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Es ist gar nicht die Nacht, die so ungünstig verlaufen ist. Es ist der Spaziergang. Der Sonntag, an dem wir durch New York laufen. Im Grunde laufen wir die ganze Zeit, ohne aber genau zu wissen wohin. Wir gehen aus dem Haus, frühstücken, und dann laufen wir. Ich mache dies vielleicht in dem Glauben, wir würden irgendein Ziel erreichen, irgendeinen Ort finden. Die Terrasse des Cafés in der Bedford Avenue, die Parkbank im Fulton Park, die Aussichtspromenade in Brooklyn Heights, die zwei dunkelblauen, viel zu engen, Beklemmungen auslösenden Sessel im obersten Stock des Cafés in der Montague Street und dann, so als hätten alle anderen Möglichkeiten keine Bedeutung, das Port Authority Bus Terminal. Die Warteschlange der Passagiere, die nach Washington fahren. Vier oder fünf, die noch vor uns sind. Drei Minuten, die uns noch bleiben, die wir mit Belanglosigkeiten füllen, obwohl es mir in diesem Moment wie ein Aufschrei durch den Kopf schießt: Noch drei Minuten und ich sehe sie die nächsten vier Monate nicht wieder. Am Abend im Restaurant habe ich noch gedacht, ich hätte einen ganzen Tag Zeit, sie zu überreden, noch länger zu bleiben, aber dann ist es auf einmal zu spät. Ich habe den richtigen Moment verpasst. Ich höre ein lautes Dröhnen, als ein Lastwagen in die Straße hineinfährt. »Vielleicht fängst du mal langsam mit dem Aufräumen an«, sagt eine innere Stimme. Eine Stimme, die erstaunlich rücksichtslos und brutal ist und die ich bei meiner Arbeit mit meinen Klienten zügeln muss. Eine Stimme, die aber auch von großem Nutzen sein kann und mich davor bewahrt, die Kontrolle zu verlieren. »Das klare Licht bricht in der Dunkelheit hervor«, heißt es in dem Haiku, der auf der Serviette abgedruckt ist, in dem kleinen koreanischen Restaurant, in dem wir essen. Es könnte der erste Haiku gewesen sein. Den zweiten habe ich direkt danebengeschrieben, sodass ich die beiden jetzt kaum noch auseinanderhalten kann. »Ja, ja, schrie ich, doch das Klopfen hörte nicht auf am verschneiten Tor.« Aus irgendeinem Grund habe ich sie ohne Zeilenumbruch abgeschrieben, und jetzt weiß ich nicht, wie sie zu unterteilen sind. Judith mag keine Haikus. Schon gar nicht in einem koreanischen Restaurant. Ihre Abneigung ist jedoch so unterschwellig, als versuche sie, die japanische Diskretion noch zu überbieten. Einmal sagt sie: »Ich mag ihn.« Und ich frage sie: »Magst du ihn wirklich? Den oder den anderen?« »Beide«, sagt sie. Aber es ist nicht die Wahrheit. Ich kann nicht sagen, dass ich glaube, sie lügt. Wie soll ich ihr das sagen? »Haben sie denn in Korea keine Haikus?«, frage ich. »Bestimmt nicht«, sagt sie. Wieso schreibe ich die Haikus ab, ohne den Zeilenumbruch zu beachten? »Das klare Licht« oder »das klare Licht bricht«? Ich könnte es rekonstruieren, man könnte das hinbekommen. Sie presst sich die Serviette gegen die Lippen. Es ist die größtmögliche Aggression, zu der sie fähig ist. »Das Klopfen am verschneiten Tor.« Ich muss es auswendig lernen, mir alles merken, solange die Erinnerung noch frisch ist. Ich habe noch immer das Bad nicht geputzt, und ich muss auch die Küche noch aufräumen. Stattdessen schaue ich aus dem Fenster. Einige weißgekleidete Arbeiter tragen die in Folie verschweißten Fleischstücke von der Ladefläche des LKW zu dem benachbarten Lagerhaus. Ich höre das Warnsignal eines zurücksetzenden Lastwagens und reiße die Seite mit den Haikus aus meinem Notizbuch heraus. Ich muss das Flugzeug bekommen. Ja, ja, schrie ich. Das Wohnzimmer habe ich schon geputzt oder zumindest das, was einem sofort ins Auge springt. Ich schalte den Ventilator wieder ein. »Jetzt wollen wir doch mal sehen«, sagt sie, während sie das gewellte Papier der Speisekarte vor sich ausrollt. In der Wohnung ist es so heiß, dass sich mein ganzes Leben auf einmal in einen einzigen Wassertropfen verwandelt, der in der Luft hängt. Er fällt nicht, er kommt nicht an, er verdunstet noch in der Luft. Das klare Licht. Noch immer stehe ich in Gedanken in der Wohnung, noch immer schaue ich auf die Schweißränder auf der Couch. Oder: Das klare Licht bricht. Ich muss unbedingt diese Haikus auswendig lernen, denke ich die ganze Zeit. Das ist das Wichtigste. Schon wieder fällt ein Schweißtropfen herunter. Immerhin lebe ich noch.
