Mittwoch, Donnerstag & Freitag

Die beiden folgenden Tage verliefen ereignislos, wenn man davon absah, dass Hackenholt das Krankenhaus schon am Mittwochmittag und damit vierundzwanzig Stunden früher als angedacht satt hatte und auf eigene Verantwortung entlassen wurde. Dumm rumliegen konnte er genauso gut zu Hause, befand er. Doch auch wenn Sophie ihn gerne abholte, hegte sie die Befürchtung, dass er genau das nicht vorhatte – dumm herumzuliegen.

»Aber am Freitag beginnt doch das Bardentreffen, und seit Wochen liegst du mir in den Ohren, dass wir da unbedingt hingehen müssen«, argumentierte er in möglichst unschuldigem Tonfall. »Da muss ich vorher schon mal aufstehen und herumlaufen, quasi ein bisschen trainieren, denkst du nicht auch?« Er grinste sie schief an.

»Ich kenne jemanden, dessen Wahlspruch lautet: Es gibt immer ein nächstes Mal«, gab Sophie zurück und zog ihn sanft am Ohr. »Deine Gesundheit geht vor.«

»Ja, ja«, brummte Hackenholt. »Aber Anne Clark kommt dieses Jahr und nicht im nächsten.«

»Anne Clark spielt erst am Sonntagabend auf der Insel Schütt, bis dahin kannst du noch im Bett bleiben.«

»Im Bett sterben die Leute!«

Sophie musste lachen. Nun schlug er sie schon mit ihren eigenen fränkischen Sprichwörtern.

Zu ihrer Überraschung befolgte Hackenholt die Anweisungen des Arztes jedoch weitgehend und verbrachte den Großteil der beiden Tage liegend, was Sophie zu der Annahme verleitete, dass er, auch wenn er es nicht zugab, nach wie vor unter höllischen Kopfschmerzen litt. Lediglich am Donnerstagnachmittag verzog er sich für eine halbe Stunde in Sophies Arbeitszimmer, um ungestört eine Telefonkonferenz mit den Kollegen abzuhalten.

Doch auch im Kommissariat schien die Zeit stillzustehen. Seit Hackenholts Unfall hatte sich so gut wie nichts getan. Weder brachte die Fahndung nach Aleksandr Kusnezow einen Erfolg, noch waren die Beamten mit der Suche nach Jonas Petzold vorangekommen. Beide jungen Männer schienen wie vom Erdboden verschluckt zu sein. Stellfeldt und Wünnenberg hatten sich Aleksandrs Vater gründlich vorgenommen. Natürlich konnten sie ihm kein Verfahren wegen Strafvereitelung anhängen, schließlich hatte er seinen Sohn nur zu schützen versucht, aber sie redeten ihm lange und eindringlich ins Gewissen.

»Sei froh, dass du nicht hier bist«, brummte Stellfeldt. »Christine läuft gerade mal wieder zu wahren Höchstleistungen in Sachen schlechter Laune auf.«

»Oha! Warum denn das? Sie kann sich doch jetzt ungestraft an meinen Kugelschreibern vergehen«, scherzte Hackenholt.

»Nicht einmal dazu ist sie im Moment aufgelegt. Das LKA hat ihre Proben vom Montag aus der Wohnung der Orlowa verschlampt und erst vorhin in irgendeiner Abstellkammer wiedergefunden, nachdem Christine die ausstehenden Analysen reklamiert hat. So wie heute habe ich sie schon lange nicht mehr toben sehen.«

Hackenholt konnte sich diese Szene nur allzu gut vorstellen und bedauerte nicht im Geringsten, die Liveversion verpasst zu haben.

Genau aus diesem Grund erwog der Hauptkommissar auch einen kurzen Augenblick lang, einfach nicht ans Telefon zu gehen, als am Freitagmittag sein Diensthandy klingelte und Murs Nummer auf dem Display erschien. Doch dann entschied er sich gegen ein solch kindisches Verhalten und wappnete sich stattdessen gegen alles, was da kommen konnte.

»Hallo, Christine, was gibt es denn?« Er merkte selbst, wie zurückhaltend er klang. Schnell schob er noch ein »Schön, dich zu hören!« nach.

»Da bist du aber auf dem Holzweg, es ist ganz und gar nicht schön, dass ich dich anrufe«, antwortete sie in ihrer gewohnt mürrischen Art. »Aber ich dachte mir, du solltest es dir auf alle Fälle anschauen.«

»Was soll ich mir anschauen?« Hackenholt war irritiert.

