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Zu diesem Zeitpunkt bleibt uns noch eine halbe Stunde. Das Geschenk ist in meiner MRI-Konferenz-Tasche, die eigentlich Mads Christiansen gehört und die ich die ganze Zeit mit mir herumtrage. Die Aufschrift ist schon etwas verblasst. Mental Research Institute. Mads Christiansen hat drei Jahre dort studiert. Zusammen mit dem Reiseführer und meinem Notizbuch trage ich noch eine dünne Wolljacke in der Tasche, falls es in den klimatisierten Räumen zu kalt wird. Aber den ganzen Tag haben wir keine klimatisierten Räume erreicht. Die Bank im Fulton Park liegt immerhin im Schatten. Vielleicht ist das Ausdruck meines gestörten Verhältnisses zu meinem Beruf, dass ich es nicht schaffe, mit ihr zusammen zu sein und unsere bedrohliche Sprachlosigkeit zu durchbrechen. Im Kontakt zu meinen Klienten ist mein Schweigen kraftvoll, im Beisein von Judith ist es tatsächlich nur Stille und Sprachlosigkeit. Und dass ich dann denke, wir könnten sie spazierengehenderweise überwinden. Bei der Besichtigung der auch für Judith noch unbekannten und geheimnisvollen Stadtteile Williamsburg und Brooklyn Heights. »Es ist doch gut, wenn wir hierbleiben«, sagt sie, als wir in einem Café in der Bedford Avenue sitzen und frühstücken. »Wir müssen nicht alles anschauen, nur weil wir es uns vorgenommen haben.« Das ist ihr besonderes Talent. Ihre Anpassungsfähigkeit, von der ich aber glaube, sie wendet sie nur auf mich an, während ihr eigenes Leben einem genau festgelegten Plan folgt. Und dann bin ich ihr auch noch behilflich, die U-Bahn-Station zu finden, als läge es in meinem Interesse, dass sie die Stadt so schnell wie möglich verlässt. Sie hustet und bleibt stehen. Nicht weit vom jüdischen Viertel, in der Nähe der Division Street. »Wusstest du eigentlich, dass ich jüdische Vorfahren habe?«, überlege ich zu sagen, aber ich fürchte, sie würde die sich anschließende Geschichte nicht hören wollen und nur matt und uninspiriert »ja?« fragen. Es ist alles nicht richtig vorbereitet. Es ist ein Spaziergang, den ich selbst ein paar Tage zuvor gemacht habe, aber zu einer Tageszeit, als es noch angenehm kühl ist. Sie will nicht nach New York, sie will lieber in Washington bleiben. »Du kannst doch auch kommen«, sagt sie am Telefon, als ich sie einmal in der Mittagspause in Washington anrufe. Abends arbeitet sie im Afterwords-Café neben der Buchhandlung Kramer, in der Nähe des Dupont-Circles. Ihre Freundin Kyra kennt den Besitzer und hat ihr den Job besorgt. Manchmal geht sie, wenn sie mit der Arbeit im Robert-Kennedy-Institut fertig ist, direkt rüber ins Café. Sie trägt diese dunkelblaue Schürze mit einer Gedichtzeile aus Howl, weil die Geschäftsleitung ihren Gästen den Eindruck vermitteln will, auch die Leute, die im Afterwords-Café arbeiten, lieben die Literatur. Als ich sie das erste Mal in Washington besuche, muss ich dort eine Stunde auf sie warten und zuschauen, wie sie in dem halbleeren Café die Tische sauberwischt. Am Ende ist es doch Wut und keine Trauer, dass sie kaum noch etwas sagt. Sie will spazieren gehen, nicht laufen. Soll ich sie bewundern? Dafür, dass sie in einem halbleeren Café die Tische sauberwischt? Wieder einmal frage ich mich, ob man an einem Asthma-Anfall so ohne weiteres sterben kann. Ihre Gesichtszüge verzerren sich. Ihre ganze Wut oder ihre Trauer ist in diesem Moment in ihre