44
„Sie haben den Verstand verloren!“ rief Greville aus. Ich beachtete ihn nicht und fuhr damit fort, mich in den Naßanzug zu zwängen. Er trat nervös von einem Bein aufs andere und rang die Hände. Als ich die Manschetten schloß, traten Tobias und Jenny in die Tauchkammer.
„Tia, muß das unbedingt sein …?“ fragte Jenny. Ich ignorierte sie ebenfalls. Tobias sah mich schweigend an, schritt dann zu seinem Spind und begann damit, seine Ergkapsel-Ausrüstung zu montieren.
„Gütiger Himmel, Sie nicht auch noch“, brachte Greville hervor. „Wissen Sie eigentlich, auf was Sie sich da einlassen?“
Tobias’ volle Lippen kräuselten sich mürrisch und eigensinnig, und er gab keine Antwort. Greville war beinahe außer sich und tanzte mit hochrotem Gesicht hin und her.
„Ein Ergfeld ist bereits zusammengebrochen, und das könnte mit Ihrem ebenfalls passieren“, sagte er, und seine Stimme überschlug sich schrill. „Es ist ein großes Risiko, ein sehr großes Risiko!“
„Das nehme ich auf mich“, knurrte Tobias. „Wenn sie runtergehen kann, dann kann ich es auch.“
„Tobias …“ begann Jenny.
„Ich habe gesagt, ich gehe runter!“ rief er. „Also laß mich in Frieden, ja?“
Jenny schüttelte den Kopf und stürzte auf die Steigröhre zu. Ihre hochgezogenen Schultern drückten Zorn aus. Ich zuckte mit den Achseln und machte mich wieder an die Überprüfung des Luftaufbereiters.
„Tia, bitte … Tobias … ihr seid wahnsinnig …“
Nein, dachte ich. Tobias ist wahnsinnig. Keiner von uns sprach ein Wort, und jeder fuhr damit fort, seine eigene Ausrüstung zu kontrollieren. Greville warf wütend die Arme hoch, raufte sich die Haare und verließ den Raum. Ich fragte mich kurz, aus welchem Grund Tobias mitkommen wollte, dann schob ich die Frage wieder beiseite. Unter Wasser würde ich ihn abschütteln. Ich konnte weitaus schneller schwimmen als er.
Paul trat an meine Seite, als ich das Gummi an den Beinen glattstrich. Er blieb neben mir stehen und kaute auf der Unterlippe.
„Tia, du willst doch nicht wirklich tauchen, nicht wahr?“
Ich legte den Gürtel an, zog ihn richtig fest und schob die Gewichte hin und her, bis sie gleichmäßig an den Hüften verteilt waren.
„Greville meint, es sei gefährlich“, fügte er hinzu.
Der Kommunikator an der Taille, hier. Stunner. Messer. Die Sammeltasche für Artefakte. Chronometer. Tiefenmesser. Kompaß. Die Armbandcontroller. Kontrollterminal für die Servos. Eine Mini-Ergkapsel für den Notfall. Färbungsmittel. Bojen. Eine aufblasbare Überlebensjacke. Handschuhe.
„Es könnte etwas passieren.“
Schließlich wandte ich mich ihm zu, erinnerte mich an jene Nacht in meiner Kabine, an das gurgelnde Ächzen, das Benitos Hinabsinken ins Meer untermalt hatte, und ich kämpfte eine plötzliche Übelkeit nieder. Paul errötete, und sein Blick wanderte unstet über die verschiedenen Einrichtungsgegenstände der Tauchkammer. Die Finger suchten nach irgendeinem Halt auf den glatten und nackten Hüften, und als sie nichts fanden, hakten sie sich auf dem Rücken ineinander. Natürlich, natürlich. Nicht Benitos Leiche, aber das orangefarbene Bündel, das sie repräsentierte. Nicht Tias Tod, aber die Symbole dieses Todes, die von der Vorstellung und den Gedanken daran hervorgerufene Erregung. Eine Nekrophilie, die sich nur auf das Ausmalen des Todes bezog, auf das Symbol und nicht die Substanz, das Leichentuch und nicht den Toten selbst. Ich zog die Gummikapuze auseinander und schob sie mir über das ergrauende Haar.
„Verschwinde, Paul“, sagte ich, und er drehte sich um, sprintete durch die leere Kammer und sauste die Röhre empor.
Tobias paßte die Kapuze wasserdicht an den übrigen Naßanzug an, drehte sich dann um, und ich stellte die restlichen Anschlüsse am hinteren Teil seines Kontrollgürtels fertig. Als Lonnie sich auch weiterhin nicht blicken ließ, nahmen wir die Checkliste aus ihrem Schrank und gingen sie sorgfältig durch.
