Dienstag
In dieser Nacht schlief Hackenholt sehr unruhig. Er träumte, Sophie und er hätten ihr Traumhaus gefunden. Ein modernes rotes. Sie hatten gerade den Vertrag, den ein Klempner auf einem Klemmbrett mitbrachte, unterschrieben und einen Koffer voller Geldscheine übergeben, als das Haus vor ihren Augen in große Betonbrocken zerfiel. Was übrig blieb, war eine gigantische rötliche Staubwolke in der typischen Form eines Atompilzes.
Hackenholt wachte schweißgebadet auf. Draußen wurde es gerade hell. Da an Schlaf nicht mehr zu denken war, stand er auf, duschte, zog sich an und radelte in die Arbeit.
Im Präsidium bog er im zweiten Stock rechts in den Korridor ab. Sofort roch er, dass etwas nicht stimmte. In der Luft lag ein beißend scharfer Geruch. Schnüffelnd ging er den Gang entlang, bis er vor dem Besprechungsraum stand. War es nur Einbildung, oder kam ihm tatsächlich eine dünne Rauchschwade durch die angelehnte Tür entgegen? Er stieß sie mit einem Tritt auf und sah sofort den Grund des Übels: Wünnenbergs Kaffeemaschine. Die Kanne war leer, der Kaffee eingebrannt, die Heizplatte glühte rot. Hatten moderne Maschinen normalerweise nicht eine Überhitzungssicherung, die die Platte automatisch abschaltete? Mit einem schnellen Griff riss Hackenholt den Stecker aus der Dose und kickte die Kanne von der Platte auf die Abtropffläche neben der Spüle, wo sie mit einem leisen »Pling« zersprang.
Der Tag begann ja wirklich grandios! Wie sollte er Wünnenberg den Verlust der Maschine beibringen, ohne einen emotionalen Zusammenbruch seines Kollegen zu riskieren? Hackenholt riss sämtliche Fenster in dem Zimmer auf, damit der Gestank abziehen konnte, dann ging er weiter in sein Büro. Er staunte nicht schlecht, als er dort Wünnenberg auf dem Fußboden liegend antraf. Schlafend! Hackenholt selbst hatte das schon das eine oder andere Mal getan, wenn ihn ein Fall dazu zwang, auch nachts in der Dienststelle zu bleiben, aber so eine Situation lag gerade nicht vor, und außerdem war Wünnenberg doch gestern nach Hause gegangen! Der Kollege wachte auf und stöhnte.
»Mein Gott, ist das hier unbequem!« Die dünne Decke, die unter ihm auf dem Boden ausgebreitet lag, hatte den harten Betonboden nicht weicher werden lassen. »Guten Morgen.«
»Was machst du hier?«, fragte Hackenholt verwundert.
Wünnenberg winkte ab. »Wie spät ist es denn?«
»Kurz vor sechs.«
Sein Kollege riss die Augen auf. »Fängst du immer so früh an?«
Hackenholt schüttelte den Kopf. »Ich habe heute schlecht geschlafen. Oder vielleicht war der Traum auch nur eine Eingebung, dass ich das Polizeipräsidium retten muss?« Wünnenbergs Gesichtsausdruck war anzusehen, dass er Hackenholt geistig nicht folgen konnte. »Ein gewisser Jemand hat vergessen, deine Kaffeemaschine auszuschalten«, begann der Hauptkommissar zögerlich.
»Mist!« Wünnenberg sprang auf.
»Bleib hier. Es ist schon zu spät.« Doch Wünnenberg war bereits davongesaust. Das befürchtete Wutgebrüll blieb allerdings aus. Stattdessen kam Hackenholts Kollege mit hängenden Schultern zurück und setzte sich kleinlaut an seinen Schreibtisch.
»Im Moment geht aber auch wirklich alles schief«, jammerte er.
»Wieso? Was ist denn los, Ralph? Warum hast du hier geschlafen?«
»Petra ist von der Elfenbeinküste zurück.«
Hackenholt begriff sofort. Petra war Wünnenbergs Freundin, oder sollte man sie besser als Exfreundin bezeichnen? Obwohl er auch privat sehr eng mit seinem Kollegen befreundet war, hatte Hackenholt sie nicht oft getroffen, da sie auf ihn wie auf ein rotes Tuch reagierte. Sie war Ärztin und hatte sich vor anderthalb Jahren für einen Auslandseinsatz mit der Organisation »Ärzte ohne Grenzen« entschieden. Allerdings ohne Ralph in den Entscheidungsprozess mit einzubeziehen. Sie hatte ihn vor vollendete Tatsachen gestellt und damit der zu diesem Zeitpunkt schon mehr als instabilen Beziehung den Rest gegeben.
»Weißt du was? Jetzt duschst du erst mal, und dann gehen wir in der Stadt gemütlich frühstücken. Zeit genug haben wir ja, so früh, wie wir auf sind.«
Im Café »Der Beck« am Weißen Turm bestellten sie sich ein Gute-Laune-Frühstück und setzten sich mit ihren Tabletts bewaffnet an einen Fenstertisch. Erst nachdem sie den ersten Schluck Kaffee getrunken und in ihre Brötchen gebissen hatten, nahm Hackenholt das Gespräch wieder auf.
