2
Die U-Bahn fährt ein. Ich muss mich entscheiden. Soll ich einsteigen? Oder soll ich doch mit dem Taxi fahren? »Ich verstehe, dass Sie mir das erzählen wollen«, sage ich zu Lambert. »Aber wir haben jetzt nur noch fünf Minuten, und ich denke, es ist das Beste, wir verschieben es und sprechen das nächste Mal darüber.« »Das nächste Mal?«, wiederholt Lambert. Ich halte die Luft an, schaue zu, wie der Zug einfährt und langsam zum Stehen kommt. »Wieso können wir die Stunde nicht überziehen, wieso können wir nicht länger machen?«, fragt Lambert. Ich würde gerne wissen, welche Ursachen der Karriereknick seines Vaters hat, halte mich aber mit Fragen zurück. Lambert mokiert sich darüber, wie sein Vater sich bei öffentlichen Auftritten verhält und wie ungepflegt er immer aussieht. Dann wieder beklagt er, dass er in seinem ganzen Leben noch kein einziges persönliches Gespräch mit ihm geführt hat und dass sein Vater ihn immer im Unklaren darüber lässt, was er denkt und was er empfindet. »Aber ich kann Ihnen sagen, woran er gescheitert ist«, sagt Lambert. Ich lasse ihn nicht zu Wort kommen. Ich erkläre ihm, dass wir das nächste Mal darüber reden. Ich versuche es langsam angehen zu lassen. Ich sage mir: »Du schaffst das schon mit dem Flug.« Und ich frage mich: »Was ist eigentlich in Baltimore genau passiert?« Morgens um halb sieben, als ich mich zögernd und dann immer entschlossener vom Hotel entferne, das wir spät in der Nacht nach einem langen Fußmarsch doch noch gefunden haben. Ich verlasse das Hotel, so wie ich damals heimlich unser Schlafzimmer verlasse, um im Englischen Garten nach dem verlorenen Turnschuh zu suchen. Morgens um halb sieben. Ich hinterlasse noch nicht einmal eine Nachricht. Vielleicht denke ich, dass ich in ein paar Minuten wieder zurück bin. »Ach egal«, sagt sie, als wir einen der orangenen Turnschuhe bei unserem nächtlichen Spaziergang verlieren. Es macht ihr nichts aus, wenn sie etwas verliert. Gegenstände bedeuten ihr nichts, obwohl sie ständig irgendetwas kaufen möchte und nach irgendetwas Sehnsucht hat. Es ist ein No-Name-Turnschuh, ein im Grunde hässlicher Schuh, den sie bei einer ihrer Shopping-Touren erstanden und in den sie sich vielleicht gerade deswegen verliebt hat, weil er so billig und schäbig ist. Manchmal denke ich, hoffentlich gehen sie bald kaputt, hoffentlich ist es mit den orangenen Turnschuhen bald vorbei, und dann schleiche ich mich morgens aus dem Haus, um im menschenleeren Englischen Garten nach ihm zu suchen. Verlasse ich deswegen auch unser Hotel in Baltimore? Um ihr eine Freude zu machen? Wir laufen nachts barfuß durch den Englischen Garten. »Fühlst du, wie weich das Gras ist?«, fragt Judith. Wir bekommen einen Lachanfall, als wir merken, dass wir ihn verloren haben. Die Schuhe sind eigentlich auf dem Gepäckträger des Marburg-Fahrrads verstaut, aber einer der orangenen Turnschuhe fällt herunter. »Das ist ein schlechtes Omen«, sagt Judith. »Jetzt ist das Paar nicht mehr vollständig.« Der Verlust eines Gegenstandes löst in ihr nichts aus, während es für mich eine existenzielle Bedrohung darstellt. Schon allein der Gedanke, sie könnte etwas verlieren, macht mich nervös. Und sie verliert oft etwas, sie hätte auch das grüne Schmuckkreuz verloren, genauso wie sie den Zehenring verloren hat, den wir bei unserer Reise in der Wüste gekauft haben. Wir entdecken ihn in einem heruntergekommenen Andenkenladen in der Nähe von San Diego. Es ist ein Ring mit einem aufgeklebten Plastikdiamanten für sieben Dollar fünfzig, und wir kaufen ihn eigentlich nur, weil das andere Paar, das in seinem weißen Ford Voyager die ganze Zeit hinter uns herfährt, plötzlich anhält und auch aussteigt. Sie lässt ihn einfach auf dem Badewannenrand in einem Hotelzimmer in Primm liegen. »Das ist nicht so schlimm«, sagt sie, als sie bemerkt, dass der orangene Turnschuh weg ist. »Das ist nicht so schlimm?