4. KAPITEL

Am nächsten Tag wache ich so früh auf, dass ich beinahe am Morgengebet teilnehmen muss. Das ist mir schon seit Jahren nicht mehr passiert. Trotz meines Frühstarts endet der Morgen in völliger Frustration. Ich nehme eine Mietdroschke zum Gefängnis, aber ich werde immer noch nicht zu Gesox vorgelassen. Alle Gefangenen haben das unverletzbare Recht, ihre Vertreter sehen zu können, in diesem Fall also mich. Aber in Turai werden juristische Feinheiten längst nicht immer beachtet. Ich werde am Gefängnistor mit der groben Auskunft abgespeist, dass Gesox heute niemanden empfängt. Als ich lautstark und lang anhaltend protestiere, fordert mich ein Büttel auf, einen Beweis vorzulegen, dass mich Gesox tatsächlich engagiert hat, in seinem Fall zu ermitteln.

»Präfekt Tholius hat ihn weggeschleppt, bevor er mir eine Vollmacht ausstellen konnte.«

Oje, das war die falsche Antwort. Die bringt mich keinen Zentimeter weiter. Offenbar wollen die Behörden den Fall wirklich so schnell wie möglich in trockene Tücher bringen, ohne dass sich dabei jemand die Mühe macht, eine vernünftige Verteidigung auf die Beine zu stellen. Gesox’ Prozess ist für nächste Woche anberaumt, und wenn sich seine Lage nicht sehr bald sehr nachhaltig verbessert, wird er sicher vom Galgen baumeln. Rodinaax war ein allseits hoch geschätzter Mitbürger, und die Öffentlichkeit dürstet nach dem Blut des Mörders.

Ich verwünsche meinen doch eher spärlichen Einfluss bei den Bütteln und Bonzen in dieser Stadt. Ich habe zwar jede Menge Kontakte zur Unterwelt, aber als man mich ohne viel Federlesens aus dem Palast befördert hatte, wurde mir auch gleichzeitig eine Menge nützlicher Türen vor der Nase zugeschlagen.

Mir fällt ein, das möglicherweise Zitzerius, unser frisch gebackener Vizekonsul, eine Lanze für mich brechen würde, nach den guten Diensten, die ich ihm kürzlich erwiesen habe. Aber Zitzerius befindet sich in offizieller Mission in Mattesh, also stecke ich im Augenblick mit meinen Ermittlungen fest.

Wenn ich schon nicht zu Gesox kann, sollte ich auf jeden Fall Rodinaax’ Ehefrau aufsuchen, aber auch hier verlaufen alle meine Bemühungen im Sande. Niemand hat sie weggehen sehen, und keiner weiß, wohin sie gegangen sein könnte. Sie hat nur einen Verwandten in der Stadt, einen Bruder. Der arbeitet in einem Lagerhaus im Hafen. Er kann mir auch nicht weiterhelfen und scheint außerdem auch nicht die geringste Lust dazu zu haben. Offenbar sind die beiden nicht besonders gut miteinander ausgekommen.

»Hatte sie eine Affäre mit dem Schüler?«, hake ich nach.

»Wahrscheinlich«, erwidert er und bedeutet mir unmissverständlich, dass ich mich allmählich vom Acker machen soll. Ich ignoriere seinen Wunsch und trödle noch ein bisschen in der Gegend herum. Aber das Einzige, was ich in Erfahrung bringen kann, ist, dass wir heutzutage eine Menge Weizen auf Schiffen importieren.

Interessant finde ich nur, dass Rodinaax’ Frau Lolitia aus einer Hafenarbeiter-Familie stammt. Es bedeutet, dass sie weit über ihrem Stand geheiratet hat. Rodinaax war zwar kein Aristokrat, aber als erfolgreicher Bildhauer und Künstler rangierte er doch einige gesellschaftliche Stufen über dem gemeinen Malocher. Für solche Art Rangunterschiede hat so ziemlich jeder in Turai eine feine Nase.

