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Jenny war mit dem Hüpfer direkt zur Ilium weitergeflogen und hatte Paul und mir den Dockhüpfer überlassen. Ich schloß eine der Lagergaragen auf und stellte meinen Wagen darin ab. Dann flogen wir mit der Maschine zum Schiff und landeten neben dem größten Minarett auf dem Mosaik des Flugdecks. An einer Seite war Tobias’ Hüpfer geparkt, und das Gepäck befand sich noch immer im Innern. Jenny war nirgends zu sehen. Paul zuckte mit den Achseln, holte seine Taschen aus Tobias’ kirschroter Maschine und schritt auf die Liftröhre zu.
„Wo ist deine Kabine?“ fragte er, als ich ihm folgte.
„Dritte Ebene. Warum?“
„Nun, es sieht so aus, als ob Jenny mich nicht in ihrer Kabine unterbringen möchte …“
„Warum nicht?“ Ich trat in die Röhre und preßte die Zähne zusammen, als sich mir durch den raschen Fall beinahe der Magen umdrehte.
„Wir hatten einen Streit über Tobias“, sagte er glatt, während wir hinabsanken.
Unehrlicher Mistkerl, dachte ich zornig. „Nun, wenn die Kabine euch beiden zugewiesen ist, dann wirst du dort unterkommen müssen. Es sei denn, du möchtest mit Greville eine andere Vereinbarung treffen. Ich bin sicher, er findet etwas Passendes für dich.“ In Höhe der dritten Ebene verließ ich den Schacht. „Wir treffen uns in einer halben Stunde auf der Brücke. Die übliche Einweisungsrede vor dem Auslaufen. Man erwartet von uns, daß wir sie uns anhören.“
Paul sah unglücklich aus, sank tiefer und war dann nicht mehr zu sehen. Ich eilte zu meiner Kabine, noch immer wütend über die Lüge.
Meine Unterkunft war steril und leer. Sie wartete darauf, daß ich sie zum Leben erweckte, die Kraftfelder justierte und Bett und Tisch und Stühle programmierte. Statt dessen schaltete ich alle Ergfelder ab und spannte dann meine Hängematte an den beiden Dübeln auf, die ich schon früher an den Wänden befestigt hatte. Ich entfernte die Abdeckung von den Bücherregalen, holte den Tisch aus dem Abstellraum, baute ihn zusammen und stellt dann den Klappstuhl auf. Eine helle, orangefarbene Decke, auf die Hängematte geworfen, ein kleiner Teppich auf dem Boden – und ich hielt meine Kabine für gemütlich genug, um wieder darin zu wohnen. Ich duschte rasch, stieg in einen leichten Haftanzug, band mir das Haar im Nacken zusammen und machte mich, da die halbe Stunde um war, auf den Weg zur Brücke.
Greville und Harkness berieten sich vor der großen Holokarte des Nordpazifik. Jenny lehnte neben Tobias und starrte bekümmert aus dem großen Fenster. Sie wandten sich beide um und sahen mich an, als ich eintrat, dann drehte sich Jenny wieder zum Fenster. Paul kauerte an der Wand ihnen gegenüber. Er wollte auf mich zugehen, doch ich wandte ihm den Rücken zu und begrüßte Benito, den buckligen Chefingenieur.
„Hallo, Scheusal“, sagte ich.
„Hallo, Scheusal“, gab er zurück und sah mich finster an. Ich nahm neben ihm Platz, und wir teilten ein geselliges, verächtliches Schweigen. Ich konnte sehen, wie sich Paul an die Wand zurücklehnte; sein Gesicht zeigte einen sonderbaren Ausdruck. Natürlich war er Benito bereits am Tag zuvor begegnet, doch der Anblick des Ingenieurs war immer eine Art Schock, selbst für die Unsterblichen, die öfters mit ihm zu tun hatten. Daß er sich nicht nach Australien zurückgezogen hatte war mir ein Rätsel und flößte mir Respekt ein. Ich glaube, ich wäre nie in der Lage gewesen, soviel Mut aufzubringen. Aber das mochte ich ihm nicht sagen.