«, wiederhole ich. Ich will das Fahrrad für sie schieben, damit sie suchen kann, aber sie klammert sich an den Lenker fest. »Dann musst du Paartherapie mit ihm machen.« »Mit ihm?« »Mit dem Schuh.« »Aber es ist nur einer.« »Ja, deswegen musst du ihm helfen.« Es ist in der Nacht, in der Kyra ihre Abschiedsparty feiert. Judith hat die Idee, durch den Park zu laufen, weil sie glaubt, ich hätte zu viel getrunken, um mit dem Auto zu fahren. Aber in Wirklichkeit habe ich natürlich nichts getrunken. »Ich soll dem Schuh helfen?«, frage ich. »Du darfst nicht Schuh zu ihm sagen, es ist ein Turnschuh. Hilf ihm.« Sie stützt sich auf dem Lenker ab, sie hat zu viel getrunken, sie kann kaum noch weitergehen. »Aber wir müssen erst den anderen finden«, sage ich, und wir laufen wieder zurück, aber sie hat schon nach ein paar Metern keine Lust mehr. »Versprichst du, dass du Paartherapie mit ihnen machst, wenn du ihn gefunden hast?«, sagt sie noch, aber wir finden ihn nicht. Am nächsten Tag bin ich kurz nach Sonnenaufgang im Englischen Garten, um nach ihm zu suchen. Ich verlasse das Haus, so wie ich das Hotel verlasse, heimlich, ohne dass ich ihr etwas davon sage. Ich suche über eine Stunde und werde immer nervöser, als die ersten Jogger aus den schattigen Waldstücken herauspreschen und anfangen, ihre Runden zu drehen. Als ich später nach Hause zurückkehre und sie noch immer schläft, gehe ich ins Badezimmer, reinige den Schuh und stelle ihn dann neben sie aufs Kopfkissen. In Baltimore lasse ich sie drei Stunden allein. Ich bringe ihr nichts mit. Nicht einmal ein billiges Schmuckkreuz. Ich habe das Gefühl, dass wir unbesiegbar sind, als ich durch den Englischen Garten laufe. Uns kann nicht das Geringste passieren, denke ich, während ich angestrengt auf den Boden starre, und dann sage ich mir: »Dieser verfluchte Schuh, hoffentlich finde ich ihn.«
Ich steige ein. Ich schaffe es, oder ich schaffe es nicht. Ich ziehe das Gepäck hinter mir her und suche mir einen Platz in der Nähe einer Tür. Es sind neun Stationen, die ich mit dem L-Train fahre, neun Stationen bis ich umsteigen muss. Diese Ausweglosigkeit hat mit einem Mal etwas Beruhigendes. Als ich durch die leeren Straßen von Baltimore laufe, denke ich nicht an Judith. Ich bin froh, dass ich aus dem Hotelzimmer raus bin. Selbst die noch geöffneten Nachtclubs und Bars haben etwas Ernstes und Tiefgründiges. Als wäre dort nachts besonders hart und intensiv gearbeitet worden. Die quadratische Anordnung der Häuserblöcke und das Gitternetz der rechtwinklig angelegten Straßen, die Gleichförmigkeit ihrer Kreuzungen wiegen mich in Sicherheit und betäuben mich. Ich entferne mich mit dem Gefühl, dass ich jederzeit in unser Hotel zurückkehren kann. Judith schläft, sie hat sich in ihrem Jogginganzug unter der Bettdecke verschanzt. Sie schläft, raune ich mir zu. Kein Problem. Du brauchst dich nicht um sie zu kümmern, brauchst dir keine Gedanken um sie zu machen. In einer plötzlichen Vision sehe ich mich in dem morgendlichen Halbdunkel des Zimmers einer Gestalt gegenüber. Ein ungebetener Besucher, der vor mein Bett tritt. Es ist weniger eine Gestalt als ein Gebilde. Eine halb röhrenförmige halb abstrakte Struktur, die sich vergrößert, wenn man mit ihr in Kontakt zu treten versucht. Dann aber wird sie ungreifbar und verliert alle Dimensionen. Eine solche Gestalt, ein solches Gebilde einen »Besucher« zu nennen, ist natürlich nur ein ironischer Bewältigungsversuch, so wie ich einmal einer Klientin geraten habe, ihren Ängsten Namen zu geben, um sie einerseits zu identifizieren, aber andererseits auf spielerische Weise mit ihnen umzugehen und sozusagen mit ihnen ins Gespräch zu kommen. Ein schmaler Streifen Licht wird zwischen den Vorhängen sichtbar, fließt langsam über den Teppich ins Zimmer. Das Fenster bildet eine breite großzügige gläserne Front, die an der stählernen Gebäudekante scharf nach links abbiegt und parallel zu der Bettseite, auf der Judith