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Das Treffen mit Jenny ist von langer Hand vorbereitet. Ich habe schon ein paar Mal mit ihr telefoniert. »Wenn ich kommen soll, dann kostet es 300. Und ohne Voranmeldung 350«, sagt sie am Telefon. »Ich habe keinen Wagen«, sage ich, »ich überlege, ob ich mit dem Taxi fahren soll.« »Fahr nicht mit dem Taxi«, sagt sie. »Ich will das nicht. Du findest mich sowieso nicht.« Unser erster Kontakt liegt fast ein Jahr zurück. Sie will, dass ich mich schon ins Bett lege, wenn sie kommt, aber darauf gehe ich natürlich nicht ein. Es ist der Versuch, die Zeit, die wir zusammen verbringen, auf ein Minimum zu beschränken. »Ich möchte, dass du ganz normal angezogen bist«, erkläre ich ihr. »Meinetwegen wie eine Studentin, verstehst du? Was für einen Wagen fährst du?« Sie parkt ihren Wagen wie vereinbart nicht vor dem Haus, sondern einen Block weiter. Ich bin überrascht, sie ist schöner und charmanter, als ich gedacht habe. Sie arbeitet als Personalmanagerin, sagt sie. Obwohl sie vorher um jede Minute gefeilscht und mir abwechselnd vorgeschlagen hat, ich solle die Tür auflassen oder mich wenigstens schon mal ausziehen, lässt sie sich jetzt ohne weiteres durchs Haus führen. Als wäre ich ein Immobilienmakler und sie eine vermögende Kundin. Sie selbst findet diese Umkehrung unserer Rollen amüsant. Ich habe bestimmte Vorstellungen und Erwartungen an unser Treffen, aber sie kommt dann über eine Stunde zu spät, und auf einmal erweist sich meine ursprüngliche Choreographie, die in dem am weitesten vom Eingang entfernten Dachzimmer beginnt, als zu gefährlich. Es gibt keinen Plan B. Wie ließe sich die Anwesenheit einer tätowierten und gepiercten Iranerin schon erklären? »Verlang nicht von mir, dass ich schauspiele. Das kann ich nicht.« »Das würde ich auch gar nicht wollen«, sage ich. Wir gehen im ersten Stock von Zimmer zu Zimmer. Für einen Augenblick überlege ich, ob das Badezimmer nicht der sicherste Ort ist. Das Badezimmer von Betty und Aaron. Auf dem hellen Velourteppich der Dachetage heben sich ihre dunklen, bronzefarbenen Füße ab. Sie hat ihre Schuhe auf der Veranda stehen gelassen. Und ich mache mir in Gedanken eine Notiz: Schuhe auf der Veranda nicht vergessen! Sie hat auffallend schöne Füße. An jedem der mittleren Zehen sind silberne Zehenringe. Ich schaue auf den grünen Velourteppich und denke, sie geht auf Händen. Einmal bleibe ich vor ihr stehen und denke: Ich könnte mich dafür bestrafen, dass ich sie hergeholt habe, indem ich sie frage, ob ich ihr die Füße küssen darf. Aber dann habe ich dazu auf einmal keine Lust mehr.
Das ist der Augenblick, den man erkennen muss. Die letzte Chance, ein Moment, in dem man gegen alle inneren Widerstände und vor allem gegen jede Vernunft beherzt und entschlossen handeln muss. Ich gehe mit ihr durchs Haus. Es ist von außen vollständig weiß lackiert. Unter der modernen Holzverkleidung soll sich angeblich eine Arts-and-Crafts-Fassade befinden, wie Aaron behauptet. »Nein, nicht im Bad«, sagt sie. Wir gehen nach unten, stehen eine Weile auf der rückwärtigen Terrasse und blicken in den Garten. Gibt es eine Verabredung zwischen Judith und mir, dass so etwas nicht passiert? Haben wir jemals darüber gesprochen? »Meine Sünden … Aber davon will ich gar nicht erst anfangen«, hätte ich sagen können. Mein Gelübde, meinen Schwur, den ich gebrochen habe. Im Fulton Park, zwischen den Brücken, die nach Manhattan führen, auf einer Parkbank, stehe ich kurz davor, ihr von alledem zu erzählen. Ob ich mir einen letzten Trumpf aufbewahren will? Die Räume im Haus sind überall mit Teppichen, Kissen und Sitzgelegenheiten ausstaffiert. Unsere Schritte sind gedämpft. Das ganze Haus erscheint mir im Nachhinein wie ein therapeutisches Zentrum, in dem normalerweise Tagungen und Fortbildungen stattfinden, in einem kleinen Kreis für Interessierte. Meine Anwesenheit dort, die zwei Nächte, die Judith und ich vor und nach unserer Reise auf dem Schlafsacklager verbringen, sind ein sanfter unmelodischer Missklang. Das Haus organisiert sich in meiner Erinnerung um einen kleinen, relativ düsteren Raum herum, in dem Betty und ihr Freund vor dem riesigen Fernseher sitzen und ihre DVD-Sammlung durcharbeiten, die sie hüten wie eine unüberschaubare Kinderschar, von der sie alle Kinder gleichermaßen lieben. »›Brazil‹ haben wir elf Mal gesehen, oder?