»Es ist wirklich unvorstellbar.« Er hörte sie tief Luft holen, bevor sie mit bebender Stimme fortfuhr: »Blumenkübel. Fünf Stück. Alle zubetoniert. Einen haben die Kollegen von der Streife aufgeschlagen, und das Erste, was sie sahen, war … eine Hand. In die Plastiktöpfe wurden Leichenteile einzementiert.«

»Was? Ich komme natürlich sofort. Wo bist du?«

Rasch gab sie ihm die Adresse durch und beendete das Gespräch. Hackenholt stand auf. Er und Sophie hatten sich gerade in den Garten gelegt, um das schöne Wetter zu genießen.

»Ich muss weg, Schatz. Christine braucht mich.«

»Das darf doch wohl nicht wahr sein!«, rief Sophie entgeistert. »Frank, du bist krankgeschrieben. Du sollst dich schonen!«

Hackenholt fuhr nach Mögeldorf in die Flussstraße, an der Satzinger Mühle vorbei, über die Ludwig-Erhard-Brücke und parkte an deren Ende neben einem Fußgängerüberweg. Schon von der Brücke aus konnte er Murs VW-Bus und einen Streifenwagen sehen, die beide auf einem geteerten schmalen Pfad standen, der normalerweise Spaziergängern und Radlern vorbehalten war. Etwas ließ Hackenholt jedoch stutzen: Unter ihm, wo sich normalerweise der Obere Wöhrder See erstreckte, glitzerten nur noch vereinzelte Wasserpfützen in der Sonne. So schnell es sein geprellter Fuß erlaubte, lief er den Weg entlang und die Böschung hinab, bis er schließlich die sich angeregt unterhaltenden Beamten erreichte. Die Streifenbesatzung bestand aus Christian Berger und seiner Kollegin. Hackenholt war erleichtert. Zumindest musste er sich nicht wieder mit unwilligen Kollegen herumschlagen.

»Ich weiß, ich hätte dich nicht anrufen sollen«, begann Mur, »aber …«

»Das ist völlig in Ordnung. Zerbrich dir darüber jetzt bloß nicht den Kopf, Christine. Du hast genau das getan, worum ich euch immer bitte. Außerdem geht es mir gut«, beschwichtigte er sie, bevor er sich an Berger wandte. »Was genau ist passiert?«

In einiger Entfernung sah er Murs Team in der Mitte des Seebetts arbeiten.

»Wir sind den Spazierweg entlanggefahren«, begann Berger seinen Bericht. »Das machen wir eigentlich immer, wenn wir für das Gebiet hier eingeteilt sind. Außerdem wollten wir uns ansehen, wie der Wöhrder See ohne Wasser ausschaut. Das kommt ja schließlich nicht alle Tage vor.«

Auch wenn Hackenholt gerne gewusst hätte, warum im See kein Wasser war, unterließ er es, Berger zu unterbrechen, um nachzufragen. Es war nur eine Nebensächlichkeit.

»Als wir hier vorbeikamen, sahen wir ein paar Kinder mit den Blumenkübeln da spielen.« Berger zeigte zur Mitte des abgelassenen Sees. Bei den Kollegen der Spurensicherung konnte man mehrere große terrakottafarbene Pötte erkennen. Hackenholt schätzte den Durchmesser der Einfüllöffnung auf gut und gerne fünfzig Zentimeter. Ein Kübel war umgefallen, zwei standen aufeinander, ein vierter lag verkehrt herum im Matsch, der fünfte ein ganzes Stück weit von den anderen entfernt. »Die Jungs sind auf sie raufgeklettert und in den Matsch gesprungen. Weit und breit waren keine Eltern zu sehen. Wir haben natürlich angehalten und sind ausgestiegen, um uns die Pötte näher anzuschauen. Schließlich stellen die ja eine Gefahrenquelle für die Kinder dar. Nicht auszudenken, was passieren würde, wenn eins von ihnen ausrutscht und sich den Kopf daran aufschlägt und die Leute dann sagen, dass die Polizei fünf Minuten vorher vorbeigefahren ist und nichts unternommen hat.« Berger hielt inne und machte ein betretenes Gesicht. Es war nicht seine Art abzuschweifen. Schnell fing er sich und fuhr fort: »Jedenfalls hatte einer der Kübel oben einen Riss im Zement. Auf dem haben die Kinder mit ihren Schuhen herumgehackt, hatten aber Gott sei Dank keine Chance, ihn zu vergrößern. Ich habe auf der Dienststelle angerufen und die Kollegen gebeten, Hammer und Meißel zu organisieren und eine andere Streife damit zu uns zu schicken. Schließlich konnten wir nach und nach ein paar kleine Brocken Beton wegschlagen. Dadurch kam ein Zipfel von einem Plastiksack zum Vorschein. Das Erste, was uns dazu einfiel, waren natürlich Drogen, deshalb haben wir den Beton weiter aufgeschlagen, bis ich besser an den Sack rankam. Kaum hatte ich ihn aufgeschnitten, stieg uns dieser bestialische Verwesungsgeruch in die Nase und wir haben Finger und eine Hand erkannt. In dem Moment haben wir schleunigst den Dauerdienst und die Spurensicherung verständigt.«