schläft, weiterverläuft. Der Besucher bleibt anonym, er nimmt keine menschlichen Züge an. Aber es ist eine andere Angst als meine Angst, den Flug zu verpassen. Oder meine Angst auf dem Dupont Circle, als ich in der Mittagspause eine Stunde lang auf Judith warte. Es ist eine haltlose und konfuse Angst. Eine Angst, gegen die ich nichts ausrichten kann. Als ich mich entscheide, aufzustehen und spazieren zu gehen, denke ich noch, dass ich sie einfach vertreiben kann. Ich stehe auf und verlasse das Hotel. Ich ahne schon, dass ich nicht so schnell zurück sein und dass ich mich an diesen Spaziergang noch lange erinnern werde. Der Dampf, der aus dem Gulli steigt, das katzenhafte Herumschleichen eines Polizeifahrzeuges in einer Seitenstraße, in die ich hineingehe, weil sie mir auf interessante Weise verkommen erscheint. Die Blicke von Obdachlosen, die durch mich hindurchschauen, die Visitenkarten der Prostituierten, die zwischen den Glassplittern auf dem Boden vor einer kaputten Telefonzelle liegen. Am Abend zuvor sitze ich mit Judith, nachdem wir das Fischrestaurant verlassen haben, in einer Bar in Little Italy, und ich versuche, wie ich es mir schon auf dem Flug nach Washington vorgenommen habe, ihr zu erklären, wie sehr ich sie liebe. Und dass sie ihr Praktikum auf der Stelle abbrechen und zurück nach München kommen soll. Im Fischrestaurant fällt der Strom aus, für wenige Sekunden, dann schaltet sich der Notstromgenerator ein. »Ich würde jedenfalls nicht so einfach ins Ausland gehen, nur weil ich mit meinem Leben nicht zufrieden bin«, sage ich in Gedanken zu ihr. Oder, wenn man es anders ausdrücken würde: Ich halte es ohne dich nicht aus. Ein Satz, für den ich aber noch einen Ort suche und schließlich denke, ich müsste ihn außerhalb der Stadt finden. Der Hafen ist eine Enttäuschung. Es gibt keine richtige Promenade, jedenfalls finde ich sie nicht und laufe die ganze Zeit auf der falschen Seite, an langen hölzernen Piers und Aufbauten vorbei, in denen Restaurants und Bars untergebracht sind, die aber jetzt alle leer stehen. Der eigentlich interessante Teil des Hafens ist auf der gegenüberliegenden Seite. »Ich halte es ohne dich nicht aus.« Es ist kein Satz, den man einfach so sagt. Es ist ein Satz, auf den man hinarbeitet, auf den alles zuführt. Ich sage ihn nicht. Ich bringe ihn nicht über die Lippen. Auch nicht in Little Italy, in der Bar, in der wir später einen Drink nehmen. Die Bar gehört einer ehemaligen Opernsängerin, und der schwere, glitzernde Halsschmuck auf ihrer höckerartigen Brust erweckt den Eindruck, als sei er aus ihren Knochen herausgeschnittenes Licht. Sie arbeitet nur zum Spaß. Dafür hat sie sich die Bar auch gekauft. Es scheint ganz einfach zu sein. Ich sage es ihr. Ich warte den richtigen Moment ab, finde den richtigen Ort. Tatsächlich hat sich unsere Stimmung aufgehellt durch den skurrilen Stromausfall im Fischrestaurant, der nur das oberste Stockwerk des Restaurants betrifft, während der untere hell erleuchtet bleibt. Ein umgeknickter Strommast in der Nachbarschaft. Bei unserem Spaziergang vom Restaurant in das in der Nähe gelegene Little Italy kommt Judith wieder zu Kräften. Ich habe alles versucht, um den Abend zu verderben. Das endlose Telefonieren am Bahnhof, meine Forderung, zu Fuß zu gehen, die quälend lange Debatte darüber, ob das Hotel, in dem wir übernachten, nicht zu unpersönlich ist. Ob wir nicht etwas Schöneres finden können. »Ich halte es ohne dich nicht aus.