Donnerstag
Als erste Amtshandlung des Tages rief Hackenholt bei Familie Petzold an, um zu fragen, ob Jonas in der Zwischenzeit etwas von sich hatte hören lassen. Das war leider nicht der Fall. Die Eltern klangen, als hätten sie nun schon die zweite Nacht kein Auge zugetan. Der Hauptkommissar legte Frau Petzold ans Herz, ihren Hausarzt anzurufen und sich ein leichtes Schlafmittel verschreiben zu lassen. Schließlich war niemandem damit gedient, wenn sie jetzt auch noch zusammenbrach. Schon gar nicht Jonas. Denn sobald er zurückkam, würden alle Familienmitglieder gemeinsam versuchen müssen, das Geschehene aufzuarbeiten. Schließlich lief niemand grundlos weg.
Die Morgenbesprechung hielten die Beamten so kurz wie möglich. Hackenholt brannte es unter den Nägeln, der Schule einen Besuch abzustatten. Obwohl es im Fall des toten Obdachlosen seit dem gestrigen Nachmittag keine neuen Erkenntnisse gab, war es bereits nach halb zehn, als endlich auch der letzte Mitarbeiter des Kommissariats dargelegt hatte, woran er gerade arbeitete und was heute auf seinem Programm stand.
»Wenn wir in der Schule noch mit ein paar Leuten reden wollen, sollten wir uns schleunigst auf den Weg machen. So kurz vor den Ferien und bei der Hitze werden die bestimmt nicht den normalen Unterricht durchziehen«, brummte Hackenholt.
»Damit könntest du recht haben«, stimmte ihm Wünnenberg zu und erhob sich. Bevor sie das Kommissariat verließen, steckte er nochmals den Kopf ins Besprechungszimmer und drohte Saskia Baumann spielerisch mit dem ausgestreckten Zeigefinger: »Und du, lass mir die Finger von meiner Kaffeekanne! Zu viel kalter Kaffee macht nämlich entgegen der althergebrachten Meinung nicht schön, sondern das genaue Gegenteil.«
Bevor Saskia mit dem vor ihr liegenden Kugelschreiber noch nach ihm werfen konnte, lief Wünnenberg schon schnell in Richtung Treppenhaus davon.
Parkplätze waren am Thumenberger Weg eine Rarität, also fuhr Wünnenberg kurzerhand auf das Gelände eines Marktforschungsunternehmens, das an das Schulgebäude anschloss, und quetschte sein Auto in eine Lücke, die eigentlich einem Firmenmitarbeiter vorbehalten war.
Er und Hackenholt gingen die wenigen Schritte durch die Einfahrt zurück zur Straße, wandten sich nach links und standen vor dem großen hölzernen Portal, das von wildem Wein umrankt wurde. Dahinter empfing sie eine große Eingangshalle, die von einer breiten steinernen Treppe dominiert wurde, die zu den oberen Stockwerken führte. Ein kleines Messingschild wies ihnen den Weg zum Sekretariat.
Die Dame, die sie dort antrafen, war dieselbe, mit der auch schon Jonas Petzolds Eltern am Vortag gesprochen hatten. Trotz der Vorwarnung war sie schockiert, dass sich nun sogar zwei Kripobeamte nach dem Jungen erkundigten. Offenbar erkannte sie erst jetzt den Ernst der Lage, war dann aber die Hilfsbereitschaft in Person. Trotzdem konnte sie wenig für sie tun, denn die Klasse von Jonas hatte, genau wie alle anderen auch, an diesem Vormittag frei. Der Klassenlehrer war ebenso nicht da. Am Nachmittag stand das alljährliche Schulfest auf dem Programm, zu dem die Schüler in verschiedene Gruppen eingeteilt worden waren. Manche kümmerten sich um den Aufbau, manche um den Abbau, andere veranstalteten Spiele oder führten ein Theaterstück auf. Alle kamen zu Zeiten, die der jeweils zuständige Lehrer mit ihnen vereinbart und von denen die Sekretärin keine Ahnung hatte. Allerdings war sie so freundlich und kopierte nicht nur die Klassenliste und eine, in die alle Coolrider der Schule eingetragen waren, sondern auch die Adressliste der Lehrer. Mit einem grünen Textmarker strich sie diejenigen an, die in Jonas Petzolds Klasse unterrichteten.
»Wo wohnt denn der Klassenleiter?«, fragte Wünnenberg, als sie wieder im Auto saßen.
Hackenholt blätterte in den noch warmen Kopien herum. »In der Mommsenstraße. Er heißt Hubertus Schmidt und unterrichtet Mathematik und Chemie. Was für eine grausame Kombination!«
»Was meinst du? Wenn wir schon in der Ecke hier sind, könnten wir doch schnell einen kleinen Umweg übers Mercado machen. Dort gibt es einen Metzger, der hervorragende LKW macht. Ich habe ganz schönen Hunger.«
Hackenholt nickte. Auf ein LeberKäsWeggla hatte auch er Appetit, schließlich konnte er sich ja nicht ausschließlich von Bratwurstbrötchen ernähren.
Zwanzig Minuten später schellten sie bei dem Mathematiklehrer. Er wohnte in einem kleinen Zweifamilienhaus gegenüber dem Theresien-Krankenhaus. Ein kleiner Mann, kaum einen Meter sechzig groß, öffnete ihnen. Zu Hackenholts Befremden trug er eine Strickjacke über einem altmodischen unifarbenen Hemd. Die Beamten stellten sich vor und traten ein. Im Haus war es zunächst angenehm kühl, im Gegensatz zur Hitze draußen, doch schon nach wenigen Minuten fröstelte Hackenholt. Vielleicht war aber auch die Atmosphäre des Wohnzimmers der Auslöser dafür. Ein dunkler, muffiger Raum, vollgestopft mit alten, wuchtigen Möbeln, die sicher sehr schön ausgesehen hätten, wären sie nicht in einen so kleinen Raum gequetscht worden. Die Regale bogen sich unter dem Gewicht alter Bücher. Ein Umstand, der bei Hackenholt üblicherweise Begeisterungsstürme hervorrief, doch in diesem Zimmer fühlte er sich trotzdem nicht wohl. Es war einfach zu verstaubt und muffig.
»Herr Schmidt, wie eingangs schon erwähnt, sind wir wegen einem Schüler von Ihnen hier«, eröffnete Hackenholt das Gespräch. »Es handelt sich um –«
»Ja, ja, ich weiß schon«, fiel ihm der Lehrer ins Wort. »Sie kommen wegen Jonas Petzold.«
Hackenholt sah ihn überrascht an.
»Na, das war ja nicht schwer zu erraten«, meinte Herr Schmidt trocken. »Schließlich ist seine Mutter gestern Morgen in meinen Unterricht geplatzt, um zu sehen, ob ihr Sohn da ist, und zu fragen, ob jemand weiß, wo er steckt.« Bekümmert schüttelte er den Kopf. »Wenn ich mir bei einem Schüler sicher war, dass er keinen Grund zum Weglaufen hat, dann bei Jonas. Da gibt es schon ganz andere Kaliber in der Klasse. Aber wie sagt man so schön? Stille Wasser sind tief. Manchmal bewahrheiten sich die alten Sprüche eben doch. Außerdem hat man ja auch keinen Einblick, was in den Familien wirklich vor sich geht.«
»Warum hätten Sie es ausgerechnet Jonas nicht zugetraut abzuhauen?«, wollte Wünnenberg wissen.
Der Lehrer legte die Fingerspitzen aneinander und dachte einen Moment lang nach. »Das ist eine gute Frage«, seufzte er nach einer Weile. »Meine Meinung zeigt nur, dass ich voller Klischees stecke. Ich kann Ihnen keinen Grund nennen, außer diesem: Jonas hat sich bisher immer absolut vorbildlich verhalten, und einem Vorbild traut man eben nichts Rebellisches zu. Er ist stets höflich und zuvorkommend, kommt nie zu spät zum Unterricht, macht immer seine Hausaufgaben und hat alle Bücher dabei. Das ist heutzutage eine Seltenheit.« Er seufzte erneut. »Außerdem ist Jonas ein Einser-Schüler. Äußerst intelligent und lernt sehr schnell. Am Nachmittag sitzt er oft mit jüngeren Schülerinnen und Schülern in der Bibliothek, um sie zu unterstützen. Ich selbst habe ihm ein paar Nachhilfeschüler vermittelt. Er ist sehr sozial und teilt sein Wissen gerne mit anderen.«
»Er muss also keine Angst vor den bevorstehenden Zeugnissen haben?«, versicherte sich Hackenholt. Auch wenn der Vater behauptet hatte, sein Sohn sei Klassenbester, wollte er diesen Punkt vom Klassenleiter bestätigt bekommen. Zu oft wähnten Eltern die schulischen Leistungen ihrer Sprösslinge am der Realität entgegengesetzten Ende der Notenskala und wurden erst durch die Zeugnisse auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt, was zumeist einer harten Landung in der Wirklichkeit gleichkam.