»Ich habe mir die Kübel bisher auch nur kurz angesehen und dann gleich bei dir angerufen«, übernahm Christine Mur. »Mit all den Kindern, die darauf rumgeklettert sind, und dem ganzen Matsch werden wir wohl kaum noch irgendwelche brauchbaren Spuren an ihnen finden. Schau sie dir an, die sind total mit Lehm verkrustet.«

Sie waren zwischenzeitlich in das Seebett hinabgestiegen. Hackenholt stellte missmutig fest, wie tief seine Schuhe bei jedem Schritt im Schlamm versanken und dass er sie nur mit einem lauten, schmatzenden Geräusch wieder befreien konnte. Im Nu fühlte er Nässe in seine Socken dringen. Er wünschte, er hätte ein solches Paar knallgelber Gummistiefel angehabt, wie Christine Mur sie trug.

»Denkst du, es besteht ein Zusammenhang zwischen dem, was in der Kollwitzstraße passiert ist, und dem hier?«

Mur sah Hackenholt mitleidig an. Er hatte das Gefühl, sie würde ihn gleich fragen, ob es ihm und seinem Kopf wirklich gut ging. Doch statt eine schneidende Antwort zu geben, nickte die Kollegin nur knapp. Ihr war anzusehen, dass sie bei dem Gedanken, was sie später mit dem Gerichtsmediziner aus den Blumenkübeln würde schneiden müssen, noch immer um ihre Fassung rang.

»Gibt es eine Möglichkeit festzustellen, wie lange diese Pötte hier schon herumliegen?«, fragte Hackenholt.

Mur sah ihn mit gerunzelter Stirn an. »Vielleicht wenn wir einen Biologen hinzuziehen«, meinte sie. »Unter all dem Schlamm haben sich bereits feinste Algenanlagerungen breitgemacht. Das kann man deutlich sehen.«

»Das heißt also, die Kübel stehen hier schon länger?«, hakte Hackenholt nach.

»Ich weiß es nicht«, sagte Mur irritiert. »Falls du mit länger meinst, dass sie schon hier waren, als der See noch mit Wasser gefüllt war, dann würde ich das annehmen. Wo sollten sonst die Algen herkommen? Andererseits habe ich keine Ahnung, wie lange das Wasser schon ganz abgelassen ist oder wie lange es überhaupt dauert, um den See zu leeren.« Sie zuckte hilflos mit den Schultern.

»Das Wasser wurde erst vor Kurzem abgelassen«, informierte sie Berger. »Letzte Woche hat man dem See noch nichts angesehen.«

»Warum ist das Wasser überhaupt weg?«, stellte Hackenholt endlich die Frage, die ihm die ganze Zeit schon unter den Nägeln brannte.

»Du liest zur Zeit keine Zeitung, oder?«, frage Mur, die sich zu einem Kübel gebückt hatte und mit einem ihrer Kugelschreiber an den Algen herumschabte. Ohne eine Antwort abzuwarten, erklärte sie: »Das Wasser wurde abgelassen, weil der Sandfang mal wieder ausgebaggert werden muss. Würde das nicht regelmäßig alle paar Jahre geschehen, würde der See relativ schnell verlanden.«

Berger nickte. Es war diese selbstverständliche Zustimmung, die Hackenholt davon abhielt, genauer nachzufragen, da er trotz Murs Erklärung nun auch nicht viel mehr wusste als vorher. Stattdessen beschloss er, später Sophie danach zu fragen – oder selbst im Internet zu recherchieren.

