in Ordnung. Schön, dass Sie sich die Mühe machen, mir Bescheid zu geben.« Obwohl er fröhlich grinste, war Hackenholt die Veränderung in Lochners Gesichtsausdruck nicht entgangen.
»Nun, wie Sie sich sicher denken können, sind wir nicht nur deswegen hier. Genau genommen bin ich heute nur aus Neugier mitgekommen.« Hackenholt musterte den Mann scharf. »Eigentlich wollte Sie mein Kollege besuchen.«
Leichtle, der bislang noch nichts gesagt, aber Lochner die ganze Zeit über fasziniert angestarrt hatte, räusperte sich. »Ich bin mir nicht sicher, ob besuchen meine Absicht gut beschreibt, vielleicht wäre heimsuchen treffender, meinst du nicht?«, fragte er Hackenholt, ließ dabei aber den Bodybuilder nicht aus den Augen. »Interessiert es Sie denn gar nicht, was aus Ihrem Schüler geworden ist, Herr Lochner?«
»Doch, doch. Das interessiert mich selbstverständlich. Aber wissen Sie, das Wichtigste ist doch, dass Sie Jonas gefunden haben. Pubertierende Jungs«, er zuckte mit den Schultern, »die hauen doch immer wieder mal ab.«
»Soso.« Leichtle nickte verstehend. »Na, wenn Sie sich so gut mit Jugendlichen auskennen, dann können Sie mir sicher weiterhelfen.« Er machte eine bedeutungsschwere Pause. »Wissen Sie, es ist nämlich so: Ich bin Drogenermittler und frage mich seit geraumer Zeit, warum Jonas Ihnen geholfen hat, GHB-Pillen herzustellen, die Sie übers Internet verkaufen.«
Lochner zuckte zusammen, als hätte ihm jemand eine Ohrfeige verpasst. Sein Blick wanderte hektisch zwischen Hackenholt und Leichtle hin und her. Er machte den Mund auf, leckte sich über die Lippen, holte Luft, als wollte er etwas sagen, überlegte es sich dann aber anders und machte ihn wieder zu. Eine Minute verstrich, in der alle schwiegen, dann hatte sich der Sportlehrer wieder unter Kontrolle. »Das ist doch jetzt ein Witz, oder?« Er stieß ein zu lautes Lachen aus. »Und ich hätte Sie fast ernst genommen.« Noch mal lachte er, bevor er sich aufs Sofa fallen ließ. »Mann, Mann, Mann, Sie haben vielleicht einen Humor!«
»Ja, den haben wir in der Tat, Herr Lochner«, sagte Hackenholt mit gefährlich leiser Stimme. »Aber wenn es um Straftaten geht, hört der ganz plötzlich auf.«
Leichtle öffnete seinen mitgebrachten Aktenkoffer und entnahm ihm mehrere Papiere. »Bitte schön: eine richterliche Durchsuchungsanordnung und ein Haftbefehl.«
Lochners Gesichtsausdruck änderte sich. Mit einem Mal wurde er fahl. »Mit den Drogen habe ich nichts zu tun! Das hat Jonas alles ganz alleine gemacht. Fragen Sie ihn! Er wird Ihnen bestätigen, dass er sich das ausgedacht hat. Erst als alles fertig war und er mit seinen komischen Freunden Probleme bekam, hat er mich gefragt, ob ich ihm helfen kann. Und gutmütig, wie ich bin, habe ich ihm erlaubt, seine Sachen in meinem Keller unterzustellen.« Wieder leckte er sich nervös über die Lippen.