»Du hast mir gar nicht erzählt, dass Petra wieder zurückkommt«, sagte er vorsichtig. »Mein letzter Stand war, dass sie für immer da unten bleiben wollte.«
»Meiner auch. Aber als ich gestern nach Hause kam, stand sie in der Wohnung. Einfach so. Ohne Vorankündigung. Ich hätte sie fast für einen Einbrecher gehalten. Jedenfalls hat es keine fünf Minuten gedauert, bis der Zoff wieder losging. So als ob sie gar nicht weg gewesen wäre.«
Hackenholt dachte an die Zeit zurück, bevor er Sophie kennengelernt hatte und Petra ins Ausland gegangen war. Wie oft hatte er Wünnenberg in seiner Wohnung Asyl gewährt. »Warum hast du mich nicht angerufen? Du hättest doch wie früher bei mir schlafen können. Diesmal sogar in meinem Bett, ich bin doch die ganze Zeit bei Sophie.«
»Ich war mir nicht sicher, wie ihr das handhabt. Ob ihr immer noch in beiden Wohnungen wohnt. Ich kann ja schlecht anrufen und nach meinem angestammten Platz auf dem Sofa fragen, wenn Sophie bei dir schläft.«
»Auch dann wäre das Sofa frei gewesen!«, grinste Hackenholt. »Aber sag mal, wie soll das jetzt weitergehen? Wie stellst du dir das vor?«
Wünnenberg zuckte mit den Schultern. »Um ehrlich zu sein, ich habe nicht die geringste Ahnung. Ich werde mir wohl schnellstmöglich eine andere Bleibe suchen müssen, es ist ja Petras Wohnung. Aber mit ihr zusammen halte ich es einfach nicht aus.«
Hackenholt überlegte einen Moment lang. »Wenn du magst, kannst du bei mir wohnen, bis du etwas gefunden hast. Ich habe Sophie letzte Woche sowieso versprochen, dass ich langsam meinen Hausstand auflöse und zu ihr ziehe. Nun ja, sobald ich eben dazu komme, das ganze Zeug auszumisten. Da es ja nun nicht gerade so aussieht, als ob wir unser Traumhaus in absehbarer Zeit finden, wollte ich meine Bücher und ein bisschen Kleinkram erst mal einlagern. Das kommt billiger, als weiterhin zwei Wohnungen zu zahlen. Und den Rest muss ich entsorgen. Wir brauchen schließlich weder zwei Sofas, die nicht zusammenpassen, noch zwei Küchen.«
»Ist das dein Ernst? Es würde dich also nicht stören, wenn ich mit meinem ganzen Krempel deine Wohnung belagere?«
Hackenholt schüttelte den Kopf. »Die steht doch sowieso praktisch leer, wenn man mal von der Tatsache absieht, dass sie noch nicht ausgeräumt ist. Lass uns heute Abend nach dem Dienst zusammen hinfahren. Dann können wir vielleicht schon ein bisschen Platz schaffen.« Er holte seinen Schlüsselbund hervor, machte die Haus- und Wohnungsschlüssel ab und drückte sie seinem Kollegen in die Hand.
»Und wie kommst du jetzt rein?«
»Die Ersatzschlüssel hängen bei Sophie.«
»Großartig! Dann machen wir heute einen Männerabend in deiner Wohnung und räumen ein bisschen, okay? Und wenn der Saturn nachher öffnet, geh ich auch eine neue Kaffeemaschine kaufen.« Wünnenberg war voller Tatendrang.
»Hast du einen Moment Zeit?« Sven Leichtle steckte den Kopf zur Bürotür herein.
Hackenholt nickte und bot ihm den Besucherstuhl an.
»Ich habe gehört, dass du dich für die Orlowa interessierst«, begann der Kollege vom Drogenkommissariat. »Warum eigentlich?«
Hackenholt erzählte ihm, in welchem Zustand sie deren Wohnung am Vortag vorgefunden hatten.
Leichtle pfiff durch die Zähne. »Und gibt es schon irgendwelche Anhaltspunkte?«
»Nicht viele. Wir warten noch auf die Auswertungen der Spurensicherung. Aber ich gehe schwer davon aus, dass die Wohnung zum Schauplatz eines Verbrechens geworden ist.«
»Hm. Die Orlowa kann daran aber nicht beteiligt sein. Ich war bei der Durchsuchung ihrer Wohnung vor drei Wochen selbst dabei, da sah alles noch ganz manierlich aus.«
Hackenholt machte sich eine schnelle Notiz auf seiner Schreibtischunterlage. »Das habe ich mir schon fast gedacht. Allerdings weigert sie sich partout zu sagen, wer einen Zweitschlüssel hat.«
»Ja, die Orlowa ist eine harte Nuss. Aber warum ich eigentlich gekommen bin: Bei ihrer Festnahme haben wir doch eine Menge Pillen sichergestellt. Über eintausend Stück, um genau zu sein. Deswegen kam sie ja auch in U-Haft, sonst hätten sie die Kollegen ins Ausreiselager in die Hafenstraße nach Fürth gebracht.«
Hackenholt nickte.
»Und jetzt rate mal, was das für Pillen sind. Da kommst du nie drauf! So etwas hat es bisher nämlich noch nicht gegeben! Die bestehen aus gepresstem GHB-Pulver! Deswegen hat es mit der Analyse auch so lange gedauert. Die Chemiker haben die Pillen auf alle gängigen Stoffe hin untersucht, aber auf GHB sind sie erst ganz zum Schluss gekommen.«
»GHB in Pillenform? Das ist wirklich etwas ganz Neues.« Hackenholt schüttelte verständnislos den Kopf. »Aber warum presst es jemand in eine Form, wenn man das Zeug dann doch wieder in einem Getränk auflöst? Warum macht man sich überhaupt die Mühe, daraus ein Pulver herzustellen? Flüssig ist es doch am einfachsten unterzumischen.«
»Für mich sieht das eher nach einer Spielerei aus. Du hast mir doch erzählt, dass dein verschwundener Jugendlicher ein Chemiegenie ist. Dazu würden die Pillen absolut passen. Einfach nur das GBL aus den Putzmitteln herauszulösen und in GHB zu synthetisieren war ihm nicht genug Herausforderung. Er wollte etwas Einzigartiges machen. Allerdings kann ich dir keine Verbindung zwischen ihm und der Orlowa liefern.«
»Damit kann ich dir aushelfen«, seufzte Hackenholt. »Christine Mur hat gestern vor Ort einen sehr auffälligen Fingerabdruck wiedererkannt, auf den sie schon in der Gartenhütte gestoßen ist, in der wir die leeren Kanister mit dem Gebäudereiniger sichergestellt haben.«
Wieder pfiff Leichtle durch die Zähne. »Schau an, schau an. Dann liege ich mit meiner Vermutung vielleicht gar nicht mal so falsch!«
Nachdem Leichtle gegangen war, rief Hackenholt bei dem Kollegen an, der sich um Jonas’ Laptop kümmerte. »Konntest du schon herausfinden, mit wem der Junge sich über den Messenger unterhalten hat?«
»Frank, du hast keine Vorstellung, wie aufwendig das ist, nicht wahr?«
Hackenholt brummte eine unverständliche Antwort, denn er wollte nicht zugeben, dass er in der Tat nicht den blassesten Schimmer davon hatte, wie man derlei Gespräche rekonstruieren konnte.
