4

Sie hebt den Kopf. Schönheit fällt von ihren Augen auf ihr Haar, das ihre Wangen umspielt. Sie hält ihre Brüste fest, die, wie sie sagt, »neu« sind. Ich bin fast einen Meter von ihrem Gesicht entfernt. Das Funkeln, das Strahlen ihrer Schönheit ist so vollkommen, so ergreifend und allumfassend, dass ich davon erfasst und von dieser einzigen Geste des Erblühens und Erstrahlens mitgerissen werde. Jedenfalls später, als wir den Ort wechseln und doch wieder nach oben gehen. Es war, als ob eine milchige Klarheit das Universum von innen erleuchtete. Alles schien aus ein und derselben Art durchscheinenden Fleisches geformt zu sein. Trotzdem fällt in diesem Moment alles von ihr ab, und es ist nicht mehr die Hand, die ihre Brust hält, es ist etwas anderes. Viertausend Dollar, die sie zusammengespart hat. »Du darfst nicht reinbeißen«, sagt sie in einem Ton, in dem sich Stolz, Angst und Fürsorge mischen. Sie sagt tatsächlich: »Sie sind noch neu.« Dabei ist die eine von ihnen empfindlicher als die andere, muss schonender behandelt werden, da sie, wie sie sagt, in ihr noch gar nichts spürt, sie noch fast taub ist. Später, als wir in Bettys Schlafzimmer sind und ich das Risiko erhöhe und sich das Tor zum Untergang weit öffnet, ihre dunklen, rasierten Schamlippen darauf warten, dass das Unglück vorbeikommt, wird sie auf einmal ganz sanft. »Vorsichtig«, flüstert sie, als wir in Bettys Schlafzimmer sind. Als hätte sie die Brüste für mich gemacht. »Die schönste Frau von San Diego.« Es fällt mir leicht, sie mit Komplimenten zu überhäufen, so wie ich damals Gabriela überhäuft habe, sodass Gabriela unter diesen auf sie einstürmenden Beschwörungen fast taumelt. Im Spiegel über Bettys Kommode sieht sie sich selbst dabei zu, die Hände auf die Brüste gepresst. Sie muss sie festhalten, weil sie tatsächlich fürchtet, das Bewegen der Brüste würde ihr Schmerzen verursachen. »Wie willst du das in einer halben Stunde schaffen?«, fragt sie. Gabriela sagt für gewöhnlich: »Du musst aufhören. Hör auf«, während sie im Grunde meint: »Mach weiter.« Vor dem Spiegel kniend, die Hand vor den Brüsten, wartet sie darauf, dass die Zeit abläuft. Der Verkehr auf der Straße ist minimal. Eine Weile fährt überhaupt kein Wagen vorbei. Sollten Judith und Betty jetzt zurückkommen, würde sich alle zurückgehaltene Lust gegen sie wenden, gegen Judith gleichermaßen wie gegen ihre Tante. Ich erinnere mich, wie ich einmal in München, an Judiths Geburtstag, den wir ganz alleine zu Hause feiern wollen, noch am frühen Abend nach Giesing in die Untere Weidenstraße fahre, um eine Stunde vor dem Haus Nummer 14 darauf zu warten, dass einer der Stammkunden das Haus verlässt, um mein inneres Gleichgewicht wiederzufinden. Es reichen zehn Minuten und 90 Euro. Es ist ein Kinderspiel, und auch Judith muss denken, ich sei wie durch ein Wunder von einer Trauer und Leere geheilt, die mich den ganzen Vormittag erfasst hat. Es ist die geheimnisvolle Kraft einer Maschinerie, die dafür verantwortlich ist und die meine Schuldgefühle in wahre Gefühle verwandelt, sodass ich schließlich zu Judith zurückkehren kann.