Ich besuche die Wachstation, als Tholius gerade nicht da ist. Der Gardist Inkorruptox weiß aber auch nicht, wo Lolitia ist. Er glaubt außerdem nicht daran, dass die Zivilgarde irgendwelche handfesten Spuren hat.

»Es kann doch für eine Frau ohne Familie nicht so einfach sein, sich hier in der Stadt zu verstecken«, sinniere ich. »Wohin kann sie sich wenden? Die Diener behaupten, dass sie kein Geld mitgenommen hat. Und warum ist sie überhaupt verschwunden?«

»Vielleicht hat ja sie Rodinaax umgebracht, weil sie mit dem Schüler durchbrennen wollte«, mutmaßt Inkorruptox.

»Wenn das so ist, dann war es aber ziemlich dämlich, sein Messer zu benutzen und ihn damit an den Galgen zu liefern.«

Ich denke über Lolitia und Gesox nach. Wenn sie wirklich eine Affäre hatten, dann kommt es mir reichlich komisch vor, dass sie sich aus dem Staub gemacht und ihn im Stich gelassen haben soll.

Inkorruptox verrät mir, dass er sie kannte, als sie noch am Hafen gelebt hat. Er erinnert sich daran, dass sie eine sehr schöne junge Frau war.

»Es hat niemanden überrascht, dass sie einen wohlhabenden Bildhauer geheiratet hat. Hätte sie noch ein bisschen länger gewartet, hätte sie sicher eine noch bessere Partie machen können.«

Inkorruptox ist beschäftigt. Tholius macht ihm und seinen Leuten die Hölle heiß, weil Senator Lohdius, der die oppositionelle Partei der Populären anführt, die neueste Welle von Verbrechen instrumentalisiert, um die regierenden Traditionalisten lächerlich zu machen.

»Häuser von ausländischen Botschaftern werden ausgeraubt!«, dröhnt er im Senat. »Dem König wird sein Gold gestohlen! Ehrliche Bürger werden auf der Straße brutal ermordet! Boah verbreitet sich wie eine Seuche in der Stadt! Und was unternehmen unsere Regierungsvertreter angesichts dieser Krise?«

Damit war die Rede längst noch nicht am Ende. Der Chronist gibt sie wortwörtlich wieder, und natürlich bereitet sie jedem Bonzen von Konsul Kahlius an abwärts Kopfschmerzen. Senator Lohdius’ Populäre Partei musste zwar bei der letzten Wahl vor einigen Wochen eine leichte Schlappe einstecken, aber er hat immer noch viel Einfluss in der Stadt. Und er kann eine Menge Probleme machen, wenn es ihm gelingt, den Mob aufzustacheln. Also schiebt die Zivilgarde Überstunden bei dem Versuch, ein paar der besonders skandalösen Verbrechen aufzuklären.

Ich verlasse Inkorruptox, der mürrisch einen Stapel Zeugenaussagen durchblättert, die zu einem Mord im Hafenviertel gemacht wurden. Dabei ging es um Boah. Und laut der Aussagen hat keiner der Zeugen irgendetwas gesehen. Eine um sich greifende Sehschwäche, die immer dann eintritt, wenn mächtige Boah-Banden ihre Meinungsverschiedenheiten mit Gewalt austragen.

Wenn ich etwas hätte, das Lolitia gehört, ließe sich vielleicht ein Zauber spinnen, mit dem ich sie aufspüren könnte, aber ich habe nichts. Ich gehe zum Haus des Bildhauers zurück, aber es ist verschlossen und streng bewacht. Ich kann flehen und betteln, so viel ich will, sie lassen mich nicht mehr hinein. Jetzt verwünsche ich mich für meine Dummheit, dass ich nichts mitgenommen habe, als ich die Chance dazu hatte. Aber die Zauberer der Garde dürften in dieser Richtung auch keine Fortschritte machen, weil die Monde erst in mehreren Monaten wieder in die richtige Konstellation treten. Nur leider hat Gesox nicht mehrere Monate Zeit.

Darüber beschwere ich mich bei Astral Trippelmond.

