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Zwei Jah­re be­vor Paul und Jen­ny zur Ili­um ka­men, war ich in Rom, um einen neu­en Ven­til­satz für mein Un­ter­was­ser-Atem­ge­rät zu er­wer­ben. Wie je­der Platz von his­to­ri­scher Be­deu­tung ist auch Rom zum Teil wie­der­auf­ge­baut und re­no­viert wor­den und bot sich nun als neu-an­ti­ke Stadt dar. Je­der Hü­gel mar­kier­te ei­ne ganz be­stimm­te Epo­che, je­des Tal spie­gel­te ei­ne ganz be­stimm­te Le­bens­wei­se wi­der, die be­reits seit Jahr­hun­der­ten nicht mehr exis­tier­te.

Die Grenz­flä­chen zwi­schen den Fa­stecht-Ko­pi­en die­ser Jahr­hun­der­te wa­ren mal scharf und ab­rupt, und manch­mal gin­gen sie in ei­nem Durch­ein­an­der aus Zeit­al­tern und Stil­rich­tun­gen in­ein­an­der über. Tai-Lis La­den lag tief im mit­tel­al­ter­li­chen Sek­tor. Kopf­stein­ge­pflas­ter­te Stra­ßen und Gas­sen, Häu­ser und Schup­pen, die zu ei­nem en­gen La­by­rinth zu­sam­men­ge­packt wa­ren, oh­ne daß man sich dar­um ge­küm­mert hät­te, wie die Be­bau­ung hier wäh­rend der dar­ge­stell­ten Epo­che tat­säch­lich ge­we­sen war, ma­le­ri­sches und si­mu­lier­tes Elend in­mit­ten nicht da­zu pas­sen­der Spring­brun­nen und Pracht­sta­tu­en.

Doch Rom ist ei­ne zu weltof­fe­ne Stadt, als daß sich hier die Un­s­terb­li­chen iso­lie­ren könn­ten, die sich, für ein oder zwei De­ka­den, ganz dem All­tags­le­ben ei­nes ver­gan­ge­nen Zeit­al­ters ver­schrie­ben. Man muß zu den Py­re­nä­en rei­sen, um Ort­schaf­ten zu fin­den, wo Erg­fel­der streng ver­bo­ten sind. Man muß weit ins süd­afri­ka­ni­sche Gras­land vor­sto­ßen, um Dör­fer zu ent­de­cken, de­ren Be­woh­ner so ur­al­te Kul­tu­ren nach­le­ben, daß selbst den glü­hends­ten Nost­al­gi­kern der Zu­tritt ver­sagt ist. Die Un­s­terb­li­chen hand­ha­ben ih­re Le­bens­art-Spie­le mit großem En­thu­si­as­mus, und wenn sie ih­rer über­drüs­sig wer­den, dann hüp­fen sie quer durch die Jahr­hun­der­te und wech­seln die Kul­tu­ren so un­be­küm­mert wie ih­re Klei­dung – und mit ähn­lich ge­rin­ger Kennt­nis von der in­ne­ren Struk­tur. In Rom je­doch ist die Alt­ehr­wür­dig­keit nur ei­ne ober­fläch­li­che Il­lu­si­on: Die Erg­mö­bel ah­men höl­zer­ne Ti­sche, stei­ner­ne Bän­ke, Tier­fell­tep­pi­che und Vor­hän­ge nach. Da­mals war ich noch da­mit be­schäf­tigt, mein Haus zu re­no­vie­ren und um­zu­bau­en, und ich saß in Tai-Lis La­den, nipp­te an bit­te­rem Kaf­fee und dach­te mit Ver­ach­tung an das Epo­chen­spiel der Un­s­terb­li­chen.

Tai-Li nahm den neu­en Ven­til­satz aus ei­nem Kas­ten und strich mit den Fin­gern dar­über hin­weg.

„Es ist ei­ne fast völ­lig ech­te Nach­bil­dung“, sag­te sie. „Wis­sen Sie, ich sag­te fast, weil ich nicht die ur­sprüng­li­chen Ma­te­ria­li­en ver­wen­den woll­te. Das Gum­mi gibt der Atem­luft einen scha­len, ab­sto­ßen­den Ge­schmack. Das hier ist sta­bi­li­sier­tes Plas­tihl, ein Kris­tall ei­gent­lich. Der Satz läßt sich hier an die Schläu­che an­schlie­ßen und mit die­sem En­de an die Mas­ke. Sie soll­ten kei­ne Pro­ble­me da­mit ha­ben. Wenn doch, dann las­sen Sie es mich bit­te wis­sen.“

„Wenn das der Fall ist, wer­de ich wohl kaum noch in der La­ge sein, Sie dar­über zu in­for­mie­ren“, ent­geg­ne­te ich und stell­te die vi­brie­ren­de Tas­se ab.