»Zuerst muss man die einzelnen IPs herausfinden«, erklärte ihm der Kollege. »Darüber kann man dann mit Hilfe des Internetproviders den jeweiligen Anschlussinhaber ermitteln. Das dauert alles seine Zeit und ist eine Papierschlacht sondergleichen. Wenn wir Glück haben, kann ich dir Ende der Woche sagen, mit wem der Junge Kontakt via Messenger hatte.«
Hackenholt bedankte sich und legte frustriert auf. Ende der Woche! Einem Impuls folgend griff er wieder zum Hörer und rief den Kollegen noch mal an.
»Es ist immer noch Dienstag, Frank!«
»Danke, dass du mich daran erinnerst, aber kannst du mir in der Zwischenzeit die Liste mit den Namen schicken, die im Messenger gespeichert sind? Die hast du letztes Mal nicht dagelassen.«
»Du meinst die Pseudonyme?«
»Ja, genau die.«
»Klar, das ist kein Problem. Ich schicke sie dir gleich per Mail.«
Sobald Hackenholt die Namen vor sich auf dem Bildschirm hatte, griff er ein drittes Mal zum Telefon. Diesmal wählte er Saras Handynummer. Sie war noch immer die Einzige, von der er definitiv wusste, dass Jonas mit ihr befreundet war. Warum sollte sie sich also nicht auch über den Messenger mit ihm unterhalten haben? Jugendliche taten das, auch wenn sie sich schon den ganzen Tag über gesehen hatten. Sara meldete sich sofort. Sie klang ziemlich enttäuscht, als sie hörte, wer der Anrufer war. Ihre Reaktion erinnerte Hackenholt an die von Frau Petzold.
»Du hast gehofft, dass es Jonas ist, nicht wahr?«, fragte er ins Blaue hinein. Für einen langen Moment blieb es still in der Leitung, dann hörte er sie seufzen.
»Ja«, sagte sie gedehnt. »Seit Dienstag warte ich ständig darauf, dass er sich meldet. Wenn er von zu Hause aus anruft, ist die Telefonnummer auch immer unterdrückt. Deswegen habe ich gedacht …« Sie verstummte.
»Du hast also noch nichts von ihm gehört?«
»Nein.« Aus dem Wort sprach die gesamte Niedergeschlagenheit, die sich in den letzten Tagen in dem jungen Mädchen aufgestaut hatte.
»Sara, ich muss noch einmal mit dir reden«, sagte Hackenholt sanft. »Wir tun unser Möglichstes, um Jonas zu finden, aber ich brauche dafür deine Hilfe. Alleine komme ich nicht mehr weiter.«
»Was wollen Sie denn wissen?« Sie klang schon wieder vorsichtig.
»Wo bist du gerade? Lass uns irgendwo treffen, wo wir reden können.«
»Ich bin in der Breiten Gasse. Wenn Sie wollen, kann ich zu Ihnen ins Präsidium rüberkommen. Das wollte ich mir sowieso mal anschauen.«
Hackenholt erklärte ihr den Weg zur Pforte und was sie dort tun musste, dann rief er schnell noch Sophie an.
»Schatz, sag mal, hast du eigentlich schon Umzugskartons organisiert?«
»Ja.« Sophie klang verblüfft. »Ich habe von einer Freundin fünfundzwanzig Stück bekommen. Wieso?«
»Ralph zieht vorübergehend in meine Wohnung. Heute Abend wollen wir ein bisschen Platz für ihn schaffen, und bei der Gelegenheit könnte ich doch schon mal ein paar Kisten packen.«
»Okay, dann werde ich die Kartons im Laufe des Tages bei dir vorbeifahren und in deine Garage stellen.«
Keine fünf Minuten später meldete der Pförtner am Eingang Jakobsplatz eine Besucherin für ihn. Hackenholt zuckte noch immer zusammen, wenn er die ungewohnte Stimme des Mannes hörte. Seit dem Frühjahr überwachte kein Kollege mehr, sondern ein Mitarbeiter einer Privatfirma den Haupteingang des Polizeipräsidiums. Sparmaßnahmen. Wieder einmal. Als ob es nicht genug Beamte gäbe, die sich für ihre letzten paar Dienstjahre ein ruhiges Plätzchen verdient hätten und für die man händeringend eine passende Abteilung suchte. Nicht alle hatten die Karriereleiter bis zum äußersten Ende erklommen und waren damit überteuerte Pförtner. Und selbst wenn, musste man auch für sie eine Beschäftigung finden. An die Öffentlichkeitswirkung wollte Hackenholt gar nicht erst denken: Die Polizei ließ sich von einem Sicherheitsdienst beschützen! Was für eine Farce!
Eilig lief der Hauptkommissar die Treppen hinunter und holte Sara in der verglasten Vorhalle ab. Um eine solide Grundlage für ein offenes Gespräch zu schaffen, machte er mit ihr eine Haustour, zeigte ihr die Einsatzzentrale und ein paar andere Abteilungen, bevor sie schließlich in sein Büro gingen.
»Wir suchen noch immer nach Jonas. Auf seinem Laptop ist ein Messenger installiert. So einen benutzt du doch sicher auch, oder?«
Sie nickte.
»Hier ist eine Liste mit Nicknames, von denen wir gerne wissen würden, wer sich dahinter verbirgt.«
Sara studierte die Liste. »Sorry«, sagte sie nach einer Weile kopfschüttelnd. »Aber außer meinem eigenen kenne ich keinen von denen. Ich bin das hier.« Sie deutete auf den Namen Swan. »Aber ich weiß, dass Jonas Freunde auf der ganzen Welt hat. Das ist ja gerade das Coole an dem Messenger: Man kann darüber mit Menschen in allen möglichen Ländern telefonieren oder schreiben. Außerdem ist Jonas immer in vielen Internetforen unterwegs und –« Abrupt hielt sie inne und lehnte sich mit verschränkten Armen zurück.