verstopften, verklebten Lungenflügel hineingeflohen. Noch in der Schlange vor dem Port Authority Bus Terminal, kurz bevor wir uns verabschieden, überlege ich, ob ich ihr nicht doch von unserer Katze erzählen soll, obwohl ich sie eigentlich damit verschonen wollte. »Ich vermisse sie so sehr«, sagt sie am Telefon, aber in New York hat sie nicht ein einziges Mal nach ihr gefragt. Wut oder Trauer. Diese beiden Gefühle sind bei ihr schwer auseinanderzuhalten. Ihre Trauer sickert in ihre Lungen hinein. Die Schwingungsfrequenz ihrer Lunge nimmt die Frequenz ihrer Trauer an, die in Wirklichkeit vielleicht Wut ist. Ihre Trauer, unsere Trauer oder meine Trauer verlangsamt sich, die Schwingungsfrequenz verlangsamt sich, und die Trauer senkt sich in ihre Lunge hinein, beinahe schon am Ende der Bedford Avenue, als wir entscheiden, doch die U-Bahn zu nehmen. In diesem Moment ist es zu spät. Sie atmet kaum noch, sie schaut mich mit einem verzerrten Gesichtsausdruck an. Das ist unsere gescheiterte Trauerarbeit. »Wollen wir die U-Bahn nehmen?«, frage ich. Es ist ein großer Umweg, und wir gewinnen kaum Zeit. Sie sagt nichts. Sie schaut mich nur an. »Sollen wir?«, frage ich. Die Trauer ist in ihr angekommen, versteckt sich in ihr, oder sollte ich nicht besser sagen: Entzieht uns das letzte bisschen Atemluft, das letzte bisschen Freiheit, das wir noch haben. »Ich kenne da einen kleinen Park, direkt am Wasser. Da kannst du die beiden Brücken sehen. Willst du da hin? Wir fahren mit der U-Bahn.« Ich sehe mich nach einem Taxi um, obwohl ich sie vorher noch darüber belehrt habe, wie teuer Taxifahren hier ist. »Es ist ein schöner Park, er wird dir bestimmt gefallen … Aber wir können natürlich auch zu Fuß gehen.« Als würde ich mich hier auskennen, als hätte ich irgendeine Ahnung von New York. Nach zehn Tagen, während derer ich sie täglich angerufen habe, um unseren sinnlosen Machtkampf zu gewinnen.


»Aber warum kommst du nicht«, fragt sie, mitten in der Nacht. Eine schwarze Plastiktüte flattert im Wind mit stolzgeschwellter Brust über die Grand Street. Die Tüten in New York sind dünn und schwarz. Sie steigt auf und versucht über die Straße zu schweben. Wenn ich abends die Zeitung kaufe und in der hoffnungslos überfüllten Kühltruhe in dem Liquor Store an der Ecke noch nach einer Dose Chunky Monkey-Eis suche, tue ich immer so, als sei der Kauf des Eises ein spontaner Einfall. Der Verkäufer, dessen Oberkörper hinter einem mit Süßigkeiten, Zigaretten und Kaugummis gefüllten Plastikkasten versteckt ist, hält mir die geöffnete Tüte immer schon hin, während ich den Eindruck zu erwecken versuche, als müsste ich noch nachdenken. Eine Dose Chunky Monkey-Eis und die New York Times. Das sind meine Abende, nachdem Judith zurück nach Washington gefahren ist. Abende, die ich mit Informationen fülle, die kurz davor stehen, ihre Aktualität zu verlieren, während das Eis so schnell schmilzt, dass ich nie den Boden der Dose erreiche, bevor das Eis schon flüssig geworden ist. Ich weiß keine Antwort, außer dass ich die Oberhand behalten will und dass ich am liebsten sagen würde: »Es ist mein New York. Es ist das New York, das ich dir zeigen will.« Sie atmet schwer. Sie beugt sich vor, stützt sich auf ihren Oberschenkeln ab. »Die U-Bahn ist klimatisiert.« »Ich weiß«, sagt sie. Sie richtet sich auf. »Hast du Lust auf den Park?