Schmidt winkte ab. Aus dem Nebenzimmer holte er ein Büchlein und las daraus Jonas’ Zeugnisnoten vor. Die schlechteste war eine Drei in Musik. Der Rest bestand nur aus Einsern und Zweiern.
»Mit wem in der Klasse ist Jonas befreundet?«
»Das ist wohl des Pudels Kern. Ich glaube, er hat keine Freunde. In der Pause geht er meistens in die Bibliothek und vergräbt sich in einem Buch.«
»Und neben wem sitzt er im Unterricht?«, versuchte Hackenholt die Frage anders anzugehen.
»Er sitzt in der ersten Reihe ganz rechts außen, an einem Einzeltisch. Seine nächste Nachbarin ist mit einigem Abstand ein Mädchen namens Lisa.« Gedankenverloren strich sich der Lehrer über den Mund. »Am letzten Wandertag haben wir einen Ausflug nach München ins Deutsche Museum gemacht. An die Hinfahrt kann ich mich nicht mehr genau erinnern, aber auf dem Heimweg saßen Jonas und ein paar andere bei mir im Zugabteil. Alle haben geredet und gelacht, nur Jonas hat die ganze Zeit still in einem Museumsführer gelesen.«
»Wird er von den anderen gemobbt?«, fragte Hackenholt ernst.
»Nein. Nein, so weit würde ich nicht gehen. Ich habe nie einen anderen Schüler aus der Klasse eine abfällige Bemerkung über Jonas machen hören. Es ist eher so, dass sich niemand für Jonas interessiert, aber Jonas eben auch die anderen egal sind.«
»Hat sich der Junge in den letzten Tagen oder Wochen irgendwie seltsam verhalten?«
»Zumindest nicht in meinem Unterricht. Aber reden Sie mal mit meinem Kollegen Michael Lochner. Er unterrichtet Englisch und Sport in der Klasse. Ich glaube, er hat einen ganz guten Draht zu Jonas. Nun ja, um ehrlich zu sein, der Kollege wird meistens von Schülerinnen umschwärmt, aber er ist auch unter den männlichen Schülern recht beliebt.« Der ältere Lehrer blätterte wieder in seinem Notenheft. Als müsste er seine eigene Verbundenheit mit dem Jungen unter Beweis stellen, begann er plötzlich von ihm zu schwärmen. »Jonas ist zwar fleißig in den Sprachen, aber die Naturwissenschaften, wissen Sie, die liebt er regelrecht.« Er sah zu den Beamten auf. »Er borgt sich immer mal wieder Fachbücher von mir aus und arbeitet sie dann konsequent durch. Natürlich hat er hin und wieder Fragen oder versteht etwas nicht, aber die Qualität seiner Fragen zeigt mir stets, wie überdurchschnittlich gut er im Allgemeinen damit zurechtkommt. Nächstes Jahr will er Chemie als Leistungskurs nehmen. Er hat sogar gesagt, dass er später mal Biochemie studieren möchte. Auch für Pharmazie und Umwelttechnik interessiert er sich.« Der Lehrer klang stolz. »Reden Sie aber trotzdem mit meinem Kollegen Lochner. Und vielleicht auch noch mit Anke Schilling. Sie ist Jonas’ Biologielehrerin und borgt ihm ebenfalls regelmäßig Bücher.«
»Wohin als Nächstes?«, fragte Wünnenberg, während er die Autofenster mittels Knopfdruck hinunterfahren ließ. Im Auto war es schon wieder unerträglich heiß. Ein Eindruck, der verstärkt wurde, da sie gerade aus einer grabeskalten Wohnung kamen. »Sportlehrer oder Biolehrerin?«
»Sekunde.« Hackenholt blätterte in den Unterlagen. »Michael Lochner«, las er nach einem kurzen Moment vor, »Zaunwiesenweg. Anke Schilling, Rehhofstraße. Das ist doch beides in der gleichen Ecke. Dann lass uns mit der Lehrerin anfangen.«
Wie sich herausstellte, lebte Frau Schilling in einer großen Wohnanlage, gleich rechts hinter der Überführung der Bahnstrecke. Zu seiner Belustigung bemerkte Wünnenberg, dass am Ende der künstlich erzeugten Sackgasse die Thäterstraße begann.
»Meinst du, das ist vielleicht noch ein Überbleibsel der mittelalterlichen Schreibweise für Täter?«, fragte er Hackenholt, der ein Faible für das Mittelalter hatte.
Sein Kollege schüttelte den Kopf. »Meines Wissens nach sprach man im Mittelalter noch nicht von Opfern und Tätern. Ich denke, der Straßenname geht auf Karl Thäter zurück, das war ein früherer Tiergartenleiter. Aber schau mal, dort drüben ist der Eingang zur Kleingartensiedlung Rehhof, die Saskia und Manfred die letzten Tage abgeklappert haben. Wir können also gar nicht weit vom Reichswald entfernt sein.«
Die Lehrerin wohnte im mittleren Haus des zweiten, c-förmig gebauten Gebäudekomplexes. Hackenholt klingelte, die Sprechanlage knackte, und ohne zu fragen, wer er sei oder was er wolle, wurde der Türsummer betätigt. Schnell stiegen die Beamten in den ersten Stock. Durch die geschlossene Tür waren Schritte zu vernehmen, bevor eine große, schlanke Frau mit kurzen blonden Haaren, Stupsnase und enorm vielen Sommersprossen ihnen öffnete. Auf Hackenholt wirkte sie viel zu jung für eine Lehrerin.
Der Hauptkommissar stellte sich und Wünnenberg vor und erklärte kurz, dass sie im Fall eines vermissten Schülers ermittelten. Erschrocken bat Anke Schilling die Beamten in die Wohnung.
»Sie haben also noch nicht davon gehört?«, fragte Wünnenberg. Einmal mehr zog er sein Diktiergerät aus der Tasche und schaltete es ein. »Jonas Petzold ist seit vorgestern nicht nach Hause gekommen.«
»Jonas?«, fragte die Lehrerin ungläubig. »Aber das kann doch nicht sein!« Mit offenem Mund sah sie zwischen Hackenholt und Wünnenberg hin und her.
»Doch, es ist leider so«, bestätigte Hackenholt. »Wir haben gerade mit Ihrem Kollegen Hubertus Schmidt gesprochen. Er meinte, Sie hätten sich mit dem Jungen gut verstanden.«
Sie nickte. »Jonas ist überdurchschnittlich intelligent. Ich versuche ihn ein bisschen zu fördern, indem ich ihm hin und wieder ein paar Bücher ausleihe. Außerdem ist er auch schon zweimal mit mir auf Exkursionen gewesen, zusammen mit meinen früheren Biologieprofessoren.«
»Und wie sieht es mit gleichaltrigen Freunden aus? Biologieexkursionen klingen eigentlich nicht besonders spannend, schon gar nicht für einen Siebzehnjährigen«, machte Wünnenberg seiner Skepsis Luft.
»Wenn Sie sich da mal nicht täuschen! Jonas war jedes Mal mit Feuereifer bei der Sache.« Die Lehrerin seufzte. »Aber Sie haben natürlich recht. Jonas ist kein gewöhnlicher Junge. Meiner Meinung nach ist er geistig viel weiterentwickelt als seine Altersgenossen, weshalb er mit ihnen auch nichts gemein hat. Er interessiert sich weder für die Spiele vom Club noch für irgendwelche Hip-Hop-Gruppen. Das ist ihm alles zu …«, sie suchte nach passenden Worten, »zu simpel. Zu alltäglich. Zu einfach. Ohne Weitblick.«
»Aber es muss doch jemanden in seinem Alter geben, mit dem er sich versteht. Mit dem er über Probleme reden kann«, insistierte Wünnenberg. »Jeder junge Mensch hat Dinge, die er anderen mitteilen will, weil er damit alleine nicht klarkommt.«
Die Lehrerin schüttelte den Kopf. »Nicht Jonas. Und ich wüsste auch niemanden, dem er sich anvertraut haben könnte. Mit den Jüngeren gibt er sich nur ab, um sich ein bisschen Taschengeld mit Nachhilfe zu verdienen.« Sie überlegte kurz. »Hm. Sara vielleicht«, meinte sie dann zögerlich. »Ich erinnere mich, dass ich ihn ein paarmal mit ihr gesehen habe. Sie ist eine Klasse unter ihm, aber auch bei den Coolridern. Ansonsten bevorzugt er, glaube ich, Erwachsene. Sein Großvater ist ihm sehr wichtig. Von dem redet er viel.«
»Und seine Eltern? Was ist mit denen?«, brachte Hackenholt einen neuen Aspekt ins Spiel.