»Und informiert sich, wie man Drogen herstellt«, beendete Hackenholt den Satz.
Das Mädchen sah ihn erschrocken an und ließ die Hände in den Schoß fallen.
»Sara, du weißt mehr, als du zugibst. Wenn wir Jonas finden wollen, brauchen wir jede Information, die wir kriegen können. Jede Kleinigkeit. Du versuchst Jonas zu schützen, das ist sehr nobel von dir, aber wir sind die letzten Tage auch nicht auf der faulen Haut gelegen. Zwar wird Beamten oft nachsagt, dass sie nichts anderes können als das, aber wir haben Dinge über Jonas herausgefunden, die ihn in kein sonderlich gutes Licht rücken.«
»Aber das hat er doch alles nicht freiwillig gemacht!«, platzte es aus ihr heraus. »Die haben Jonas dazu gezwungen. Von sich aus hätte er doch nie so einen Scheiß hergestellt.« Sie sprang von ihrem Stuhl auf und tigerte im Zimmer auf und ab.
Hackenholt beobachtete sie eine Weile, dann sagte er beschwichtigend: »Okay, jetzt setz dich wieder hin. Und dann erzählst du mir, was passiert ist.«
Nervös biss sie an ihrem Daumennagel herum, kam seiner Aufforderung aber schließlich nach. Dem Hauptkommissar fiel auf, dass alle Fingernägel kurz und abgekaut aussahen.
»Du weißt also von den Drogen?«
Sie nickte. »Wir haben uns im Frühjahr regelmäßig im Schrebergarten seines Großvaters getroffen. Einfach bloß so zum Quatschen«, fügte sie schnell hinzu. »Als ich in den Pfingstferien aus dem Urlaub zurückkam, bin ich gleich zum Garten gefahren und durch das Loch im Zaun hineingekrochen. Dann habe ich plötzlich Stimmen gehört. Ich weiß auch nicht warum, aber ich wollte nicht gesehen werden und habe mich versteckt. Ich dachte, Jonas wäre vielleicht mit seinem Vater da. Eigentlich hatte ich vor, mich unbemerkt wieder rauszuschleichen und ein anderes Mal wiederzukommen, aber dann klang es plötzlich so, als würden sie streiten. Ich wollte Jonas helfen, aber wenn ich auf einmal einfach so in der Laube gestanden wäre, hätte das bei seinem Vater ganz sicher nicht zur Deeskalation beigetragen. Also bin ich schnell aus dem Garten gelaufen und habe von außen am Tor gerüttelt und laut nach Jonas gerufen. Falls sein Vater blöd schauen sollte, hätte ich behaupten können, dass ich Jonas und seinen Großvater letztes Jahr mal im Garten besucht hätte und gerade nur zufällig vorbeigekommen bin. Jedenfalls hat der Streit daraufhin sofort aufgehört. Ich habe trotzdem weitergerufen, und schließlich kam Jonas ans Tor. Er hat es nur einen Spaltbreit aufgemacht, sodass ich nicht hineinschauen konnte. Ich glaube, außer ihm stand noch jemand da.« Sara machte eine Pause.
»Wie kommst du darauf?«
»Weil …«, sie schluckte, »weil er mich angeschrien hat. ›Hau ab, du blöde Kuh! Du hast hier nichts verloren! Verzieh dich!‹« Wieder schluckte sie. »Unter normalen Umständen hätte Jonas so etwas niemals zu mir gesagt. Verstehen Sie? Wir sind gute Freunde. Und dann waren da noch seine Augen. Er hatte sie weit aufgerissen, und … ich habe ihm angesehen, dass er Angst hatte. Ich meine richtige Angst.« Sie rieb sich mit den Fingern über die Stirn, als würden ihr die Gedanken Schmerzen bereiten. »Ich wusste mir nicht anders zu helfen, als zurückzubrüllen, dass ich sowieso nichts von ihm will, weil er mir zu doof ist, und ich eh nur aus dem Nachbargarten rübergekommen bin, weil mich meine Eltern geschickt haben. Dann habe ich noch gesagt, der Mann vom Kleingartenverein sei bei uns und würde in fünf Minuten auch zu ihm rüberkommen. Wegen der Pacht.«
Hackenholt bewunderte insgeheim die geistige Wendigkeit des Mädchens.
»Ich bin natürlich nicht weggegangen, ich konnte Jonas ja nicht alleine lassen. Also habe ich mich auf der anderen Straßenseite hinter den Bäumen versteckt und auf die Uhr geschaut. Nach ein paar Minuten sind zwei Typen durch das Tor herausgekommen und haben es hinter sich zugezogen – Jonas war nicht dabei. Ich habe einen ziemlichen Schrecken bekommen.