« Ich hätte den Satz rückwärts aufsagen und mit seinem Ende, mit seiner Pointe beginnen können. Ich warte zu lange. An einem kleinen Hafenbecken, das ich schließlich nach endlosem Herumirren erreiche, bleibe ich eine Weile stehen. Ein Motorboot tuckert durch das Wasser und sammelt den Müll auf. Hunderte von Plastikflaschen schwimmen im Wasser, um die herum ein großer schlauchartiger Ring ausgeworfen worden ist. Ich beobachte das Boot, wie es seinen Fang hinter sich herzieht und das kleine Hafenbecken wieder verlässt. In diesem Moment vergesse ich, warum ich überhaupt nach Baltimore gekommen bin. Stehe ich wirklich eine Stunde am Hafen und schaue einem Müllentsorgungsboot zu, wie es leere Plastikflaschen hinter sich herzieht, als wollte es diesen Flaschen helfen, ihre gar nicht vorhandene Botschaft auf dem offenen Meer noch schnell loszuwerden. Sonntagmorgens, bevor der Gottesdienst anfängt? Welche Gedanken gehen mir in diesem Moment durch den Kopf. Der Gedanke: Ich kann den Satz »Ich halte es ohne dich nicht aus« nicht sagen? Oder kann ich die Anwesenheit von Judith, von der ich mich unter keinen Umständen trennen will, nicht mehr ertragen?
Auf dem Weg zum Hafen oder vielleicht schon auf dem Rückweg, als mit der zunehmenden Helligkeit und dem Verschwinden des morgendlichen Dunstes mein schlechtes Gewissen zurückkehrt und ich beschließe, sofort zum Hotel zurückzugehen, entdecke ich eine kleine Kirche. Ohne es zu wollen, bin ich nach Little Italy gegangen. Die ersten Besucher, wahrscheinlich italienischstämmige Bewohner von Baltimore, haben sich versammelt, aber die Kirche noch nicht betreten. Plötzlich entdecke ich auf einer an der Kirchenwand angebrachten Marmortafel Judiths Familiennamen. Es ist ein seltener Name, und ich bin für einen Moment vollkommen elektrisiert und denke, dass ich bei meinem Herumirren durch Baltimore endlich eine Spur gefunden habe, die beweist, dass es in der Familie von Judith außer ihrer Tante noch andere Auswanderer gibt. Und dass sich ihre komplizierten Familien- und Abstammungsverhältnisse vielleicht aufklären lassen. Mehrere Minuten vergehen damit, dass ich alle Namen, die dort stehen, in mein Notizbuch schreibe. Die Schwere der Nacht fällt von mir ab, ich schreibe diese Namen auf. Ich schreibe mich in die Vergangenheit von Judith hinein, in ihre Familiengeschichte, die Geschichte ihrer Vorfahren, zumindest die, die ich dafür halte. Judith selbst liegt in diesem Moment im Bett und schläft. Ich könnte mit diesen Namen zu ihr zurückkehren, sie wecken und ihr davon erzählen. Ich könnte wie ein Bote aus der Vergangenheit ihrer Familie an ihr Bett treten und ihr erklären, wie sehr ich sie liebe, ihre Vorfahren, ihre Großväter, Großmütter, Großonkel und Großtanten oder zumindest mich für sie interessiere. Ich würde an ihr Bett treten und ihr die Liste aus meinem Notizbuch vorlesen und sie danach zu dieser kleinen Backsteinkirche in Little Italy bringen. Die Kirche sieht wie meine alte Grundschule aus, und die müden Gesichter der Italo-Amerikaner, die sich zu dem Backsteingebäude schleppen, sind ein matter Nachhall meiner tristen Schulzeit. Wohingegen ich mir jetzt wie ein fleißiger Schüler vorkomme, der in letzter Sekunde seine Schulaufgaben macht, sich alles aufschreibt, alle Namen und Verbindungen, aus denen Judith besteht, aus denen sie hervorgegangen ist. Ich könnte zurücklaufen, zurück ins Hotel, aber ich tue es nicht. »Siehst du«, könnte ich sagen, »ich habe heute Morgen deinen Namen gefunden, ist das nicht wundervoll? Ich möchte, dass du diese kleine Kirche siehst.« Ich schreibe die Namen zwar auf, schreibe sie aber so auf, als wären sie Teil einer Geschichte, in der später auch Judith vorkommt. Die Gemeindemitglieder, die Gründerväter und ihre Angehörigen, die im Krieg gefallenen Soldaten, alle, die denselben Namen haben wie Judith. Ich schreibe sie für eine ferne Zukunft auf, für einen Moment, in dem ich mir selbst diese Geschichte erzähle. Statt dass ich ins Hotel zurückgehe und ihr davon erzähle. Aber ich stehe wichtigtuerisch, Name für Name in mein Notizbuch übertragend, vor der schwarzen Marmortafel neben der niedrigen Eingangstür der Kirche, der sich die gebrechlichen Gemeindemitglieder vorsichtig nähern. »Was wird Judith wohl dazu sagen, wie wird sie wohl darauf reagieren?«, denke ich noch, als hätte ich ernstlich vor, ihr davon zu erzählen.
