21

 

Ei­nes Abends, einen Mo­nat nach mei­ner Flucht aus der Bi­blio­thek, rief ich Greg Hart­feld an. Ich hat­te den Tag in der Aus­sichts­kam­mer ver­bracht und auf die öde, un­freund­li­che Mond­ober­flä­che hin­aus­ge­st­arrt, und die nack­te, trost­lo­se Lee­re hat­te die letz­ten Fet­zen der Trüb­sal aus mei­nen Ge­dan­ken ge­fegt. Ich muß­te ster­ben. Al­so gut, in Ord­nung. Dann wür­de ich eben die mir ge­ge­be­ne Zeit da­zu ver­wen­den, mich zu ver­gnü­gen, zu for­schen und neue Er­fah­run­gen zu sam­meln. Mei­ne klei­ne Woh­nung be­gann mich ein­zuen­gen. Ich konn­te hö­ren, wie die Lee­re und Un­aus­ge­füllt­heit mei­ner Ta­ge düs­te­re Echos warf in mei­nem Kopf, und plötz­lich er­schi­en es mir als un­ge­heu­re Ver­schwen­dung, die kost­ba­ren Stun­den mei­nes Le­bens da­mit zu ver­brin­gen, mei­ne ei­ge­ne Ele­gie zu schrei­ben.

Das Kom­sys­tem lei­te­te mei­nen An­ruf um den hal­b­en Mond her­um zum Clar­ke-Ob­ser­va­to­ri­um, und kurz dar­auf er­schie­nen das run­de Ge­sicht und die Ad­ler­na­se von Greg Hart­feld auf dem Bild­schirm vor mir.

„Hal­lo“, sag­te ich. „Er­in­nern Sie sich noch? Tia Ham­ley.“

„Klar.“ Er lach­te. „Klar, na­tür­lich. Sie möch­ten ein biß­chen auf der Ober­flä­che her­umspa­zie­ren, was? Ich kom­me und ho­le Sie ab. Es sei denn, Sie wol­len selbst kom­men. Heu­te? Heu­te abend? Dau­ert an­dert­halb Stun­den. Wenn Sie jetzt auf­bre­chen, sind Sie recht­zei­tig zum Abendes­sen hier. In Ord­nung?“

„Ja, gut. Ich kom­me selbst.“

„Wun­der­bar! Ich bin hier in der Clar­ke-Sta­ti­on Eins und war­te auf Sie. Neh­men Sie die Sech­zehn-Zehn und brin­gen Sie Klei­dung zum Wech­seln und ei­ne Zahn­bürs­te mit. Al­les klar? Bes­tens. Dann bis nach­her.“

Ich un­ter­brach die Ver­bin­dung, zu­gleich er­hei­tert und auf­ge­regt, warf ein paar Klei­dungs­stücke in ei­ne Ta­sche und se­gel­te weit über dem Mond der Sta­ti­on ent­ge­gen. Ich hät­te die Sech­zehn-Zehn bei­na­he ver­paßt, stol­per­te neun­zig Mi­nu­ten spä­ter hin­aus und in Gregs rie­si­ge Ar­me.

Er feg­te mit mir durch die Sta­ti­on, als sei ich ein Kind, dem er so­fort al­les zei­gen müs­se. In sei­ner Nä­he wur­den Ser­vos­te­wards wie Staub auf­ge­wir­belt, und er re­de­te wie ein Was­ser­fall. Wir tanz­ten und hüpf­ten auf Gleit­bän­dern her­um, ras­ten die Lift­röh­re ei­nes Ge­bäu­des am Rand der Per­ma­stahl­bla­se hin­auf, und Greg warf ei­ne Tür auf.

„Da wä­ren wir!“ rief er aus und schleu­der­te mei­ne Ta­sche ins Zim­mer hin­ein. Sie fiel in die hel­le, grü­ne Au­ra ei­nes Erg­ses­sels. „Hübsch, eh? Und auch noch bil­lig, denn am Rand der Bla­se möch­ten nur sol­che ver­schro­be­nen Ty­pen wie ich woh­nen. Die an­de­ren glau­ben, der Mond kön­ne sich ei­nes Nachts durchs Fens­ter her­ein­schlei­chen und sie ver­schlin­gen. Wo­mit sie na­tür­lich völ­lig recht ha­ben! Se­hen Sie!“ Er be­tä­tig­te ei­ne Tas­te; ein Ho­lo­ge­mäl­de an der einen Wand lös­te sich auf und ver­wan­del­te sich in ein brei­tes Fens­ter. Und un­mit­tel­bar da­hin­ter kleb­te die tro­ckene, wei­ße Mond­ober­flä­che, dort mit Schwarz ge­ätzt, wo Fel­sen im Licht der lang­sam un­ter­ge­hen­den Son­ne un­aus­lot­ba­re Schat­ten wer­fen.