»Tja, wissen Sie, Herr Lochner, da haben wir jetzt ein ziemlich großes Problem.« Leichtle seufzte theatralisch. »Jonas kann bedauerlicherweise nichts mehr dazu sagen, denn die Kollegen haben ihn nur stückweise wiedergefunden. Jedes Einzelteil war hübsch in Plastikfolie verpackt und in Blumenkübel einzementiert.« Die Stimme des Drogenermittlers hatte alle Nuancen von zuckersüß am Anfang bis schneidend kalt am Ende durchlaufen. »Wenn ich es mir recht überlege«, setzte er noch eins obendrauf, »waren die Körperteile in eine ganz ähnliche Folie verpackt wie die, in der Sie auch die Pillen verkaufen. Vielleicht sind Sie ja auch mit den liebenswürdigen jungen Männern befreundet, die den Jungen auf dem Gewissen haben?«
Lochner war noch bleicher geworden. »Was?«, keuchte er. »Damit habe ich nichts zu tun!«
»Tja, Herr Lochner. Solange Sie uns nicht sagen, was Sie getan haben, können wir Ihnen auch nicht glauben, dass Sie an etwas anderem unschuldig sein sollen. Allerdings können wir Ihnen auch ohne Jonas’ Aussage alles nachweisen – Sie haben nämlich ganz deutliche Spuren hinterlassen.« Leichtle machte eine Pause. »Überlegen Sie es sich gut: Sie brauchen nichts zu sagen, wenn Sie sich selbst damit belasten. Aber ein umfassendes Geständnis kann durchaus positive Auswirkungen auf das Strafmaß haben. Natürlich nur, wenn Sie damit zum Erfolg der Ermittlungen beitragen.«
Lochner sah von einem zum anderen. Immer wieder leckte er sich über die Lippen, setzte zum Sprechen an, überlegte es sich im letzten Moment dann aber doch anders.
»Na, Sie haben ja noch ein bisschen Zeit, um darüber nachzudenken«, meinte Leichtle leichthin. Die Beamten ließen Lochner schmoren, während sie auf den angeforderten Drogenhund warteten. Als sie erfuhren, dass der bei einem anderen Einsatz länger gebraucht wurde, änderten sie ihren Plan. Sie forderten weitere Kollegen an und teilten sich auf: Leichtle und ein Beamter brachten Michael Lochner ins Präsidium, während Hackenholt die Durchsuchung leitete.
In der Wohnung gab es viele Orte, die als Versteck genutzt werden konnten, trotzdem hatte Lochner sich keine sonderliche Mühe gegeben. Ein Päckchen mit Pillen fand Hackenholt, als er den Benjamini aus seinem Blumentopf hob und die Erde etwas genauer inspizierte. Ein weiteres Päckchen war im Schlafzimmer in Socken gewickelt, ein drittes kam in der Küche in einer leeren Salzpackung zum Vorschein. Alle enthielten die bekannten Pillen. Hackenholt beschloss, sämtliche Räume später noch einmal vom Spürhund durchsuchen zu lassen, damit sie sicher sein konnten, nichts übersehen zu haben.
Im Auto fanden sie keine Drogen. Einen Dachboden besaß die Wohnung nicht, dafür aber ein Kellerabteil, in dem sie eine große Sporttasche mit Jonas’ vollständiger Kochausrüstung entdeckten. Nachdem Hackenholt einen Blick hineingeworfen hatte, rührte er die Tasche nicht weiter an. Eine genaue Sichtung und die damit verbundene Sicherung der Spuren überließ er Christine Mur.
