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„Sie ha­ben den Ver­stand ver­lo­ren!“ rief Gre­ville aus. Ich be­ach­te­te ihn nicht und fuhr da­mit fort, mich in den Naß­an­zug zu zwän­gen. Er trat ner­vös von ei­nem Bein aufs an­de­re und rang die Hän­de. Als ich die Man­schet­ten schloß, tra­ten To­bi­as und Jen­ny in die Tauch­kam­mer.

„Tia, muß das un­be­dingt sein …?“ frag­te Jen­ny. Ich igno­rier­te sie eben­falls. To­bi­as sah mich schwei­gend an, schritt dann zu sei­nem Spind und be­gann da­mit, sei­ne Erg­kap­sel-Aus­rüs­tung zu mon­tie­ren.

„Gü­ti­ger Him­mel, Sie nicht auch noch“, brach­te Gre­ville her­vor. „Wis­sen Sie ei­gent­lich, auf was Sie sich da ein­las­sen?“

To­bi­as’ vol­le Lip­pen kräu­sel­ten sich mür­risch und ei­gen­sin­nig, und er gab kei­ne Ant­wort. Gre­ville war bei­na­he au­ßer sich und tanz­te mit hoch­ro­tem Ge­sicht hin und her.

„Ein Erg­feld ist be­reits zu­sam­men­ge­bro­chen, und das könn­te mit Ih­rem eben­falls pas­sie­ren“, sag­te er, und sei­ne Stim­me über­schlug sich schrill. „Es ist ein großes Ri­si­ko, ein sehr großes Ri­si­ko!“

„Das neh­me ich auf mich“, knurr­te To­bi­as. „Wenn sie run­ter­ge­hen kann, dann kann ich es auch.“

„To­bi­as …“ be­gann Jen­ny.

„Ich ha­be ge­sagt, ich ge­he run­ter!“ rief er. „Al­so laß mich in Frie­den, ja?“

Jen­ny schüt­tel­te den Kopf und stürz­te auf die Steig­röh­re zu. Ih­re hoch­ge­zo­ge­nen Schul­tern drück­ten Zorn aus. Ich zuck­te mit den Ach­seln und mach­te mich wie­der an die Über­prü­fung des Luft­auf­be­rei­ters.

„Tia, bit­te … To­bi­as … ihr seid wahn­sin­nig …“

Nein, dach­te ich. To­bi­as ist wahn­sin­nig. Kei­ner von uns sprach ein Wort, und je­der fuhr da­mit fort, sei­ne ei­ge­ne Aus­rüs­tung zu kon­trol­lie­ren. Gre­ville warf wü­tend die Ar­me hoch, rauf­te sich die Haa­re und ver­ließ den Raum. Ich frag­te mich kurz, aus wel­chem Grund To­bi­as mit­kom­men woll­te, dann schob ich die Fra­ge wie­der bei­sei­te. Un­ter Was­ser wür­de ich ihn ab­schüt­teln. Ich konn­te weitaus schnel­ler schwim­men als er.

Paul trat an mei­ne Sei­te, als ich das Gum­mi an den Bei­nen glatt­strich. Er blieb ne­ben mir ste­hen und kau­te auf der Un­ter­lip­pe.

„Tia, du willst doch nicht wirk­lich tau­chen, nicht wahr?“

Ich leg­te den Gür­tel an, zog ihn rich­tig fest und schob die Ge­wich­te hin und her, bis sie gleich­mä­ßig an den Hüf­ten ver­teilt wa­ren.

„Gre­ville meint, es sei ge­fähr­lich“, füg­te er hin­zu.

Der Kom­mu­ni­ka­tor an der Tail­le, hier. Stun­ner. Mes­ser. Die Sam­mel­ta­sche für Ar­te­fak­te. Chro­no­me­ter. Tie­fen­mes­ser. Kom­paß. Die Arm­band­con­trol­ler. Kon­troll­ter­mi­nal für die Ser­vos. Ei­ne Mi­ni-Erg­kap­sel für den Not­fall. Fär­bungs­mit­tel. Bo­jen. Ei­ne auf­blas­ba­re Über­le­bens­ja­cke. Hand­schu­he.