«, frage ich. Sie schaut mich an. Ich denke auf einmal an das Vampirgebiss. Das Vampirgebiss auf dem Flughafen in München, an dem Tag, als sie zum ersten Mal nach Washington geflogen ist. Es fällt mir einfach so ein, vielleicht weil ihre Lippen so trocken und brüchig sind. Das Vampirgebiss. Sie hat es ganz plötzlich im Mund. Ihre Zähne, die sie jeden Tag mit so großer Sorgfalt pflegt, sind unter dem Plastik auf einmal verschwunden. »Sollen wir?«, frage ich. Sie nickt, sie kriegt wieder Luft. Auf einmal will sie unbedingt Kaffee trinken. Aber diese Verzögerung habe ich nicht eingeplant. Es erscheint mir unmöglich, auf den Ausflug in den Fulton Park zu verzichten und stattdessen Kaffee trinken zu gehen. Sie denkt nur noch in kleinen Schritten. Wie Kinder, die nur daran denken, wie sie sich noch mehr mit Süßigkeiten vollstopfen können. Eine Stadt mit freiem Oberkörper. Gestählt und freigiebig vor sich hinschwitzend, während es in den Innenräumen immer kühl und angenehm bleibt. Die Hitze verausgabt sich, dehnt sich bis in alle Winkel, sehnt sich nach Verflüssigung und Auflösung. Wir gehen weiter. Weiter zur U-Bahn, weiter in der Schlange vor dem Port Authority Bus Terminal. Zwei, drei Reisende vor uns. Zwei oder drei Minuten. Minuten, die ein ganzes Leben verändern können. Und man könnte sagen: Je häufiger wir uns voneinander verabschieden, desto besser werden wir darin. Je öfter wir uns trennen, desto größer wird die Wahrscheinlichkeit, dass wir uns wiedersehen.


Das Vampirgebiss besteht aus abwaschbaren Plastikzähnen, die so miteinander verbunden sind, dass die einzelnen Zähne, außer den beiden Eckzähnen, gar nicht richtig zu erkennen sind. Ich bekomme es nie in seinem ganzen Ausmaß zu Gesicht. Ich sehe es nur als Teil ihrer Zähne, als plötzliche Erweiterung, als Wuchern. Was genau mache ich eigentlich in New York? Will ich sie dazu überreden, schon vor der Beendigung ihres Praktikums zurückzukommen, nur weil ich mich in München ohne sie langweile? Wie sie in ihrem Bademantel morgens im Wohnzimmer sitzt und Kaffee trinkt. Ungeschminkt, in einem Zustand der Verpuppung, in unberührbarer Entfernung von sich selbst und von mir. Ich bleibe morgens manchmal eine Stunde länger im Bett, in der Hoffnung, sie könne sich in der Zwischenzeit schon in ihre von der Kosmetikindustrie verschönte Alltagserscheinung verwandelt haben, als die ich sie tagsüber und abends verehre. In diesem grünen, flauschigen Bademantel, den ich morgens fast lieber berühre als sie selbst. Sie hält einen kleinen Bleistiftstummel in der Hand und macht ihre windhauchartigen Anstreichungen in ihren Büchern, die sie samt und sonders wieder ausradiert, wenn sie die Bücher zurückgibt. »Wieso soll ich nach Washington kommen, wo du doch selbst gesagt hast, du würdest New York im Grunde gar nicht kennen?«, sage ich am Telefon. Ich erwähne den Vortrag von Mads Christiansen nicht. Ich spiele diesen Trumpf gar nicht aus. Sein Buch ist jetzt ins Englische übersetzt worden und auch in den USA erschienen. Der Kongress ist lediglich eine Ausrede, um nicht den Eindruck zu erwecken, ich wäre allein wegen ihr gekommen. »Vielleicht hänge ich noch eine Woche dran«, sage ich, als stünde der Zeitpunkt meines Abflugs nicht schon längst fest. Neurobiologische Erkenntnisse, die für das höhere Management zum Verständnis der Mitarbeiter von Bedeutung sein können. »Sie hätte dich auch gerne gesehen«, sage ich zu Mads Christiansen. »Aber sie hat zu viel zu tun.