So kam es, dass der Hauptkommissar einmal mehr wartend in der Wohnung saß. Allerdings brauchte die Leiterin der Spurensicherung nicht halb so lange wie die Kollegen zuvor. Stück für Stück räumte sie die Tasche aus. Zum Vorschein kamen Messzylinder, eine Waage, ph-Papier, mehrere Becher, Tupper-Gefäße mit Deckel, ein Küchenmixer, ein Mörser, eine Schale aus hitzebeständigem Glas, ein Thermometer, eine Herdplatte mit Gasanschluss und noch ein paar weitere Kleinteile. Während Hackenholt die Gerätschaften bestaunte, besah Mur sich einige winzig kleine Flecken auf der Außenseite der Tasche, holte dann die Luminol-Lösung aus ihrem Koffer, vermischte ein wenig davon mit Wasserstoffperoxid und sprühte die zu untersuchende Fläche ein. Plötzlich erschien auf der Tasche eine Unzahl kleiner bläulich schimmernder Tröpfchen. Blutflecken, deren Hämoglobin mit der aufgesprühten Chemikalie reagierte. Sobald Mur die Spuren gesichert hatte, begann sie die Seitenfächer der Sporttasche auszuräumen. Sie traute ihren Augen nicht, als sie daraus einen blauen Müllsack mit Kleidungsstücken zutage förderte, die voll winziger Schimmelflecken waren. Behutsam breitete sie eine helle Sommerhose auf der mitgebrachten Folie aus und untersuchte sie. Sie war völlig verdreckt: Getrockneter Matsch bröselte ab, ein Hosenbein hatte einen langen Riss auf Höhe des Schienbeins, am anderen hingen noch ein paar kleine Kletten. Das kurzärmlige T-Shirt sah nicht viel besser aus. Auch an ihm fanden sich Kletten, viel auffälliger war jedoch, dass es voller dunkelbrauner Flecken war. Wieder kam das Luminol-Gemisch zum Einsatz.
»Oh mein Gott!«, stieß Mur plötzlich völlig außer sich hervor. »Schau dir das an!«
Eine völlig unnötige Aufforderung, denn Hackenholt sah ihr schon die ganze Zeit aufmerksam zu.
»Schau dir das an!«, wiederholte sie noch einmal völlig entgeistert. »Das darf doch wohl nicht wahr sein!«
»Ich finde, jetzt ziehst du aber ein paar vorschnelle Schlüsse!«, protestierte Hackenholt, der glaubte, ihre Befürchtungen erraten zu haben.
Mur schüttelte den Kopf. »Ich würde meine Wohnung darauf verwetten, dass dieses Blut von Heinrich Gruber stammt.«
»Was?« Hackenholt war überrascht. Er hatte etwas anderes erwartet. »Wie kommst du denn da drauf?«
Mur starrte ihn verständnislos an. »Was dachtest du denn?«
Hackenholt winkte ab.
Sie fixierte ihn noch immer mit gerunzelter Stirn. »Sag jetzt nicht, du hast geglaubt, dieser Lehrer hätte bei Jonas’ Tod die Finger mit im Spiel gehabt!«
»Wie kannst du dir so sicher sein, dass das Blut von Heinrich Gruber stammt?«, hielt Hackenholt dagegen.
»Schau dir den Müllsack an, in den die Kleider eingewickelt waren. Natürlich gibt es die Säcke in jedem Supermarkt, aber trotzdem haben wir genau solche in der Laube gefunden. Dann die Kleidung. Sie ist angeschimmelt. Das heißt, sie wurde da hineingestopft, als sie sehr nass war. Nicht nur feucht, sondern nass. Und wann ist Heinrich Gruber umgebracht worden? Als es aus Kübeln geschüttet hat! Schau dir den Dreck und die Kletten an. Genauso habe ich ausgesehen, nachdem ich die Spuren im Wald an seiner Leiche gesichert hatte. Auch die Tatsache, dass der dünne Stoff gerissen ist, passt.«
Hackenholt war für einen Moment sprachlos. Ob Mur wirklich recht hatte, würde erst ein DNA-Test beweisen, aber ihre Argumentationskette klang in seinen Ohren durchaus plausibel.
Plötzlich hatte er es sehr eilig, ins Präsidium zurückzukommen. »Kannst du den Rest nicht in der Dienststelle untersuchen?«, bat er sie daher. »Ich möchte so schnell wie möglich Lochner mit dem Fund konfrontieren.«
Da Hackenholt mit Leichtle hergefahren war, war er darauf angewiesen, dass Mur ihn mit zurücknahm. Nur leidlich begeistert packte sie ihre Sachen zusammen und ließ Hackenholt den Koffer zu ihrem Auto zurückschleppen. Er musste grinsen. Offenbar war das ihre neueste Marotte: Wenn ihr etwas nicht passte, missbrauchte sie die Kollegen als Packesel.