Er ist wie eine Schicht, die schützt und gleichzeitig an einem zehrt. Eine unsichtbare parasitäre Hülle, die aus einem herauswächst, um sich schon im nächsten Moment in Luft aufzulösen. Wie Kleidung, der man nicht traut, oder Kleidung, die sich selbst nicht traut. Eine Schicht, die zurückweicht. Etwas, das aus dem Körper flüchtet und nicht weit kommt. Etwas, das einen Blick nach draußen riskiert. Im Spiegel des winzigen Badezimmerschränkchens von Michael und Janette sieht es so aus wie eine ölige silberne Rüstung, die schwer auf den Schultern liegt. An manchen Tagen schwitze ich einfach so, ohne dass ich es merke, und es scheint keine Rolle zu spielen. Aber schon im nächsten Moment schwimmt der ganze Körper davon, und man verliert allen Halt. Ich klappe das Notizbuch wieder zu und gehe in die Küche. Ich lasse das Wasser im Bad laufen, während ich vor dem Ventilator auf dem Fußboden knie und das arabisch aussehende Tongefäß zusammenklebe. Als ich den Staub rund um das Tongefäß mit einem kleinen Schwämmchen zu beseitigen versuche, bricht das Regal in sich zusammen. Es ist eines der vielen unvorhergesehenen Ereignisse, die sich der Hitze und der nervlichen Anspannung verdanken. Ich habe Michael und Janette noch nie in meinem Leben gesehen, ich habe sie noch nicht persönlich kennengelernt, aber ihr arabisch aussehendes Tongefäß habe ich schon kaputt gemacht. Den Büchern in den Regalen zufolge beschäftigen sie sich mit Literaturwissenschaften und Philosophie. Janette macht Video-Installationen, jedenfalls hat mir das Mads Christiansen erzählt. Die Wohnung ist so schlicht, dass Judith sie gar nicht zur Kenntnis nimmt. »Wie findest du sie«, frage ich sie. »Sie ist ganz schön, oder?«, sagt sie. Etwas Schlimmeres ist aus ihrem Mund kaum vorstellbar. Ganz schön? Die Dielen haben langgezogene Risse, in denen sich Staub und Dreck sammeln, die Möbel sind alt und verschlissen, aber die Wohnung gefällt mir. In der Nachbarschaft gibt es viele kleine Betriebe und Lagerhallen. Flache Gebäude mit Rolltoren und Backsteinwänden, die mit Graffiti bemalt sind. Direkt nebenan ist das Kühlhaus einer Fleischverarbeitungsfirma, aber sonst gibt es nicht viel zu sehen. Der interessantere Teil von Williamsburg ist einige Straßenzüge entfernt, und Michael und Janette sind die Ersten aus der Kunstszene, die dieses Gebiet erschlossen haben. Lohnt es sich, das Gefäß wieder zu reparieren? Es sind mehr als ein Dutzend Teile. Ich drehe mich nach dem kleinen Plastikwecker um, den ich für einen Dollar gekauft habe. Der Plan, am Flughafen einen Kaffee zu trinken und in Ruhe Notizen zu machen, erscheint mir auf einmal unrealistisch. Judith sagt: »In Washington ist es genauso heiß, aber es macht mir nichts aus.« Sie ist vom ersten Moment an müde und erschöpft. Vielleicht, weil die Busfahrt so anstrengend gewesen ist und die langwierige Auseinandersetzung, die ihrem Besuch vorausgegangen ist, ihr die Laune verdorben hat. Sie trägt keinen Lippenstift. Sie hat noch nicht mal ihren Make-up-Koffer dabei, als ich sie am Busbahnhof abhole. »So ein Mist«, sagt sie. »Ich habe meinen Inhalator vergessen.« Für einen Moment bricht sie aus dem symphonischen Kosmos ihrer Harmonie aus und ist tatsächlich wütend. »Mist«, sagt sie. »Wirklich. Scheiße.« Sie beißt sich auf die Unterlippe. Für einen Moment scheint es denkbar, sie könne sofort nach Washington zurückfahren. Warum ich eigentlich nicht kommen will, hat sie einmal gefragt, bei einem unserer nächtlichen Telefonate, in der ersten Woche, als ich draußen in der lauen Abendluft vor dem an einer Hauswand angebrachten Telefon in der Grand Street stehe, den Verkehr im Rücken, ihre Stimme im Ohr, und ununterbrochen Geldstücke in den blauumrandeten Metallschlitz stecke. »Warum kommst du nicht zu mir?