»Jedes Mal, wenn ich jemanden schnell finden muss, stehen die Monde irgendwie ungünstig zueinander. Die Zauberei ist ziemliche Scharlatanerie, wenn es darum geht, Verbrechen zu lösen.«

»Nicht immer. Ich habe Euch in der Vergangenheit schon einige schöne Lösungen präsentiert.«

Das muss ich zugeben. Außerdem ist es auch ganz gut, dass man mit Zauberei nicht alle Verbrechen in der Stadt lösen kann. Sonst wäre ich bald arbeitslos.

Astral sucht ganz Turai nach der Statue ab – vergeblich. Das scheint noch einmal zu bestätigen, dass sie mittlerweile weit weg ist, aber es bleibt ein Geheimnis, wie das geschehen konnte. In der Rächenden Axt heule ich mich über meine mangelnden Fortschritte bei Makri aus.

Das einzige Berichtenswerte ist, dass man mich verfolgt.

»Du wirst verfolgt? Von wem?«

»Das weiß ich nicht. Ich habe bisher nicht mal ein Härchen von ihnen gesehen. Aber ich fühle es.«

»Hast du es schon mit Kuriya probiert?«

Ich schüttele den Kopf. Kuriya ist eine dunkle, geheimnisvolle Flüssigkeit, die manchmal mit einem Bild als Antwort auf eine Frage aufwartet, vorausgesetzt, der Fragende kann richtig mit ihr umgehen. Ich kann aus dieser schwarzen Brühe gelegentlich ganz passable Resultate hervorzaubern, obwohl mich das zurzeit vollkommen auslaugt. Es funktioniert jedoch nicht immer, und die Flüssigkeit, die von einem Monopolisten aus dem Weiten Westen importiert wird, ist sündhaft teuer. Was bedeutet, dass ich nur einen Versuch habe. Und ich würde mir lieber Informationen über Gesox verschaffen als darüber, wer mich verfolgt. Den kann ich mir immer noch persönlich zur Brust nehmen, wenn er erst mal sein Gesicht gezeigt hat.

Ich trinke mein Mittagsbierchen. Leider kann ich weder mit Gesox reden noch irgendwelche Zeugen finden, die wissen, was geschehen ist. Meine Gedanken kehren zu Rodinaax’ Frau Lolitia zurück. Vielleicht gibt mir das Kuriya ja einen Hinweis auf ihren Aufenthaltsort. Das wäre einen Versuch wert.

Es dauert ziemlich lange, bis ich mich in den erforderlichen Bewusstseinszustand versetzt habe. Im Idealfall sollte ein Zauberer in einer friedlichen, ruhigen Umgebung arbeiten, aber in Zwölf Seen gibt es generell nur sehr wenig Ruhe. Die Fischverkäufer, Boah-Händler und Huren wetteifern lautstark in dem Bemühen, ihre Waren feilzubieten. Streunende Hunde knurren sich an und kämpfen miteinander, Kinder spielen kreischend im Dreck, und Frauen feilschen lautstark mit den Gemüsehändlern. Abgesehen von diesem Lärm hört man überall das Hämmern und Sägen der Bauarbeiter. Kurz gesagt: Es ist alles andere als einfach, sich in Trance zu versetzen. Ich gebe mein Bestes.

Vor mir steht ein Becken mit der kostbaren schwarzen Brühe. Der einzige Händler, der sie aus dem Weiten Westen importiert, behauptet, es handle sich dabei um Drachenblut. Das stimmt nicht. Drachenblut habe ich mehr als genug gesehen. Aber das benutzt der Kerl als triftigen Grund für den lächerlich überhöhten Preis, den er fordert. Woher die Brühe auch stammt, sie vermag es, auf den suchenden Verstand eines erfahrenen Zauberers zu reagieren. Und sogar auf meinen, obwohl ich kaum ein echter Magier bin.

Ich habe die Vorhänge zugezogen, und das einzige Licht in meinem Zimmer stammt von einer großen roten Kerze. Die glänzende schwarze Flüssigkeit schimmert in ihrem sanften Schein. Ich konzentriere mich auf die Flamme und denke an Rodinaax’ Frau und ihren möglichen Aufenthaltsort.