Eine halbe Stunde später betrat Hackenholt das Zimmer, in dem Sven Leichtle den Beschuldigten vernahm. Lochner hatte inzwischen einen Teil der Anschuldigungen eingeräumt. Er behauptete, sich mit Jonas irgendwann einmal über Dopingmittel unterhalten und dabei erwähnt zu haben, dass auch er hin und wieder Präparate zum Muskelaufbau einnahm, diese aber ziemlich teuer seien. Daraufhin habe es sich der Junge in den Kopf gesetzt, ihm imponieren zu wollen. Immer wieder fragte er nach, worauf es bei diesen Mitteln ankam, und ließ Bemerkungen fallen, dass jeder mit ein bisschen chemischem Grundwissen das eine oder andere Präparat zum Muskelaufbau selbst herstellen könne. Lochner gestand, es habe ihn gereizt, zu sehen, ob Jonas dazu wirklich in der Lage war. Eines Abends war der Junge mit einem Tütchen vor seiner Haustür gestanden. Weil der Sportlehrer ihm nicht geglaubt hatte, die Pillen selbst hergestellt zu haben, war er mit in den Schrebergarten gegangen. Natürlich hatte er ursprünglich vorgehabt, die Pillen wegzuwerfen und Jonas zu verbieten, weitere herzustellen, doch dann hatte ihn das Minilabor in der Laube fasziniert. Außerdem sei Jonas so begierig darauf gewesen, ihm alles genau zu erklären und seine Kompetenz unter Beweis zu stellen, dass er, Lochner, zu dem Schluss gekommen war, die Pillen übers Internet zu vertreiben – schließlich war ein kleines Nebeneinkommen ja nicht zu verachten.
»Und wie passt der tote Obdachlose in dieses harmonische Bild?«, fragte Hackenholt, nachdem er Lochners bisherige Aussage gelesen hatte.
Der Mann wurde bleich. Seine Zunge befeuchtete wieder seine Lippen. »Wie … ähm … ich meine, welcher Obdachlose denn?«
»Er hieß Dr. Heinrich Gruber und wurde in der Gartenlaube niedergeschlagen.«
»Davon … davon weiß ich nichts«, stammelte Lochner. Schweiß glänzte auf seiner Stirn und Oberlippe.
Bevor Hackenholt ihm noch vom Fund der verdreckten, blutverschmierten und zerrissenen Kleidung erzählen konnte, klopfte es, und Wünnenberg steckte den Kopf zur Tür herein.
»Frank, schaust du bitte mal schnell raus?«
Wenn Wünnenberg Hackenholt mitten in einer Vernehmung unterbrach, musste es wirklich dringend sein. Also folgte er ihm vor die Tür, wo der Kollege ihm sofort einen Bogen Papier unter die Nase hielt. Es war Lochners Auszug aus dem Melderegister.
»Christine hat mir von ihrem Verdacht erzählt. Ich wollte dir ein bisschen zuarbeiten und habe schon mal eine Akte angelegt. Dabei habe ich natürlich auch seine Meldedaten abgerufen. Jetzt schau dir mal seine früheren Wohnsitzadressen an.«
Hackenholts Augen überflogen das Papier und blieben an der letzten Adresse vor dem Seitenende hängen. Er sagte nur »Oh mein Gott!«, dann drehte er sich um und ging wieder in den Raum zurück.
»Wo waren wir stehen geblieben?«, fragte Hakenholt Leichtle so, als ob er tatsächlich vergessen hätte, worüber sie gesprochen hatten, als sie unterbrochen worden waren.
»Du hast etwas von einem Dr. Heinrich Gruber erzählt.« Leichtle klang ein wenig verärgert.