Sobald sie außer Sichtweite waren, bin ich wieder zurück zu dem Loch im Zaun geschlichen und hindurchgestiegen. Zu meiner Erleichterung saß Jonas auf der Schwelle der Laube. Er hatte das Gesicht in seinen Händen vergraben und hat mich gar nicht wahrgenommen. Erst als ich fast vor ihm stand, hat er mich gehört und ist furchtbar erschrocken. Er wollte sofort wissen, ob mich jemand gesehen hat, als ich in den Garten geklettert bin, aber die Typen waren ja schon längst weg, bevor ich aus meinem Versteck rausgekommen bin. Ich habe ihn natürlich gefragt, was los war und was die von ihm gewollt haben, aber er hat nur den Kopf geschüttelt und immer wieder gesagt, dass ich mich da raushalten soll, damit ich nicht mit hineingezogen werde. Durch die offene Tür zur Gartenlaube habe ich gesehen, dass auf dem Tapeziertisch Messzylinder, Mörser, ph-Papier und so weiter herumlagen. Es sah aus wie die Vorbereitungen für einen Versuch im Chemieunterricht. Als ich ihn danach fragte, ist er total panisch geworden. Er hat mir das Versprechen abgenommen, nie wieder in den Garten zu kommen und den Tag und alles, was ich gesehen habe, aus meinem Gedächtnis zu streichen.« Sie machte eine Pause und dachte nach. »Dabei war er nicht unfreundlich, hat sich sogar für das, was er am Tor zu mir gesagt hatte, entschuldigt. Ich sollte einfach nicht in die Sache mit hineingezogen werden. Das war ihm wichtig. Ich habe mich auch daran gehalten, weil es mir wie ein Vertrauensbruch vorgekommen wäre, wenn ich heimlich angefangen hätte rumzuschnüffeln. Aber in der Schule habe ich ihn beobachtet. Er hat sich noch stärker als früher von allen zurückgezogen. Auch von mir. Außerdem wurde er immer nervöser, richtiggehend paranoid. Er hat sich andauernd umgedreht, wenn er mit mir sprach. Vorletzte Woche, also in der Woche, bevor er verschwunden ist, war es besonders schlimm.« Sie hielt kurz inne. »Am Dienstag hat er sich dann in beiden Pausen mein Handy zum Telefonieren ausgeliehen. Er wurde an dem Tag immer unruhiger, bis er am Mittag nach Schulschluss plötzlich an der Straßenbahnhaltestelle vor mir stand. Er war total außer sich und hat gesagt, dass er es nicht mehr länger aushält. In beiden Pausen hatte er vergeblich versucht, unseren Betreuer von den Coolridern zu erreichen. Als Nächstes wollte er in Lauf zur Polizei gehen. Ich habe ihn gefragt, warum und ob ich ihm helfen kann und ihn begleiten soll, aber er hat nur den Kopf geschüttelt. Dann ist meine Straßenbahn gekommen, ich bin eingestiegen und …« Sie konnte die Tränen nicht mehr zurückhalten. »Ich denke jetzt immer, wenn ich nicht eingestiegen wäre, was wäre dann passiert? Wäre Jonas dann nicht verschwunden?« Hilfesuchend sah sie Hackenholt an.
»Ich kann deine Gedanken gut verstehen, aber das ist der falsche Weg. Du hast ihm deine Hilfe angeboten, und er hat sie abgelehnt. Was hättest du noch tun können? Er wollte das alleine zum Abschluss bringen.« Insgeheim hoffte Hackenholt, Jonas’ Verschwinden bedeutete nicht, dass er, statt bei der Polizei anzurufen, ein anderes Ende für sich gewählt hatte. Doch zunächst versuchte der Hauptkommissar sich wieder auf Sara zu konzentrieren. »Kannst du mir die beiden Typen beschreiben, die aus dem Garten gekommen sind?«
Sara nickte und wischte sich mit dem Handrücken übers Gesicht. Hackenholt holte ein Päckchen Taschentücher aus seiner Schreibtischschublade und bot es ihr an.
»Dan– hicks. Danke.« Sie hatte Schluckauf bekommen. Hackenholt stand auf und holte ihr ein Glas Leitungswasser. Sie leerte es in vielen kleinen Schlucken, dann beantwortete sie endlich seine Frage. »Ja, ich kann die beiden beschreiben, aber ich habe sie noch nie zuvor gesehen. Sie sahen sich ziemlich ähnlich. Beide hatten ganz kurz geschorene Haare, fast wie Skins, auch wenn es keine waren. Als sie weggegangen sind, haben sie sich in irgendeiner fremden Sprache unterhalten, die ich nicht verstehen konnte.«
»Wie groß und wie alt waren sie denn?«
»Der eine war etwa so groß wie Sie.« Sara musterte Hackenholt. »Und auch sehr schlank, aber nicht so dünn wie Ihr Kollege.« Sie nickte zu Wünnenberg hinüber, der die ganze Zeit so unauffällig wie möglich an seinem Computer gearbeitet hatte. »Der andere war jünger und kleiner. Und beide hatten Jogginghosen an. Diese scheußlichen, mit Druckknöpfen an der Seite. Außerdem trugen sie Lederjacken, obwohl es überhaupt nicht kalt war.«
Sara mühte sich noch eine gute Viertelstunde mit der Beschreibung ab, aber sie hatte die Gesichter der beiden jungen Männer nur einen kurzen Moment lang gesehen. Hackenholt gab ihr seine Visitenkarte für den Fall mit, dass ihr noch etwas einfiel. Auf der Rückseite notierte er ihr zusätzlich seine Handynummer. Als sie zum Ausgang gingen, schauten sie beim Erkennungsdienst vorbei, da Sara sich bereit erklärt hatte, freiwillig ihre Fingerabdrücke abzugeben, damit ihre Spuren von denen, die im Inneren der Laube gefunden worden waren, ausgeschlossen werden konnten.
»Ich habe Neuigkeiten«, begrüßte Christine Mur Hackenholt, als er wieder in sein Zimmer zurückkam. Sie saß auf seinem Schreibtischstuhl und zerlegte in aller Gemütsruhe sämtliche seiner Kugelschreiber. Einen nach dem anderen. »Gibt es heute keinen Kaffee?«
»Die Kanne hatte heute Morgen bedauerlicherweise einen kleinen, aber tödlichen Unfall. Außerdem, liebste Christine, wäre ich dir wirklich dankbar, wenn du nicht alle meine Stifte ruinieren würdest. Gelegentlich muss ich mir nämlich auch noch etwas notieren.« Mit diesen Worten nahm er ihr seinen Lieblingsstift aus der Hand, den sie gerade in seine Einzelteile auflösen wollte.
Als hätte sie nur Hackenholts ersten Satz gehört, griff Mur nach einem anderen Kugelschreiber. »Ach, deshalb stinkt es hier so grausam. Na ja, auch Kaffeekochen will gelernt sein. Sei froh, dass du Sophie zu Hause hast, die dich versorgt!«
Hilfesuchend sah der Hauptkommissar zu Wünnenberg, doch der war nicht an seinem Platz, wie er erst jetzt bemerkte. »Wolltest du mir nicht irgendwelche Neuigkeiten erzählen?«, fragte er mit einem Seufzer.
»Ja, aber hock dich doch erst mal hin, du trägst ja hier die ganze Ruhe raus.«
Da Mur nach wie vor keine Anstalten machte, sich zu erheben, nahm Hackenholt, um Gleichmut bemüht, in seinem eigenen Büro auf dem Besucherstuhl Platz.