«, fragt Aaron Betty, als ich wissen will, warum sie sich den Film schon am frühen Morgen anschauen. »Das macht einfach Spaß, das beruhigt, wenn so was im Hintergrund läuft«, sagt Betty mit ihrer leicht apathischen Stimme, zu der es passt, dass sie sich in ihrer Wohnung kaum noch bewegt. Die Erziehungsberatungsstelle, in der sie arbeitet, liegt irgendwo am Stadtrand, ein neues Programm nach Carolyn Webster-Stratton wird gerade implementiert, und mal ist Betty den ganzen Tag zu Hause, und mal kommt sie schon am frühen Nachmittag zurück. Sie hat die Fähigkeit, ihre kleinen Schwächen mit einer gewissen Würde einfach zuzulassen, sodass selbst ein großes Fastfood-Gelage bei ihr zu Hause bei niemandem ein schlechtes Gewissen auslöst. Ihre Gelassenheit ist zweifellos eine Form der Weisheit, und mittlerweile kann ich es verstehen, dass Judith sie ihren eigenen Eltern vorzieht. Die Iranerin findet den Raum mit dem Flachbildschirm klaustrophobisch. Es erregt mich auf einmal, dass sie diesen Ausdruck benutzt. Es erscheint mir untypisch für eine Personalmanagerin, aber ich will nicht weiter nachfragen, weil ich vor unserer sexuellen Begegnung nicht zu viel über sie wissen will. Meine ursprüngliche Idee, sie in diesem Raum beim Sex zu filmen und das Filmmaterial dann mit ihr, während wir weiterhin Sex haben, gemeinsam anzuschauen, erweist sich als zu kompliziert. »Komm, wir ziehen uns einfach aus«, sagt sie. Ich schüttele den Kopf und schaue auf den Fernseher. Frühmorgens um halb sieben. Obstsalat und Brazil. Steckt ein Geheimnis dahinter? Gibt es einen Übergang? Eine Stelle im Haus, die nach München führt? Eine Schleuse? Vom Fernseher in Primm und der verschlossenen Fahrstuhltür zu dem velourteppichbedeckten Holzfußboden in San Diego weiter bis zur Treppe aus Marmor in München, die zu der mit einem Metallgitter geschützten Glastür unserer Gästewohnung führt?
In plötzlicher Panik schießen mir mehrere Alternativpläne durch den Kopf: Wir fahren in ihrem Auto irgendwohin. Wir verlassen das Haus und laufen irgendwohin. Schließlich kommen wir in das Zimmer, in dem ich mit Judith schlafe. Es gibt kein Bett, keinen Stuhl, nur ein winziges Waschbecken und einen kleinen fleckigen Spiegel. Es ist undenkbar, dass das hier geht. »Im Stehen«, sagt die Iranerin und schaut mich verführerisch an. Sie hofft auf eine schnelle Lösung, etwas, das wir im Vorübergehen erledigen können. »Ich möchte, dass du dich ausziehst, aber lass den Schmuck an«, erkläre ich. Sie ist schon mehr oder weniger nackt, als wir das Zimmer erreichen. Das, was ich im Zimmer sehe, was mich dort erwartet, ist der eigentliche Schock, das eigentliche Motiv, der eigentliche Erinnerungsbrandfleck. Ich könnte hundertmal in der Wüste kauern und vor den Augen von Betty und ihrem Freund verbrennen, dieses Erlebnis lässt sich damit nicht aus der Welt schaffen. Der Körper der Iranerin ist sehr schön. Sie läuft durch das ganze Haus. Ich würde sie am liebsten immer so herumlaufen lassen und zuschauen, wie sie sich bewegt. »Das ist der Unterschied«, sagt Mads Christiansen bei einer seiner wissenschaftlichen Monologe, mit deren Hilfe er seine neuen Ideen an mir ausprobiert. Als er an seinem Buch über Evolutionsmanagement schreibt, erzählt er mir ständig von faszinierenden Phänomenen aus der Tierwelt, von der Intelligenz von Fischschwärmen zum Beispiel, bei der die kognitiven Fähigkeiten in die Gesamtheit des Systems schon integriert sind, sodass der ganze Schwarm sich wie ein Individuum verhält. In seinem neuen Buch, dessen Thema er mir aber nicht verrät, muss es um Sexualität gehen. Er sagt: »Zwischen Askese und Promiskuität gibt es keinen Unterschied, jedenfalls keinen qualitativen. Bei beiden geht es um dasselbe: Wiederholung, Apathie, Leidenschaft. So gesehen macht es keinen Unterschied, ob man Asket oder Orgiastiker ist.« »Wenn du dich hier hinknien könntest«, sage ich zu der Iranerin. Wir stehen im Wohnzimmer vor dem Fenster.