« Geldstück um Geldstück, als wäre es eine Vergnügungsmaschine, eine Stimmen-Peepshow, während sie in ihrer kleinen Wohnung in Washington sitzt, im zwölften Stock eines ehemaligen Hotels, und ihre fellartigen grünen Riesenhausschuhe trägt, nach denen ich am Ende fast noch mehr Sehnsucht habe als nach ihr selbst. Sogar Baltimore oder die Fahrt nach Paris steht jetzt in der Rangfolge unserer Reisen besser da, wenn man es mit dem Wochenende in New York vergleicht. Ich schaue auf die Couch. Das orangerote Velours der Couch. Die Schweißtropfen, die nicht trocknen und Flecken hinterlassen. Und wie Judith sich sofort hinlegt, kaum dass wir die Wohnung betreten haben. Es ist nur eine Nacht. Noch dazu auf zwei verschiedenen Betten. Wir laufen durch die Hitze. Aber wir schauen uns nichts an. Wir sind blind für die Sehenswürdigkeiten von New York. Eine Stadt, die sich aus unserer Umklammerung nicht befreien kann und ununterbrochen transpirieren und schwitzen muss. Und ich denke in diesem Moment, dass Judith beim Sex immer so aussieht, als würde die Welt untergehen, während Gabriela mich immer so ansieht, als hätte sie Grund, wütend auf mich zu sein, als sei sie verärgert, obwohl das ihre Art ist, Lust auszudrücken. Sie ist einen Kopf kleiner als Judith. Ihr im Vergleich zu Judith fast winziger und sich beim Sex geradezu verschluckender Körper. Ihr zimtfarbener, anbetungswürdiger, verschwenderischer Körper. Gabriela, deren Körper strahlt, leuchtet, in meiner Erinnerung in Flammen steht.
Vielleicht liegt es an der Klimaanlagenluft. Als wir den Busbahnhof betreten, hat sie auf einmal wieder gute Laune. Ich vergesse das Geschenk, das kleine grüne SchmuckKreuz, das ich auf dem Hinweg bei der Zwischenlandung in Chicago für sie gekauft habe. Ich trage es die ganze Zeit mit mir herum, und am Busbahnhof, am Port Authority Bus Terminal, vergesse ich es auf einmal. Nur wenige Meter von dem Mitarbeiter der Busgesellschaft entfernt, der die Tickets kontrolliert. Sie hält den Kopf wieder so hoch. Das ist der Museumsblick. Ein Blick, den ich von den vielen gemeinsamen Ausstellungsbesuchen schon kenne. Ihr Blick ist eine Mischung aus Erhabenheit und Leere. Ihre Handtasche geschultert und die Haare hochgebunden. So steht sie im Museum vor den Bildern. So als wollte sie sich ihnen zur Verfügung stellen. Als hoffte sie, etwas von der Aura der Bilder würde sich auf sie übertragen. Ich erinnere mich, wie sie bei der Lucien-Freud-Ausstellung, von der ich nicht mehr weiß, wo wir sie gesehen haben, schon den ersten Bildern mit dieser aufrechten, den Kopf gleichsam rahmenden Aura gegenübertritt. Als wollte sie sagen: Zeigt euch von eurer schönsten Seite, dann zeige ich mich auch von meiner schönsten Seite. Dabei sind die Gemälde von Lucien Freud gar nicht schön. Ich knie auf dem Boden und lege die Scherben des arabischen Tongefäßes zusammen. Was würde Judith jetzt sagen? Würde sie Mitleid mit mir haben? Und dann zeigt sich wieder ihre Präsidentengattinnenhaftigkeit, während wir vor einer dicken nackten Frau stehen und sie die Bemerkung macht: »Wusstest du eigentlich, dass er ein Enkel von Freud ist. Also dem Freud?« Und sie in ihrer typischen somnambulen Leere an mir vorbei auf ein anderes Bild schaut, um meine Reaktion einfach zu ignorieren. »Mir gefällt, wie die Frau aussieht«, sagt sie. »Die Haut sieht gar nicht so alt aus, wenn man die Augen zusammenkneift.