»Ja, genau.« Hackenholt tat, als fiele es ihm gerade wieder ein. »Und Sie sagten, glaube ich, dass Sie Herrn Gruber nicht kannten.«
Lochner, der sich in der Zwischenzeit wieder gefasst hatte, nickte energisch.
»Sagen Sie, mal was ganz anderes. Als Lehrer macht man doch zwei Jahre Referendariat, nicht wahr?«
Der Mann war von dem Themenwechsel irritiert, nickte aber zögerlich.
»Wo haben Sie Ihres absolviert?«
»Was tut das denn jetzt zur Sache?«, fragte Leichtle aufgebracht.
»Oh, eigentlich gar nichts«, gab Hackenholt unumwunden zu. »Wichtig ist jedoch die Tatsache, dass Herr Lochner mehrere Jahre bei einer gewissen Margot Kreuzeder zur Untermiete gewohnt hat. Und die ist ihrerseits Dr. Grubers Schwägerin.« Hackenholt schaute Lochner scharf an. »Und zusammen mit der Tatsache, dass wir in der Sporttasche im Keller nicht nur sämtliche Utensilien gefunden haben, die man in einem Minilabor, wie Sie es vorhin so nett nannten, braucht, sondern auch noch Blutanhaftungen an der Tasche und den darin befindlichen Kleidungsstücken nachweisen können, die aller Wahrscheinlichkeit nach von Herrn Dr. Gruber stammen, finde ich es schon sehr befremdlich, dass Sie ihn nicht erkannt haben wollen. Sie müssen ihn in der Wohnung Ihrer Vermieterin doch mehrfach getroffen haben, oder etwa nicht?«
Lochner war bleicher als kreidebleich geworden. »Ich … ich habe ihn zuerst wirklich nicht erkannt«, stammelte er. Dann schloss er die Augen und stützte den Kopf in die Hände. Schließlich begann er zu erzählen. Durch die Hände klang seine Stimme dumpf und hohl. »Jonas kam vor knapp einem Monat zu mir. Es war ein Montagabend. Montag, der Dreizehnte. Er hat mir gesagt, dass er schon seit ein paar Wochen von einer Bande Jugendlicher erpresst wird und nicht mehr weiter in der Gartenlaube Pillen produzieren kann. Er war absolut panisch, die Typen hatten ihn kopfüber in die Regentonne getaucht. Also haben wir beschlossen, dass er das Zeug erst mal bei mir im Keller unterstellen kann und eine Zeit lang nicht mehr in den Schrebergarten gehen soll. Zusammen sind wir in die Kolonie gelaufen, um alles abzuholen. Und das, obwohl es schon zu regnen begonnen hatte. Ich dachte, wir würden es noch schaffen, bevor es richtig losschüttet. Sobald Jonas das Tor aufgesperrt hatte, sahen wir einen Lichtschein in der Laube. Natürlich dachten wir, die Typen wären zurückgekommen, also habe ich mir die erstbeste Stange geschnappt, die noch in einem der überwucherten Beete steckte. So ein altes, langes, schweres Ding, mit dem man Löcher für Bohnenstangen sticht. Ich bin ins Haus rein, und da«, Lochner schluckte, »da stand der Penner. Er war genauso überrascht wie ich, aber er hat mich ganz komisch angeschaut. So als ob er seinen Augen nicht trauen würde. Plötzlich hat er den Kopf geschüttelt und gesagt: ›Das hätte ich wirklich nicht von dir gedacht, Michael. Du wolltest doch immer Lehrer werden und es mit dem Sport zu was bringen, und jetzt fabrizierst du in dieser Hexenküche illegal Drogen?‹ Dabei hielt er mir ein paar Pillen hin, die er irgendwo in der Laube gefunden haben musste. Da sind bei mir die Sicherungen durchgebrannt, und ich habe zugeschlagen.«