Der Shuttle hält vor Terminal 4. Ich muss aussteigen. Schaffe ich es noch? Ich muss mich zusammenreißen. Jede Sekunde zählt. Ich spüre die Trageriemen der Taschen, die in meine Handinnenflächen und in meine Schultern schneiden. Das kleine Zimmer, in dem die Wäsche zum Trocknen aufgehängt wird und in dem Judith und ich die Nacht verbringen. Ich sehe diesen Raum jetzt vor mir. Ich habe die Tür nur einen Spaltbreit geöffnet. »Es gibt noch nicht mal ein Bett in diesem Zimmer«, sage ich zu der Iranerin, die mir über die Schulter schaut. Ich stehe vor dem sorgsam ausgebreiteten Schlafsack, dessen Reißverschlussnaht aufgetrennt ist und den Judith und ich uns als Schlafunterlage teilen. Und dann sehe ich es: Ein aus Geldstücken gebildetes Herz. Ein Kunstwerk. Ein riesiges Herz aus Geld, aus unzähligen kleinen Münzen. Unser gesamtes Kleingeld, das sich während der Reise angesammelt hat und sich jetzt mit den deutschen Münzen vermischt. Judith hat am Morgen, bevor sie das Haus verlassen und das Zimmer aufgeräumt hat, dieses Kunstwerk, eine Liebeserklärung aus Münzen, für mich geschaffen, in ihrer gewohnt akribischen Art, mit der sie auch ihre Listen führt und die Umzugskartons beschriftet. Das Herz liegt auf dem Schlafsack, es ist fast einen Meter groß. Das nachmittägliche Sonnenlicht fällt auf die linke geschwungene metallene Hälfte und lässt die Münzen im Licht erstrahlen. Ich schrecke zurück.
Mit einem einzigen Ruck, indem ich ihn am unteren Ende packe, ziehe ich den Schlafsack vom Bett und schließe sofort die Tür. »Nein«, sage ich zu der Iranerin, als wir wieder im Wohnzimmer sind. »Mit dem Rücken zum Fenster, ich muss die Straße sehen.« Sie geht mit einer feierlichen Abwärtsbewegung in die Knie und kommt mit halb geöffnetem Mund auf mich zu. Ich starre aus dem Fenster. »Warte«, sage ich. Ich überlege, ob ich die Tür abschließen soll, aber es gibt keinen Schlüssel. »Bleib so«, sage ich, »beweg dich nicht von der Stelle.« »So?« Sie legt ihre Hände auf ihre gebräunten haarlosen Schenkel und schaut mich an. Es ist ein Blick, der mich 350 Dollar kostet, ein 350-Dollar-Blick. Wie viel kostet das Lächeln von Judith? Das Lächeln in der Gästewohnung an dem Morgen, nachdem Mads Christiansen abgereist ist. Als ich aus irgendwelchen Gründen erst später in die Praxis gehe. Sie nähert sich mir. Ihr Lächeln ist eine Waffe, mit der sie sich selbst verletzt. Ich halte das Bettlaken, auf dem Mads Christiansen geschlafen hat, in der Hand, und Judith kommt auf mich zu. Ich stehe vor ihr, starre wie gelähmt auf ihren Mund und ihr Lächeln, mit dem sie sich tief in ihr eigenes Gesicht hineinschneidet. Warum, um Gottes willen will sie ausgerechnet an diesem Morgen Sex? In dem Moment, als ich das Bett abziehe und noch nicht mal die Fenster geöffnet habe. Es ist ein regnerischer Tag und dunkel in der Gästewohnung. Sie schmiegt sich an mich. Bittet sie mich um Hilfe? »Kannst du die Fenster aufmachen?«, sage ich noch, während ich mit einem leichten Räuspern den Raum verlasse. Ich gehe einfach, ich lasse sie einfach stehen. »Es ist so stickig hier unten«, sage ich. Sie trägt einen alten verwaschenen Schlafanzug und hat noch nicht einmal Strümpfe an. Ich höre später ihre Schritte, als ich die Wohnung verlasse, um zur Praxis zu fahren. Die Schritte ihrer nackten Füße auf dem kalten Marmor der Treppe, während ich noch überlege, ob ich nicht schnell die Tür zuziehen soll. Ihre Schritte sind das Angebot, ihre vorsichtige Bitte, ob wir an diesem Morgen nicht vielleicht miteinander schlafen könnten. Aber ich verlasse den Raum. Ich gehe einfach zurück in unsere Wohnung. »Einen Moment«, sagt der Mann in dem Nadelstreifenanzug, der im Zug neben mir steht, während er sein Telefon ans Ohr hält. Wir stoßen kurz zusammen, als ich mich umdrehe, um meine Taschen hochzuheben.