»Ich weiß nicht so recht. Von denen hat er noch nie erzählt. Wenn er mit mir redet, geht es meistens um seinen Großvater. Beispielsweise was sie im Schrebergarten anpflanzen und wie sie ohne Pestizide auskommen. Letztens hat er gesagt, dass er sich ganz alleine um den Garten kümmert, bis sein Großvater wieder fit ist, weil sich seine Eltern nicht dafür interessieren.«
»Ich dachte, der Großvater ist halbseitig gelähmt und lebt in einem Pflegeheim?« Hackenholt zog erstaunt die Augenbrauen zusammen.
Nun war es Anke Schilling, die verdutzt dreinblickte. »Meines Wissens hatte der Großvater im Frühjahr einen Schlaganfall, das ist richtig. Das hat Jonas auch ziemlich mitgenommen, aber ich bin davon ausgegangen, dass der alte Mann sich wieder erholt hat. Das mit dem Schrebergarten hat mir Jonas jedenfalls erst neulich erzählt, als ich ihn zufällig in der S-Bahn getroffen habe.«
»Erinnern Sie sich, wann das war?«
»Lassen Sie mich kurz nachdenken.« Sie schaute angestrengt aus dem Fenster, so als ob ihr die vorbeiziehenden Schleierwolken helfen könnten. »Vorletzte Woche. Mittwoch oder Donnerstag.«
»Und was genau hat Jonas Ihnen da erzählt?«
»Nun ja, ich habe ihn gefragt, ob er gerade auf dem Weg in den Schrebergarten ist. Er hat genickt und gesagt, er will ein bisschen nach dem Rechten sehen. Bei der Gelegenheit habe ich ihn dann auch gefragt, ob es seinem Opa besser geht. Er hat wieder genickt und gesagt, deswegen hält er ja alles in Ordnung. Für den Großvater, bis der wieder zurück ist. Ich habe angenommen, dass er noch in der Reha ist.«
»Sie wissen nicht zufällig, wo der Schrebergarten liegt?«, fragte Wünnenberg.
Die Lehrerin schüttelte den Kopf. »Nicht genau. Ich war nie dort, obwohl mich Jonas ein paarmal eingeladen hat. Aber der Garten muss gleich hier hinten an der Landenwiesenstraße sein. Wenn wir uns außerhalb der Schule begegnen, dann immer in der S-Bahn. Jonas steigt nämlich auch in Rehhof aus, allerdings biege ich dann nach rechts ab, während er geradeaus durch die Wohnblocks in Richtung Kleingärten geht.«
Hackenholt machte sich eine Notiz, dann blickte er auf: »Hat sich der Junge Ihrer Meinung nach in den letzten Wochen verändert?«
»Hmm.« Die Biologielehrerin zupfte an einer ihr ins Gesicht fallenden Haarsträhne. »Ich weiß nicht. Nach den Pfingstferien hat er sich noch einmal ein paar Bücher von mir ausgeliehen, weil ihm gegen Ende des Schuljahres immer so langweilig ist. Im Unterricht läuft ja nicht mehr viel. Wenn überhaupt, dann hatte ich den Eindruck, dass er sich noch häufiger hinter Büchern vergraben hat als sonst. Andererseits auch kein Wunder, bei dem Sommer, den wir bisher hatten: Das ist ja jetzt die erste Woche, in der mal länger als zwei Tage hintereinander die Sonne scheint und es richtig warm ist.«
Hackenholt blieb unschlüssig vor dem Auto stehen. »Herr Petzold hat doch gestern gesagt, dass es den Schrebergarten des Großvaters nicht mehr gibt, oder?«
Wünnenberg nickte. »Ja, so habe ich es auch verstanden. Er hat den Schrebergarten als eine völlig abwegige Möglichkeit für Jonas’ Aufenthaltsort verworfen. Die Eltern scheinen nicht den blassesten Schimmer von dem zu haben, was ihr Sohn in seiner Freizeit so treibt oder herumerzählt.«
Hackenholt zog sein Handy aus der Tasche und wählte die Nummer der Petzolds. Sofort meldete sich die Mutter. Ihre Stimme klang atemlos. Hoffnungsvoll. Hackenholt stöhnte innerlich auf, da er wusste, wie enttäuscht sie sein würde, sobald er sich meldete und damit ihre Hoffnung zunichtemachte, der Anrufer sei vielleicht ihr Sohn.
»Frau Petzold, Hackenholt hier. Ich muss wissen, wo genau sich der Schrebergarten Ihres Schwiegervaters befindet«, fiel er mit der Tür ins Haus.
»Der Schrebergarten? Der ist in Rehhof. Aber da kann Jonas unmöglich sein.«
»Die Überprüfung gehört zur Routine«, log Hackenholt. »Können Sie mir bitte die genaue Adresse geben?«
Das konnte sie nicht, aber immerhin lieferte sie ihm eine brauchbare Wegbeschreibung. Sie sollten der Landenwiesenstraße folgen, bis der geteerte Weg in einen kleinen Wendeplatz überging. Von dort zweigten drei Schotterwege ab. Nach links, rechts und geradeaus. Auch die Wege links und rechts führten an Kleingärten vorbei, die Beamten aber mussten dem Weg geradeaus Richtung Wald folgen. Nach fünfzig oder hundert Metern, im Schätzen von Entfernungen war Frau Petzold noch nie gut gewesen, kam auf der linken Seite eine alte verrostete Toreinfahrt, und dahinter lag der Garten, der ihrem Schwiegervater gehört hatte.
»Wer hat den Schlüssel für das Tor?«
»Das weiß ich nicht. Früher hatte natürlich mein Schwiegervater einen. Aber ich habe keine Ahnung, was aus dem Schlüssel geworden ist, als mein Mann den Garten gekündigt hat. Sicher musste er ihn bei der Verwaltung abgeben.« Sie klang überfragt. »Einzelheiten kann nur er Ihnen sagen. Allerdings ist er heute wieder in die Arbeit gegangen.«
»Hatte Jonas einen eigenen Schlüssel?«
»Ich glaube nicht. Er ist ja immer mit seinem Opa hingegangen.«
Hackenholt bedankte sich und beendete das Gespräch. »Der Garten ist gleich ums Eck, am Ende der Landenwiesenstraße. Auf dem Weg dorthin kommen wir quasi beim Sportlehrer vorbei.«
Hackenholt verstand auf den ersten Blick, warum Michael Lochner der Schwarm sämtlicher Schülerinnen war. Er war zwar nicht übermäßig groß, aber sehr durchtrainiert. Den Sportlehrer sah man ihm weniger an als den Bodybuilder. Nur mit Shorts bekleidet kam er an die Tür. Der für Frauen sicherlich sehr ansprechende Eindruck seines muskulösen Oberkörpers, auf dem nicht ein einziges Härchen spross, wurde durch ein attraktiv geschnittenes Gesicht mit kurzen dunklen Haaren und intensiven Augen verstärkt. Ein wenige Millimeter breiter Bart, der sich von der Oberlippe bis zum Kinn erstreckte und wie die moderne Variante eines König-Ludwig-Bartes aussah, verlieh Michael Lochner allerdings einen leicht arroganten Zug.
Auch er erschrak, als Hackenholt ihm erklärte, dass sie wegen Jonas Petzold kamen. Völlig durcheinander vergaß er, die Beamten hereinzubitten.
»Wenn es Sie nicht stört, würden wir das Gespräch gerne in Ihrer Wohnung und nicht auf dem Gang weiterführen«, sagte Wünnenberg ein wenig genervt.
»Oh. Ja. Natürlich. Kommen Sie doch herein.« Michael Lochner führte sie in ein Wohnzimmer, das eher einem Fitnessraum denn der landläufigen guten Stube glich. An der Längsseite stand ein Sofa, auf dem haufenweise Zeitschriften lagen. Den größten Teil des Raums nahmen ein Schwimmtrainer, ein Crosstrainer und eine Hantelbank ein. An der gegenüberliegenden Wand hing ein riesiger Plasmafernseher.