Es ist ein Moment des Entspannens. Ein Augenblick, in dem ich mich treiben lasse. Montrose Avenue. Bushwick Avenue. Morgan Avenue. Orte, an denen ich noch nie gewesen bin, obwohl sie ganz in der Nähe von Williamsburg sind. Ich hätte mit dem L-Train leicht einmal hinfahren können. Ich hätte nach Washington fahren können, morgens direkt nach der Dampferfahrt. Es fängt alles morgens an, als ich ins Taxi steige. Als ich nicht zum Bahnhof fahre. Als ich das Hotel in Baltimore verlasse. Als ich spazieren gehe. Es fängt immer morgens an. Warum verlasse ich in München morgens unsere Wohnung? Ich fahre zu einem Café in die Lindwurmstraße oder zu einem Café am Sendlinger Tor. Die wenigen Minuten, die mir bleiben, die losen Enden meiner verschiedenen Lebensbereiche, die grünstichige Leere meiner Praxis und die aufwallenden Gebirge, die ungestüm aufgeworfenen Laken unseres Schlafes zu verbinden. Manchmal bestelle ich mir einen zweiten Kaffee, oder ich sitze da und fühle mich außerstande, das Café wieder zu verlassen. Judith ist zu Hause. Sie studiert ihre aus dem Internet ausgedruckten Texte über das Nomadentum. Arid Climate, Adaptation and Cultural Innovation in Africa. Sie korrigiert Fußnoten in ihrem Darfur-Aufsatz. Es kommt mir vor, als läge sie auf dem Boden neben dem Bett, als hätte ich sie aus dem Bett gestoßen. Wie immer geht es darum, dass ich die Praxis aufgebe, und zwar nicht in einem, wie es professionell sinnvoll wäre, systematischen »Ausschleichungsprozess« über mehrere Jahre, in denen ich keine neuen Klienten mehr annehme, die alten aber noch zu Ende therapiere und die Praxis dann verkaufe, sondern von heute auf morgen oder, wie ich zu sagen pflege, »übers Wochenende«. Ich gebe alles auf, ich schmeiße alles hin. Judith liegt auf dem Fußboden. Ich sitze im Café. Ich möchte zu ihr zurückkehren und möchte mich bei ihr entschuldigen, weil vielleicht der Eindruck entstanden ist, ich würde sie nicht genug lieben. »Aber das stimmt nicht«, würde ich sagen, als gäbe es einen Dritten, der ihr das, während sie schläft, ins Ohr geflüstert hat. »Es ist nicht wahr.« In Baltimore, im Gitternetz der rechtwinkeligen Straßen, die mein Leben in Entscheidungsanordnungen unterteilen. Wieder runter zum Hafen? Oder hoch zum Hotel in den vierzehnten Stock zu meiner schlafenden Freundin? Ich würde die Klienten aus meiner Praxis vertreiben, sie einzeln hinauskatapultieren. Ich würde Lambert hinauswerfen, und das wäre noch das Beste für ihn. Ich würde ihn anrufen und ihm mitteilen, dass ich nichts mehr für ihn tun kann und dass die Therapie zu Ende ist. Die Sonne kommt heraus, ich stehe auf einer Straßenkreuzung, gar nicht so weit entfernt vom Hotel. Noch immer habe ich kein Café gefunden, in dem ich mit Judith frühstücken könnte. Schon auf der Zugfahrt nach Baltimore hat sie mir zu verstehen gegeben, dass sie über die Pläne zur Auflösung meiner Praxis nichts mehr hören will. Will ich sie jetzt dafür bestrafen? Ich stehe auf der Kreuzung, eine schon geöffnete Dunkin’-Donuts-Filiale zu meiner Linken und ein Bürogebäude zu meiner Rechten. Das Hotel ragt vor mir auf. Ich weiß von seiner Anwesenheit, seinem kostbar gehüteten Schatz. Aber ich kehre nicht zu ihm zurück.