Eine Weile passiert gar nichts. Das dauert so lange, dass man schon glauben könnte, es wird auch nichts mehr passieren. Ich verharre in meiner Trance. Die Zeit verstreicht. Es wird immer kälter, und ich höre den Lärm von draußen nicht mehr. Schließlich formt sich ein Bildnis: Ein Haus, ein großes Haus, eine weiße Villa auf einem bewaldeten Hügel.

Ich strenge mich an, weil ich mehr sehen will, doch da wird meine Konzentration durch ein beinah unmerklich nagendes Unbehagen gestört. Ich weiß nicht, was es ist, und ignoriere es zunächst. Aber es geht nicht weg. Ich versuche mich weiter auf das Bild zu konzentrieren, doch es verblasst bereits. Tief in Trance bemerke ich, dass noch jemand in meinem Zimmer ist. Angst durchzuckt mich wie ein Pfeil, die schreckliche Furcht, hilflos einem Feind ausgesetzt zu sein. Mit einem angsterfüllten Schrei tauche ich aus der Trance auf, springe verwirrt und desorientiert auf die Füße und drehe mich wie verrückt im Kreis. Wer ist da? Mein Blick verschwimmt einen Moment, bevor er sich auf zwei Gestalten fokussiert, die sich kaum einen Meter von der Stelle entfernt befinden, an der ich gekniet habe. Der eine durchwühlt gerade die Papiere auf meinem Schreibtisch, während der andere offenbar Schmiere steht. Sie tragen beide rote Roben. Und haben beide ihre Schädel kahl geschoren. Einbrecher-Mönche?

»Wer zum Teufel seid ihr?«, brülle ich sie an.

Sie wenden sich um und flüchten zur Tür. Ich springe hinter ihnen her, packe die Schultern desjenigen, der mir am nächsten steht, und wirble ihn herum.

»Was ist hier los?«

Er weicht zurück. Da ich immer noch unter den Nachwirkungen dieser plötzlichen Unterbrechung meiner Trance leide, habe ich noch weniger Geduld als sonst. Ich schicke meine berüchtigte Gerade auf den Weg, die den Mönch eigentlich durch die Wand schmettern sollte. Aber er blockt den Schlag ab. Ich bin überrascht und starte einen neuen Versuch. Er wehrt ihn erneut ab, und zwar beinah automatisch, ohne sichtbare Mühe. Als ich einen dritten mächtigen Hieb gegen sein Gesicht loslasse, berührt das Mönchlein kurz meinen Arm, und ich stehe plötzlich dumm da und starre in die andere Richtung. Wie zum Teufel hat er das fertig gekriegt? Im nächsten Moment bekomme ich einen Schlag zwischen die Schulterblätter. Ich segle durch den Raum, lande an der Wand und schlage schwer auf dem Boden auf.

Makri stürmt herein. Ich liege verwirrt und benommen auf dem Boden. Sie läuft rasch zur Außentür, aber anscheinend ist niemand mehr zu sehen. Die beiden Angreifer sind ebenso geheimnisvoll verschwunden, wie sie aufgetaucht sind.

»Wer war das denn?«, erkundigt sich Makri, während sie mir auf die Füße hilft.

»Nur zwei Kampfmönche, die sich ein bisschen in der großen Stadt amüsieren wollten«, keuche ich und sinke auf die Couch. Die Suche im Kuriya hat mich ohnehin schon erschöpft. Und sich dann auch noch mit zwei Kampfmönchen herumbalgen zu müssen ist einfach zu viel.

»Was sind Kampfmönche?«

»Mönche, die auch Kämpfer sind. Sie verbringen ihr halbes Leben mit Gebeten und Meditation, und in der anderen Hälfte lernen sie, wie man kämpft. Entschuldige mich, Makri, ich muss mich hinlegen.«

Mir schwimmt alles vor den Augen. Der Schlag hat mich fertig gemacht. Ich bleibe liegen, bis ich wieder sehen kann. Makri bringt mir ein Bier, und ich kehre allmählich in die wirkliche Welt zurück.