« »Ja, wenn man die Augen zusammenkneift«, wiederhole ich, um nicht Gefahr zu laufen, belehrend zu wirken. Dabei kennt sie sich mit Kunst ohnehin viel besser aus als ich. Sie entdeckt ständig neue Künstler und neue Museen und erinnert mich daran, wenn wir uns mal wieder etwas anschauen müssen. Sie streicht sich mit ihrer rechten Hand über den Nacken, fährt mit der abgekauten Spitze ihres Zeigefingernagels über ihren entblößten Hals. Wie um Himmels willen schafft sie es, so gedankenlos und unvoreingenommen zu sein? Sie schaut auf die Bilder. Auf die wuchernde düstere Haut der Nackten von Lucien Freud. In der Ausstellung, die wir nicht in Deutschland, aber mit einiger Sicherheit auch nicht in London und schon gar nicht in Washington gesehen haben. Eine Ausstellung, die wir irgendwo gesehen haben, irgendwo auf unserer langen Wanderschaft, die unserem ständigen Bedürfnis geschuldet ist, die Schauplätze unserer Beziehung zu verlagern und möglichst jeden Monat auf einer anderen Bühne aufzutreten. Wie sie schon ins Museum hineingeht. Als begrüße sie ihre Gäste. Trotzdem kann ich nicht anders, als ihren zärtlichen Hochmut in diesem Moment zu bewundern. Sie selbst würde vor Scham erröten, wenn ich auch nur eine Andeutung machen würde. Wenn ich sagen würde, sie sei hochmütig oder, was noch schlimmer wäre, aggressiv. Ist sie aggressiv, wenn sie von der »Haut der alten Frau« spricht, die so aussieht »wie ein Feld«, das gerade eben »gepflügt« worden ist? Eine Frucht, die gerade »gepflückt« worden ist? In London? In Düsseldorf? Oder doch in München? Sie lächelt. Sie wirft den Kopf zurück. Weniger vielleicht, dass sie ihn zurückwirft, als dass sie ihn zurücklegt, etwas in die Rückenlage geht, um ihren Ausbruch von Lachen abzusichern und zu stabilisieren. Sie lacht, umgeben von diesen schmierigen traurigen Bildern des Enkels von Sigmund Freud. Sie lacht, wie man sagen könnte, rückwärts, nach hinten gewandt. In New York sind ihre Lippen blass und hell. Sie hat den Lippenstift nicht nachgezogen, während wir die langgezogene Bedford Avenue entlanglaufen, um dann doch mit der U-Bahn zum Fulton Park zu fahren. In dem kleinen Park hat man eine wunderbare Aussicht auf Manhatten. Man befindet sich direkt zwischen Brooklynund Manhattan-Bridge, aber wir haben kaum Zeit, uns auf eine der Bänke zu setzen und uns auszuruhen. Kurze Zeit später muss sie zum Busbahnhof zurück. Es ist ungeheuerlich. Sie schaut sich jedes Bild an. Es können noch so unbedeutende Skizzen sein, sie schaut sie sich an. Im Gegensatz zu ihr möchte ich die gesamte Ausstellung mit einem Blick erfassen, damit ich weiß, auf was ich mich einzustellen habe. Sie aber schenkt jedem noch so kleinen Kopf, jedem noch so fragmentarischen Porträt ihre ganze Aufmerksamkeit. »Haben nicht alle Lucien-Freud-Gesichter den gleichen Ausdruck?«, frage ich sie. Sie nickt, den Mund fest geschlossen, ein Ausdruck erotischer Verweigerung. Wenn sie doch nur ein einziges Mal den Kopf schief legen würde. Aber sie muss ihre Museums-Haltung wahren. »Ich finde das auch«, sagt sie in ihrer grenzenlosen Kompromissbereitschaft. »Sie sind geheimnisvoll. Ein bisschen mysteriös.« Sie gerät in Fahrt, zeigt einen Moment der Leidenschaft. »Ja«, sagt sie, »wir denken immer, wir kennen schon alles.« Sie sagt immer »wir«, wenn sie philosophisch wird. »Wir tun so, als verstünden wir alles. Aber manchmal verstehen wir uns selbst nicht. Und hier«, sie zeigt auf ein anderes Bild. »Findest du nicht, dass es brutal aussieht?« Ich verstehe nicht, was sie meint. »Oder gefällt es dir nicht, weil es nicht abstrakt ist?« Weil es nicht abstrakt ist? Sie spitzt die Lippen und legt den Kopf schief, um mich nachzumachen. Tatsächlich liebe ich sie dann am meisten, wenn sie mich nachahmt. Wie ist das zu beurteilen? Was heißt das? Ich liebe sie, wenn sie mich nachahmt. Wir gehen zu einem anderen Bild, in einer Ecke, wo ich noch nicht gewesen bin. Sie will mir etwas zeigen. Möchte sie mir ein Bild zeigen, in dem wir uns wiederfinden können? Ich kann mich an kein einziges Lucien-Freud-Bild erinnern. Ich sehe immer nur sie. Wie sie die Bilder anschaut und wie sie immer sagt: »Was wir denken. Was wir wissen … Als würden wir das alles verstehen.«