»Und was soll ich jetzt tun?«, fragt Lambert. »Soll ich jetzt zwei Wochen abwarten und nichts tun?« Es ist eine ungünstige Tageszeit. Ich lege meine Stunden lieber in den Nachmittag oder in den Abend. Nur in Ausnahmefällen mache ich einen Termin am frühen Morgen. »Da können wir jetzt auch nichts mehr machen«, sage ich zu ihm. »Es hat keinen Sinn, wenn wir jetzt noch mit einem neuen Thema anfangen.« Kurz vor meiner Abfahrt, in der letzten Stunde fängt er damit an. Er erzählt mir von seinem Vater, dessen beruflichen Niedergang er mir immer wieder als Erklärungsmodell anbietet. Der eigentliche Grund für seine Stimmungsschwankungen, seine Insuffizienzgefühle, seine, wie er selbst sagt, »suizidalen Träume«. Und er will mir erzählen, was wirklich mit seinem Vater passiert ist. Ein Geheimnis, das eigentlich niemand erfahren darf. Ausgerechnet in der letzten Stunde, bevor ich nach New York fliege, behauptet er auf einmal, alles, was er mir bisher erzählt habe, sei falsch und würde nicht stimmen, es sei reine Erfindung und sei im Grunde der Versuch, seinen Vater, der als Berufspolitiker bis vor kurzem im Rampenlicht der Öffentlichkeit gestanden hat, vor mir zu schützen und ihn, wie er sagt, »in Sicherheit« zu bringen. Damit wäre es aber jetzt vorbei. Und von jetzt an würde er die Wahrheit sagen. Noch jetzt ärgere ich mich darüber, dass ich mit so einem schwierigen Klienten am frühen Morgen einen Termin mache. Ich bin nicht überrascht, dass die Geschichten, die er mir von seinem Vater erzählt, nicht stimmen oder zumindest nicht vollständig sind. »Wir können gerne über Ihren Vater sprechen«, sage ich, schon im Stehen, um ihm ein klares Zeichen zu geben. »Aber heute wird es nicht mehr gehen.« Ich schaue nach draußen auf den kleinen Innenhof. In den Räumen des medizinischen Fachbuchverlags geht das Licht an. Die Glastür zu der Metalltreppe, die zum Innenhof führt, steht offen. Manchmal sitzt dort auf dem obersten Treppenabsatz jemand und raucht oder schnappt ein bisschen frische Luft. Als hätten sich alle stillschweigend darauf geeinigt, wird der Innenhof aber so gut wie von niemandem betreten. Es gibt keine Pflanzen dort, keine Bäume, nichts, außer einem alten Klappstuhl, der direkt neben der Treppe steht. Ich suche nach einer Lösung, einem versöhnlichen Ausklang der Stunde, etwas, das ich Lambert mit auf den Weg geben kann. Die Bäume im Innenhof der Nationalbibliothek von Paris sind mit Stahlseilen am Boden festgemacht, und man kann um den Garten herumlaufen, aber betreten kann man ihn auch nicht. »Ja und?«, fragt Lambert, der immer noch auf seinem Stuhl sitzt und darauf wartet, wie ich auf seine Provokation reagiere. »Was passiert jetzt? Wollen Sie mich nicht rausschmeißen?« Er sagt, er würde nicht eher die Praxis verlassen, als bis ich ihn angehört habe. Ich bin in Gedanken in Paris. Die Bäume, die die Lesesäle leicht überragen, die sich schwankend bewegen, wenn man ihnen lange genug zuschaut und es ein windiger Tag ist. Ich schaue auf den Klappstuhl. Die Mitarbeiterin des medizinischen Fachbuchverlags hat ihn damals dort unten vergessen, und von den Verlagsräumen aus kann man ihn nicht sehen. Ein paar Mal habe ich schon daran gedacht, ob ich nicht jemand darauf aufmerksam machen soll, aber dann ist mir der Stuhl zu einem lieben Gegenstand geworden, den ich nicht missen möchte. Die Lackschicht auf der Sitzfläche des Klappstuhls ist schon abgeblättert, und die dünne blonde Frau mit den knochigen Beinen, die sich dort in den Schatten