»Wie machen wir jetzt konkret weiter?«, fragte er nach einem Moment des Schweigens. »Habt ihr einen Leichenwagen gerufen?«

Mur schüttelte den Kopf. »In den Fahrzeugen ist zu wenig Platz. Wir werden die Kübel in meinen VW-Bus packen und sie ins Krematorium fahren. Dort versuchen wir dann zusammen mit dem Rechtsmediziner den Zement herauszubekommen und das, was sich darin befindet, so schonungsvoll wie möglich freizulegen«, erklärte sie. »Hoffentlich hat Dr. Puellen heute frei!«, fügte sie mit einem gequälten Lächeln hinzu und verdrehte die Augen. »Ansonsten bin ich mir sicher, dass die Obduktion morgen früh um sieben stattfinden wird.«

Da es für Hackenholt im Moment nichts weiter zu tun gab, drängte Mur ihn, wieder nach Hause zu fahren. »Ich wollte dir das einfach nur zeigen. Außerdem hätte ich im Moment keinen der anderen Kollegen ertragen. Aber ich werde Ralph natürlich Bescheid geben. Ruh du dich noch ein bisschen aus. Ich fürchte, morgen wird ein sehr anstrengender Tag werden. Und es wäre mir wirklich wichtig, dich und nicht Ralph oder Saskia bei der Sektion dabeizuhaben.«

Hackenholt nickte leicht. »Ist schon gut, Christine. Ich ruf dich später noch einmal an. Vielleicht kannst du dann ja schon etwas Konkretes sagen.« In der Tat beschloss er, nicht zum Präsidium, sondern nach Hause zu fahren und den restlichen Tag mit Sophie zu genießen, so gut es eben bei der Aussicht auf die nächsten Tage ging. Schließlich sah es so aus, als würde er das Wochenende im Sektionsraum und im Polizeipräsidium verbringen müssen. Seine Genesungszeit war zu einem abrupten Ende gekommen.

Als Hackenholt die Wohnung betrat, war Sophie nicht da. Er sah auf die Uhr. Drei viertel drei. Vielleicht war sie einkaufen gegangen? Oder schon in die Stadt, um einer Band zuzuhören? Aber nein, die Eröffnungskonzerte des Bardentreffens begannen doch erst um neunzehn Uhr. Aus dem Bücherschrank holte er sich eins ihrer Nürnberg-Bücher und setzte sich damit in den Liegestuhl auf der Terrasse. Rund eine halbe Stunde später weckte ihn Sophie mit einem sanften Kuss auf die Augenbraue.

»Du bist schon zurück?«, fragte sie verwundert. »War es am Ende etwa falscher Alarm?«

Hackenholt schüttelte den Kopf, bereute die Bewegung aber sofort. Ein stechender Schmerz durchzuckte ihn.

»Was liest du denn da?«, fragte Sophie neugierig und überging kommentarlos die Grimasse, die er unwillkürlich geschnitten hatte.

»Ich wollte etwas über den Wöhrder See nachlesen, aber ich habe hier drin nicht sonderlich viel darüber gefunden.«

»Den Wöhrder See?«, fragte Sophie überrascht. »Was möchtest du denn wissen?«

»Alles.« Als er Sophies gerunzelte Stirn sah, fügte er hinzu: »Ich möchte einfach alles darüber wissen, weil ich noch nicht weiß, was es überhaupt darüber zu wissen gibt. Verstehst du? Ich habe mich noch nie mit dem See auseinandergesetzt.«