„Sind Sie mit den an­de­ren Aus­rüs­tungs­ge­gen­stän­den zu­frie­den?“ frag­te sie, als sie den Satz ein­pack­te.

„Ja. Der Naß­an­zug ist wirk­lich sehr brauch­bar; er funk­tio­niert bes­tens. Sie ha­ben gu­te Ar­beit ge­leis­tet, Tai-Li.“

„Das ma­che ich im­mer“, gab sie zu­rück und streck­te mir die Zahl­plat­te ent­ge­gen. Ich preß­te den Dau­men auf die schwar­ze Ober­flä­che. Der Be­stä­ti­gungs­sen­sor glüh­te, und mein Ein­kauf war ab­ge­schlos­sen und be­zahlt. Tai-Li ge­lei­te­te mich zur Tür. Wir ver­ab­schie­de­ten uns, und sie war er­leich­tert, daß ich ging. Tai-Li schätz­te es, Ge­schäf­te mit mir zu tä­ti­gen. Das lie­fer­te ihr ei­ne so­li­de Recht­fer­ti­gung da­für, wei­ter­hin ih­rem Hob­by zu frö­nen und die gum­mier­ten Wun­der ver­gan­ge­ner Ta­ge nach­zu­bau­en. Doch in mei­ner Nä­he war ihr ge­nau­so un­be­hag­lich zu­mu­te wie al­len an­de­ren.

Einen Au­gen­blick lang stand ich im hei­ßen Som­mer­son­nen­schein und über­leg­te, ob ich mir ein küh­les Glas ge­neh­mi­gen soll­te, be­vor ich die Röh­re auf­such­te und nach Hau­se zu­rück­kehr­te. Wenn ich ir­gend­wo Platz nahm, wür­den mich al­le an­star­ren. Nun, soll­ten sie. Mir stand der Sinn nach ei­nem Drink, und wenn ich al­le an­de­ren Gäs­te ver­trieb, so war mir das gleich­gül­tig.

Ich er­in­ner­te mich dar­an, auf dem Weg nach Tai-Lis La­den ein Ca­fe ge­se­hen zu ha­ben, am Ran­de des großen Plat­zes, der das Zen­trum des Re­stau­rie­rungs­ge­bie­tes dar­stell­te, in dem das zwan­zigs­te Jahr­hun­dert ver­kör­pert wur­de. Ich wand­te mich in die ent­spre­chen­de Rich­tung.

Die Hit­ze tanz­te und zit­ter­te über der Stra­ße, als ich das Kopf­stein­pflas­ter hin­ter mir ließ und As­phalt be­trat. Hier war der Über­gang zwi­schen den Jahr­hun­der­ten ab­rupt. Stroh­ge­deck­te Fach­werk­häu­ser duck­ten sich ne­ben hoch auf­ra­gen­den Wol­ken­krat­zern aus Glas – das ei­ne ge­nau­so un­echt und falsch wie das an­de­re. Ich schritt um ei­ne Ecke her­um, und un­mit­tel­bar vor mir er­streck­te sich die Pi­az­za, die mit ei­ni­gen Spring­brun­nen und Sta­tu­en ge­schmückt war. Einen Baum aber konn­te ich nir­gends ent­de­cken. An al­len Sei­ten war der Platz um­ge­ben von Ge­bäu­den des zwan­zigs­ten Jahr­hun­derts, al­le min­des­tens zehn Stock­wer­ke hoch und von ei­ner ab­sto­ßen­den, kaum noch zu über­bie­ten­den Häß­lich­keit. Sie schie­nen leicht zu schwan­ken, als ich durch die vor Hit­ze flir­ren­de Luft zu ih­nen auf­sah. Hüp­fer glit­ten auf der Pi­az­za um­her; Fuß­gän­ger wa­ren nur we­ni­ge zu se­hen. Das Ca­fe lag auf der ge­gen­über­lie­gen­den Sei­te, in ei­ner La­che aus Halb­dun­kel und ver­lo­cken­den Schat­ten un­ter Mar­ki­sen und Son­nen­schir­men. Ich lenk­te mei­ne Schrit­te die­ser Oa­se der Küh­le ent­ge­gen.