Als wir damit fertig waren und an den Rand des Tauchschachtes traten, tönte die Stimme von Harkness aus dem Interkom.
„Meiner Meinung nach haben Sie beide den Verstand verloren“, sagte er barsch, „aber ich will Sie nicht ohne eine Verbindung zu uns hinuntergehenlassen. Ich nehme an, Sie haben die Sicherheitskontrollen bereits durchgeführt?“
„Ja“, antwortete ich.
„Nun, also gut. Ich habe alle Servos für Sie bereitgestellt …“
„Ich brauche nur einen.“
„Ich nehme alle anderen“, meinte Tobias, und ich zuckte mit den Achseln.
„Ich hätte sie sowieso alle hinuntergeschickt“, sagte Harkness. „Tobias, Sie können von mir aus beginnen.“
Er zögerte am Rand des Schachtes, als erinnerte er sich nun an den letzten Körper, der vor ihm ins Meer hineingeglitten war, dann preßte er die Lippen zusammen und ließ sich langsam ins Wasser hinab. Ich wartete, bis sich seine Kraftfeldblase vollständig aufgebaut hatte und er zur Seite getaucht war, dann schloß ich die Sichtscheibe meiner Tauchermaske und folgte ihm in den Ozean hinein.
Sicher hatte die Strömung den Leichnam Benitos inzwischen weit vom Schiff fortgetrieben, doch als wir beide tiefer tauchten, wahrte ich ein wachsames und angespanntes Schweigen, und Tobias erging es offenbar ebenso. Ein massiges Objekt schwebte in einiger Entfernung. Tobias fuhr zusammen und wies dann die Servos an, ihre Scheinwerfer darauf zu richten – eine Wolke aus Seetang. Ein Hai glitt an uns heran und schwamm verächtlich durch das durchscheinende Wasser davon. Langsam sanken wir durch die Sphäre verblassender Farben und auf Hilo zu.
„Wie steht’s bei Ihnen?“ fragte Harkness.
„Es ist alles in Ordnung“, erwiderte ich. „Wir sind jetzt über dem Geschäftsviertel. Eine ziemliche Verwüstung in dem zum Strand hin gelegenen Bereich, wahrscheinlich von Tsunamis verursacht, in der Art. Auf der zum Landesinneren hin gelegenen Seite der Hauptstraße scheinen noch einige Dinge relativ unbeschädigt zu sein; schwer zu sagen, um was es sich dabei handelt, die Entfernung ist noch zu groß. Tobias, willst du es dir mal näher ansehen?“
„Ja“, antwortete er. Die Schar der Servos tauchte auf ein Signal hin in die Tiefe, und wir folgten ihr, bis wir vor einem Bauwerk schwebten, bei dem es sich einst um ein Kaufhaus gehandelt zu haben schien.
„Das Gebäude ist intakt“, sagte Tobias. „Augenblick, ich nehme sofort eine Statikabtastung vor. Sieht alles ganz gut aus.“
„Reiche Beute“, fügte ich hinzu. Tobias warf mir durch das leichte, schlierenartige Zittern seiner Ergkapsel einen raschen Blick zu, richtete seine Aufmerksamkeit dann wieder auf das Gebäude und maß die Stabilität von Decke und Wänden. Als Harkness grünes Licht gab, wies er einen Servo an, ein Fenster freizumachen.
„Schwimm hinein“, forderte er mich auf.
„Nein, laß nur. Ich glaube, ich sehe mich dort ein wenig um.“ Ich deutete mit dem Arm in die Richtung von Mitsuyagas Gebäude. „Ich brauche nur einen der Servos, und die anderen reichen dir als Unterstützung völlig aus.“
„Tia“, sagte Harkness, „ich denke, als Kapitän muß ich …“
„Nein. Hören Sie, ich will keine Zeit damit verschwenden, indem wir uns darüber streiten. Gehen Sie einfach davon aus, daß ich Gebrauch mache von der unabhängigen Forschungsoption meines Autonomkontrakts und lassen Sie mich weitermachen, in Ordnung? Wenn Tobias nicht ganz auf sich allein gestellt sein möchte, dann kann er ja einen der Servos auf Sicherheitsbegleitung programmieren oder zum Schiff zurückkehren. Ich habe ihn nicht darum gebeten mitzukommen.“ Ich wies einen der Roboter an, mir zu folgen, aktivierte die Düsen und sauste davon.