„Es könn­te et­was pas­sie­ren.“

Schließ­lich wand­te ich mich ihm zu, er­in­ner­te mich an je­ne Nacht in mei­ner Ka­bi­ne, an das gur­geln­de Äch­zen, das Be­ni­tos Hin­ab­sin­ken ins Meer un­ter­malt hat­te, und ich kämpf­te ei­ne plötz­li­che Übel­keit nie­der. Paul er­rö­te­te, und sein Blick wan­der­te un­s­tet über die ver­schie­de­nen Ein­rich­tungs­ge­gen­stän­de der Tauch­kam­mer. Die Fin­ger such­ten nach ir­gend­ei­nem Halt auf den glat­ten und nack­ten Hüf­ten, und als sie nichts fan­den, hak­ten sie sich auf dem Rücken in­ein­an­der. Na­tür­lich, na­tür­lich. Nicht Be­ni­tos Lei­che, aber das oran­ge­far­be­ne Bün­del, das sie re­prä­sen­tier­te. Nicht Ti­as Tod, aber die Sym­bo­le die­ses To­des, die von der Vor­stel­lung und den Ge­dan­ken dar­an her­vor­ge­ru­fe­ne Er­re­gung. Ei­ne Ne­kro­phi­lie, die sich nur auf das Aus­ma­len des To­des be­zog, auf das Sym­bol und nicht die Sub­stanz, das Lei­chen­tuch und nicht den To­ten selbst. Ich zog die Gum­mi­ka­pu­ze aus­ein­an­der und schob sie mir über das er­grau­en­de Haar.

„Ver­schwin­de, Paul“, sag­te ich, und er dreh­te sich um, sprin­te­te durch die lee­re Kam­mer und saus­te die Röh­re em­por.

To­bi­as paß­te die Ka­pu­ze was­ser­dicht an den üb­ri­gen Naß­an­zug an, dreh­te sich dann um, und ich stell­te die rest­li­chen An­schlüs­se am hin­te­ren Teil sei­nes Kon­troll­gür­tels fer­tig. Als Lon­nie sich auch wei­ter­hin nicht bli­cken ließ, nah­men wir die Check­lis­te aus ih­rem Schrank und gin­gen sie sorg­fäl­tig durch.

Als wir da­mit fer­tig wa­ren und an den Rand des Tauch­schach­tes tra­ten, tön­te die Stim­me von Har­kness aus dem In­ter­kom.

„Mei­ner Mei­nung nach ha­ben Sie bei­de den Ver­stand ver­lo­ren“, sag­te er barsch, „aber ich will Sie nicht oh­ne ei­ne Ver­bin­dung zu uns hin­un­ter­ge­hen­las­sen. Ich neh­me an, Sie ha­ben die Si­cher­heits­kon­trol­len be­reits durch­ge­führt?“

„Ja“, ant­wor­te­te ich.

„Nun, al­so gut. Ich ha­be al­le Ser­vos für Sie be­reit­ge­stellt …“

„Ich brau­che nur einen.“

„Ich neh­me al­le an­de­ren“, mein­te To­bi­as, und ich zuck­te mit den Ach­seln.

„Ich hät­te sie so­wie­so al­le hin­un­ter­ge­schickt“, sag­te Har­kness. „To­bi­as, Sie kön­nen von mir aus be­gin­nen.“

Er zö­ger­te am Rand des Schach­tes, als er­in­ner­te er sich nun an den letz­ten Kör­per, der vor ihm ins Meer hin­ein­ge­glit­ten war, dann preß­te er die Lip­pen zu­sam­men und ließ sich lang­sam ins Was­ser hin­ab. Ich war­te­te, bis sich sei­ne Kraft­feld­bla­se voll­stän­dig auf­ge­baut hat­te und er zur Sei­te ge­taucht war, dann schloß ich die Sichtschei­be mei­ner Tau­cher­mas­ke und folg­te ihm in den Ozean hin­ein.

Si­cher hat­te die Strö­mung den Leich­nam Be­ni­tos in­zwi­schen weit vom Schiff fort­ge­trie­ben, doch als wir bei­de tiefer tauch­ten, wahr­te ich ein wach­sa­mes und an­ge­spann­tes Schwei­gen, und To­bi­as er­ging es of­fen­bar eben­so. Ein mas­si­ges Ob­jekt schweb­te in ei­ni­ger Ent­fer­nung. To­bi­as fuhr zu­sam­men und wies dann die Ser­vos an, ih­re Schein­wer­fer dar­auf zu rich­ten – ei­ne Wol­ke aus See­tang. Ein Hai glitt an uns her­an und schwamm ver­ächt­lich durch das durch­schei­nen­de Was­ser da­von. Lang­sam san­ken wir durch die Sphä­re ver­blas­sen­der Far­ben und auf Hi­lo zu.

„Wie steht’s bei Ih­nen?“ frag­te Har­kness.