Sophie nahm ihm das Buch vom Schoß, blätterte ein wenig darin herum, klappte es dann zu, um den Titel zu lesen, und verdrehte prompt die Augen. »Na, im Stadtatlas wirst du auch nichts darüber finden, der ist viel zu allgemein.« Sie wandte sich um und ging in ihr Arbeitszimmer zurück, um dort ein anderes Buch zu suchen. Ein paar Minuten später kam sie mit einem schmalen Band zurück, der in rotes Leinen gebunden war. Während sie einige Seiten überflog, setzte sie sich auf das Fußende von Hackenholts Liege. »Wie vielleicht auch du schon weißt, ist der Wöhrder See ein künstlich angelegter Stausee, durch den die Pegnitz in zwei Armen hindurchfließt. Er ist übrigens nach dem Stadtteil Wöhrd benannt und hat nichts mit dem Wörthersee zu tun.« Mittlerweile hatte sie die richtige Stelle im Buch gefunden und fasste für ihn die relevanten Stellen zusammen. »Bereits Mitte des 14. Jahrhunderts ließ der Rat der Stadt Nürnberg den Fluss regulieren. Damals wurde das Terrain um einige Meter angehoben, vor allem um das nötige Gefälle für die vielen Mühlen entlang des Flusses zu erhalten. Der nördliche Arm der Pegnitz reichte damals bis an die Kreuzung der heutigen Bauverein-, Wöhrder Haupt- und Bartholomäusstraße heran, an deren östlicher Seite sich die bekannte Pulvermühle befand. Der südliche Arm der Pegnitz floss in Windungen auf die Tullnau und den Wöhrder Talübergang zu und vereinigte sich dort mit dem Goldbach, der von Gleishammer her kam.« Sophie blickte auf, um zu sehen, ob Hackenholt ihr folgen konnte, oder ob sie die Stellen besser wörtlich vorlesen sollte. Er nickte leicht und bedeutete ihr fortzufahren. »Das große Hochwasser von 1909 überschwemmte dann nicht nur die Wöhrder Wiese, sondern auch Teile von Wöhrd und der Altstadt«, erklärte sie ihm weiter. »Du kannst übrigens noch heute die Hochwassermarken am Haus Hauptmarkt 3 sehen, die zeigen, wie hoch das Wasser vor allem im zeitigen Frühjahr durch die Schneeschmelze und den Dauerregen geklettert ist. Aber du wolltest ja etwas über den Wöhrder See erfahren und nicht über die Überschwemmungen und den Hochwasserstollen.« Sie vergrub ihren Kopf wieder in dem Buch, überflog die folgenden Absätze, blätterte ein paar Seiten weiter, dann zwei zurück, bevor sie wieder zusammenzufassen begann: »Beim Wöhrder See handelt es sich um einen durch Wehre aufgestauten Abschnitt der Pegnitz östlich der Innenstadt. Seine Fläche beträgt rund fünfzig Hektar bei einer Länge von etwa zweitausendsechshundert Metern und einer durchschnittlichen Tiefe von einem Meter neunzig. Am 28. Oktober 1959 beschloss der Stadtrat, in den Flussauen einen See zu gestalten. 1965 war der See auf dem Papier, genauer gesagt im Flächennutzungsplan, bereits vorhanden, im Jahr darauf wurde das Wasserwirtschaftsamt mit einem Bauentwurf in drei Abschnitten schon etwas konkreter. Im Dezember 1968 ging es schließlich richtig los. 1981 war der Wöhrder See endlich in der heutigen Form angelegt. Er gliedert sich in den Unteren Wöhrder See im Westen – angrenzend an den Stadtteil Wöhrd und übergehend in die Wöhrder Wiese – und in den Oberen Wöhrder See im Osten, der sich zwischen den Stadtteilen Erlenstegen und Mögeldorf erstreckt. Am Wöhrder Talübergang gibt es übrigens ein wunderschönes Kleinod zu bewundern, das dir sicher gefällt.« Sophie lächelte Hackenholt an und deutete auf eine Abbildung im Buch.

»Aber das ist doch eine der Reiterfiguren vom Neptunbrunnen!«, staunte er.

Sophie nickte. »Genau. Dieser Zweitguss stand ab 1914 im Volksbad, von wo aus er bei dessen Schließung 1994 an den Wöhrder Talübergang übersiedelt wurde. Dort pustet das Pferd nun in den Sommermonaten seinen mächtigen Wasserstrahl in den See. Wir sollten unbedingt mal einen Spaziergang dorthin machen.« Wieder senkte sie den Blick in das Buch. »Ach ja, das hätte ich fast vergessen: Das Südufer wird von der Norikus-Wohnanlage dominiert. Der Hochhauskomplex mit etwa achthundertfünfzig Wohnungen wurde 1969 bis 1972 nach Entwürfen von Harald Loebermann erbaut.« Sophie schnitt eine Grimasse. »Aber den Norikus wirst du ja wegen seiner Beliebtheit unter den Selbstmördern schon ausreichend kennengelernt haben.«

»Mich interessiert vor allem der Obere Wöhrder See«, lenkte Hackenholt schnell von dem unerfreulichen Thema ab. »Der hat im Moment kein Wasser.«

»Stimmt«, sagte Sophie, »das stand neulich in der Zeitung. Der Sandfang muss mal wieder ausgebaggert werden.«

Hackenholt verzog das Gesicht. Nicht schon wieder! Alle Welt schien über das Ereignis informiert zu sein und zu wissen, was es damit auf sich hatte – alle außer ihm. »Und was genau ist ein Sandfang? Warum muss er ausgebaggert werden? Wie oft findet so etwas statt?«, fragte er leicht gereizt.