Als ich ein Vier­tel des Weges zu­rück­ge­legt hat­te, war ich in Schweiß ge­ba­det, und mir schwin­del­te. Des Schat­tens be­raubt, setz­te ich mich an einen Spring­brun­nen, be­feuch­te­te den Är­mel mei­ner Blu­se, wisch­te mir da­mit durchs Ge­sicht und blick­te hin­über zum Ca­fe. Die Ent­fer­nung schi­en un­über­wind­lich. Ich hät­te einen Hüp­fer ru­fen sol­len, dach­te ich, doch da ich den Fuß­marsch nun ein­mal be­gon­nen hat­te, woll­te ich ihn auch zu En­de brin­gen. Ich stand auf und ging wei­ter, setz­te einen Fuß vor den an­de­ren auf den ät­zend hei­ßen Stein­flie­sen. Ich starr­te auf die Plat­ten vor mir: grau­er Stein, wei­ßer Stein, brau­ner Stein; grau­er Stein, brau­ner Stein, schwar­zer Hau­fen.

Schwar­zer Hau­fen?

Der Hau­fen be­weg­te sich, und ich ging in die Knie. Ei­ne Kat­ze, auf dem Bo­den lang­ge­streckt; sie he­chel­te flach. Ei­ne al­te Kat­ze, schä­big, mit­ge­nom­men von al­ten Kämp­fen, die un­ter der flüs­tern­den Un­end­lich­keit von Gleit­bän­dern oder auf den Plas­tik­dä­chern ei­ner ge­fälsch­ten Ver­gan­gen­heit aus­ge­tra­gen wor­den sein moch­ten. Ich strei­chel­te die Kat­ze, doch sie igno­rier­te mei­ne Hand und be­hielt die Au­gen ge­schlos­sen. Ihr Fell war so heiß, daß es mir bei­na­he die Fin­ger ver­brann­te; sie hat­te den Kopf un­ter den Bauch ge­scho­ben in dem ver­geb­li­chen Ver­such, so et­was Schat­ten zu fin­den. Ei­ne al­te Kat­ze, die auf den Platz ge­kom­men war, um zu ster­ben? Ei­ne al­te Kat­ze, die hier nicht den Tod ge­sucht hat­te, aber den­noch starb? Ich war da­von über­zeugt, daß sie kei­ne hal­be Stun­de mehr zu le­ben hat­te, wenn sie hier im pral­len Son­nen­licht blieb. Ich hob sie vor­sich­tig auf, öff­ne­te den obe­ren Haftsaum mei­nes Ko­stüms und schob die Kat­ze ins In­ne­re mei­ner Blu­se. Dann setz­te ich den Marsch in Rich­tung Ca­fe fort.

Ich ge­lang­te an einen wei­te­ren Spring­brun­nen, schöpf­te mit der Hand ein we­nig Was­ser und bot es der Kat­ze an. Sie igno­rier­te es. Dar­auf­hin tauch­te ich den Fin­ger ins Was­ser, preß­te ihn ins win­zi­ge Maul der Kat­ze und schaff­te es, ei­ni­ge Trop­fen ih­re Keh­le hin­a­b­rin­nen zu las­sen. Doch das Tier blieb ge­nau­so apa­thisch wie zu­vor, und nur das leich­te He­ben und Sen­ken des Bau­ches zeig­te mir an, daß es noch leb­te. Ich spritz­te Was­ser auf mei­ne Blu­se, hoff­te, es wür­de so­wohl mir als auch der Kat­ze Küh­lung ver­schaf­fen, kon­zen­trier­te mich auf das im­mer noch fer­ne Ca­fe und setz­te mich wie­der in Be­we­gung.

Grau­er Stein, brau­ner Stein, mar­mo­rier­ter Stein, schwar­zer Stein, brau­ner Stein, wei­ßer Stein, grau­er Stein. Wie vie­le Stei­ne gibt es im Uni­ver­sum? Wie vie­le auf die­sem ko­chend­hei­ßen und öden Platz? Mei­ne Fü­ße wa­ren Fels­mo­no­li­the, Nacken und Kopf eben­falls. Mein Haar be­stand aus ge­spon­ne­nem Gra­nit, mei­ne Ar­me aus Mar­mor, die Kat­ze aus Blei. Ei­ne al­te Kat­ze aus Blei. Ei­ne al­te Tia aus Blei. Wei­ßer Stein, grau­er Stein, brau­ner Stein, wei­ßer Stein und plötz­lich Schat­ten und Stim­men. Ich sah auf und stell­te fest, daß ich mich im Ca­fe be­fand.

Um mich her­um erstar­ben die Stim­men in kon­zen­tri­schen Krei­sen. Ich ließ mich mü­de auf ei­nem höl­zer­nen Stuhl nie­der, hol­te die Kat­ze aus mei­ner Blu­se und leg­te sie auf den Tisch vor mir.