„Be­ein­dru­ckend, was? Mor­gen ge­hen wir raus und tan­zen ein biß­chen auf der Ober­flä­che die­ses al­ten Gra­bes her­um. Es wird nichts da­ge­gen ha­ben, so­lan­ge wir uns an die Spiel­re­geln hal­ten.“

Ich starr­te hin­aus auf die rau­he Öde und spür­te, wie große Auf­re­gung em­por­keim­te. Hart­feld be­merk­te mei­ne tie­fe Er­grif­fen­heit und schwieg. Ei­ne ste­ri­le Ewig­keit, di­rekt in Reich­wei­te mei­ner Fin­ger­spit­zen, un­be­fleckt von der großen grü­nen Ku­gel der Er­de. Kei­ne Land­schaft des To­des, nicht mehr als ei­ne Land­schaft des Le­bens. Sie war mehr als das, sie reich­te über Sterb­lich­keit und Un­s­terb­lich­keit hin­aus. In die­ser völ­li­gen Stil­le, die durch das Fens­ter si­cker­te und bis zur Grund­fes­te mei­nes Ichs hin­ab­tropf­te, wa­ren mei­ne Pro­ble­me völ­lig be­deu­tungs­los und hör­ten ein­fach auf zu exis­tie­ren. Ich ver­gaß zu at­men und be­rühr­te mit den Fin­ger­spit­zen ehr­fürch­tig und de­mü­tig das Fens­ter. In den Aus­sichts­kam­mern von Lu­na mit ih­ren eti­ket­tier­ten Per­spek­ti­ven und be­eng­tem Kom­fort hat­te ich nichts ge­se­hen, das auch nur an­nä­hernd so be­ein­dru­ckend war.

„Die­se Lee­re da drau­ßen ist wie ei­ne He­xe“, sag­te Hart­feld schließ­lich.

„Aber wun­der­schön“, ent­geg­ne­te ich.

„Mei­nen Sie?“ frag­te er, und sei­ne Stim­me klang über­aus in­ter­es­siert. Der Bann des Mon­des brach. „Nun, das wer­den wir mor­gen se­hen, nicht wahr? Sie sind si­cher hung­rig. Neh­men Sie ein Bad und wech­seln Sie die Klei­dung – sind Sie im­mer an­ge­zo­gen? Ach was, ist ja auch egal. Wir ge­hen weg, es­sen ei­ne grö­ße­re Klei­nig­keit und tref­fen noch ein paar ver­schro­be­ne Ty­pen, die ge­nau­so sind wie ich. Wir set­zen uns al­le zu­sam­men; viel­leicht mö­gen Sie sie, viel­leicht auch nicht. Da drü­ben ist das Bad. Mö­gen Sie ei­ne Du­sche mit Was­ser? In Ord­nung, Sie ha­ben vier hei­ße Gal­lo­nen und zehn kal­te – aber das wis­sen Sie ja längst, ich bin wirk­lich blöd. Tas­ten Sie Ih­re Ken­num­mer ein; der Ser­vo wird sich ein­schäl­ten, wenn Ih­nen Was­ser zu­ge­teilt ist. Wir ha­ben hier oben ei­ne ziem­lich schar­fe Kon­trol­le, nicht so wie auf der gu­ten al­ten Er­de, was? Al­les klar? Bes­tens!“

