8. KAPITEL
Als wir endlich den Boden erreichen, stehen etwa fünfzig Elfen in einem Kreis zwischen dem großen Weiher und dem gewaltigen Hesuni-Baum und machen so viel Lärm, dass sie den Alten König Lazarius aufwecken könnten. Cermith hält sich etwas zurück, aber ich dränge mich vor. Im Mittelpunkt des Kreises steht ganz verloren eine schlanke junge Elfe, vermutlich Elith-la-Gipt. Neben ihr liegt ein anderer Elf. Der nicht nur vermutlich tot ist. Er hat eine hässliche, blutige Wunde in der Brust.
Und Elith hält ein blutverschmiertes Messer in der Hand.
»Elith-la-Gipt hat den Baumpriester getötet«, wiederholen die Elfen wie in einem Kanon. Ihre Stimmen klingen entsetzt und ungläubig.
Die Lage meiner Klientin hat sich soeben drastisch verschlechtert.
Die herumstehenden Elfen scheinen nicht zu wissen, was sie tun sollen. Niemand versucht, die Schuldige wegzuzerren, den Toten zu untersuchen oder überhaupt etwas zu unternehmen. Ich trete einen Schritt vor.
»Thraxas, Detektiv«, werfe ich in die Runde. »Gast von Lord Khurd.«
Ich untersuche den Leichnam. Das Licht wird schwächer, und ich bin mit niedergemetzelten Elfen nicht so vertraut wie mit abgeschlachteten Menschen. Aber ich würde sagen, der hier ist erst einige Minuten tot.
»Hast du das getan?«, frage ich Elith.
Sie schüttelt den Kopf. Dann wird sie ohnmächtig. Ich fluche. Eigentlich hätte ich gern noch ein bisschen mehr erfahren. Drei große Elfen mit den Insignien von Lord Khurd tauchen auf und übernehmen die Kontrolle. Als die Menge ihnen die Tatsachen berichtet, verschwindet einer von ihnen sofort. Vermutlich informiert er seinen Lord von den Ereignissen. Die beiden anderen heben Elith auf. Ihr langes goldenes Haar schleift über das Gras, während sie sie wegschaffen.
»Wohin bringt Ihr sie?«, will ich wissen.
Sie würdigen mich keiner Antwort. Ich folge ihnen. Die Menge trottet hinter uns her, und ich verliere Cermith aus den Augen. Ich bemerke, dass einer der Elfen besonders lautstark trauert. Er benimmt sich wie der arme Bruder. Bevor wir die großen Holzleitern erreichen, die zum Baumpalast von Lord Khurd hinaufführen, tauchen noch mehr seiner Bediensteten auf. Zwar zeigt ihr Verhalten keine Spur Feindseligkeit, wie es sicherlich die Palastwache in Turai bei einem ähnlichen Anlass an den Tag gelegt hätte, aber sie machen dennoch unmissverständlich deutlich, dass ihr Lord diese Angelegenheit jetzt in die Hand genommen hat und die Menge nicht weitergehen kann.
»Thraxas von Turai«, verkünde ich gebieterisch, als sie sich mir in den Weg stellen wollen. »Assistent des Vizekonsuls Zitzerius.«
Ich versuche, wichtig auszusehen, und ich komme damit durch. Meine Leibesfülle verleiht mir eine gewisse Stattlichkeit. Elith wird die Leiter hochgetragen, und ich folge ihr auf dem Fuß.
Wir klettern lange, an Plattformen vorbei, die mit Schnitzereien von Adlern verziert sind, die wiederum von Efeu umwunden und mit Bändern aus vergoldeten Blättern geschmückt sind. Der Baum, der den Palast trägt, scheint sich endlos in den Himmel zu recken, und mir tun alle Glieder weh, als wir endlich den Wipfel erreichen. Auf der letzten Plattform erwartet uns bereits Khurd.
Seine Bediensteten legen Elith vor ihm ab. Sie rührt sich. Lord Khurd starrt auf sie hinunter.
»Du hast Gulag-al-Floros umgebracht, den Hohen-Priester des Hesuni-Baums!«
Elith blinzelt, antwortet jedoch nicht. Sie scheint benommen zu sein, vielleicht von dem Schock. Aber es könnte auch etwas anderes sein. Ihre Pupillen kommen mir merkwürdig geweitet vor, aber ich kann das bei den Elfen schlecht erkennen. Die ganze Rasse hat so verdammt große Augen.