gesetzt hat, um zu lesen, sehe ich in meiner Erinnerung immer noch, wie sie das Buch sich ganz nah vors Gesicht hält. Sie hat den Klappstuhl einfach mit nach draußen genommen. Und jetzt, ein Jahr später, steht er immer noch da. Noch in New York, als ich morgens von der Party in Queens nach Hause zurückkehre und auf dem Bett sitzend meinen Computer anschalte, um kurze Zeit später Anne kennenzulernen, kommt mir alles wieder hoch, was Lambert zu mir gesagt hat, alles, was er mir in diesem wahnsinnigen Monolog entgegenschleudert. Nach der Dampferfahrt bin ich so erschöpft, dass ich den Schnauzbärtigen, der in Queens der Gastgeber ist, frage, ob ich mich nicht irgendwo hinlegen kann. Das garagenartige Schlafzimmer liegt in einem cremefarbenen, bleichen Schatten, als ich mitten in der Nacht wieder aufwache. »Wir haben jetzt noch fünf Minuten«, sage ich zu Lambert, während ich meinen Blick langsam von dem im Innenhof stehenden Klappstuhl die Metalltreppe hoch bis zu Glastür des medizinischen Fachbuchverlags wandern lasse. Die Tür ist geschlossen. »Vielleicht machen wir hier einfach einen Punkt.« Und dann bricht es auf einmal aus ihm heraus. Als würde nicht er sprechen, sondern irgendeine Instanz, irgendjemand, der sich seiner bemächtigt und ihn mit aller Kraft gegen mich in Stellung gebracht hat. Es ist genau das, was ich ihm später auch erkläre, als ich ihn zur Tür geleite und er mich fragt, ob ich jetzt »schockiert« sei.
Der Geruch von Vanille. Das ist der Geruch, den Lambert mit der Frau an der Trambahnhaltestelle assoziiert, von der er mir einmal erzählt hat. Der Geruch eines Menschen, mit dem er noch nie ein Wort gesprochen hat. »Ich weiß, warum seine Karriere kaputtgegangen ist«, sagt er. »Ich weiß es. Aber Sie wollen es ja nicht hören.« Eine Frau mit einer dünnen Aktentasche aus Wildleder auf dem Schoß, die neben mir im L-Train sitzt, riecht auch nach Vanille. Ein Kollege in meiner Supervisionsgruppe hat mir einmal erklärt, Frauen, die ein Parfum mit Vanilleextrakt benutzen, hätten bei Menschen, die als Kind nicht richtig gestillt wurden, besonderen Erfolg, da der Geruch von Vanille mit der Muttermilch assoziiert würde. »Welches Parfum benutzt ihre Mutter?«, könnte ich Lambert fragen, aber ich will ihn nicht unnötig provozieren. Die Gesichter der anderen Fahrgäste sind auf verdächtige Weise ausgeruht. Sie sehen aus, als gäbe es die Hitze gar nicht. Als gäbe es auch keine oberirdische Welt, sondern das hier unten sei unser natürlicher Lebensraum, in dem wir mit gleichmäßiger Geschwindigkeit unserem jeweiligen Ziel entgegenstreben. Die Frau mit der Wildledertasche könnte Anne sein. Im Profil hat sie große Ähnlichkeit mit ihr, obwohl ich mir Anne nicht in der U-Bahn vorstellen kann, schon gar nicht mit einer Wildledertasche auf dem Schoß, die Hände demütig über dem goldenen Verschluss ihrer Tasche zusammengefaltet. »Sind Sie gestillt worden als Kind?«, könnte ich Lambert fragen. Die Frau neben mir hat auffallend große Brüste. Es sind die Brüste, die Anne, die polnische Prostituierte, die ich im Internet kennenlerne, nicht hat. Die großen Brüste, die fehlen und die uns beinahe zum Verhängnis werden, in Greenpoint, einem Nachbarstadtteil von Williamsburg. Obwohl die letzte Stunde mit Lambert schwierig und in gewisser Weise deprimierend gewesen ist, empfinde ich sie doch als Fortschritt und habe das Gefühl, dass, nach all dem, was ich versucht und an Energie investiert habe, etwas in Bewegung geraten ist. Er wird es immer wieder versuchen. So wie die E-Mail, die er mir geschickt, oder den Zettel, den er mir auf den Schreibtisch gelegt hat. Immer dann, wenn ich das zulasse, wenn ich eine Grenzüberschreitung erlaube, begebe ich mich auf ein gefährliches Terrain und bringe auch ihn damit in Gefahr. »Thomas Kaszinski«, sagt er. »Ich habe Ihren Namen noch nie ausgesprochen, ich sage immer nur ›mein Therapeut‹ oder ›der Therapeut‹. Finden Sie das nicht komisch?