»Verdammt sollen sie sein! Dabei habe ich gerade ein Bild heraufbeschwören können, als sie hereingekommen sind.«

Ich versuche mich daran zu erinnern, wie das Haus in dem Kuriya-Becken ausgesehen hat. »Es war eine Villa auf einem bewaldeten Hügel. Das könnte jedes beliebige der vielen Häuser am Rand der reichen Vorstadt Thamlin sein, dort wo das Land zum Palast hin sacht ansteigt. Es könnte aber auch ganz woanders liegen, womöglich sogar in einer anderen Stadt.

Nein, so weit kann Lolitia nicht gekommen sein. Wenn sie sich im Hafen eingeschifft hätte, wäre die Zivilgarde informiert worden. Und ich mag auch nicht glauben, dass sie auf einem Pferd davongaloppiert ist. Rallig hat mir erzählt, dass er alle gründlich überprüft hat, die sich an diesem Tag Pferde ausgeliehen haben. Und er hat auch die Händlerkarawanen gefilzt, die die Stadt verlassen haben.«

Makri fragt sich, warum die Gardisten so intensiv in diesem Fall ermitteln. »Sie machen sich eine Menge Mühe, findest du nicht? Für einen ganz stinknormalen Mord?«

»Vielleicht. Aber Senator Lohdius hält ja gerade flammende Reden darüber, dass die Stadt allmählich vor die Hunde geht, also legt sich die Zivilgarde mächtig ins Zeug, weil sie beweisen wollen, dass sie nicht einfach nur Steuergelder verschwenden, was er behauptet. Der arme Inkorruptox hatte sich schon auf eine Woche Urlaub gefreut. Stattdessen steckt er jetzt bis zum Hals in Zeugenaussagen und hat genauso schlechte Laune wie eine niojanische Nutte. Die Zivilgarde muss den Fall Rodinaax rasch lösen, um ihre Kompetenz zu beweisen. Sie vermuten wohl, dass sie bereits einen mächtigen Vorsprung haben, weil sie so schnell jemanden verhaften konnten. Sie werden es nicht riskieren, den Prozess gegen Rodinaax’ vermeintlichen Mörder zu vermasseln.«

Ich sollte nach Thamlin gehen und versuchen, diese Villa zu finden. Warum mussten mir diese Mönche alles vermasseln?

Gurdh klopft und steckt seinen Kopf durch die Tür.

»Makri«, sagt er. »Du solltest arbeiten. Und Thraxas … Da unten wartet jemand auf dich, der dich sprechen will.«

»Wer denn?«

»Ich glaube, ihr Name ist Dandelion.«

»Sag ihr, dass ich ausgegangen bin«, erwidere ich und stehe hastig auf. »Eine wichtige Ermittlung. Und hör auf, mich so anzusehen, Makri. Ich werde nicht nach diesem vom Himmel gefallenen Heilstein der Delfine suchen. Das ist mein letztes Wort. Wenn du so besorgt darum bist, dann klemm dir Dandelion unter den Arm und nimm sie zu einem dieser Kränzchen deiner Vereinigung der Frauenzimmer mit. Die werden ihr schon den Kopf zurechtrücken.«

Ich packe mein Schwert, stecke etwas Geld ein, weil ich mir in Marzipixas Bäckerei einen Laib Brot kaufen will, und gehe hinaus.

Kaum trete ich auf die Straße, spüre ich wieder, dass ich verfolgt werde. Ich runzle die Stirn. Allmählich reicht es mir. Ich springe in eine Mietdroschke und weise den Fahrer an, mich rasch nach Thamlin zu bringen. Er tut sein Bestes, aber bei all den Straßenarbeiten, den Schlaglöchern und dem Verkehr auf dem Markt kommen wir nur sehr langsam voran. So kann ich meine Verfolger nicht abschütteln. Jetzt bedauere ich es, dass ich mich nicht früher um sie gekümmert habe.