»Wenn ich gewusst hätte … Ähm. Es ist nicht sonderlich aufgeräumt.« Er zuckte entschuldigend mit den Schultern. »Ich war gerade am Trainieren.«
»Machen Sie sich deshalb keine Gedanken«, beschwichtigte Hackenholt. »Wir waren schon in ganz anderen Wohnungen. Nett haben Sie es hier.« Er schob einen Stapel Zeitschriften zur Seite, um sich zu setzen. Die anderen beiden folgten seinem Beispiel.
»Herr Lochner, wie schon gesagt kommen wir wegen Jonas. Er ist, wie Sie vielleicht bereits wissen, seit vorgestern verschwunden.«
Lochner wurde bleich. »Er ist was? Oh Gott! Nein, das wusste ich nicht.«
»Wir versuchen uns gerade ein Bild von dem Jungen zu machen, und Ihr Kollege Hubertus Schmidt sagte, dass Sie sich sehr gut mit ihm verstehen.«
Lochner nickte. »Ja, klar. Jonas ist ein aufgeweckter und vor allem wissensdurstiger Schüler. Nur schade, dass er sich so gar nicht für Sport begeistern lässt. Ich habe es immer und immer wieder versucht, aber er hockt lieber den ganzen Tag irgendwo rum und verkriecht sich hinter seinen Büchern. Das ist in seinem Alter doch nicht normal.«
»Mit wem ist Jonas eigentlich befreundet?«
»Sorry, aber das weiß ich wirklich nicht. In der Schule ist er bei allen recht beliebt. Er lässt ja auch die ganze Bande immer abschreiben, und die meinen, wir Lehrer würden das nicht checken.« Der Lehrer zwinkerte ihnen zu und lachte. Es war ein ansteckendes Lachen. Hackenholt konnte sich gut vorstellen, wie er seine Schüler damit bei Laune hielt.
»Hat Jonas Ihnen mal von Problemen oder Sorgen erzählt?«
»Um Gottes willen, nein. So gut kennen wir uns nicht. Ich mache halt bei allem mit, deswegen bin ich wohl auch so beliebt bei den Schülern, nicht wie der Kollege Schmidt, der in allem und jedem immer erst mal ein Problem sieht. Aber das heißt nicht, dass ich mit den Schülern privat befreundet bin. Ich bin froh, dass ich hier in einer Gegend wohne, in der normalerweise keiner von ihnen aufkreuzt.«
»Dann haben Sie Jonas nie getroffen, wenn er zur Laube von seinem Großvater ging? Der Schrebergarten ist nämlich gleich hier in der Nähe.«
Lochner machte große Augen. »Nein, das wusste ich nicht. Ich dachte immer, Jonas würde außerhalb wohnen. Na, da sehen Sie mal, eigentlich habe ich von nichts eine Ahnung.« Wieder lachte er sein sympathisches Lachen.
Nach dem nicht sonderlich aufschlussreichen Gespräch mit dem sportlichen Lehrer dirigierte Hackenholt Wünnenberg die wenigen hundert Meter gemäß der von Frau Petzold erhaltenen Wegbeschreibung zum früheren Garten von Jonas’ Großvater. Vom Schotterweg aus war er uneinsehbar. Nicht einmal die breite Toreinfahrt gab etwas von dem dahinterliegenden Grundstück preis, da sie aus mannshohen Brettern gezimmert war. Zu beiden Seiten ging die Holzverkleidung in einen Maschendrahtzaun über, der von einer zwei Meter hohen und mittlerweile verwilderten Eibenhecke gesäumt wurde, die wiederum einen blickdichten Sichtschutz bildete.
Die Beamten stiegen aus ihrem Wagen. Im Nähertreten sahen sie, dass aus einem briefkastenähnlichen Schlitz im Holz ein zusammengefaltetes Stück Papier herausragte. Hackenholt griff danach. Es war ein Flugblatt von der Polizei. Stellfeldt oder Baumann musste in den letzten Tagen also schon vorbeigekommen sein.
Wünnenberg rüttelte am Tor, doch es war und blieb verschlossen. Nicht einmal er, der immerhin stolze ein Meter zweiundneunzig maß, konnte einen Blick über den Bretterzaun werfen. »Wenn wir nicht irgendwo eine Leiter herbekommen, dann haben wir ein Problem«, urteilte er.
»Lass uns einfach mal um das Grundstück herumgehen. Vielleicht gibt es irgendwo eine Stelle, wo der Zaun nicht so hoch ist und wir hinüberklettern können.«
Wünnenberg sah Hackenholt belustigt an. »Was? Du willst über den Zaun klettern? Am besten wohl noch mit Hilfe eines Baumes, ja? Wie alt bist du eigentlich? Fünf? Sechs?«
Hackenholt musste über Wünnenbergs Gesichtsausdruck lachen. »Wenn du so ein Drama darum machst, bist du eindeutig schon viel zu lange nicht mehr über einen Zaun geklettert.«
Doch so weit sollte es nicht kommen. Als sie schon glaubten, keinen Schritt mehr weitergehen zu können durch das dichte Gestrüpp aus alten Bäumen, Baumschösslingen, Sträuchern und stacheligen Brombeerranken, die den Garten umgaben, stießen sie an der Querseite des Grundstücks auf eine Stelle, an welcher der Zaun heruntergetreten war. Zu ihrem großen Glück wich die Eibenhecke gerade hier einer Kirschlorbeerhecke, die so aussah, als ob sich schon vor ihnen immer mal wieder jemand hindurchgezwängt hatte.
Endlich standen sie auf dem Grundstück. Es war trapezförmig geschnitten, und es war groß. Von einem »kleinen Schrebergärtchen« konnte wahrlich nicht die Rede sein. Vor ihnen erstreckten sich mit Unkraut überwucherte Beete, in denen früher wohl Gemüse angebaut worden war. Den Rest des Grundstücks zierte eine kniehohe Sommerwiese, auf der verschiedene Obstbäume wuchsen. Am entgegengesetzten Ende stand eine ungefähr fünf mal fünf Meter große Gartenlaube. Ein Schmuckstück. Obwohl sie aus Holz war, gab es ein richtiges Dach mit Dachrinnen, Glasfenster und eine kleine vorgelagerte Terrasse. Das Beeindruckendste an dem Häuschen war jedoch dessen Eingangstür: eine schöne, breite Flügeltür. Seitlich schloss sich an die Laube ein maroder Schuppen an. Eindeutig Marke Eigenbau. Die beiden Beamten durchstreiften das Gelände und suchten nach Spuren, die ihnen verrieten, ob sich hier kürzlich jemand aufgehalten hatte. Sie wurden fündig. Die hohe, verwilderte Wiese war an verschiedenen Stellen niedergetreten worden. Breite Spuren führten vom Gartentor zur Laube, schmalere zu der Stelle mit dem Loch im Zaun. Zweifellos war der Garten seit dem Frühjahr nicht ungenutzt geblieben – gepflegt hatte ihn allerdings niemand.
Hackenholt und Wünnenberg gingen zum Häuschen hinüber. Im Nachhinein wurde beiden klar, dass sie darauf gehofft hatten, Jonas hier vorzufinden. Vielleicht an einem Tisch sitzend, in ein Buch vertieft. Doch die Laube war leer, wie ein kurzer Blick durch das Fenster zeigte. Oder vielmehr: Es befand sich kein Mensch darin, aber leer im Sinne von ausgeräumt war sie auch nicht.
Hackenholt holte ein Päckchen Einweghandschuhe aus seiner Hosentasche und ging, nachdem er sie übergestreift hatte, zur Flügeltür. Sie war unverschlossen. Sobald er den Raum betreten hatte, blieb er wie angewurzelt stehen. Auf dem hellen Linoleum-Bodenbelag führten eingetrocknete, zum Teil verwischte Blutstropfen zum Eingang, genau auf ihn zu. Er machte Wünnenberg ein Zeichen, draußen zu bleiben.
Langsam sah er sich im Raum um. Ein aufgeklappter Tapeziertisch nahm die gesamte Länge der gegenüberliegenden Wand ein. Auf ihm standen zwei ausgebrannte Teelichter, außerdem wies er einige dunkle Brandflecken auf. Unter dem Tisch lagen mehrere große blaue Plastikmüllsäcke und einige Supermarkttüten, nicht weit davon entfernt ein Schlafsack. Der Boden war übersät mit Zigarettenkippen. Hackenholt ging hinüber und schaute in die bunten Einkaufstaschen. Eine war mit dreckigen Klamotten vollgestopft, die andere enthielt leere Pfandflaschen, in der dritten lagen ein paar Dosen mit billigem Bier. Zu seinem Erstaunen fand Hackenholt in den blauen Müllsäcken mehrere leere Kanister Gebäudereiniger.