»Das wird jedenfalls behauptet«, antworte ich und trete neben sie. »Aber bisher hat niemand einen Beweis gegen sie vorgebracht.«
Der Elflord ist eindeutig nicht erfreut über meine Gegenwart. »Verlasst meinen Palast!«
»Ich lasse niemals einen Klienten im Stich. Und sollte nicht jemand einen Heiler holen? Sie sieht aus, als könnte sie seine Dienste brauchen.«
»Und wie hat sie meinem Bruder gedient?«, brüllt ein Elf hinter uns. Er will sich auf Elith stürzen, aber seine Gefährten halten ihn zurück.
Mir gefällt das gar nicht. Meine Klientin wird von einer Horde feindseliger Elfen umringt, und der Herr der Insel scheint nicht geneigt, den Argumenten zu ihren Gunsten Gehör zu schenken. Und nur weil die Elfen in dem Ruf stehen, gerecht und tolerant zu sein, schließt das noch lange nicht aus, dass Lord Khurd es für das Beste hält, die Mörderin von der höchsten Plattform hinunterzuwerfen und Schluss aus. Ich bin erleichtert, als Vases endlich eintrifft. Er tut zwar nicht viel mehr, als dazustehen und beunruhigt zu wirken, aber ich denke, dass seine Tochter nicht Gefahr läuft, vor seinen Augen gelyncht zu werden.
Lord Khurd ordnet an, dass Elith an einen sicheren Ort gebracht und scharf bewacht wird. Er gestattet Vases, mitzugehen und sich um sie zu kümmern. Dann befiehlt er den Wachen, ihm die Augenzeugen zu bringen, damit er die ganze Geschichte aus deren Munde hört. Und als Letztes knurrt er, ich solle ihm aus den Augen gehen.
Ich gehorche ohne Widerrede. Ich muss selbst mit den Zeugen sprechen. Ich will mich gerade mit einem Schluck Kleeh für den langen Abstieg über die Leiter wappnen, als mir das Bild des jungen Elfen durch den Kopf schießt, der aus der Takelage gefallen ist. Schnell stecke ich den Flakon wieder weg und klettere lieber nüchtern hinunter.
Vor dem Hesuni-Baum ist immer noch eine Menge versammelt. Einige tragen die weißen Roben der Schauspieler.
»Noch mehr Böses ist uns widerfahren«, meint eine Elfe stöhnend zu ihren Freundinnen, die mit einem kollektiven Seufzer antworten.
Ich verstehe, warum sie sich aufregen. Wenn der wichtigste religiöse Führer deines Landes schon ermordet werden muss, dann doch bitte schön nicht ausgerechnet in dem Moment, in dem du die ganze Bude voller ausländischer Staatsgäste hast, die du beeindrucken willst. Kein Wunder, dass Lord Khurd sauer ist. Allerdings ist das ein Problem der Elfen. Meines dagegen ist es, Informationen zu sammeln und Elith von dem Verdacht reinzuwaschen. Es sei denn, sie ist wirklich unwiderruflich schuldig. In dem Fall habe ich einen Plan B für den Ausbruch aus dem Gefängnis in der Hinterhand. Für die Entweihung des Hesuni-Baumes erwartet Elith nur die Verbannung. Für den Mord an dem Hohe-Baum-Priester erwartet sie die Todesstrafe. Und ich werde nicht zulassen, dass Elith wegen Mordes verurteilt wird. Erstens schulde ich das ihrem Vater, und zweitens geht mir Lord Khurd wirklich auf die Nerven.
Ich stelle mich einer Gruppe von Elfen vor und frage sie, ob einer von ihnen tatsächlich gesehen hat, wie Elith Gulag-al-Floros das Messer in die Brust gerammt hat. Sie wissen es nicht. Das alles muss passiert sein, bevor sie dazukamen. Die nächste Gruppe antwortet ganz ähnlich. Ein Elf, niemand weiß genau wer, hat Gulag tot aufgefunden. Elith lag mit dem Messer in der Hand neben ihm.
Ich werde allerdings bei meinen Ermittlungen von den Elfen gehindert, da Khurd ausgeschickt hat, um Zeugen einzusammeln. Mehr als einmal will ich gerade jemanden befragen, als er oder sie zum Baumpalast gescheucht wird. Aber wenigstens schicken mich die Diener nicht weg oder drohen mir, mich einzusperren. Als es schließlich dunkel wird, habe ich so viel in Erfahrung gebracht, wie mir möglich war, und beschließe, erst mal mit Vases-al-Gipt zu sprechen. Ich bin gerade unterwegs zum Baumpalast, als ich mit einem Elf zusammenstoße. Er hebt den Kopf, und ich erkenne das Gesicht unter der Kapuze. Es ist Gorith-al-Dent, und er scheint nicht erfreuter über meinen Anblick zu sein als auf der Schiffsreise.