Das reinliche Thamlin bildet einen krassen Gegensatz zu dem Dreck von Zwölf Seen. In dem Villenviertel sind die Straßen sauber und mit grüngelben Fliesen gepflastert. Die luxuriösen Anwesen stehen inmitten schattiger Gärten, umgeben von weißen Mauern, und werden von der Sicherheitsgilde bewacht. Zivilgardisten patrouillieren auf den Straßen und halten sie von Abfall frei und bei der Gelegenheit auch gleich von Abschaum aller Art. Niemand stört die Ruhe. Selbst die Flugratten, die kleinen schwarzen Vögel, welche die Stadt verpesten, sehen hier besser genährt aus. Jeder, den es hierher verschlägt, um ein bisschen zu betteln, wird schnell weggejagt, damit er den Seelenfrieden unserer Aristokraten nicht stört.

Ich habe auch mal hier gewohnt. Jetzt bin ich in der Gegend in etwa so willkommen wie ein Orgk auf einer Elfenhochzeit.

Da ich keine Ahnung habe, wo ich meine Suche beginnen soll, lasse ich die Mietdroschke in der Wahre-Schönheit-Chaussee anhalten. Dort wohnen die meisten Zauberer. Dann marschiere ich den sanften Hang hinauf, der bis an das Waldgebiet reicht, das wiederum an das Gelände des Kaiserlichen Palastes angrenzt. Die Häuser hier ähneln alle der Villa, die ich in dem Kuriya-Becken gesehen habe. Ich bemühe mich, mich an irgendwelche Besonderheiten zu erinnern, aber mir fällt einfach nichts ein. Es war einfach nur irgendeine luxuriöse Villa, deren Bewohner faul im Schatten herumliegen, Wein aus ihrem eigenen Anbau schlürfen und sich dazu Fische aus ihren Zuchtteichen auf der Zunge zergehen lassen. Ich runzle die Stirn. Das wird eine schöne Ermittlung!

Vor einer der kleineren Villen, die etwas von der Straße entfernt liegen, bemerke ich einen Gardisten. Niemand sonst ist zu sehen. Nicht einmal Bedienstete, die den Rasen trimmen oder die Blumenbeete pflegen. Dann wird mir klar, dass dies hier wahrscheinlich das Haus von Thalius Scheelauge ist, dem kürzlich ermordeten Zauberer.

Dieser Mord hat mit meinem Fall nichts zu tun. Ich sollte mich also tunlichst fern halten. Ich schlendere dennoch hinüber, um mal einen Blick zu riskieren. Der Gardist ist alles andere als achtsam. Er sieht nicht einmal, wie ich mich über die Mauer wuchte und auf der anderen Seite in den Garten hinunterplumpsen lasse. Warum, verdammt, mache ich das?

Wahrscheinlich lösen ermordete Zauberer bei mir eine unbezwingbare Neugier aus.

Der Garten ist ausgezeichnet in Schuss und menschenleer. Vermutlich sind die Bediensteten des Zauberers alle noch in Gewahrsam und beantworten bohrende Fragen – was sie zum Beispiel über das Giftmischen wissen. Ich marschiere schnell zwischen einigen hohen Bäumen hindurch, bis ich einen kleinen Zierteich auf der Rückseite des Hauses erreiche. Im Gegensatz zu einigen unserer wohlhabenderen Mitbürger hat Thalius den Teich offenbar nicht mit Fischen bestückt. Dabei ist ein gut ausgestatteter Fischteich ein kaum zu überbietendes und unverzichtbares Statussymbol in Turai. Keine Dame eines aristokratischen Clans könnte ein Mitglied der königlichen Familie zu Tisch bitten, ohne nicht zumindest einen Hauptgang aus eigener Zucht auftischen zu können. Es verschlingt jede Menge Gurans, diese schuppigen Viecher bei Laune und bei Gewicht zu halten.