Als er den alten, stockfleckigen Schlafsack hochhob, kam darunter ein prall gefüllter dunkelgrüner Rucksack zum Vorschein. Er enthielt ebenso Wäsche, allerdings sahen auch diese Kleidungsstücke nicht nach dem aus, was ein Jugendlicher gemeinhin trug. In der linken Seitentasche des Rucksacks fand Hackenholt ein Päckchen Tabak und Zigarettenpapier für Selbstgedrehte, in der anderen eine Nagelschere und ein Stück Seife, daneben ein abgegriffenes Portemonnaie. Der Hauptkommissar öffnete es. Statt Geldscheinen fand er im größten Fach zwei Fotografien. Die erste war ein altes, zusammengefaltetes Hochzeitsfoto, die andere zeigte zwei lachende Frauen, vielleicht Mutter und Tochter, vor einem Kirschbaum. Der Geldbeutel enthielt auch einen Ausweis und eine abgelaufene Krankenversicherungskarte. Beides war auf den Namen Dr. Heinrich Gruber ausgestellt.
Es dauerte fast eine Stunde, bis die Spurensicherung endlich eintraf. Hackenholt und Wünnenberg warteten solange im Auto. Während der ebenfalls angeforderte Schlosser den Schließzylinder der Toreinfahrt ausbaute, informierte der Hauptkommissar Christine Mur, was sie hinter der Einfahrt erwartete.
»Und du bist einfach so durch die Hütte gelaufen? Ohne Überschuhe? Ohne Schutzkleidung?«, fragte sie naserümpfend.
Hackenholt setzte schon zu einer unsachlichen Antwort an, beherrschte sich dann aber im letzten Moment und erklärte, dass er immerhin Handschuhe getragen habe.
»Den Geräteschuppen daneben haben wir aber völlig unberührt gelassen«, fügte Wünnenberg in unschuldigem Tonfall hinzu. »Du solltest nur aufpassen, dass er nicht über dir einstürzt, wenn du ihn untersuchst, Christine.«
Mur warf ihm einen bösen Blick zu und beschloss, ihm keinen weiteren Schluck Kaffee aus ihrer Thermoskanne zu gönnen.
Hackenholt sah auf die Uhr. Drei viertel drei. »Wir sollten dann mal wieder los«, seufzte er. »Es ist mir dieses Mal besonders wichtig, schnell zu erfahren, was die Spurenlage hergibt. Ob es einen Kampf gab, von wem das Blut stammt, ob Heinrich Gruber hier bewusstlos geschlagen wurde oder jemand anderes et cetera. Und natürlich, ob es irgendwelche Hinweise darauf gibt, dass Jonas etwas damit zu tun hat beziehungsweise er überhaupt hier war. Aber das weißt du ja alles selbst.«
»Wie sieht es mit Vergleichsspuren von dem Jungen aus?«, fragte Mur. »Hast du schon welche?«
Hackenholt schüttelte den Kopf.
»Dann muss jemand zu den Eltern fahren und dort welche erheben.«
»Wir werden jetzt erst einmal den Großvater im Heim besuchen. Er scheint die Bezugsperson für Jonas zu sein, die ihm am meisten bedeutet. Hoffentlich auch nach dem Schlaganfall. Außerdem müssen wir ein für alle Mal klären, wem der Schrebergarten nun eigentlich gehört, nachdem die Petzolds ihn gekündigt haben wollen. Ansonsten bleibt uns nichts anderes übrig, als morgen bei der Stadt Nürnberg nachzufragen.«
»Warum machst du das nicht gleich? Dabei handelt es sich doch sicherlich nicht um vertrauliche Daten, die sie nicht am Telefon herausgeben dürfen. Notfalls sollen sie eben im Präsidium anrufen«, schlug Wünnenberg vor.
Anstatt jedoch der Anregung seines Kollegen nachzukommen, wählte er lieber die Nummer seines Kommissariats und hoffte, Baumann oder Stellfeldt zu erwischen, da er sie vom bisherigen Geschehen unterrichten wollte.
»Ern scheener goudn Dåch. Sie schbrechn mid der Gribbo Nämberch. Mei Nåmer is Baumoh. Wos konnern iech heid fir Sie dou, Herr Habdkommissår Haggnhold?«
Für einen Moment verschlug es ihm die Sprache. Baumann konnte sich doch unmöglich immer so am Telefon melden? Auch wenn es voll und ganz der Dienstanweisung entsprach, die an die Angestellten ergangen war, die im Servicebereich der Einsatzzentrale arbeiteten. Nach einer Schrecksekunde setzten sich die Zahnrädchen in Hackenholts Gehirn wieder in Bewegung. Er realisierte, dass Saskia ihn mit Namen angesprochen hatte, sie also gewusst haben musste, dass kein Fremder anrief. Dennoch bekam der Hauptkommissar eine Gänsehaut bei dem Gedanken, ein Kollege aus Norddeutschland könnte im Kommissariat anrufen und zufällig Baumann am anderen Ende der Leitung erwischen. Der Mensch musste doch einen Schock fürs Leben bekommen!
»Hallo? Hosd edzerdla vuur Schregg glei widder aufgleechd?«, fragte Baumann lachend, da er noch immer nichts gesagt hatte.
»Ja, fast. Mein Gott, Saskia, du kannst einen aber auch das Fürchten lehren!« Hackenholt atmete tief durch und konzentrierte sich wieder auf sein ursprüngliches Anliegen. »Pass auf, ich habe Neuigkeiten. Ist Manfred auch da?«
»Der hoggd vis-à-vis.«
»Dann stell mal bitte auf Lautsprecher.« Er wartete, bis er ein Knacken in der Leitung hörte, und berichtete dann kurz, wie sie auf den Schrebergarten gestoßen waren und was sie in der Gartenlaube gefunden hatten. »Das nur zu eurer Info. Es wäre prima, wenn ihr später trotzdem noch die restlichen Gärten in der hintersten Anlage in Mögeldorf abklappern könntet. Morgen besprechen wir dann, wie wir in diesem Punkt weiterverfahren wollen. Einstweilen hätte ich aber noch eine andere Bitte. Saskia, kannst du bei der Stadt Nürnberg anrufen? Beim Gartenbauamt, oder wer auch immer für Kleingartenkolonien zuständig ist. Frag nach, wem der Schrebergarten von Herrn Petzold derzeit gehört. Bis zum Frühjahr hatte Jonas’ Großvater ihn auf alle Fälle gepachtet, wir wissen aber nicht, was der aktuelle Stand ist.«
»Baasd scho. Iech ruf di zrigg, wenni wos waß«, versprach sie ihm fröhlich.
Während Hackenholt telefonierte, hatte Wünnenberg den Weg Richtung Stadtpark eingeschlagen, da der Großvater dort in einem Seniorenwohnzentrum untergebracht war. Überrascht stellte Hackenholt fest, dass sich genau gegenüber vom Heim der Teil des Parks befand, in dem der wunderschöne Neptunbrunnen stand. Die Bewohner der oberen Geschosse mussten einen phantastischen Blick darauf haben. Wünnenberg hielt vor dem langen Gebäudekomplex, der sich über mehrere Hausnummern erstreckte. Die beiden Ermittler stiegen aus und sahen einander ratlos an. War nun der linke oder der rechte Eingang der richtige? Kurzerhand entschieden sie sich für den rechten, da aus ihm gerade eine alte, über ihr Gehwägelchen gebückte Frau herauskam.
Die gläserne Schiebetür, die sich durch einen niedrig angebrachten Schalter öffnen ließ, gab den Weg in eine Art Windfang frei. Rechter Hand hingen lange Reihen von Briefkästen an der Wand, gegenüber ein Speiseplan, Mitteilungen für die Veranstaltungen der Woche und der Hinweis, wann die Fußpflegerin und die Friseurin wieder ins Haus kamen. Doch all das half ihnen bei der Suche nach dem Petzold’schen Großvater nicht weiter. Ein Verzeichnis, in welchem Zimmer welcher Bewohner untergebracht war, fehlte, eine Vorkehrung, die zweifelsohne dem Schutz der Bewohner vor ungebetenen Gästen diente. Unschlüssig ging Wünnenberg ein paar Schritte weiter, geradeaus durch eine Glastür ins Foyer. Doch auch dort erblickte er keinen Empfang. Vielleicht hatten sie ja doch den falschen Eingang gewählt?