Als die Leiterin der Spurensicherung endlich zur Sache kam, fixierte sie noch immer die auseinandergebauten Stifte, die sie nun in neuen, aberwitzigen Kombinationen zusammenzubauen versuchte. »Erstens: In der Wohnung von dieser Orlowa waren jede Menge Fingerabdrücke. Zweitens: Alle Fingerabdrücke – bis auf die von der Orlowa und die eines Deutschrussen, den wir in der Kartei haben – stimmen mit den Abdrücken in der Gartenlaube überein. Drittens: Wie gerade gesagt gehört eine der Fingerspuren aus der Wohnung einem Deutschrussen, der in unserer Kundendatei gespeichert ist. Viertens: Jonas’ Fingerspuren waren nirgendwo in der Wohnung zu finden. Fünftens: Auf den Werkzeugen sind als Einziges keine Fingerspuren, die hat jemand abgewischt. Sechstens: Jemand hat in der Wohnung den Boden geputzt und dabei Blutspuren über das gesamte Linoleum verteilt.«
»Und wer ist dieser Mann, den wir in der Kartei haben?«, fragte Hackenholt. Demonstrativ zückte er den geretteten Stift und sein Notizbuch.
»Ein übergesiedelter Russe namens Aleksandr Kusnezow. Zweiundzwanzig Jahre alt. Mehrere Diebstahls-, Köperverletzungs- und Drogendelikte. War im Jugendarrest und in der Strafhaft. Ist noch bei den Eltern in der Imbuschstraße gemeldet.«
»Wunderbar, den nehmen wir uns gleich mal vor.« Hackenholt blickte von seinen Notizen auf. »Hast du die Fingerabdrücke bundesweit oder europaweit abgeglichen?«
»Bisher nur mittels AFIS in der Bundesrepublik, aber da ich jetzt weiß, dass es sich auch um Asylbewerber beziehungsweise Ausländer handeln könnte, werde ich die Daten auch noch europaweit abfragen.«
Hackenholt stand auf. »Und wohin ist jetzt Ralph vor dir geflüchtet?«
Mur grinste breit. »Ich denke, zum Saturn. Eine neue Kaffeemaschine kaufen, nachdem du seine geschrottet hast.« Nun erhob auch sie sich. »Ich muss jetzt mal wieder weitermachen. Du hast mich hier ja wirklich lange genug aufgehalten.« An der Tür drehte sie sich noch einmal um. »Den Rest kannst du übrigens getrost wegschmeißen.« Sie nickte in Richtung seines Schreibtisches und verschwand.
Mit einem Blick registrierte Hackenholt, dass Mur alle seine Stifte wild durcheinander wieder zusammengebaut hatte – wobei allerdings ein ansehnliches Häufchen Kleinteile übrig geblieben war. Mit einem neuerlichen Seufzen fegte er das Sammelsurium in seine oberste Schreibtischschublade. Die Stifte konnten warten, er hatte Wichtigeres zu tun. Als er den Kopf ins angrenzende Büro steckte, saß Baumann an ihrem Platz, von Stellfeldt keine Spur.
»Komm, Saskia, da wir anscheinend die Einzigen sind, die hier noch arbeiten, machen wir jetzt zusammen einen Ausflug in die Imbuschstraße.«
Sie fuhren in den hintersten Zipfel von Langwasser. Die Kusnezows wohnten gleich in dem vordersten Hochhaus, am Anfang der Straße. Hackenholt stellte den Dienstwagen auf einem lang gestreckten Parkplatz direkt vor dem Hauseingang ab.
»Nerblous goud, dass mer ned min Schdreifmwoong kummer sin. Dou drauerder iech mich ned, des Audo dou alaans rumschdäih lassn.«
»Jetzt mach mal halblang, Saskia, wir sind zwar in Langwasser Süd, aber immer noch in Nürnberg und nicht im tiefsten Ruhrpott oder in Berlin-Neukölln.«
Baumann hatte schon zu einem Exkurs in die Kriminalitätsstatistik von Langwasser anheben wollen, schluckte die Bemerkung dann aber im letzten Moment hinunter. Schulterzuckend sagte sie nur: »Schaumer hald ermål, wäi däi dou ersu wohner.«
In dem Hochhaus gab es sechzehn Stockwerke, das Klingelbrett war dementsprechend riesig. Manche Namen waren von den Mietern offenbar auf das erstbeste Fitzelchen Papier gekrakelt worden, das ihnen untergekommen war, und klebten nun windschief über dessen Vorgängern. Bei anderen klaffte ein Loch an der Stelle, an der das Schild hätte sein sollen, sodass man sogar die dahinterliegenden Drähte der Klingelanlage sehen konnte. Hätten die Beamten nicht schon über die Einwohnermeldeamtsanfrage gewusst, dass die Familie im zwölften Stock wohnte, hätten sie jede Etage einzeln absuchen müssen, da die Kusnezows anscheinend keinen Wert auf ein Klingelschild legten. So aber schlüpften sie schnell durch die offen stehende Haustür hinein.
»In däi zwölfde Edaasch schdeich iech obber fei ned zu Fouß naaf, gell!«
Hackenholt musste grinsen. Er war zwar ein passionierter Treppensteiger, aber so weit ging seine Liebe zur sportlichen Betätigung dann doch nicht. Im Aufzug roch es nach abgestandenem Zigarettenqualm, Schweiß und anderen Ausdünstungen. Das Licht flackerte, während der Lift sich erstaunlich leise in Bewegung setzte. Im kalten Schein der Neonröhre sahen die mit schwarzem Edding beschmierten Wände noch abstoßender aus.
Als sich die Aufzugstür öffnete und sie auf den Treppenabsatz traten, stieg ihnen sofort der Geruch von frisch gekochtem Kohl in die Nase. Hackenholt bemerkte die tolle Aussicht, die man vom zwölften Stock aus hatte. Vor ihm erstreckte sich nichts als das Grün der Baumwipfel des Reichswaldes. Er bedauerte, dass es ein diesiger Tag war. An einem klaren musste man von hier aus eine ausgezeichnete Fernsicht haben. Er wandte sich um und folgte Baumann zu den Wohnungstüren.