Lochner machte eine Pause. »Die Stange hatte eine viel größere Wucht, als ich dachte. Er brach zusammen und war sofort tot. Ich wollte ihn dort liegen lassen und einfach nur Jonas’ Sachen mitnehmen, aber der Junge wurde total hysterisch und sagte, sein Großvater würde Schwierigkeiten bekommen, wenn man in der Laube einen erschlagenen Penner findet. Mittlerweile regnete es so stark, dass die Chancen gut standen, draußen niemanden mehr zu treffen. Also haben wir den Toten in den Schubkarren gelegt und sind in den Wald gefahren, wo wir ihn im Dickicht abgeladen haben. Ich dachte, so schnell würde ihn da keiner finden, und wenn doch, dann wäre es auch egal, weil uns ja niemand gesehen hatte. Anschließend haben wir Jonas’ Sachen zusammengepackt, aber es war mehr Zeug, als ich erwartet hatte, und ich mochte bei dem Regen nicht ein zweites Mal laufen. Ich war sowieso schon von oben bis unten dreckig und nass und wollte so schnell wie möglich duschen. Also haben wir nur die Geräte vom Tisch mitgenommen und den ganzen Müll dort gelassen.«
Wieder machte er eine Pause. Nach ein paar Augenblicken sah er auf und schaute Hackenholt an. »Ich wollte den Alten nicht umbringen. Aber als ich seine Stimme erkannte, bin ich ausgetickt. Ich wusste, dass er seine Entdeckung nicht für sich behalten würde. Er war früher schon immer jemand, bei dem alles und jedes korrekt sein musste. Der hat niemanden einfach so mal krankgeschrieben. Nicht mal einen Hustensaft bekam man von ihm, wenn es nicht unbedingt notwendig war. Drogen waren für ihn ein rotes Tuch.«
Schweigend verließ der Hauptkommissar das Zimmer. Er hatte genug gehört. Sein Teil des Falles war nun restlos aufgeklärt.
Eine Stunde später verabschiedete sich Hackenholt in ein verlängertes Wochenende in dem Wissen, dass er seine Kollegen in zwei Tagen, am Samstagabend, wiedersehen würde. Sophie hatte den Vorschlag gemacht, sich gemeinsam, also mit allen Kommissariatsmitarbeitern samt Kind und Kegel, das zweite und damit das für dieses Jahr letzte Klassik Open Air im Luitpoldhain anzuhören und bei einem gemütlichen Festschmaus auf der Wiese eine hoffentlich ruhige Sommerpause einzuläuten. Vorher wollte Sophie mit Hackenholt jedoch noch in die Karwendelstraße fahren, wo samstagnachmittags ein Laubenmuseum in der Kleingartenkolonie seine Pforten öffnete. Sie hatte schon seit über einem Monat vorgehabt, dort hinzugehen, sich jedoch nicht getraut, Hackenholt zu einem Besuch zu überreden, da er in den letzten Wochen beruflich so häufig mit Gartenhäuschen konfrontiert worden war. Erst vorgestern hatte sie ihm von dem Zeitungsartikel erzählt, der sie auf das kleine, aber feine Museum aufmerksam gemacht hatte.
Zu Hause setzte sich Hackenholt zu Sophie, die es sich auf einer Liege in ihrem kleinen Garten gemütlich gemacht hatte und in einer Kochzeitschrift schmökerte. Neben ihr lag ein Stapel Kochbücher.
»Was hältst du davon, wenn ich für das Klassik Open Air ein Picknick vorbereite, das ganz unter dem Motto des Musikabends steht?«, fragte sie, ohne aufzuschauen.
»Was willst du denn machen?« Hackenholt sah sie verwundert an. »Bitte keine Stadtwurst mit Musik!«
»Das würde ja auch das Thema verfehlen«, nuschelte sie hinter den Seiten ihrer Zeitschrift hervor.
»Und wie lautet das musikalische Motto?«
Endlich schaute Sophie ihn an und sagte mit einem breiten Grinsen: »Afrikanische Sommernachtsträume.«