»Mischst du dich schon wieder ein?«, raunzt er mich an.
Ich würdige ihn keiner Antwort, aber mir fällt sein hasserfüllter Blick auf, bevor ich weitergehe. Dieser Elf verbringt jedenfalls nicht viel Zeit damit, sich auf Äste zu schwingen und die Sterne zu besingen. Irgendetwas an ihm stört mich, und ich nehme mir vor, ihm später auf seine spitzen Elfzähne zu fühlen.
An den Leitern zum Baumpalast habe ich das Glück, direkt hinter Prinz Dös-Lackal und seinem Hofstaat anzukommen. Die Wachen lassen ihn durchgehen, und ich beeile mich, damit ich mich als Mitglied seines Hofstaates ausgeben kann. Als ich zum zweiten Mal an diesem Tag die lange Leiter hochsteige, beschleicht mich der Verdacht, dass es vielleicht doch keine so gute Idee ist, in den Baumwipfeln zu leben. Meine Gelenke machen das nicht mehr allzu lange mit. Leider sieht mich Prinz Dös-Lackal.
»Seid Ihr ebenfalls in den Palast eingeladen?«, erkundigt er sich.
»Aber ja, Hoheit«, lüge ich dreist und schlendere an ihm vorbei. Der Pförtner mag es kaum glauben. Ein Elf mit hängenden Schultern und gesenktem Blick kommt auf uns zu. Ich gehe an ihm vorbei und rufe laut Vases-al-Gipts Namen.
Dann schnappe ich mir Vases’ Arm und ziehe den erschreckten Elf in den Vorhof.
»Wo ist sie?«
»Thraxas, das alles ist so schrecklich. Ich kann nicht…«
»Ja, ja, ja«, unterbreche ich ihn ungeduldig. »Dafür haben wir jetzt keine Zeit. Bring mich einfach zu ihr. Wenn ich jetzt nicht mit ihr spreche, bekomme ich vielleicht nie wieder die Chance.«
Vases nickt. Damals im Krieg gehörte er nicht zu den Elfen, die lange herumgeredet haben, wenn Taten gefordert waren. Er führt mich über den Hof und eine weitere Leiter zu einer noch höher gelegenen Plattform hinauf. Von dort reicht eine Hängebrücke fast über die ganze Länge des Palastes. Lord Khurds Diener sind überall, aber niemand versucht, den Heiler aufzuhalten.
»Sie wird in einem Gebäude im hinteren Teil des Palastes festgehalten. Ich kann uns zwar dorthin bringen, aber ich glaube nicht, dass man uns zu ihr lässt.«
»Ich finde schon einen Weg.«
Wir befinden uns jetzt hoch über dem Palast und weiter vom Erdboden weg, als mir lieb ist. Ich sehe auf den grünen Baldachin der Baumwipfel unter uns hinab und stelle mir vor, welche Folgen ein einziger Fehltritt haben könnte. Wir erreichen das Ende der Hängebrücke und steigen in einen anderen Hof hinunter. Der ist dunkler und weniger prächtig als der an der Vorderseite des Gebäudes. Vases deutet auf eine Tür, vor der drei Elfen stehen. Sie sind bewaffnet. Es sind die ersten Elfen, die ich in Avula sehe, die ihre Schwerter offen tragen.
»Es sind Wachelfen«, flüstert Vases. »Ich wollte sie nicht verlassen, aber Lord Khurd hat angeordnet, dass ich gehen sollte, bevor er kommt, um sie zu befragen.«
»Wo ist er jetzt?«
»Er hört sich die Berichte der Zeugen an, die die ganze Sache miterlebt haben. Vermutlich wird er bald hier sein. Der Tod unseres Hohen-Baum-Priesters ist eine Katastrophe, Thraxas. Ich will nicht weiterleben, wenn meine Tochter des Mordes überführt werden sollte.«
»Triff bloß keine überstürzten Entscheidungen«, rate ich ihm. »Ich gehe jetzt hinein.«
Die Wachen halten mich auf. Also spreche ich den einzigen Zauber, den ich in meinem Gedächtnis habe. Das ist ein Schlafzauber. Er funktioniert gut, wie immer. Die drei Wachen sinken sanft zu Boden. Vases bleibt die Luft weg.