„Es ist al­les in Ord­nung“, er­wi­der­te ich. „Wir sind jetzt über dem Ge­schäfts­vier­tel. Ei­ne ziem­li­che Ver­wüs­tung in dem zum Strand hin ge­le­ge­nen Be­reich, wahr­schein­lich von Ts­un­a­mis ver­ur­sacht, in der Art. Auf der zum Lan­des­in­ne­ren hin ge­le­ge­nen Sei­te der Haupt­stra­ße schei­nen noch ei­ni­ge Din­ge re­la­tiv un­be­schä­digt zu sein; schwer zu sa­gen, um was es sich da­bei han­delt, die Ent­fer­nung ist noch zu groß. To­bi­as, willst du es dir mal nä­her an­se­hen?“

„Ja“, ant­wor­te­te er. Die Schar der Ser­vos tauch­te auf ein Si­gnal hin in die Tie­fe, und wir folg­ten ihr, bis wir vor ei­nem Bau­werk schweb­ten, bei dem es sich einst um ein Kauf­haus ge­han­delt zu ha­ben schi­en.

„Das Ge­bäu­de ist in­takt“, sag­te To­bi­as. „Au­gen­blick, ich neh­me so­fort ei­ne Sta­ti­kab­tas­tung vor. Sieht al­les ganz gut aus.“

„Rei­che Beu­te“, füg­te ich hin­zu. To­bi­as warf mir durch das leich­te, schlie­ren­ar­ti­ge Zit­tern sei­ner Erg­kap­sel einen ra­schen Blick zu, rich­te­te sei­ne Auf­merk­sam­keit dann wie­der auf das Ge­bäu­de und maß die Sta­bi­li­tät von De­cke und Wän­den. Als Har­kness grü­nes Licht gab, wies er einen Ser­vo an, ein Fens­ter frei­zu­ma­chen.

„Schwimm hin­ein“, for­der­te er mich auf.

„Nein, laß nur. Ich glau­be, ich se­he mich dort ein we­nig um.“ Ich deu­te­te mit dem Arm in die Rich­tung von Mit­su­ya­gas Ge­bäu­de. „Ich brau­che nur einen der Ser­vos, und die an­de­ren rei­chen dir als Un­ter­stüt­zung völ­lig aus.“

„Tia“, sag­te Har­kness, „ich den­ke, als Ka­pi­tän muß ich …“

„Nein. Hö­ren Sie, ich will kei­ne Zeit da­mit ver­schwen­den, in­dem wir uns dar­über strei­ten. Ge­hen Sie ein­fach da­von aus, daß ich Ge­brauch ma­che von der un­ab­hän­gi­gen For­schungs­op­ti­on mei­nes Au­to­nom­kon­trakts und las­sen Sie mich wei­ter­ma­chen, in Ord­nung? Wenn To­bi­as nicht ganz auf sich al­lein ge­stellt sein möch­te, dann kann er ja einen der Ser­vos auf Si­cher­heits­be­glei­tung pro­gram­mie­ren oder zum Schiff zu­rück­keh­ren. Ich ha­be ihn nicht dar­um ge­be­ten mit­zu­kom­men.“ Ich wies einen der Ro­bo­ter an, mir zu fol­gen, ak­ti­vier­te die Dü­sen und saus­te da­von.

„Sie schwimmt weg!“ schrie To­bi­as. Die Dü­sen ver­grö­ßer­ten rasch die Ent­fer­nung zu sei­ner Erg­kap­sel. Ich er­reich­te das Ge­bäu­de und woll­te ge­ra­de hin­ein­glei­ten, als ich mich an den Ser­vo er­in­ner­te. Er folg­te mir tap­fer, kam aber wie üb­lich nur lang­sam vor­an, und dicht hin­ter ihm wa­ren To­bi­as und sei­ne Schar Ro­bo­ter.

„War­te, Tia!“ rief To­bi­as. „Ich ha­be auf die Pri­vat­fre­quenz ge­schal­tet. Ich muß mit dir re­den.“

Ich sah wie­der das Bild von Be­ni­tos Spiel­zeug in sei­ner zit­tern­den Hand und des­ak­ti­vier­te die Dü­sen. Ich schob die Hand durch die wo­gen­den Moos­schlei­er des Ein­gangs, tas­te­te zum Tür­rah­men und fand so Halt ge­gen­über dem schwa­chen Zug der Strö­mung. Dann gab ich mei­nem Ser­vo die An­wei­sung, in den Vor­raum hin­ein­zu­sch­wim­men und dort auf mich zu war­ten. Als To­bi­as nä­her kam, schal­te­te ich mei­nen Sen­der eben­falls auf Pri­vat­fre­quenz.