„Sie schwimmt weg!“ schrie Tobias. Die Düsen vergrößerten rasch die Entfernung zu seiner Ergkapsel. Ich erreichte das Gebäude und wollte gerade hineingleiten, als ich mich an den Servo erinnerte. Er folgte mir tapfer, kam aber wie üblich nur langsam voran, und dicht hinter ihm waren Tobias und seine Schar Roboter.
„Warte, Tia!“ rief Tobias. „Ich habe auf die Privatfrequenz geschaltet. Ich muß mit dir reden.“
Ich sah wieder das Bild von Benitos Spielzeug in seiner zitternden Hand und desaktivierte die Düsen. Ich schob die Hand durch die wogenden Moosschleier des Eingangs, tastete zum Türrahmen und fand so Halt gegenüber dem schwachen Zug der Strömung. Dann gab ich meinem Servo die Anweisung, in den Vorraum hineinzuschwimmen und dort auf mich zu warten. Als Tobias näher kam, schaltete ich meinen Sender ebenfalls auf Privatfrequenz.
„Also gut, ich höre.“
Er strich sich eine Strähne seines goldgelben Haares aus der Stirn. Durch die Sichtscheibe meiner Tauchermaske, das Wasser und den energetischen Schimmer seiner Kraftfeldblase konnte ich seinen Gesichtsausdruck nicht erkennen. Doch seine Gesten erschienen mir unschlüssig, und sein mit den dunklen Farben der Kabel und Elektroden umflochtener Körper bewegte sich so wie der eines besorgten und furchtsamen Halbgottes.
„Tobias“, sagte ich nun etwas freundlicher, „was willst du?“
„Ich weiß nicht“, gab er zurück. „Ich … ich fürchte mich vor dir.“
Ich lachte verblüfft, und er versteifte sich ärgerlich. „Vor mir?“ wiederholte ich und lachte erneut.
„Das ist ganz und gar nicht komisch! Du gehörst nicht zu uns; du paßt einfach nicht in unsere Gruppe. Du verunsicherst andere Leute, und du bist ein, äh … ich meine, es geschehen üble Dinge, wenn du da bist. Wie im Falle von Benito.“
„Du willst sagen, ich sei ein Unglücksbringer“, erwiderte ich und wandte mich von ihm ab, um ins Haus hineinzuschwimmen.
„Nein! Warte bitte. Ich muß mit dir reden. Ich muß es endlich begreifen.“
„Was begreifen?“ sagte ich und spürte, wie Zorn in mir aufkeimte. „Ich dachte, für dich sei bereits alles klar. Ich bin doch ein Scheusal, nicht wahr? Ein Unglücksbringer. Was soll ich deiner Meinung nach machen, Tobias? Verschwinden?“
„Ja! Ja, verschwinde, geh weg und nimm das Üble mit dir. Du bist hier unerwünscht, also laß uns endlich in Ruhe.“
„Du glaubst wirklich, ich würde deinem Wunsch entsprechen, nicht wahr? Klar, ich packe meine Sachen und gehe, still und leise, und dann kannst du mich ganz aus deinem Gedächtnis streichen.“ Ich stieß mich von der Tür ab, schwebte ganz dicht vor seiner Ergkapsel und starrte ihn durch die aufglühenden Lichtflecke der Kraftfeldblase an. „Du vergißt nur eins, mein liebes Kind: Ich verursache keine üblen Dinge. Ich bin nicht verantwortlich für das Unheil. Ich werde ohnehin bald nicht mehr da sein, aber das dauert dir einfach zu lange, nicht wahr? Du willst mich nicht sterben sehen, stimmt’s? Das ist es, wovor du Angst hast. Ich werde sterben, tot sein, nur noch lebloses Fleisch, eine verwesende Leiche – und es ist nur diese Vorstellung, die dich so beunruhigt. Nun, ich habe nicht die Absicht fortzugehen, mein liebes Kind, ich denke nicht einmal daran.“
„Ich bin nicht dein liebes Kind!“ schrie Tobias und griff nach seinem Armbandcontroller. Der nächste Servo trieb auf mich zu, fuhr seine Schneidearme aus und streckte sie mir entgegen. Ich wirbelte herum, krümmte mich, duckte mich unter dem einen Metallarm hinweg und stürzte in den Zugang hinein. Und plötzlich war mein Mund voller Salzwasser.
Erschrocken und entsetzt starrten wir beide auf den durchtrennten Luft schlauch, der von meiner Tauchermaske herabbaumelte, dann wandte ich mich um und floh ins Gebäudeinnere.