»Du hast die Wachen von Lord Khurd mit einem Zauber ausgeschaltet?«
»Was hast du denn gedacht? Irgendwelche raffinierten Lügengeschichten? Ich muss Elith sehen und zwar jetzt.«
»Aber wenn Khurd …«
Ich habe keine Zeit, mir sein Gejammer anzuhören, und betrete die Zelle. Elith sitzt auf einem Holzstuhl und starrt aus dem vergitterten Fenster.
Ich begrüße sie und stelle mich als Freund und Kriegskamerad ihres Vaters vor.
»Warum seid Ihr hier?«
»Euer Vater hat mich engagiert, damit ich die Beschädigung des Hesuni-Baumes aufkläre. Er sagt, dass Ihr unschuldig seid, also glaube ich ihm. Und jetzt hab ich noch ein paar andere Kleinigkeiten am Hals, einen Mord zum Beispiel. Aber gut, damit werde ich auch fertig. Sagt mir alles und beeilt Euch. Was ist mit dem Baum passiert, und wieso könnt Ihr Euch an nichts erinnern? Wie seid Ihr aus dem Gefängnis entkommen, und warum hat man Euch mit einem Messer neben dem toten Priester gefunden?«
Elith ist schockiert. Die Behandlung durch ihren Vater hat ihr zwar sichtlich gut getan, aber sie ist immer noch extrem durcheinander, was nicht verwunderlich ist. Ich blicke ihr direkt ins Auge und befehle ihr, sich zu konzentrieren.
»Wir haben keine Zeit für Plaudereien, also kommt zum Punkt. Lord Khurd ist unterwegs hierher und drei seiner Wachsoldaten schlafen, dank meines Schlafzaubers. Das wird ihn nicht sonderlich heiter stimmen. Also muss ich in der kurzen Zeit, die uns bleibt, alles erfahren. Seufzt nicht, weint nicht und schweift nicht ab. Erzählt mir einfach, wie es passiert ist.«
Diese Worte ringen Elith-la-Gipt ein schwaches Lächeln ab.
»Ich kann mich jetzt wieder daran erinnern, dass Vater von Euch gesprochen hat«, meint sie. »Ihr taucht in vielen seiner Kriegsgeschichten auf. Es ist gut, dass Ihr gekommen seid. Aber Ihr könnt wirklich nichts für mich tun.«
»Das überlasst mir. Erzählt mir von dem Baum. Habt Ihr ihn beschädigt?«
Sie schüttelt langsam den Kopf. »Ich glaube nicht. Aber es könnte sein. Ich kann mich einfach nicht daran erinnern. Sie haben gesagt, ich hätte es getan.«
»Wer hat das gesagt?«
»Gulag, der Baumpriester. Und sein Bruder Lasses.«
»Und warum könnt Ihr Euch nicht erinnern?«
Sie blickt mich ausdruckslos an und antwortet dann, sie könnte es eben nicht. Als Klientin geht sie mir schon jetzt auf die Nerven.
»Was wolltet Ihr bei dem Baum?«
»Ich bin nur spazieren gegangen. Wir wohnen in der Nähe.«
Ich hätte sie gern noch weiter dazu befragt, aber die Zeit ist knapp, und wir haben ja noch einen Mord auf der Liste.
»Wie seid Ihr heute aus Eurer Zelle gekommen?«
»Ich war nicht eingesperrt. Lord Khurd hat mich nur in einem Raum des Palastes unter Arrest gestellt, und ich habe ihm mein Wort gegeben, dass ich nicht versuchen würde, ihn zu verlassen.«
»Und warum habt Ihr Euer Versprechen gebrochen?«
Sie zuckt mit den Schultern.
Ich werde langsam ungeduldig. »Habt Ihr eigentlich nur diese hilflose Elfen-Girlie-Nummer drauf? Ist Euch nicht klar, in was für einer Jauche Ihr steckt?«
Elith sitzt einfach nur da: groß, schlank, blond und anscheinend mit einem nachhaltigen Anfall von Amnesie geschlagen. Ich frage sie, was passiert ist, nachdem sie den Palast verlassen hat.
»Ich bin in den Wald hinuntergestiegen und zu dem Hesuni-Baum gegangen.«
»Und warum?«
»Ich wollte mich mit Gulag-al-Floros treffen. Er war der Hauptankläger wegen der Beschädigung des Baums.«
Sie hält inne und Tränen laufen ihr über das blasse Gesicht.