Li kam wie immer zu spät, schob sich in einen Ergsessel und rutschte einige Male hin und her, damit sich die Kraftfelder der massigen Gestalt anpaßten. Jenny und Tobias traten vom Fenster fort und setzten sich in die Nähe von Hart und Lonnie. Paul nahm schließlich direkt neben Lonnie Platz. Wir waren alle versammelt. Greville machte eine rasche Runde durchs Zimmer, um jeden einzelnen von uns ostentativ zu begrüßen, und als ich an der Reihe war, drückte er mir mit seiner üblichen widerstrebenden Herzlichkeit die Hand.
„Wie geht’s, Tia?“ Sein braunes Gesicht verzog sich und zeigte das Zerrbild eines Lächelns.
„Gut. Und selbst?“
Er ließ meine Hand so rasch wieder los, wie es ihm möglich war, ohne unhöflich zu wirken. „Viel Arbeit, viel Arbeit, wie immer.
Hallo, Benito.“ Er machte keine Anstalten, auch ihm die Hand zu schütteln.
Benito brummte irgend etwas, und Greville kehrte mit allem wissenschaftlichen Ernst, den er auszudrücken vermochte, zum vorderen Bereich der Brücke zurück. Greville hatte sich zu der Zeit entschieden, zu einem Wissenschaftler und Forscher zu werden, als ich vom Mars zurückgekehrt war. Und nachdem alle seine Studien und Lehrgänge abgeschlossen waren, hatte er sich das Klischee vom wissenschaftlichen Gebaren zu eigen gemacht, bis Maske und Identität ein und dasselbe geworden waren. Er liebte es, Brillen zu tragen, randlose Nasenreiter, und er hatte sich sein üppiges, schwarzes Haar an den Schläfen grau gefärbt, so daß sein Kopf nun wie die Blüte einer verwelkenden Steppenhexe aussah. Fürchterlich ernst, pedantisch, korrekt bis hin zur Besessenheit – bei jeder Reise hielt er „Einweisungs“-Reden, steckte unseren Kurs ab, überwachte jeden Tauchgang von seiner sicheren Höhle auf der Brücke der Ilium aus und verhielt sich ganz allgemein so, wie sich seiner Meinung nach der Leiter einer bedeutenden wissenschaftlichen Expedition verhalten mußte. Und tatsächlich: Wenn es irgend etwas Wissenschaftliches gab, das auch nur ganz entfernt mit der Forschungsaufgabe der Ilium zu tun hatte, dann fiel es in den Verantwortungsbereich von Grevilles Autorität, in der er sich so sonnte. Ich konnte mir vorstellen, daß er in hundert Jahren mit der gleichen ernsten Pedanterie einen Tauchgang in die Tiefen von Jupiters Atmosphäre skizzierte und erläuterte – vorausgesetzt, er wandte seine „Wissenschaft“ nicht anderen Untersuchungsobjekten zu. Greville wußte, was wir suchten, aber erfühlte es nicht; der Zauber unseres Unternehmens hatte keinen Platz in seinen Berechnungen.