»Der Sandfang ist das Gebiet, an dem sich früher die beiden Pegnitzarme trennten. Man hat ihn ganz bewusst so angelegt, denn die Pegnitz schwemmt Unmengen von Sand an, die sich dort stauen und alle zwei, drei Jahre abgebaggert werden müssen. So wird verhindert, dass der gesamte Wöhrder See verschlammt und versandet und am Ende gar kein See mehr übrig ist. Ich glaube, gelesen zu haben, dass sich dort pro Jahr rund zehntausend Kubikmeter Schlamm ansammeln. Damit man die ausbaggern kann, wird die Pegnitz durch den Sammler umgeleitet. Das sich noch im See befindende Wasser fließt dann allmählich ab und legt ihn trocken. Aber sag mal, warum interessierst du dich überhaupt so dafür?«

Zögerlich erzählte Hackenholt Sophie von dem grausigen Fund, den seine Kollegen in den Blumenkübeln im abgelassenen Seebett gemacht hatten.

Ein paar Stunden später rief Hackenholt Christine Mur auf ihrem Handy an. Sie war noch immer im Krematorium.

»Das ist das Schlimmste, was ich bisher gesehen habe.« Sie klang fix und fertig. »Wir haben den ganzen Nachmittag lang die Pötte aufgesägt und den Zement herausgeklopft und sind noch lange nicht fertig. Mir ist unbegreiflich, wie jemand so etwas tun kann, aber wie es aussieht, sind alle Körperteile da: Kopf, Rumpf, Gliedmaßen –« Sie brach abrupt ab. Im Hintergrund konnte Hackenholt kurz das Aufkreischen einer Säge hören, dann wurde es wieder still. »Hallo? Bist du noch dran?«

»Ja, ja, ich bin noch hier.«

»Dr. Puellen kam sofort, als er hörte, was wir gefunden haben.« Mur stöhnte. »Heute ist er ausnahmsweise sogar mal halbwegs erträglich. Selbst ihm scheint es für eine Weile die gute Laune verhagelt zu haben.« Hackenholt glaubte, in Murs Stimme einen Anflug von Genugtuung zu hören. »Wie ich heute Mittag schon prophezeit habe, wird er die Obduktion morgen früh durchführen. Allerdings nicht ganz so früh. Du sollst um neun hier sein. Am liebsten hätte er es noch heute Abend hinter sich gebracht, aber da habe ich gestreikt. Irgendwann brauche ich auch mal eine Pause.«

»Ich werde da sein«, versprach Hackenholt. »Kannst du mir vorab schon ein paar Informationen geben?«

»Willst du dir wirklich freiwillig den Rest des Tages verderben?« Als Hackenholt schwieg, fuhr Mur gereizt fort: »Ich weiß nicht, ob es Jonas ist. Ich weiß es einfach nicht!« Sie schrie die letzten Worte hinaus. Ihre Nerven lagen blank. Nachdem sie ein paarmal tief durchgeschnauft hatte, war sie wieder ein wenig ruhiger: »Ich habe von Jonas’ Zahnarzt einen Zahnstatus angefordert. Er wollte mir die Unterlagen noch heute zumailen, bis morgen habe ich sie auf alle Fälle. Der Tote ist männlich, aber mehr kann ich dir im Moment nicht sagen. Das sind keine Leichenteile mehr, das sind nur noch …« Sie schluckte hörbar. »Wenn wir ihn nicht über die Zähne identifizieren können, dann hilft nur noch eine DNA-Analyse. Du kannst dir nicht vorstellen, wie furchtbar das alles hier ist.« Im Hintergrund hörte Hackenholt jemanden nach ihr rufen. »Ich muss jetzt wieder rein. Wir sehen uns dann morgen um neun.«

Hackenholt legte auf und ging zu Sophie ins Wohnzimmer. »Ich muss morgen früh in die Arbeit.«

Sie blickte von dem Buch, in dem sie gerade las, auf und verzog das Gesicht. Im letzten Moment schluckte sie den Satz »Tu, was du nicht lassen kannst« hinunter. Sie wusste, dass es Hackenholts Pflichtbewusstsein war, das ihn dazu trieb, trotz seiner Krankschreibung zu arbeiten, daher nickte sie lediglich.