»Was ist dann passiert?«
Sie antwortet nicht. Ich ändere meine Taktik. »Euer Cousin Eos-al-Gipt ist auf der Reise von Turai nach Avula gestorben. Kanntet Ihr ihn gut?«
Elith erschrickt. »Nein«, sagt sie schnell. »Ja«, gibt sie dann zu. »Ich kannte ihn. Warum?«
»Weil sein Tod mich wundert. Wisst Ihr einen Grund, aus dem er sich so ungeschickt verhalten haben könnte?«
Elith verstummt, und ich bin mir ziemlich sicher, dass sie mir etwas verheimlicht. Ich frage sie erneut, was passiert ist, als sie den Palast heute Nachmittag verlassen hat.
»Sie hat Gulag erdolcht, das ist passiert!«, dröhnt eine Stimme hinter mir, während die Tür auffliegt. Lord Khurd marschiert herein, und vier Elfen mit gezogenen Schwertern flankieren ihn.
»Wie könnt Ihr es wagen, einen Detektiv bei einem privaten Gespräch mit seinem Klienten zu stören!«, schreie ich ihn an. »Habt Ihr denn keine Ahnung von Euren eigenen Gesetzen hier auf Avula?«
Khurd schreitet auf mich zu und schiebt sein Gesicht drohend vor meines. Dafür muss er sich allerdings mächtig bücken. Seine Männer umringen mich und zielen mit ihren Schwertspitzen auf meine kaum zu verfehlende Körpermitte.
»Habt Ihr meine Wachen schlafen gelegt?«, will er wissen.
»Wachen? Ich habe keine Wachen gesehen. Nur einen leeren Hinterhof mit einer gemütlichen Zelle an seinem anderen Ende. Würdet Ihr mir jetzt bitte ein wenig Zeit mit meiner Klientin gewähren? Ich muss darauf bestehen …«
Die Diener wollen mich ergreifen. Ich will aber nicht ergriffen werden, also weiche ich ihnen aus und mache mich bereit, um mich zu verteidigen. Elith verhindert eine hässliche Messerstecherei, indem sie ihre Hand auf meinen Arm legt.
»Hört auf«, sagt sie sehr leise. »Ich weiß es zu schätzen, dass Ihr mir helfen wollt, Thraxas, aber Ihr könnt nichts für mich tun. Lord Khurd hat Recht. Ich habe Gulag-al-Floros getötet.«
»Streicht diese Aussage!«, rufe ich rasch. »Die Frau steht unter Stress und weiß nicht, was sie sagt.«
»Sie weiß sehr wohl, was sie sagt«, gibt Khurd zurück. »Sie hat unseren Hohen-Baum-Priester ermordet. Drei Elfen können diesen Vorfall bezeugen. Und in diesem Augenblick beschwören sie ihre Aussage vor meinen Schreibern.«
Das ist zwar eine sehr unglückliche Wendung der Ereignisse, aber wie die Leute in ZwölfSeen immer zu sagen pflegen: Thraxas lässt niemals einen Klienten hängen.
»Zeugen machen auch manchmal Fehler«, sage ich.
Lord Khurd überrascht mich mit einem Lächeln. Er hat seine Fassung wiedergewonnen.
»Thraxas, ich könnte Euch fast mögen, wenn Ihr nicht so ein Clown wärt. Aber man muss auf jeden Fall Eure Hartnäckigkeit bewundern. Ihr dringt ohne Einladung in meinen Palast ein, schleicht Euch zu dieser Zelle und legt drei meiner Wächter mit einem Zauber schlafen. Dann befragt Ihr Elith-la-Gipt entgegen meiner ausdrücklichen Erlaubnis. Und obwohl sie das Verbrechen zugibt, und ungeachtet der Tatsache, dass drei Zeugen unabhängig voneinander beeiden, dass sie es begangen hat, steht Ihr hier und haltet mir einen Vortrag über das Klienten-Detektiv-Privileg. Ihr habt sicher niemals geglaubt, dass ich Eurer Sache wohlwollend gegenüberstehe, aber seid versichert, wenn mein hochgeschätzter Heiler Vases-al-Gipt nicht in so hohen Tönen von Eurem Mut gesungen hätte, den Ihr während der Orgk-Kriege unter Beweis gestellt habt, hätte ich Euch nicht einmal auf mein Schiff gelassen. Und er hatte Recht, jedenfalls teilweise. Er hat mir gesagt, dass Ihr niemals eine Sache aufgebt, wenn Ihr sie einmal angefangen habt. Das ist eine bewundernswerte Eigenschaft… Im Krieg, aber nicht jetzt. Elith ist schuldig. An dieser Tatsache könnt Ihr nichts ändern. Und jetzt müsst Ihr es mir überlassen, die Gerechtigkeit walten zu lassen, wie es mein Recht und meine Pflicht ist.«
Ich hebe zum Protest an, aber er hebt die Hand und bringt mich zum Schweigen. Dann winkt er seinen Wachen. »Das reicht, Thraxas. Diese Elfen werden Euch aus dem Palast führen. Zweifellos werden wir uns beim Fest wiedersehen.«
Das ist für den Moment alles. Die vier bewaffneten Elfen eskortieren mich aus der Zelle, über den Hof, die Hängebrücke hinauf und aus dem Palast.