Familie Kusnezow wohnte am Ende des Flurs. Hackenholt läutete. Hinter der Tür ertönten Schritte, dann wurde sie einen Spalt weit geöffnet.
»Polizei!« Hackenholt hielt seinen Ausweis hoch. »Wir möchten mit Aleksandr Kusnezow sprechen.«
Die Tür ging vollständig auf und gab den Blick auf eine Frau frei: Ende vierzig und sehr gepflegt. Ihr schmales Gesicht war unauffällig geschminkt, das hellbraune Haar kurz geschnitten. »Mein Sohn Aleksandr ist nicht hier. Aber Sie wollen sicher hereinkommen und selbst nachschauen. Ich weiß nicht, wo er steckt. Ich bin gerade erst von der Arbeit heimgekommen.« Sie wies auf einen kleinen Aktenkoffer. Hackenholt bemerkte, dass sie auffallend gut Deutsch sprach.
Als Erstes führte sie die Beamten durch die Wohnung, damit sie sich davon überzeugen konnten, dass sie die Wahrheit gesagt hatte und Aleksandr nicht zu Hause war. Zuletzt betraten sie gemeinsam das sehr ordentliche Wohnzimmer. Es war nicht übermäßig groß, dafür aber in einer hellen Pastellfarbe gestrichen. Der luftige, raumgebende Effekt wurde jedoch durch einen kolossalen Wohnzimmerschrank, der eine ganze Seite des Zimmers einnahm, sofort wieder zunichtegemacht. An der Wand gleich neben der Tür hingen über dem Esstisch mehrere Familienfotos. Sie waren mit Stecknadeln an eine große Korkplatte geheftet. Auf dem Sofa lag ein Mann in einem für diese Jahreszeit viel zu dicken Strickpullover und einer Jogginghose. Als er die Besucher sah, schaltete er den Fernseher auf lautlos, in dem zuvor lautstark eine russische Sendung gelaufen war, und erhob sich. Er reichte den Beamten die Hand und stellte sich vor: Herr Kusnezow, Aleksandrs Vater.
»Bitte, Sie nehmen Platz. Sie wollen trinken etwas?« Sein Deutsch war wesentlich schlechter als das seiner Frau, und er sprach mit starkem Akzent.
»Nein, vielen Dank, das ist wirklich sehr freundlich von Ihnen«, lehnte Hackenholt höflich ab. »Wir möchten gerne mit Ihrem Sohn Aleksandr sprechen. Wo können wir ihn denn finden?«
»Er nicht wieder gemacht etwas Verbotenes, oder?«, fragte der Mann gedehnt und warf seiner Frau einen ängstlichen Blick zu, der Hackenholt nicht entging.
»Wir wollen mit ihm nur über eine Bekannte reden. Ljudmila Orlowa. Kennen Sie das Mädchen?«
»Diese Nutte!«, fauchte Frau Kusnezow. »Sie hat einen schlechten Einfluss auf Aleksandr. Ich habe ihm von Anfang an gesagt, dass sie kein Umgang für ihn ist. Statt für die Universität zu lernen, geht sie auf den Strich.«
Hackenholt nickte beschwichtigend. »Trotzdem müssen wir mit Ihrem Sohn sprechen. Hat er eine Arbeit?«
Frau Kusnezow schüttelte den Kopf. »Er bekommt einfach keine Lehrstelle, obwohl er wirklich gut Deutsch spricht, wenn er sich ein bisschen bemüht. Aber seine Schulnoten haben leider immer zu wünschen übrig gelassen.«
Herr Kusnezow stand auf und ging zur Wohnzimmertür hinüber. »Ich brauchen ein Glas Wasser. Sie wirklich nichts wollen trinken, Herr Polizist? Aleksandr ist bei Freund in Duisburg. Für Urlaub.« Seine Stimme war lauter und deutlicher geworden. Er war noch mehrere Schritte von der Tür entfernt, als Hackenholt plötzlich einen Luftzug spürte. In Sekundenbruchteilen verstand er, was gerade vor sich ging. Herr Kusnezow hatte gehört, wie sein Sohn die Wohnungstür aufsperrte, und wollte ihn warnen. Hackenholt sprang vom Sofa auf und war mit zwei Schritten bei der angelehnten Zimmertür. Der Vater versuchte sich ihm in den Weg zu stellen, doch der Ermittler schubste ihn zur Seite. Die Tür zum Treppenhaus stand sperrangelweit offen. Hackenholt rannte durch die Diele hinaus auf den Flur. Als er den Aufzug erreichte, schloss sich der gerade mit einem Quietschen. Der Ermittler erhaschte nur noch einen kurzen Blick auf einen blonden Mann mit sehr kurz geschorenen Haaren. Er trug eine Jogginghose und eine Lederjacke. Hinter sich hörte Hackenholt Baumanns Stimme, verstand jedoch nicht, was seine Kollegin rief. Ohne nachzudenken, nahm er die Verfolgung auf. Wenn er den jungen Mann erwischen wollte, musste er den Lift zum Stehen bringen, indem er den Aufzugsknopf im darunterliegenden Stockwerk drückte, bevor der Lift durchfuhr. Aus den Augenwinkeln sah er Baumann telefonieren. Wahrscheinlich rief sie Verstärkung.
Der Hauptkommissar hastete die Treppen hinunter. Das erste Stockwerk war geschafft. Er drückte die Aufzugstaste. Zu spät. Er rannte weiter. So oft es ging, nahm er mehrere Stufen auf einmal und übersprang die letzten vor einem Absatz. Das nächste Stockwerk und dann noch eins und noch eins. Jedes Mal kam er nur Sekundenbruchteile zu spät. Er schaffte es nicht! Keuchend blieb er stehen und atmete durch. In dem Augenblick hörte er unter sich plötzlich ein lautes Poltern, gefolgt vom Gezeter einer Frau. Er sprintete los. Ein Stockwerk, dann noch eins, er zählte die Stufen. Zwei – vier – sechs – acht – zehn – zwölf – Absatz – um die Kurve – vierzehn – sechzehn – achtzehn – zwanzig – zweiundzwanzig – vierundzwanzig – Absatz.