Ich bin mittlerweile fast schon an der Hintertür. Sie ist gelb gestrichen, und zwei kleine Statuen von Sankt Quaxinius dienen als Torwächter. In Turai gilt Gelb gemeinhin als Glück bringende Farbe, in der man seine Hintertür streichen sollte. Die Vordertür sollte möglichst weiß sein. Natürlich richtet sich so ziemlich jeder, der was auf sich hält, nach dieser Vorgabe. Abergläubisch? Aber nein! Nur, warum sollte man das Schicksal herausfordern?

Ich will gerade die Tür öffnen, als aus dem Haus Geräusche dringen. Es erscheint mir ratsam, sofort hinter einem ausladenden Busch in Deckung zu gehen. Ein anderes Geräusch hinter mir treibt mich noch tiefer ins Unterholz. Hier bin ich mittendrin und beobachte die Geschehnisse mit wachsendem Interesse, fast schon Verblüffung. Erst fliegt die Hintertür auf, und drei glatzköpfige und rot gewandete Mönche stürmen heraus. Sie bewegen sich plötzlich sehr leise, gleiten wachsam durch das Portal, vergewissern sich, dass keiner sie beobachtet, und schleichen sich dann zum anderen Ende des Grundstücks. Aber sie sind nicht unbeobachtet. Denn plötzlich tauchen aus dem Dickicht hinter mir vier andere Mönche auf. Haare haben sie genauso wenig wie die anderen, aber sie tragen gelb. Ohne langes Vorspiel stürzen sie sich auf die erste Gruppe.

Die friedliche Stille ist schlagartig beim Teufel, als der Kampf beginnt. Und es ist ein außerordentlich sportlicher Kampf. Viele Leute schwärmen von den überlegenen Fähigkeiten der Kampfmönche, aber bis heute habe ich eine solche Demonstration noch nie selbst miterleben dürfen. Ich sehe erstaunt zu, wie sie Tritte in Kopfhöhe austeilen und wie Treffer den Gegner ein beträchtliches Stück über den Rasen purzeln lassen. Dann springen die Geschlagenen athletisch und scheinbar unbeeindruckt wieder auf die Füße und stürzen sich erneut ins Getümmel. Die meisten Schläge werden von kurzen, schrillen Schreien begleitet, sodass die ganze Nachbarschaft mithören kann, was hier los ist.

Prompt taucht auch nach bemerkenswert kurzer Zeit der Zivilgardist von der Vordertür auf. Als er sieht, dass hier sieben Kampfmönche zugange sind, beschließt er weise, sich als Nicht-Mönch lieber herauszuhalten. Stattdessen ruft er mit seiner Pfeife Verstärkung herbei.

Als die Mönche den Pfiff hören, beenden sie ihre Zwistigkeiten sofort. Stattdessen werfen sie sich gegenseitig hasserfüllte Blicke zu. Dann helfen die Unversehrten den Verletzten hoch und machen sich schleunigst in entgegengesetzte Richtungen davon. Erneut zeigen sie ihre bemerkenswerten athletischen Fertigkeiten, als sie wie Hupfdohlen über Mauern und andere Hindernisse springen, die zwischen ihnen und der Freiheit liegen.

Jeden Moment müssen noch mehr Zivilgardisten auftauchen. Ich habe gerade noch Zeit zu flüchten. Ich sollte so weit von hier weglaufen, wie mich meine Füße tragen. Meinem Charakter entsprechend begebe ich mich folgerichtig zur Hintertür und ins Haus hinein. Manchmal sind meine Füße ziemliche Narren. Meine überwältigende Neugier, andere sagen Vorwitzigkeit, hat mich in Schwierigkeiten gebracht, schon seit ich laufen konnte.

Wenigstens ist es hier kühl, eine wahre Erleichterung nach der glühenden Hitze draußen. Ich nehme einen Krug in der Küche und lasse mir etwas Wasser über den Nacken laufen. Dann gehe ich weiter. Im ersten Zimmer, einem großen, hellen, ruhigen Raum mit pastellfarbenen Gobelins an den Wänden, treffe ich eine junge Frau. Sie hat ein Messer in der Hand und stellt sich mir mutig entgegen. Sie versucht einen kräftigen Hieb gegen meinen kaum zu verfehlenden Bauch zu führen, stolpert jedoch über eine leere Kleehflasche vor ihren Füßen und sackt zu einem betrunkenen Häufchen Elend auf dem Boden zusammen.