Als ich wieder festen Boden unter den Füßen habe, gehe ich zum Hesuni-Baum. Ich habe noch keine Lust, nach Hause zu gehen. Die große Lichtung ist jetzt vollkommen verlassen. Das Mondlicht spiegelt sich im Wasser der beiden Weiher, und der Hesuni-Baum erhebt sich majestätisch am anderen Ende des Wassers. Ich will mir den Baum ansehen und marschiere hinüber.
Für mich sieht er aus wie ein ganz gewöhnlicher großer Baum. Ich nehme keine Spuren seiner geistigen Kräfte wahr, aber das ist auch nicht anders zu erwarten. Ich bin ein Mensch, kein Elf, und darüber hinaus auch nicht sonderlich spirituell veranlagt. Ich kann auch keine Spur von Zauberei entdecken. Genau genommen bringe ich hier gar nichts in Erfahrung. Und auch als ich das Gras untersuche, wo Gulag gelegen hat, kann ich nur feststellen, dass seitdem eine Menge Elfen darübermarschiert sind.
»Sucht Ihr etwas, das Elith entlasten soll?«
Es kann einen ganz schön verärgern, dass diese Elfen sich einem ohne das geringste Geräusch nähern können. Ich wirble herum und hebe meinen Leuchtstab. Sein Licht fällt auf einen Elfen, der am Baum lehnt.
»Lasses-al-Floros?«
Er quittiert das mit einer leichten Verbeugung. Was macht er denn hier so allein? Wo sein Bruder ermordet wurde, denke ich, sollte er doch eigentlich seine Familie trösten oder wehklagen oder so etwas in der Art.
»Ich muss mich an meine neue Position gewöhnen und dem Baum dienen«, sagt er, als könnte er Gedanken lesen.
»Warum hat Elith Euren Bruder getötet?«
»Sie ist verrückt. Das wussten wir von dem Moment an, als sie den Baum verletzt hat.«
»Ist das der einzige Grund?«
»Ich glaube schon. Und jetzt verlasst mich bitte. Ich muss mit dem Baum kommunizieren.«
»Sicher, klar, der Baum ist wahrscheinlich mächtig aufgewühlt durch all diese Ereignisse. Kennt Ihr übrigens Gorith-al-Dent?«
Lasses sieht mich finster an. Meine Hartnäckigkeit verstimmt ihn. »Nein«, antwortet er schließlich. »Kenne ich nicht.«
Ich glaube, dass Lasses lügt. Ich will ihn weiter befragen, als er anfängt, leise zu singen. Er schließt die Augen und rollt den Kopf von der einen Seite zur anderen. Das Licht von Fackeln und Stimmen von der anderen Seite der Lichtung kündigen Elfen an, die vom Palast kommen. Ich mache mich aus dem Staub. Der Weg zurück zu Cermiths Haus kommt mir ziemlich lang vor. Müde klettere ich in mein Ersatz-Heim und finde Makri in meinem Zimmer. Sie hockt da und liest in einer Schriftrolle.
»Wie läuft’s?«, erkundigt sie sich.
»Es wird schwieriger«, erwidere ich. »Elith-la-Gipt ist gerade angeklagt worden, den Hohen-Baum-Priester erdolcht zu haben.« Ich ziehe mir die Stiefel aus. »Und ich habe immer noch kein Bier gefunden. Langsam beschleicht mich der Verdacht, dass die Elfen es mir aus reiner Bosheit vorenthalten.«