»Himmel, wie soll man denn hier nur jemanden finden?«, murmelte Hackenholt. Der Sucherei überdrüssig ging er entschlossen auf eine Tür zu, an der er das Schild »Verwaltung« entdeckt hatte. Er klopfte und trat ein. Eine modisch gekleidete Frau saß mit dem Rücken zu ihm an einem Computer. Sie machte keinerlei Anstalten, sich umzudrehen, also fragte Hackenholt schließlich in den Raum hinein, wo Rudolph Petzold zu finden sei. Die Dame wandte sich abrupt um, nahm, als sie ihn sah, die Ohrstöpsel des Diktiergeräts aus den Ohren und lächelte ihn freundlich an. Hackenholt wiederholte seine Frage. Die Antwort kam wie aus der Pistole geschossen, die Frau musste nicht einmal in ihren Unterlagen nachschauen. Pflegeabteilung, erster Stock, Zimmer 1.11.
Ein paar Minuten später stellte sich leider heraus, dass Zimmer 1.11 verschlossen war. Wünnenberg verdrehte genervt die Augen.
»Hat sie wirklich 1.11 gesagt?«
Hackenholt nickte, machte auf dem Absatz kehrt und lief den Flur entlang. Irgendwo musste auf einer Pflegestation doch Personal zu finden sein. Er kam an einem hellen, freundlichen Aufenthaltsraum vorbei. Ein alter Mann, dem die Haare zu Berge standen, hing schief in seinem Rollstuhl und schlief mit offenem Mund. Eine Frau saß am Fenster und brabbelte vor sich hin. Zwei andere Bewohner spielten Karten, ein paar Wellensittiche flatterten in einer Voliere umher. Hackenholt ging weiter, bis er an einer Teeküche vorbeikam, hinter deren Tür jemand mit Geschirr klapperte. Er klopfte.
Eine junge Frau in weißer Hose und rotem Oberteil fragte ihn, womit sie ihm helfen könne. Ihr osteuropäischer Akzent war nicht zu überhören. Hackenholt wies sich aus und erklärte ihr, dass er Herrn Petzold suche. Sie schüttelte leicht den Kopf.
»Da haben Sie einen ganz ungünstigen Tag erwischt. Herrn Petzold geht es heute nicht sonderlich gut. Ich glaube nicht, dass er Sie verstehen wird.«
Sie ging ihm voran zurück zum Aufenthaltsraum und beugte sich über den Mann, der schlafend im hochlehnigen Rollstuhl saß.
»Herr Petzold. Hier ist Besuch für Sie«, sagte sie nahe an seinem Ohr, während sie mit der Hand leicht das abstehende Haar glättete.
Der alte Mann öffnete die Augen und gab ein paar unartikulierte Laute von sich. »Die Herren sind von der Polizei.« Doch schon während sie ihm dies erklärte, schlossen sich die Augen wieder, und der Mann sank zurück in die Welt, aus der er vor ein paar Sekunden erst aufgeschreckt worden war. Die junge Frau schaute Hackenholt an und zuckte bedauernd mit den Schultern. »Sie sehen ja selbst.«
»Gibt es denn auch Tage, an denen man sich mit ihm unterhalten kann?«, fragte Hackenholt. »An denen er das Geschehen um sich herum wahrnimmt?«
Die Schwester wiegte den Kopf hin und her. »Zunehmend weniger.«
»Nun, da kann man nichts machen«, war alles, was Hackenholt als Antwort in den Sinn kam. Jetzt erst sah er, dass die Pflegerin einen kleinen Anstecker mit ihrem Namen trug. »Schwester Halina, wissen Sie vielleicht, wann Jonas, der Enkel von Herrn Petzold, zum letzten Mal hier war?«
»Oh, das ist schon länger her. Anfang Juni.«
»Besucht er seinen Großvater denn nicht regelmäßig?«
»Anfangs kam er tatsächlich zweimal pro Woche und ist immer mit seinem Opa durch den Stadtpark gefahren. Manchmal blieben sie so lange weg, dass wir uns schon Sorgen gemacht haben. Dann plötzlich ist er überhaupt nicht mehr gekommen. Mich hat das schon verwundert, weil er ein sehr inniges Verhältnis zu seinem Großvater zu haben schien. Wir haben uns sogar in der Teamsitzung kurz darüber unterhalten.«
»Mit dem Zeitpunkt des letzten Besuchs sind Sie sich aber sicher, oder? Manchmal vertut man sich ja bei solchen Schätzungen.«
Der Blick, den sie ihm zuwarf, sprach Bände: Wenn jemand darüber Bescheid wusste, wie leicht Leute das Gefühl für die Zeit verloren, dann sie. »Ja, da bin ich mir ganz sicher. Jonas war zum letzten Mal Anfang der Pfingstferien hier.«
»Na, das scheint also auch nicht so ganz mit dem übereinzustimmen, was uns die Eltern gestern erzählt haben«, brummte Wünnenberg, sobald sie sich von Schwester Halina verabschiedet hatten und außer Hörweite waren. »In meinen Ohren hat das eher so geklungen, als würden sie glauben, dass Jonas seinen Großvater noch immer mehrmals die Woche besucht.«
»Ja. Die eigentliche Frage ist allerdings, warum seine Besuche so plötzlich aufgehört haben.« Bevor Hackenholt noch weitere Spekulationen darüber anstellen konnte, wurde er vom Klingeln seines Handys unterbrochen. Es war Saskia Baumann.
»Also, mied denner Gleingäddner, dou hasd mer er ganz schee hadde Nuss zern Gnaggn geem«, beschwerte sich die Kollegin. »Ersu leichd, wäi mer si des dengd, isses fei ned. Also nix då, vo weeng ermol schnell ban Amd fier Irchendwos oorufm. In Gaddnbauamd homs mi glei an den Nämbercher Schdaddverband der Gleingäddner weiderverwiesn. Däi hammer gsachd, dass däi Kündichung vo soneran Bachdgaddn bei der Vereinsverwaldung bassiern mou, wou der Gaddn hiigherd. In unsern Fall is des der Kleingaddnverein Rehhof. Dernåch is dann widder däi Bezirgsverwaldung fier däi Neuvergåbe zuschdendich. Ganz schee komblizierd, gell?« Sie machte eine Pause.
»Und was ist nun mit dem Garten?«, fragte Hackenholt ungeduldig.
»Däi Bezirgsverwaldung wass nunni, dass der Herr Bedzold sein Gaddn kindichd hodd un dassnern nei vergeem kenner. Nern Vorsiddsndn vo der Vereinsverwaldung Rehhof hobbi bis edz nunni derwischd. Obber däi Fraa vo dera Bezirgsverwaldung hod mer erglärd, dass däi Kündichungsfrisd fier däi Gäddn normålerweis er halbs Jåhr bedrächd.«
»Hmm, das ist dann wohl die Erklärung dafür, warum Jonas immer noch in den Garten gegangen ist, obwohl der schon längst gekündigt wurde«, murmelte Hackenholt. »Danke, Saskia, das bringt uns um einiges weiter.« Er beendete das Gespräch und sah Wünnenberg an. »Auf nach Röthenbach an der Pegnitz. Es ist Zeit, sich mal wieder mit Familie Petzold zu unterhalten.«
Sie waren noch nicht mal bis zum Nordring gekommen, als Hackenholts Telefon erneut klingelte. Diesmal war es Christine Mur.
»Ich habe hier auf dem Grundstück gleich neben dem Häuschen eine lange, schwere Metallstange gefunden. Sie sieht aus wie eine zu groß und zu schwer geratene Brechstange. Keine Ahnung, wozu man so ein Ding braucht, jedenfalls lag es in der Wiese und ist total verrostet. Trotz allem habe ich mit einem Schnelltest ein paar Flecke als Blutanhaftungen identifizieren können. Es ist also durchaus möglich, dass Heinrich Gruber mit dem Ding niedergeschlagen wurde. Wegen dem hohen Gras kommen wir aber leider nur recht langsam voran. Und wer weiß, was hier noch so alles herumliegt.« Sie machte eine Pause, und Hackenholt hörte im Hintergrund Stimmen. »Ach ja, im Geräteschuppen steht eine total verdreckte Schubkarre. Die muss ich auch noch genauer untersuchen. Wie schaut es mit dem Vergleichsmaterial von Jonas aus?«
»Wir sind gerade auf dem Weg zu seinen Eltern. Möchtest du rauskommen und –«
Mur unterbrach ihn heftig. »Frank, ich bin froh, wenn wir hier alles bis zum Einbruch der Dunkelheit durchkämmt haben! Ich kann jetzt ganz sicher nicht weg!« Ein wenig sanfter fuhr sie fort: »Bring mir einfach eine DVD aus dem Zimmer des Jungen und seine Zahnbürste mit. Das reicht. Dann habe ich einen Spurenträger für die daktyloskopische und einen für die molekulargenetische Untersuchung.« Wieder rief jemand etwas im Hintergrund. Es klang dringend. »Du kennst dich doch noch mit den Spurensicherungsgrundsätzen aus, oder? Vergiss nicht, Handschuhe anzuziehen! Asservatenbeutel hast du hoffentlich dabei. Und leg mir dann beides beschriftet auf den Schreibtisch, ja? Ich muss jetzt wirklich Schluss machen.«
Bevor Hackenholt fragen konnte, für wie unfähig sie ihn eigentlich hielt und ob sie ihm überhaupt nichts zutraute, hatte sie schon aufgelegt. Offenbar war das die Retourkutsche dafür gewesen, dass er die Gartenlaube ohne Schutzkleidung betreten hatte.