Fliege ich wirklich mit Delta? Oder ist es nicht doch KLM? Vielleicht bin ich auf dem Hinflug mit Delta geflogen und fliege auf dem Rückflug mit KLM. Vor mir bleibt eine Gruppe Reisender stehen und versperrt mir mit ihren Rollkoffern den Weg. Erkenne ich es jetzt? Verstehe ich jetzt, was passiert ist? Ich schaue auf mein Ticket. Goddess @sugargirls.com. Die E-Mail-Adresse der Iranerin. Ihren Nachnamen will sie mir nicht verraten. Goddess. Ich schreibe ihr ein paar Tage später, in einem Anfall von Sentimentalität und aus Dankbarkeit für die Nacht, an der sie dann gar nicht mehr beteiligt ist, die Judith und ich auf unserem Schlafsacklager zusammen verbringen. Wir schlafen miteinander, vorsichtig und unsicher, vielleicht weil wir beide betrunken sind. Ich bleibe stehen, ich schaue auf mein Ticket: KLM. Ich fliege mit KLM. In diesen Momenten erkenne ich endlich die Bedeutung meiner Liebe zu Judith. Die ganze Reise über scheint sie kaum noch greifbar zu sein. Die Iranerin nimmt ihren Kleiderstapel und geht nach oben. Der Ortswechsel ist unumgänglich, und ich bin mir im Nachhinein selbst dankbar für meine Kaltblütigkeit. »Ich muss sie festhalten«, sagt sie, »sonst tun sie weh. Beeilst du dich?« Es dauert länger, als ich gedacht habe. Die Angst vor der Entdeckung verbindet sich mit ihrer Ungeduld und meiner Sorge, sie würde unsere Situation noch zusätzlich verkomplizieren, indem sie den Preis plötzlich erhöht. Sie rückt etwas vor, verschiebt den muffig riechenden Schlafsack, den ich von unten mitgenommen und in aller Eile über das Bett von Betty ausgebreitet habe. Die Münzen, die 5, 10, 20 und 50 Cent-Münzen, die Dimes und Quarters des gebrochenen Herzens verteilen sich im ganzen Haus. Die Iranerin quietscht vor Lachen. »Soll ich mir das irgendwo hinstecken?«, fragt sie. Ich schüttele den Kopf, als sie sich nach einem 20-Cent-Stück bückt, auf dessen Rückseite das Brandenburger Tor abgebildet ist. »Was ist denn das? Ein Tempel? Die Akropolis?« Ich geleite sie nach oben. Schon unterwegs lege ich mir eine Geschichte zurecht, wie ich versucht habe, das Herz aus unserem Schlafzimmer in das hellere Wohnzimmer zu tragen, um es dort zu fotografieren. »Aber du hast doch gar keine Kamera«, sagt Judith später, die furchtbar gerührt ist von diesem Versuch, ihre kleine Liebeserklärung zu dokumentieren. Es ist schließlich Aaron, der überall im Haus Geldmünzen findet. »Oben«, sagt er, am Tag unserer Abreise, aber da ist Judith zum Glück nicht mit im Raum, »habe ich auch eine gefunden. In Bettys Zimmer. Komisch was?« »In Bettys Zimmer?«, frage ich erstaunt und schaue Aaron entgeistert an.


»Stimmt etwas nicht?«, fragt die Iranerin, als ich innehalte und sie im Spiegel anschaue. Ich überlege, ob ich sie bitten soll, dass sie sich umdreht. Wir haben nicht mehr viel Zeit. Ich habe das Fenster geöffnet, um die Geräusche von der Straße hören zu können. Ein sich langsam näherndes Fahrzeug, das abbremst, zum Stillstand kommt und dann einen Augenblick lähmende und erschütternde Stille verbreitet, in der ich die erstaunlich schmalen Hüften der Iranerin festhalte, während sie ihrerseits ihre Brüste festhält und im Spiegel nach meinem Gesicht sucht. »Ist was?« Sie möchte sich am Ende sogar noch ein bisschen unterhalten, obwohl sie vorher so gedrängelt hat. Sie arbeitet tatsächlich als Personalmanagerin, und ich kann nicht in Erfahrung bringen, ob das eine Schutzbehauptung ist oder ob sie sich wirklich einfach nur noch etwas dazuverdienen will. Sie ist auch Zahnarzthelferin, und sie sagt, sie überlege, ob sie sich noch einen dritten Job suchen soll. »Wie alt ist denn dein Auto?«, frage ich sie, als sie sich darüber beklagt, dass ihr Auto so hässlich ist und dass sie sich mittlerweile schon schämt, wenn sie irgendwo an der Ampel steht. »Ja, das würdest du wohl gerne wissen«, antwortet sie, während sie ihre Schuhe anzieht. »Aber das verrate ich nicht.