Hackenholt schoss erneut um eine Ecke. Er hatte nur eins im Sinn: den Aufzugsknopf drücken. Eine offene Packung Reis, deren Inhalt auf der nächsten Etage vor dem Lift verstreut lag, wurde ihm zum Verhängnis. Auf den Körnern zog es ihm den rechten Fuß weg, er geriet ins Straucheln, versuchte noch sich abzufangen, prallte dabei gegen etwas Weiches, das sofort zu schreien begann, geriet vollends aus dem Gleichgewicht und schlug schlussendlich auf den Boden. Der Schwung, den er noch hatte, ließ ihn mehrere Meter über den Boden rutschen und hart gegen einen Türstock prallen. Die Welt um ihn herum wurde schwarz.
Als er wieder zu sich kam, kniete Saskia Baumann schreckensbleich neben ihm. In der Hand hielt sie ein blutverschmiertes Taschentuch. Er versuchte sich zu bewegen, aufzusetzen, aber es begann sich alles zu drehen. Er stöhnte.
»Um Himmels willn, bleib blous lieng, der Sanga is gwieß glei då. Wer wass nern, wos du dir dou hosd.«
»Wo ist Aleksandr?« Hackenholt verzog das Gesicht. Sein Kopf tat höllisch weh.
»Des is doch edz dodål woschd!« Baumann war den Tränen nahe.
In der Ferne ertönte ein Martinshorn, ein paar Sekunden später quietschten vor dem Haus Reifen, dann wurden Türen zugeschlagen. Aus dem Erdgeschoss drangen laute Rufe zu ihnen herauf. Baumann brüllte: »Dou heromer, fünfde Edaasch!«
Das Erste, woran sich Hackenholt später wieder einwandfrei und ohne Gedächtnislücken erinnern konnte, war, dass er in der Notaufnahme im Südklinikum auf einem Behandlungstisch lag, während ein Arzt jeden einzelnen Knochen abtastete und ihn fragte, ob dieses oder jenes wehtat. Ja, sein rechter Fuß schmerzte höllisch! Der Assistenzarzt leuchtete ihm in die Augen und machte noch ein paar weitere Tests. Dann erklärte er ihm, er werde als Nächstes die Kopfwunde nähen, danach müsse Hackenholt aber noch zum Röntgen, Fuß und Schädel sollten genauer untersucht werden, wobei er aber nicht glaube, dass da etwas gebrochen sei.
Sehr beruhigend, dachte Hackenholt, dem es so schlecht wie noch nie zuvor in seinem Leben ging. Sein Kopf schien kurz vor dem Zerplatzen zu sein. Dann senkte sich ein grünes OP-Tuch über sein Gesicht, und er spürte einen kurzen Pieks. Anschließend hörte er nur noch das unsagbar laute Klappern der Schere, wenn der Arzt sie nach jedem einzelnen Stich aus der metallenen Nierenschale nahm, um den Faden abzuschneiden, und sie anschließend wieder dort hineinfallen ließ.
Als endlich alle Untersuchungen abgeschlossen waren, wurde Hackenholt auf die Station gebracht, wo er wegen der erlittenen Gehirnerschütterung achtundvierzig Stunden zur Beobachtung bleiben sollte. Da ihm noch immer unglaublich schlecht war und er jeden Gedanken ans Aufstehen verwerfen musste, fügte er sich widerspruchslos seinem Schicksal.
Irgendwann tauchte Wünnenberg mit Sophie auf. Er hatte sie abgeholt und war mit ihr ins Südklinikum gefahren, da er es nicht übers Herz gebracht hatte, ihr am Telefon die Einzelheiten von Hackenholts Unfall zu berichten. Es nahm sie auch so schon sehr mit. Erst nachdem sie selbst mit dem behandelnden Arzt gesprochen hatte, beruhigte sie sich allmählich. Hackenholt hatte eine Kopfplatzwunde und eine Gehirnerschütterung davongetragen, außerdem waren Schulter und rechter Fuß geprellt.
Während Sophie im Arztzimmer saß, nutzte Hackenholt die Chance, mit Wünnenberg allein zu reden.
»Habt ihr herausgefunden, warum dieser damische Reis auf dem Boden rumlag?«
»Zu dem Zeitpunkt, als du Aleksandr Kusnezow verfolgt hast, hat im fünften Stock eine türkische Frau auf den Aufzug gewartet. Ihre Mutter, die im elften Stock wohnt, hatte sie gebeten, ihr eine Packung Reis hinaufzubringen. Als sich die Aufzugstür geöffnet hat und sie einsteigen wollte, hat Aleksandr sie grob zurückgestoßen. Vielleicht hat er sie im ersten Moment für dich gehalten? Dabei ist ihr jedenfalls die Packung Reis aus der Hand gefallen. Und weil die schon angebrochen war, hat sich der Inhalt über den gesamten Treppenabsatz verteilt.«
»Ist der Frau etwas passiert?« Hackenholt glaubte, sich zu erinnern, dass er mit ihr kollidiert war.
»Nein, sie ist nur furchtbar erschrocken. Saskia hat sich um sie gekümmert, nachdem die Sanis dich abgeholt hatten.«
»Läuft die Fahndung nach Aleksandr?«
Wünnenberg nickte. »Natürlich. Der entkommt uns nicht. Aber darüber mach dir mal keine Gedanken. Der Arzt hat gesagt, du brauchst vor allem viel Ruhe.«
Hackenholt verzog das Gesicht. »Die werde ich so lange nicht finden, wie ich untätig hier rumliegen muss, ohne zu wissen, was draußen gerade passiert. Haltet mich bloß auf dem Laufenden!« Als Sophie ins Zimmer zurückkam, beeilte er sich, das Thema zu wechseln. »Tut mir leid, dass es mit unserem Männerabend heute nichts wird, Ralph. Aber räum meine Sachen einfach ein bisschen zur Seite. Ich kümmere mich dann darum, wenn ich wieder auf den Beinen bin.«
»Mach dir keine Sorgen. Ich brauche nicht viel Platz. Es ist ja schon ein riesiger Fortschritt, wenn ich bei dir schlafen kann und nicht wie heute Nacht im Präsidium auf dem Boden.«