»Meine Frau hat mir gesagt, dass Sie heute wegen der Adresse vom Schrebergarten angerufen haben«, begrüßte sie Herr Petzold in der Tür stehend.
Hackenholt nickte. »Es gibt Anhaltspunkte, dass sich Jonas dort bis vor Kurzem regelmäßig aufgehalten hat.«
»Aber das ist völlig unmöglich. Wer behauptet denn so einen Schwachsinn?«
»Lassen Sie uns doch bitte hineingehen, Herr Petzold«, bat Hackenholt. »Das ist kein Thema, das wir auf der Türschwelle diskutieren sollten.«
Widerwillig gab der Mann den Weg frei. Wie schon am Vortag gingen sie ins Wohnzimmer. Frau Petzold kam gerade aus der Küche.
»Gibt es etwas Neues?«
Wieder bemerkte Hackenholt schmerzhaft den hoffnungsvollen Tonfall der Frage. »Wir haben zwar noch nicht herausgefunden, wo sich Jonas im Moment aufhält, aber es gibt neue Erkenntnisse.«
»Also, was soll das mit dem Schrebergarten?«, hakte Herr Petzold erneut nach. »Jonas ist garantiert nicht mehr dorthin gegangen.«
»Und warum nicht?«, fragte Hackenholt ruhig.
»Weil wir den Garten gekündigt haben. Jonas wollte ihn unbedingt behalten, damit er später mit seinem Großvater mal hinfahren kann, also habe ich ihm vorgerechnet, wie teuer uns das kommt. Dann gab es ein paar Tage Streit, doch schlussendlich sah Jonas ein, dass wir das Geld zum Fenster hinausgeworfen hätten.«
»Formal ist Ihr Vater aber immer noch der Pächter, nicht wahr? Sie konnten den Garten erst zum Herbst kündigen.« Befriedigt beobachtete Hackenholt den erstaunten Ausdruck, der sich auf Herrn Petzolds Gesicht breitmachte. Doch der Hauptkommissar ließ ihm keine Zeit für eine Entgegnung. »Wo verwahren Sie den Schlüssel für das Gartentor?«
»In einer Schublade im Buffet in der Küche.«
»Könnten Sie ihn holen?«
Wortlos, jedoch mit einer Miene, die deutlich zeigte, für wie sinnlos Herr Petzold diese Aktion hielt, erhob er sich, um der Bitte nachzukommen. Einen Augenblick später ertönte seine Stimme aus der Küche: »Heidi! Wo hast du den Schlüsselbund vom Schrebergarten hin?«
Frau Petzold verdrehte die Augen. »Ich wusste nicht einmal, dass er dort liegt«, sagte sie leise an die Beamten gewandt.
»Heidi!«, kam es wieder aus der Küche.
»Ich hab ihn nicht, Walter!«
»Aber du musst ihn doch weggenommen haben!« Herrn Petzolds feuerroter Kopf erschien im Türrahmen. »Ich habe ihn ganz sicher in die Schublade gelegt.«
»Vielleicht war es ja Jonas«, versuchte Hackenholt den erregten Mann zu besänftigen. »Zumindest würde das erklären, wie er in den Garten gekommen ist.«
»Aber das kann nicht sein!«, insistierte Herr Petzold und setzte sich wieder in seinen Sessel. »Was sollte er dort denn machen? Außer ein paar alten Gartengeräten gibt es da nichts mehr. Die Laube habe ich schon im Frühjahr ausgeräumt.«
»Wir wissen noch nicht, was Jonas dort gemacht hat, aber einer seiner Lehrer hat ausgesagt, dass Jonas bis vor Kurzem regelmäßig in den Garten gegangen ist. Wie dem auch sei«, meinte Hackenholt schnell, als er sah, dass der Vater erneut widersprechen wollte, »wir haben uns das Grundstück bereits angesehen und festgestellt, dass in der Laube jemand übernachtet hat. Höchstwahrscheinlich ein Obdachloser.«
»Was?« Herr Petzold war aufgesprungen. »Dieses unnütze Pack! Wenn ich den erwische! Für den Schaden, den er angerichtet hat, wird er mir aufkommen!«
»Da kann ich Sie beruhigen, soweit ich sehen konnte, ist alles in Ordnung. Wir wollten Ihnen nur Bescheid geben, dass die Spurensicherung den Garten auf Hinweise untersucht und Sie ihn in den nächsten Tagen nicht nutzen können. Wir werden ihn vorläufig versiegeln.«
»Und was hat das alles mit Jonas zu tun?«, fragte Frau Petzold nervös.
»Das wissen wir auch noch nicht«, antwortete Hackenholt ehrlich. »Aber ich fürchte, es gibt noch weitere Ungereimtheiten, von denen Sie nichts wissen. Wann, haben Sie gesagt, war Jonas zum letzten Mal bei seinem Großvater?«
»Letzte Woche, am Montag«, antwortete die Mutter, ohne nachdenken zu müssen.
»Woher wissen Sie das so genau?«
»An dem Abend gab es ein furchtbares Gewitter. Jonas ist erst sehr spät und völlig durchweicht heimgekommen. Ich wollte schon schimpfen, aber er hat gesagt, dass er beim Opa war und den Schwestern geholfen hat, ihn ins Bett zu bringen. An dem Tag haben die Bewohner wohl alle ein bisschen verrückt gespielt, und die Schwestern sind überhaupt nicht hinterhergekommen. Sie können Schwester Halina fragen, sie wird sich sicherlich daran erinnern.«
Hackenholt starrte sie an, dann sagte er leise: »Wir haben vor nicht einmal einer Stunde mit Schwester Halina gesprochen, und sie hat uns ausdrücklich versichert, dass Jonas seit Anfang der Pfingstferien nicht mehr im Pflegeheim war.«
Eine bleierne Stille legte sich über das Wohnzimmer. Plötzlich ballte Herr Petzold die Hand zur Faust und schlug damit auf die Sessellehne.
»Das darf doch alles nicht wahr sein!«, brüllte er und rannte aus dem Zimmer.
»Wir müssen uns jetzt noch einmal in Jonas’ Zimmer umschauen und ein paar Dinge mitnehmen. Vorher hätte ich aber gerne gewusst, ob Ihr Sohn ein eigenes Bankkonto hat. Oder ein Sparbuch, über das er frei verfügen kann.«
»Ein Girokonto.« Frau Petzold klang unendlich müde. »Mein Mann überweist ihm immer sein Taschengeld. Außerdem bringt Jonas das Geld, das er selbst verdient, auf die Bank. Er gibt ja fast nichts aus.« Sie schlug die Hände vors Gesicht und schluchzte. »In dem Punkt ist er wie sein Vater.«
Sobald Hackenholt die Wohnungstür in der Meuschelstraße aufsperrte, kam ihm laute Musik entgegen. Mühelos erkannte er Mark Knopflers virtuoses Gitarrensolo aus den »Sultans of Swing«. Sofort kehrte ein bisschen Schwung in ihn zurück, und er fühlte sich nicht mehr ganz so müde.
Sophie saß am Computer und beantwortete E-Mails. Sie sah nur kurz auf, lächelte ihn an und fragte: »Wollen wir nach deiner rituellen Waschung essen gehen? Wenn du schon mal vor acht nach Hause kommst, sollten wir das nutzen.«
Hackenholt setzte gerade zu einem Nicken an, als ihm Sophies beiläufiger Tonfall auffiel. Außerdem sah sie ihn normalerweise an, wenn sie mit ihm sprach. Sofort war er auf der Hut.