« Ich lächele ihn an, ohne auch nur die geringste Ahnung zu haben, was als Nächstes kommt. Er richtet sich auf: »Soll ich Ihnen mal was sagen?« Er schaut mich herausfordernd an. »Aber es interessiert Sie ja sowieso nicht, was ich von Ihnen denke.«
Es ist am frühen Morgen, als ich das Hotel verlasse. Es ist am frühen Morgen, dass Lambert in meiner Praxis die Nerven verliert. Am frühen Morgen, als ich aus Queens zurückkomme und auf einmal eine sexuelle Phantasie habe, nachdem mich der Taxifahrer, den der Schnauzbärtige mit seinem elfenbeinfarbenen schnurlosen Telefon gerufen hat, vor der Haustür abgesetzt hat. Ich fahre nicht nach Washington. Ich bleibe zu Hause. Es ist sieben Uhr. Kurz nach acht, als Lambert in die Praxis kommt. Halb sieben in Baltimore. Sechs Uhr zwanzig, als ich an die Bar mit der Fransen-Stehlampe in der Grand Street denken muss. Es passiert immer morgens. Als würde der Übergang, der Wechsel von der Nacht in den Tag, nicht richtig funktionieren, als würde dabei etwas schiefgehen. Das Licht, in das man hineintritt wie in eine fremde Welt, die über Nacht eine andere Gestalt angenommen hat und jetzt in aller Härte und Klarheit erstrahlt. Das Licht des Morgens. »Ich bin nicht so sehr an Brüsten interessiert«, schreibe ich in meiner ersten E-Mail an Anne, »aber wenn sie wirklich so schön sind und deine Freundin sie so gerne berührt.« Ihre Freundin spricht kein Englisch, sie kann noch nicht mal bitte oder danke sagen. Vielleicht ein besonders perfider Versuch der Verführung. »Ist sie auch da?«, frage ich. Ich denke in diesem Moment nicht an Geld, nicht an die finanziellen Konsequenzen. Das Licht. Es kann ein hoher blauer Ton sein. Ein bleiches, graues Lauern. Bei meinem Spaziergang in Baltimore steigt es in meinem Rücken langsam hinter mir nach oben. Es steigt mit einer Geschwindigkeit, die man nicht sehen kann. »Wirklich?«, frage ich Anne. »Sie sind wirklich so groß? To be honest«, schreibe ich, »I am not into breasts.« Und »breasts« hört sich in diesem Moment etwas komisch an. Anne schreibt: »My girlfriend is into them.« »Ist sie da?«, schreibe ich im Laufe unseres mehrstündigen Gedankenaustauschs. Das Licht des Morgens. Das Licht der am offenen Herzen vorgenommenen Operation. Das Licht, das durch die Träume gewaschen, von der Schuld und den Versäumnissen der Nacht gereinigt worden ist. Es hat sich über Nacht nach oben gekämpft, und jetzt triumphiert es. Es tastet sich an den uringesprenkelten Häusersockeln hoch. Es ist gläsern und schon zersprungen. Es ist die scharfe Kante eines Gedankens, den man noch nicht gefasst hat. Es legt sich um mich wie ein Griff und zieht mich nach unten. Zwei Stunden später, als ich in Greenpoint ankomme, einem Stadtteil, der direkt neben Williamsburg liegt, als ich den unbeholfenen Verführungskünsten von Anne erliege und ihr Angebot annehme, ist das Licht schon nicht mehr so intensiv. Es ist nicht mehr das Licht von Queens, nicht mehr das Licht von New York, es ist das Licht aus meiner Kindheit. Es ist das Licht, mit dem ich geblendet worden bin.