« In diesem Moment bedauere ich, dass sie die Schuhe nicht auch im Bett angehabt hat. Ihre rissigen, fast elefantenartigen Fersen irritieren mich für einen Moment. Sie sagt, sie läuft immer barfuß. Ich schaue auf die beiden Palmen auf ihrem Rücken, während sie in den Spiegel schaut. Sich an ihren Brüsten festklammernd, die eine Hand auf dem Bett, die andere an ihrer Brust, stöhnt sie auf einmal. »Sei still«, sage ich. Ich sage es weniger aus Angst, dass es irgendjemand in der Nachbarschaft hört, sondern weil ich fürchte, es könnte eine Lüge sein. Etwas, das ich an diesem Tag vermeiden will. »Für wen sind denn die Pralinen?«, fragt sie, während sie mich küsst. Eine Schachtel mit belgischen Pralinen liegt auf einem kleinen Tischchen neben der Tür. Die ganze Zeit küssen wir uns, und ich frage mich, warum sie das macht oder ob das für sie ein selbstverständlicher Teil ihres Services ist. »Für meine Tante«, sage ich, »aber die ist blind.« Ich grinse sie an. Sie nickt, während sie sich ein letztes Mal an mich schmiegt und ihre halb geöffneten Lippen gegen mich presst. Sie grinst, ist merklich geschmeichelt. Die schönste Frau von San Diego. Später verlasse ich das Haus nochmal, um mit dem Taxi zum Supermarkt zu fahren und noch mehr Blumen zu kaufen. Die Gefühle der Schuld, die Gefühle der Düsternis, der Scham und Erschütterung finden keinen Ort, finden keinen Raum, sich auszubreiten. Schon auf dem Weg zum Supermarkt spüre ich auf einmal einen unglaublichen Sog, als würde ich zusammen mit dem Taxi und dem Taxifahrer ins Meer hineingezogen, das für eine Sekunde, als wir ein Stück bergab fahren, zwischen zwei Häuserreihen als schmaler dunkelblauer Streifen auftaucht. Als würde ich in dieses glitzernde Blau eingesogen werden. Ein Sog, der nichts anderes ist als das Gefühl der Sehnsucht, das sich auch nicht bannen lässt, als ich hundert Dollar für Blumen und andere Geschenke ausgebe. Das Licht strömt von der Küste auf mich ein. Das kalifornische Licht. Ein fernes unsichtbares Feuer, das mit aller Kraft hinter der nächsten Biegung brennt und ohne auch nur die geringsten Rauchspuren zu hinterlassen in den Himmel hineinfeuert. Muss ich in so einem Moment souverän erscheinen? So tun, als ginge mich das alles nichts an? Wo ist der Schalter von KLM? Warum laufe ich nicht? Ich gehe zügig, aber nicht schnell. Den ganzen Tag in San Diego. Den ganzen Tag im Licht dieser plötzlich so harmonisch ausklingenden Reise. Aber ist das die Wahrheit? Die Wahrheit dieser Reise? Ist das alles, was unsere Beziehung zu bieten hat? Wer von uns beiden hat bei alledem etwas übersehen, etwas falsch eingeschätzt? Auf dem Weg zum John-F.-Kennedy-Flughafen. Zum Port Authority Bus Terminal. Auf der Bank im Fulton Park, zwischen den Brücken, die Brooklyn und Manhattan miteinander verbinden. Ist das der entscheidende Moment? Ich schaue mich um. Der Mann im Anzug, der im Shuttle telefoniert hat, geht in meine Richtung. Das Jackett locker über die Schulter geworfen, spricht er weiter ins Telefon. Sein Gesicht ist schneeweiß, und sein Haaransatz ist wie mit dem Lineal gezogen. Wer von uns hat den entscheidenden Fehler gemacht, die Lage falsch eingeschätzt? »Ich möchte, dass du den Mund aufmachst. Komm«, sage ich zu der Iranerin. »Ja. Noch weiter … « Ich schaue aus dem Fenster. Aber es geht so nicht. Wir müssen den Ort wechseln. Wo hast du zum ersten Mal das Nachlassen der Liebe gespürt, schreibe ich in mein Notizbuch, noch in der U-Bahn, auf dem Weg zum John-F.-Kennedy-Flughafen. Auf dem Weg zum Terminal 4. Hat nicht in Wirklichkeit alles ganz woanders angefangen? An einem ganz anderen Ort. Zu einem ganz anderen Zeitpunkt? Die Sonne, das Licht erhebt sich. Es kommt vom Meer. Das Gesicht hält das Licht auf, verdeckt es, dann kommt es wieder frei. Der Taxifahrer lehnt sich zurück. Der Wagen rollt weiter, und das Licht strömt in ihn hinein. Ich sitze auf der Rückbank. Ich halte die Blumen und die Geschenke im Arm. Ich blinzele, halb geblendet, halb erschöpft vor Glück.

Lichtjahre entfernt: Roman
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