Eine weitere unerwartete Entwicklung. Ich runzle die Stirn. Thalius war nicht verheiratet, da bin ich sicher. Aber sie trägt eine Toga, die der Herrin des Hauses angemessen wäre. Sie muss Thalius’ Tochter sein.

Sie hebt den Kopf und erkundigt sich undeutlich, was ich hier mache.

»Ich stelle Nachforschungen über den Tod von Thalius an.« Noch eine Lüge.

»Ihr seid kein Gardist.« Sie rappelt sich unsicher auf. »Macht nichts. Die Gardisten werden sowieso nicht rausfinden, wer meinen Vater getötet hat. Gardisten sind so nützlich wie Eunuchen in einem Puff.«

Es überrascht mich etwas, solche Ausdrücke von einer so wohlerzogenen jungen Dame zu hören. Sie schnappt sich noch eine Flasche Kleeh von dem Regal hinter ihr. Eigentlich hat sie schon mehr als genug, aber ich bin kein Drogenberater, also mische ich mich nicht ein. Außerdem glaube ich Geräusche von draußen zu hören. Anscheinend sind noch mehr Zivilgardisten eingetroffen.

»Die Gardisten werden jeden Moment hier hereinkommen. Ich bin ein Detektiv. Ich helfe Euch, wenn Ihr mir helft.«

Das klingt einigermaßen aufrichtig. Vielleicht meine ich es sogar ehrlich. Irgendwie tut sie mir Leid, so betrunken und dann auch noch frisch verwaist.

»Was wollt Ihr wissen?«

»Wer hat Euren Vater getötet?«

»Sein Boah-Händler, denke ich doch.«

Jetzt bin ich platt. Dabei überrascht mich nicht die Erkenntnis, dass Thalius Boah genommen hat, das ist mittlerweile eine Standard-Droge, und Zauberer scheinen ihr besonders zugetan zu sein. Aber in dem Papyrus-Bericht über den Mord wurden Drogen mit keinem Wort erwähnt.

»Ich dachte, er wäre von einem Bediensteten vergiftet worden.«

Sie kichert trunken. Es klingt ziemlich albern. »Das sagen alle. Sie wollten wohl nicht, dass der Palast schon wieder von einem Drogenskandal erschüttert wird. Es gab schon zu viele. Mein Vater ist nicht vergiftet worden. Ein Armbrustbolzen hat ihn erledigt. Er konnte anscheinend seinen Boah-Händler nicht mehr bezahlen.«

Wir hören Schritte, als die Zivilgarde das Haus betritt.

»Engagiert mich, um den Mörder zu finden«, dränge ich sie. Aber es ist schon zu spät. Sie fällt genau in dem Moment sehr dekorativ zu Boden, als die Zivilgardisten den Raum betreten. An ihrer Spitze marschiert Präfekt Calvinius höchstpersönlich. Er ist der oberste Gardist in Thamlin.

Präfekt Calvinius kennt mich sehr gut. Und er kann mich genauso wenig leiden wie Präfekt Tholius. Vielleicht sogar noch weniger. Ein Blick auf die ausgestreckte Schnapsleiche zu meinen Füßen genügt ihm. Mit markiger Stimme befiehlt er meine Verhaftung. Sekunden später werde ich auf einen Karren geladen und ins Gefängnis verfrachtet.

Es ist zwar nicht gerade neu für mich, im Zuge meiner Ermittlungen dem Gefängnis ab und an einen Besuch abzustatten. Aber mir wird rasch klar, dass ich diesmal einfahre, ohne dass ich überhaupt in der Sache ermittelt habe. Jetzt frage ich mich, ob es mir trotz meines fortgeschrittenen Alters vielleicht immer noch möglich ist, meine obsessive Neugier etwas zu zügeln.