„Ähem“, begann Greville mit einem Räuspern. „Guten Morgen. Ich freue mich, Sie alle an Bord begrüßen zu dürfen und Sie bereit zu wissen für unsere dritte Reise nach den versunkenen Inseln von Hawaii. Ich glaube, Sie kennen sich alle, auch unsere beiden Gäste auf dieser Fahrt, Paul Ambuhl und Jenny Crane. Äh, ja. Wir hoffen, daß uns diese Reise sowohl weitere Erkenntnisse als auch Unterhaltung beschert. Äh, tja. Hier haben wir eine Karte des nördlichen Pazifik. Wir befinden uns hier, äh, über dem großen Küstenriff; unsere Gäste wissen vielleicht nicht, daß dieses Riff einst den westlichsten Ausläufer des nordamerikanischen Kontinents darstellte. Äh, Kalifornien? Ja. Von hier aus laufen wir die versunkene Inselgruppe von Hawaii an, und auf dieser Forschungsreise beabsichtigen wir, die Ruinen der einst größten Insel dieser Gruppe zu untersuchen, von Hawaii selbst. Die Inselgruppe von Hawaii, einstmals Spielwiese und Erholungsort der Bewohner von Nordamerika, lag in einem beständigen, warmen Windstrom und inmitten eines warmen Meeres. Die Vegetation war so üppig, daß eine industrielle Nahrungsproduktion nie notwendig war. Bewohnt wurden die Inseln von einer freundlichen, braunhäutigen Rasse, die ihre Zeit damit verbrachte, Musik zu spielen und mit Holzbrettern auf den Wellen zu reiten. Wie es der Zufall so will, war dieses Volk der Erfinder des modernen Wasserski-Sports.“
Uneingedenk des Unsinns dieser Ausführungen hielt Greville kurz inne, damit seine Zuhörer diese Bemerkungen verarbeiten konnten. Nachdem er mit überraschtem Lächeln und nickenden Köpfen belohnt worden war, fuhr er fort: „Die Hawaiianer lehnten eine Amerikanisierung ab und blieben bis zur Großen Formung natürlich, ungebildet und glücklich. Sie besaßen eine komplizierte Religion, die auf dem Konsum alkoholischer Getränke basierte, und sie verehrten ihre Gottheiten, indem sie tanzten. Ihre überragende Leistungsfähigkeit auf sexuellem Gebiet war legendär. Äh, ja. Auf diesen Inseln gibt es verschiedene interessante Artefakte, die die während der Großen Formung erfolgte Überschwemmung eines Teils der Gruppe überdauerten. Und diese Ruinen sind es, die wir zur, äh, größeren Erleuchtung der Menschheit erforschen und katalogisieren wollen.“
Ähnliches gab er weitere fünfzehn Minuten lang zum besten. Viel davon war wunderlich, eine ganze Menge einfach falsch, und alles auswendig gelernt und vorgetragen in einem einschläfernden Geleier. Benito hing schlaff in seinem Sessel und starrte finster vor sich hin. Ich teilte seinen Widerwillen, aber aus anderen Gründen.
Für Greville und Harkness und alle anderen war die Ilium nur ein Spielzeug, ein Hobby. Für jeden von ihnen war das Schiff nur eine Zwischenstation unter vielen: Sie waren begeistert an Bord gekommen und hatten eine bestimmte Aufgabe übernommen; und wenn sie es satt hatten, würden sie wieder gehen und vielleicht ein neues Minarett hinterlassen oder einen Balkon oder eine neue Skala auf der Brücke, irgendein Gekritzel in dem archaischen Logbuch, das jemand anders zurückgelassen hatte. Für Benito aber war das Schiff Zuhause und Paradies zugleich, und es schmerzte ihn, die Ilium in den Händen jener zu sehen, die sie nicht verstanden. Und ich? Für mich war die Ilium eine Möglichkeit, ins Fruchtwasser des Meeres hineinzugleiten, in der Zeit zurückzureisen, fünf Jahrhunderte und mehr, dorthin, wohin ich gehörte. Und mir bereitete es zusätzlichen Kummer, Unsinn zu hören über die Epoche, die ich für meine eigentliche Heimat hielt.
Schließlich erteilte Greville dem Kapitän das Wort. Harkness zeigte uns auf der Karte die Reiseroute, und seine pseudomilitärische Knappheit war eine Erleichterung nach Grevilles aufgeblähter Rede. Er gab die geschätzte Reisedauer mit einer Woche an, markierte die Region, in der die Ilium auf Tauchstation gehen würde, und schloß dann die Versammlung. Paul stand sofort auf und kam auf mich zu. Doch Greville eilte mir unwissentlich zu Hilfe, trat zwischen uns und lud die beiden Novizen zu einem Besuch im Museum ein. Benito erhob sich und schlurfte aus dem Raum. Ich zögerte einen Augenblick, bemerkte Tobias’ wissenden Blick, der noch haßerfüllter war als sonst, und folgte Benitos buckligem und häßlichem Rücken hinab zum Generatorenraum.