Der Abend stand ganz im Zei­chen von Greg Hart­felds ge­die­ge­ner, über­schweng­li­cher Art; er war ver­wir­rend und bot pau­sen­los et­was Neu­es. Wir speis­ten in ei­nem klei­nen, von in­ten­si­ven Wohl­ge­rü­chen durch­zo­ge­nem Re­stau­rant, in dem an ei­nem Eck­tisch vier Leu­te auf uns war­te­ten. „An­de­re ko­mi­sche Ty­pen“, nann­te Greg sie, aber kei­ner von ih­nen war so her­aus­ra­gend und über­wäl­ti­gend wie er. Die Ge­sprä­che wa­ren wie glän­zen­de Ju­we­le in ei­nem Kas­ten vol­ler Koh­len: Sie be­stan­den nicht aus den für die Un­s­terb­li­chen sonst ty­pi­schen lang­wei­li­gen Scher­zen und ge­lie­he­nen Mei­nun­gen, son­dern aus Ar­gu­men­ten und Ge­gen­ar­gu­men­ten, aus fun­dier­ten Be­mer­kun­gen und Ana­ly­sen. Für die­se Leu­te schi­en das Le­ben ein La­by­rinth aus un­end­li­cher Fas­zi­na­ti­on zu sein. Und sie steck­ten mich an mit die­ser Fas­zi­na­ti­on: Mir schwin­del­te, und ich schwamm wie ver­zau­bert in ih­rem Sog. Nach dem Es­sen gin­gen wir, oh­ne die Dis­kus­si­on zu un­ter­bre­chen, zu ir­gend je­man­dem in die Woh­nung, die eben­falls am Ran­de der Bla­se lag. Mit der rau­hen und öden Mond­land­schaft als Hin­ter­grund sprach die dun­kel­häu­ti­ge Na­j­la über Astro­phy­sik und die Ge­schich­te des mi­no­i­schen Rei­ches. Nur ein paar Au­gen­bli­cke, nach­dem er mit Kai-Yu Kom­mu­ni­ka­ti­ons­tech­ni­ken er­ör­tert hat­te, dis­ku­tier­te Greg mit der klei­nen Su­san über Le­bens­er­hal­tungs­sys­te­me. Jai­me sang mit wei­cher Stim­me und kom­men­tier­te lei­se Na­jlas Theo­ri­en. Als wir ein­mal über Kunst spra­chen, warf ich schüch­tern ein Zi­tat ein, auf das ich wäh­rend mei­ner Zeit in der Bi­blio­thek ge­sto­ßen war, und Greg deck­te mich mit sei­nen rie­si­gen Ar­men zu und drück­te mich fest an sich. Glei­cher­ma­ßen ver­le­gen und er­freut zog ich mich in mein Schwei­gen zu­rück. Mein Gott, wie in­ten­siv die­se Leu­te leb­ten! Wenn ich die Au­gen schloß, das Zim­mer und den Mond aus mei­nen Ge­dan­ken ver­bann­te und dem Durch­ein­an­der und Tu­mult ih­rer Un­ter­hal­tun­gen lausch­te, dann konn­te ich mir vor­stel­len, daß ich einen Sprung in die Ver­gan­gen­heit ge­macht hat­te. In ei­ne Zeit, in der Ide­en noch neu wa­ren und Kon­zep­tio­nen be­geis­tern konn­ten, in der ge­wis­se Din­ge noch wich­tig wa­ren – in der die Zeit noch ei­ne Rol­le spiel­te. Je­mand ließ noch mehr Do­pe her­um­ge­hen, ein an­de­rer sprach über hy­dro­po­ni­sche An­la­gen. Die­se Leu­te, dach­te ich plötz­lich, un­ter­schie­den sich so sehr vom Main­stream der Im­mor­ta­li­täts­kul­tur wie die ver­zwei­fel­ten Miß­ge­bur­ten in Aus­tra­li­en. Doch als ich ver­such­te, die­sen Ge­dan­ken wei­ter­zu­ver­fol­gen, ent­glitt er mir. Ich gähn­te.

Als wir schließ­lich gin­gen, als sich lang­sam der dif­fu­se Schim­mer der pro­gram­mier­ten Däm­me­rung in den Nacht­him­mel am Kup­pel­dach stahl, war ich noch im­mer so sto­ned und mü­de, daß ich mit der ge­rin­gen Gra­vi­ta­ti­on nicht klar­kam. Greg leg­te den Arm um mich, da­mit ich nicht vom Gleit­band schwank­te.

„Wir ha­ben dich ein biß­chen über­for­dert, hm?“ sag­te er, als wir sei­ne Woh­nung be­tra­ten.

„Ja“, gab ich zu. „Viel­leicht war ich zu high, um das zu be­mer­ken. – Greg? Bist du je­mals in Aus­tra­li­en ge­we­sen?“

Er hielt mei­ne Schul­tern und lä­chel­te zu mir her­un­ter. „Wie kommst du denn dar­auf, ko­mi­scher klei­ner Spatz?“

„Ich weiß nicht.“ Ich er­wi­der­te sein Lä­cheln. „Ich kann vor Mü­dig­keit kei­nen kla­ren Ge­dan­ken mehr fas­sen. Wo soll ich mich hin­le­gen?“

„Zu mir viel­leicht? Ich wür­de gern mit dir schla­fen, klei­ner Spatz. Wenn du es auch möch­test.“

Ich dach­te kurz an mei­ne leich­te Un­si­cher­heit ihm ge­gen­über, an sei­ne Grö­ße, an sei­nen Ver­stand. Ich dach­te kurz an Paul und die Mond­bi­blio­thek. Und ich nick­te und schmieg­te mich an ihn.

Es war herr­lich.