»Woran hattest du denn gedacht?«, fragte er, als müsste er es sich gut überlegen, ob er am heutigen Abend wirklich noch einmal wegwollte. Um keinen Preis würde er sich zu etwas Exotischem überreden lassen.
Sophie blickte auf und lachte lauthals los. Sie hatte seine Gedanken erraten. »Keine Sorge. Ich will nicht schon wieder zum Afrikaner, wobei das Essen sehr, sehr lecker war und ich persönlich sofort wieder hingehen würde. Ich hatte vor, dir ein gemütliches Restaurant zu zeigen. Einen ehemaligen Landgasthof in Großreuth hinter der Veste, den ›Lutzgarten‹. Den gibt es schon seit über dreihundert Jahren, und die Küche ist bodenständig, fränkisch. Besonders zu empfehlen sind die Lendchen und das Schnitzel, aber natürlich stehen auch Bratwürste und Schäufele auf der Karte.«
»Einverstanden! Ich gehe nur schnell duschen, und dann können wir los. Magst du einen Tisch reservieren?«
Sophie schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht, dass das nötig ist. So kurz vor den Sommerferien und noch dazu unter der Woche herrscht dort am Abend sicher kein Andrang. Außerdem gibt es einen großen Garten, da werden wir schon ein Plätzchen finden.«
Eine Viertelstunde später machten sie sich mit ihren Fahrrädern auf den Weg. Von der Meuschelstraße aus brauchten sie gute zehn Minuten. Ganz so leer, wie Sophie vermutet hatte, war es im »Lutzgarten« allerdings nicht. Im Gegenteil: Die Tische draußen waren alle besetzt, weshalb sie sich für einen Platz im Inneren entschieden. Hackenholt bestaunte sofort das altertümliche Bild der »Großreuther Morgengesellschaft«, das gleich rechts neben der Tür in der Gaststube über der hölzernen Wandvertäfelung hing. Es zeigte viele gut gekleidete Herren und zwei weibliche Servierdamen, die vor dem Anwesen saßen.
Sophie stellte sich neben ihn. »Die ›Großreuther Morgengesellschaft‹ ist Mitte des 19. Jahrhunderts gegründet worden. Sie war eine Vereinigung honoriger Nürnberger Bürger, die sich hier allmorgendlich zum gemeinsamen Kaffee versammelten.« Sie machte eine Pause, bevor sie fortfuhr. »Dazu musst du dir vorstellen, dass Großreuth damals noch ein richtiges Dorf war. Bis zur Burg gab es nur Felder und Wiesen. Jeden Morgen sind die Männer um sechs Uhr von der Stadt zu Fuß bis hier herausgelaufen, denn ein Bus existierte damals natürlich noch nicht. Sie kamen sommers wie winters zusammen, heute wäre derlei undenkbar.«
»Woher weißt du das alles?« Wieder einmal war Hackenholt über das Wissen seiner Freundin erstaunt.
»Von meiner Großtante. Sie hat oft davon erzählt, wie es früher hier war.« Als sie seinen fragenden Blick sah, fügte sie hinzu: »Die Familie meiner Mutter stammt aus Großreuth.« Damit rutschte sie auf die Eckbank unter dem Bild und überließ Hackenholt den Stuhl. Da Sophie wusste, wie sehr er sich für Geschichte interessierte, erzählte sie weiter, nachdem sie ihre Bestellung aufgegeben hatten. »Großreuth wurde erstmals im 14. Jahrhundert erwähnt, aber es ist wahrscheinlich, dass es auf eine Rodung des königlichen Wirtschaftshofes aus dem 11. oder 12. Jahrhundert zurückgeht. In den Markgrafenkriegen und dem Dreißigjährigen Krieg wurde das Dorf weitgehend zerstört, und 1796 wurde Großreuth dann sogar preußisch!« Missbilligend schüttelte sie den Kopf. »Aber es sollte noch schlimmer kommen, denn 1806 wurden wir ja bekanntlich bayerisch.« Sophie wand sich, als würde ihr ein Schauer den Rücken hinunterlaufen. Als echte Fränkin war sie natürlich antibayerisch eingestellt. »Die Eingemeindung nach Nürnberg erfolgte übrigens erst 1899.«
Nachdem sie vorzüglich gegessen hatten, gingen sie zu ihren Fahrrädern zurück.
»Lass uns die Großreuther Straße runterlaufen, dann kann ich dir ein Kleinod zeigen«, bat Sophie.
Eine Weile schlenderten sie satt, zufrieden und schweigend die Dorfstraße entlang, die sich dadurch auszeichnete, dass sie keinen erhöhten Bürgersteig besaß: Der Fußgängerbereich war lediglich durch eine Regenrinne von der Fahrbahn abgetrennt. Auch eine Mittellinie gab es auf der schmalen Straße nicht, die damals nach den Bedürfnissen von Fuhrwerken angelegt worden war und nicht den DIN-Vorschriften des heutigen Straßenbaus entsprach. Auf Höhe der Hausnummer 97 blieb Sophie stehen.
»Schau mal hier!« Sie zeigte zur anderen Straßenseite hinüber. »Das ist das letzte in Nürnberg erhaltene Schwedenhaus.«
Hackenholt musterte das unauffällige kleine Häuschen, das von einem mächtigen, tief heruntergezogenen Walmdach fast erdrückt wurde. Durch die drei kleinen Fensterchen, alle mit hölzernen Fensterläden, drang bestimmt nur wenig Licht ins Innere.
»Auf den ersten Blick sieht es nicht gerade einladend aus«, stellte der Hauptkommissar nach eingehender Betrachtung fest. »Was ist so Besonderes daran? Und warum wird es Schwedenhaus genannt?«
»Weil es noch aus der Zeit des Dreißigjährigen Krieges stammt, der ja auch Schwedenkrieg heißt.«
»Dieses Haus wurde im 17. Jahrhundert gebaut?«, fragte Hackenholt ungläubig.
Sophie schüttelte den Kopf. »Nicht ganz. Es lässt sich sogar auf das Jahr 1556 zurückdatieren. Ein typisches Bauernhaus. Früher waren sie allerdings strohgedeckt.« Sie hielt inne. »Kennst du Albrecht Dürers ›Ansicht von Kalchreuth‹? Das Bild zeigt, dass um 1500 die Dörfer in der Gegend alle von solchen Bauten geprägt waren. Soweit ich mich erinnern kann, gehört es allerdings zu den Aquarellen, die seit 1945 verschollen sind. Aber in verschiedenen Kunstführern gibt es Abbildungen davon.« Sie sah noch einmal zu dem Häuschen hinüber. »Kannst du dir vorstellen, dass das Haus vor einem Jahr um ein Haar abgerissen worden wäre?«
Sie liefen weiter, bis sie an einem eingeschossigen Bauernhaus aus Sandstein mit dreigeschossigem Mäander-Volutengiebel und Stockwerksgesims vorüberkamen. Sophie blieb stehen.
»Hier hat früher meine Großtante gelebt«, sagte sie leise. »Das Haus stammt aus dem Jahr 1840. Und dort drüben«, sie deutete auf einen Hügel rechter Hand der Einfahrt, »das ist der Kellerbuckel. Quasi ein externer Keller, ein ummauerter Raum mit einer Gewölbedecke. Von außen hat man Erde zu einem kleinen Berg darüber aufgehäuft, damit es drinnen zu jeder Jahreszeit schön kühl ist. Die Häuser wurden damals nicht unterkellert.« Sophie machte eine Pause, bevor sie fortfuhr. »So ein Haus habe ich mir immer gewünscht. Immer. Aber es soll wohl nicht sein.« Sie legte einen Arm um Hackenholt. »Vielleicht sollten wir endlich aufhören, ein altes Haus zu suchen, und uns nach dem Gegenteil umschauen, nach einem hypermodernen? Jedes alte würde ich immer mit diesem hier vergleichen.«
Hackenholt drückte Sophie an sich. Er merkte, wie verbunden sie sich dem Haus fühlte und dass es ihr wichtig gewesen war, es ihm endlich zu zeigen.
»Wenn du glaubst, dass du dich auch in einem hypermodernen Haus wohlfühlst, können wir uns gerne nach einem umsehen. Wie wäre es mit einem quadratischen mit runden Fenstern?«, fragte er um Leichtigkeit bemüht. Im Licht der aufflammenden Straßenlaternen sah er zu seiner Erleichterung, dass Sophie grinste.
»Ja, genau so eins. Und rot muss es sein. Rot mit weißen Fenstern.«