„Brin­gen Sie mir et­was Was­ser“, bat ich den Kell­ner halb­laut, und er kehr­te so­fort mit ei­nem Glas zu­rück. Ich be­feuch­te­te einen Fin­ger und ver­such­te, das Maul der Kat­ze zu öff­nen. Der Kie­fer gab nach und hing schlaff nach un­ten. Ich ließ die küh­le Näs­se auf die Zun­ge trop­fen. Die Kat­ze rühr­te sich nicht. Ich ver­such­te es er­neut.

„Bit­te, mei­ne Da­me, die Kat­ze ist tot“, sag­te der Kell­ner mit schmerz­li­cher Mie­ne.

Ich be­müh­te mich wei­ter­hin, mit dem Fin­ger et­was Was­ser ins Maul der Kat­ze trop­fen zu las­sen. Es rann über mei­nen Fin­ger­na­gel, be­netz­te die ro­te Höh­lung und floß am Kie­fer ent­lang auf den Tisch. Das Tier be­weg­te sich nicht.

„Mei­ne Da­me, bit­te, die Kat­ze ist tot“, wie­der­hol­te der Kell­ner und nahm das Glas auf. Ich sah zu ihm hoch, dann wie­der auf den Tisch.

Die Kat­ze rühr­te sich nicht.

„War das viel­leicht Ih­re Kat­ze?“

„Nein, mei­ne nicht. Nein. Tot?“

„Ich fürch­te, ja. Soll ich sie fort­schaf­fen?“

„Tot?“

„Es war nur ein Tier. Tie­re ster­ben, wis­sen Sie.“

„Nur ein Tier.“

„Ge­nau.“ Er reich­te mir ein neu­es Glas Was­ser, und ich nipp­te dar­an und starr­te da­bei auf die to­te Kat­ze. Von ei­nem Au­gen­blick zum an­de­ren hat­te ich den Ein­druck, als hät­te sie zu ver­we­sen be­gon­nen, als näh­me ich den Ge­stank ih­rer Zer­set­zung wahr, und ich wand­te mich von dem Ka­da­ver ab.

„Ja, brin­gen Sie sie weg.“ Der Kell­ner wink­te zwei Kol­le­gen her­bei. Ge­mein­sam pla­zier­ten sie vor­sich­tig einen Schwe­ber un­ter dem Tisch und scho­ben ihn dann samt der Kat­ze am Ca­fe ent­lang fort.

„Möch­ten Sie et­was be­stel­len?“ frag­te der Kell­ner, als er zu­rück­kehr­te. Er stell­te einen neu­en Tisch vor mir auf, fal­te­te den Schwe­ber fein säu­ber­lich zu­sam­men und ver­stau­te ihn in der Ho­sen­ta­sche.

„Nein, äh, im Au­gen­blick nicht. Was ma­chen Sie mit der Kat­ze?“

„Sie wird na­tür­lich ins Ver­wer­tungs­sys­tem ein­ge­ge­ben.“

„Na­tür­lich.“

„Es war nur ein Tier. Hät­te frü­her oder spä­ter oh­ne­hin ster­ben müs­sen.“

„Und was ist mit mir?“ frag­te ich scharf. Er wirk­te ver­blüfft und an­ge­spannt.

„Mit Ih­nen, mei­ne Da­me?“ Ganz höf­lich. Vor­ge­täusch­te Un­wis­sen­heit, wäh­rend er mich an­starr­te.

„Ja, mit mir, Tia Ein­tags­flie­ge. Bin ich ein Tier?“

„Nein, mei­ne Da­me, selbst­ver­ständ­lich nicht.“

„Falsch. Wir al­le sind Tie­re. Wir ver­drän­gen es nur, wann im­mer wir da­zu in der La­ge sind. Das ist al­les.“ In sei­nen grü­nen Au­gen zeig­te sich so we­nig Ver­ste­hen, als hät­te ich ir­gend­ein Kau­der­welsch von mir ge­ge­ben.

„Ru­fen Sie mir bit­te einen Hüpf er. Jetzt, so­fort.“

„Ja, mei­ne Da­me“, sag­te er er­leich­tert, und kurz dar­auf hielt ei­ner vor dem Ca­fe an, mit of­fe­ner Ein­stiegs­lu­ke. Ich er­hob mich, schritt zwi­schen den schwei­gen­den Gäs­ten hin­durch und stieg in den Hüpf er, des­sen Lu­ke sich hin­ter mir fest schloß.

Ich drück­te die Tas­te für die Röh­ren­sta­ti­on und lehn­te mich mü­de zu­rück. Der Hüp­fer summ­te, be­schleu­nig­te und saus­te fort von dem Platz.