„Al­so gut, ich hö­re.“

Er strich sich ei­ne Sträh­ne sei­nes gold­gel­ben Haa­res aus der Stirn. Durch die Sichtschei­be mei­ner Tau­cher­mas­ke, das Was­ser und den ener­ge­ti­schen Schim­mer sei­ner Kraft­feld­bla­se konn­te ich sei­nen Ge­sichts­aus­druck nicht er­ken­nen. Doch sei­ne Ges­ten er­schie­nen mir un­schlüs­sig, und sein mit den dunklen Far­ben der Ka­bel und Elek­tro­den um­floch­te­ner Kör­per be­weg­te sich so wie der ei­nes be­sorg­ten und furcht­sa­men Halb­got­tes.

„To­bi­as“, sag­te ich nun et­was freund­li­cher, „was willst du?“

„Ich weiß nicht“, gab er zu­rück. „Ich … ich fürch­te mich vor dir.“

Ich lach­te ver­blüfft, und er ver­steif­te sich är­ger­lich. „Vor mir?“ wie­der­hol­te ich und lach­te er­neut.

„Das ist ganz und gar nicht ko­misch! Du ge­hörst nicht zu uns; du paßt ein­fach nicht in un­se­re Grup­pe. Du ver­un­si­cherst an­de­re Leu­te, und du bist ein, äh … ich mei­ne, es ge­sche­hen üb­le Din­ge, wenn du da bist. Wie im Fal­le von Be­ni­to.“

„Du willst sa­gen, ich sei ein Un­glücks­brin­ger“, er­wi­der­te ich und wand­te mich von ihm ab, um ins Haus hin­ein­zu­sch­wim­men.

„Nein! War­te bit­te. Ich muß mit dir re­den. Ich muß es end­lich be­grei­fen.“

„Was be­grei­fen?“ sag­te ich und spür­te, wie Zorn in mir auf­keim­te. „Ich dach­te, für dich sei be­reits al­les klar. Ich bin doch ein Scheu­sal, nicht wahr? Ein Un­glücks­brin­ger. Was soll ich dei­ner Mei­nung nach ma­chen, To­bi­as? Ver­schwin­den?“

„Ja! Ja, ver­schwin­de, geh weg und nimm das Üb­le mit dir. Du bist hier un­er­wünscht, al­so laß uns end­lich in Ru­he.“

„Du glaubst wirk­lich, ich wür­de dei­nem Wunsch ent­spre­chen, nicht wahr? Klar, ich pa­cke mei­ne Sa­chen und ge­he, still und lei­se, und dann kannst du mich ganz aus dei­nem Ge­dächt­nis strei­chen.“ Ich stieß mich von der Tür ab, schweb­te ganz dicht vor sei­ner Erg­kap­sel und starr­te ihn durch die auf­glü­hen­den Licht­fle­cke der Kraft­feld­bla­se an. „Du ver­gißt nur eins, mein lie­bes Kind: Ich ver­ur­sa­che kei­ne üb­len Din­ge. Ich bin nicht ver­ant­wort­lich für das Un­heil. Ich wer­de oh­ne­hin bald nicht mehr da sein, aber das dau­ert dir ein­fach zu lan­ge, nicht wahr? Du willst mich nicht ster­ben se­hen, stimmt’s? Das ist es, wo­vor du Angst hast. Ich wer­de ster­ben, tot sein, nur noch leb­lo­ses Fleisch, ei­ne ver­we­sen­de Lei­che – und es ist nur die­se Vor­stel­lung, die dich so be­un­ru­higt. Nun, ich ha­be nicht die Ab­sicht fort­zu­ge­hen, mein lie­bes Kind, ich den­ke nicht ein­mal dar­an.“

„Ich bin nicht dein lie­bes Kind!“ schrie To­bi­as und griff nach sei­nem Arm­band­con­trol­ler. Der nächs­te Ser­vo trieb auf mich zu, fuhr sei­ne Schnei­de­ar­me aus und streck­te sie mir ent­ge­gen. Ich wir­bel­te her­um, krümm­te mich, duck­te mich un­ter dem einen Me­tall­arm hin­weg und stürz­te in den Zu­gang hin­ein. Und plötz­lich war mein Mund vol­ler Salz­was­ser.

Er­schro­cken und ent­setzt starr­ten wir bei­de auf den durch­trenn­ten Luft schlauch, der von mei­ner Tau­cher­mas­ke her­ab­bau­mel­te, dann wand­te ich mich um und floh ins Ge­bäu­dein­ne­re.