« Ein Faustpfand in unserem Machtkampf, in dem es nur um eins geht: New York oder Washington. Meine Stadt oder ihre Stadt. Tatsächlich habe ich mich der Illusion hingegeben, Judith würde Mads Christiansen wiedersehen wollen, den sie noch von seinen Besuchen in München kennt. Am Ende, aber das ist nur ein Verdacht, mag sie ihn vor allem deswegen, weil er schwul ist und weil sie die Phantasie durchspielen kann, es könne ihr früher oder später gelingen, ihn auch in erotischer und nicht nur emotionaler Hinsicht für sich zu gewinnen. Als er einmal bei uns zu Besuch ist, macht er ihr, während sie im Morgenmantel am Frühstückstisch sitzt, ein Kompliment. Sie sagt: »Es tut mir leid, aber ich bin noch gar nicht richtig angezogen und geschminkt.« Und während ich »macht nichts« gesagt hätte, sagt Mads Christiansen einfach: »Du bist doch so noch viel schöner. Du siehst doch so noch viel besser aus.« Sie legt ihr Buch umgedreht auf den Tisch, sodass die Sätze von Pruniers Darfur. Der uneindeutige Genozid kopfüber auf unserem 3500 Euro teuren Glastisch liegen. Das Licht der Designerlampe mit den schwarzen Holzlamellen fällt auf ihr Gesicht. Sie strahlt ihn an. Ganz verrückt nach mehr, nach mehr morgendlichen Verführungskunststücken. »Du bist so noch viel schöner.« Das Buch liegt noch Tage später aufgeschlagen auf dem Wohnzimmertisch. Mir schaudert bei der Erinnerung daran, selbst in Gedanken schrecke ich noch davor zurück.


Hätten wir uns vielleicht ein anderes Wochenende aussuchen sollen? Jetzt, kurz vor meinem Abflug, habe ich den Ventilator wieder ausgestellt, da ich Angst habe, die Bruchstücke des Tongefäßes werden in alle Winkel der Wohnung verteilt. Ich packe das grüne Plastikkreuz ein und auch den Inhalator, den ich aus München mitgebracht habe. »Es sind zwei Wochen«, sage ich zu Lambert. »Sobald ich zurückkomme, machen wir einen Termin.« Ich spüre, wie das Gefühl der Kränkung und Zurückweisung von ihm Besitz ergreift und immer mehr Raum in ihm einnimmt. Er will unbedingt wissen, wo ich hinfahre. »Und warum können Sie mir das nicht sagen? Ist Ihnen das zu intim?« Es ist kurz bevor die Stunde auf so dramatische Weise eskaliert. »Sie vertrauen mir nicht. Glauben Sie denn, dass ich Ihnen hinterherfahre?« Judith hält sich am Haltegriff in der U-Bahn fest und lässt ihren Blick über die Gesichter der Mitreisenden wandern. »Schneller, schneller«, sagt ihr Blick, aber dann lächelt sie mich wieder an. Sie hat überhaupt keine Ahnung, keine Idee, wie schön sie ist. Sie hält sich am Griff fest, in der U-Bahn, auf dem Weg zum Busbahnhof, schwankt leicht hin und her und schaut auf den Kopf eines älteren Mannes, der die Augen geschlossen hat. »Komm doch einfach her«, sagt sie am Telefon. »Wir können das Wochenende doch auch in Washington verbringen.« Ich lasse mich nicht darauf ein. Ich stehe vor der Telefonzelle, das Summen des Verkehrs, den warmen nächtlichen Wind, die ganze Stadt im Rücken, und schüttele den Kopf. Es ist nur ein Wochenende. Es ist nicht der Rede wert, aber es geht schief. Und ich frage mich, was eigentlich genau passiert, was genau schiefgelaufen ist. Was ist in New York passiert, frage ich mich, während ich am Fenster der Wohnung in Williamsburg stehe und in das feuchtdunkle Grau des Himmels hineinschaue.

Lichtjahre entfernt: Roman
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