Terminal 4 des John-F.-Kennedy-Flughafens liegt direkt neben Terminal 5. Das berühmte Terminal 5, das stillgelegt ist und renoviert wird. Das Licht bricht aus meiner Erinnerung hervor, das Licht, das die Iranerin in ihren Augen trägt, aber in ihrem Körper verbirgt. Mit ihren Händen darf sie überhaupt nichts mehr machen. Ihre Hände ruhen. Diese schmalen zuvorkommenden Hände, denke ich, die sie hinter dem Rücken hält. Das Licht in ihren Augen ist nicht das Licht ihres haarlosen Körpers, an dem sie die Prozeduren der Glättung und des Verschwindens perfektioniert hat. Ohne jede Anstrengung, ohne Kampf ist sie von innen her erleuchtet. Im Grunde ist sie, die in physischer Hinsicht Gabriela ähnelt, eine Schwester von Gabriela. Ihre Körper sind zusammengebundene Blüten. Blumen ihres Fleisches, zusammengehalten von ihren Füßen und Händen, mit denen sie alles Mögliche nicht tun. Ich berühre sie nicht, ich selbst tue nichts. Ich schreibe später am Abend, nachdem ich mit Judith das Restaurant verlassen und unsere Versöhnung gefeiert habe, in mein Notizbuch, als spräche ich ein Geständnis aus: Das ganze Universum vibrierte. Und wenn ich ihren Körper, ihre Arme und ihre Schenkel, wenn ich alles, eins nach dem anderen, zu betrachten versuche, finde ich doch immer nur wieder ein Detail, eine Stelle, die ich vorher noch nicht gesehen habe. So wie ich bei Gabriela einmal die Hautpartie links von ihrer Nase, einen Fingerbreit von ihrer Oberlippe entfernt, auf so berauschende Weise schön finde, dass sich an dieser Stelle, an diesem kleinen Fleckchen Haut augenblicklich der Wunsch entzündet, noch im selben Moment mit ihr ein Kind zu zeugen. In diesem Niemandsland zwischen Nase, Lippen und Augen. Wir vergessen Jennys Kleider. Sie liegen auf der nach oben führenden Wendeltreppe, die zu den persönlichen Räumen von Betty und Aaron führt. Die Strumpfhose liegt auf dem Geländer, und die anderen Sachen liegen zusammengefaltet daneben. Jedes Mal, wenn ich eine besonders schöne Stelle ihres Körpers sehe und zu erfassen versuche, erhebt sie sich, weitet sie sich aus und ist nur noch ein Teil, eine Schönheit nur für sich. Ihr Körper löst sich in Teilund Sonderschönheiten auf, die mir die eigentliche verhüllt, während ich sie umso mehr spüre, erahne und sie mich fast ganz ins Licht hineintaumeln lässt. Ich schreibe in mein Notizbuch: Die Linien ihres Körpers sind die Wege zu der Schönheit von Gabriela und der Liebe zu Judith. Solche Notizen fertige ich an diesem Abend in San Diego an, während Judith schon schläft. Ich sitze auf einem Sessel im Wohnzimmer nicht unweit der Stelle, wo die Iranerin gekniet hat. »Denk daran, Schatz. Wir haben eine halbe Stunde ausgemacht«, sagt sie.