Germanien, Freistaat Sachsen (germanischer Teil), Lipsk (Leipzig), November 2019
Malleus Bourreau ging nicht weit von seiner kleinen Zweitwohnung entfernt durch das Schneegestöber die Hainstraße entlang und bog in Barthels Hof ein; in seiner Rechten hielt er einen Metallkoffer, den er für den zweiten Termin des Tages benötigen würde.
Abrupt nahm der schneidende Wind ab, die Flocken fielen langsam und beruhigt auf das Kopfsteinpflaster, als befände sich hier ein Schneeschutzgebiet.
Malleus mochte seine hiesigen vier Wände, die er vor Jahren überraschend geerbt hatte. Sie lagen in einem der schönen Altbauten, mit hohen Stuckdecken samt verschwenderischer Raumaufteilung. Er nutzte sie gelegentlich, wenn ihm der Lärm in Lutetia zu viel wurde.
Seine eigentlichen Wurzeln in Germanien lagen nicht in Sachsen, doch Malleus mochte die Stadt, seit er Kontakt zu ihr aufnahm. Sie besaß Charme, den sie sich gerade so erhielt, trotz der zahlreichen Neubauten und Großprojekte.
Mit Religion hatte man im Osten des Landes wenig am Hut gehabt, folgerichtig gab es keine besondere Aufregung – im Guten wie im Schlechten –, als die Entitäten erschienen. Die Leipziger nahmen sie hin wie einen Wetterumschwung, und da sich die Gottheiten nicht sehr einmischten, war von dem geistlichen Wechsel im Stadtbild fast nichts zu bemerken. Nur der sehr teure Kirchenneubau im Herzen der Stadt wurde ohne großes Aufsehen in ein Wohngebäude mit sehr günstigen Mieten umgewandelt. Niemand protestierte.
Wahre Nächstenliebe. Voller Selbstlosigkeit. Malleus durchquerte den Innenhof und schwenkte auf den hinteren Durchgang, wo sich sein Lieblingsladen befand und in dem er gleich einen Termin hatte.
Die kleine Fassade war bewusst im Stile der Goldenen Zwanziger des vorangegangenen Jahrhunderts gestaltet, darüber stand in geschwungener Schrift:
Karak et Frères
Herrenausstatter
Und darunter in altmodischen goldenen Lettern:
Leipzig/Paris/London/Mailand
oder auf Abruf an jeden Ort der Welt
Malleus freute sich auf die vereinbarte Anprobe.
Er mochte Kleidung, die zu einhundert Prozent passte und weder das Einerlei noch das zu Modische oder verkrampft Außergewöhnliche wollte. Zudem besorgten die Gebrüder Karak die besten Rauchwaren und Alkoholika, die für Geld zu haben waren, darunter auch die wundersamen Culebras, auf die Malleus nicht verzichten konnte.
Leise klingelte das Glöckchen über der Tür, dessen heller Ton melodisch, aber nicht aufdringlich wirkte. Gut gelaunt betrat er den Verkaufsraum, der eher an einen Gentlemen’s Club erinnerte denn an einen Herrenausstatter. Karak hatte die Decke zwei Stockwerke darüber herausbrechen lassen, um eine atemberaubende Höhe zu erreichen, die schwindelerregend wirkte, sobald man den Kopf in den Nacken legte.
Es war familiär, mit Sesseln und Couches, die Leder und Metallelemente kombinierten. In meterhohen Schränken und Humidoren standen beleuchtete Spirituosenflaschen und Tabakwaren jeglicher Provenienz, demgegenüber gab es Regale mit verschiedensten Hutmodellen, Gehstöcken, Handschuhen, Schals, Krawatten und vieles, vieles mehr, was den Unterschied und die Klasse ausmachte. Schlanke Holztreppen und ein Lift führten zu den Galerieebenen.
»Wenn das nicht mein Lieblingskunde ist«, vernahm er die stets leicht heiser klingende Stimme des Schneidermeisters aus dem benachbarten Atelier. »Einen Augenblick, Herr Bourreau. Ich bin gleich bei Ihnen.«
»Keine Eile.« Malleus atmete den Geruch aus Tabak, Leder und Oudh ein, der umherschwebte. Ein Kleinod, eine Insel des Außergewöhnlichen im allgegenwärtigen Einerlei.
Er schüttelte den Schnee ab und warf den Hut aus dem Handgelenk auf den Ständer neben dem Tresen. Den Koffer stellte er neben den Sessel, in dem er normalerweise saß.
Der nahezu zierliche, braunhaarige Mann, der kaum Muskeln zu besitzen schien, kam durch den Vorhang und lächelte Malleus freundlich und offen an. Gekleidet in schwarze Hose, weißes Hemd und dunkelgrünes Gilet, das gelbe Maßband um den Nacken und ein gespicktes Nadelkissen am Handgelenk wirkte er wie das perfekte Abbild eines Schneiders.
Er streckte die Hand zur Begrüßung aus. »Sie wieder hier, mein werter Herr. Eine Freude, ganz ehrlich.« Sein kritischer Blick fiel auf den abgetragenen Militärmantel, auf dem das Weiß ruhte und leicht schmolz. »Und Sie haben den immer noch? Sie wissen, dass ich Ihnen jederzeit etwas Besseres anfertigen kann.«
Malleus schlug ein und lachte. Auch die antiquierte Anrede passte herrlich in den Laden, in dem ein Kunde durch und durch König war. »Danke, lieber Herr Karak. Ich bleibe bei dem Modell. Es leistet treue Dienste.«
Der Schneider half ihm aus dem Kleidungsstück, wischte den Schnee souverän ab. »Wie Sie wünschen.« Karak hängte es trotz seiner Verachtung sorgsam auf einen Bügel und an den Haken; er respektierte die gemeinsame Vergangenheit. »Ihr Notruf erreichte mich, und ich habe schon vorgearbeitet. Ich ging davon aus, dass Sie Ihre Figur gehalten haben.« Ein musternder Blick traf Malleus; der breitete die Arme aus und drehte sich um die Achse. »Ich hatte recht, auch wenn Sie mir etwas dünner erscheinen. Wir vermessen Sie nachher, Herr Bourreau.«
»Ich hätte auch ein paar Anregungen für was Neues«, sagte er und wurde von Karak in die Sitzecke gelotst und zum Hinsetzen gebeten.
»Sehr gerne. Aber zuerst die gewünschten Bestellungen für Sie.«
Flink wie ein Eichhörnchen erklomm Karak die kleine Leiter und begab sich in zwei Meter Höhe, wo er ein Glasfenster öffnete und drei Kistchen herausnahm, um anschließend wie in einem U-Boot geschickt mit den Füßen an den Außenseiten nach unten zu gleiten.
»Die Culebras«, sprach er feierlich und stellte die Holzbehältnisse nebeneinander, öffnete sie andächtig nacheinander; das leise Zischen kam vom integrierten Humidor, der die genau vorgegebene Luftfeuchte und Temperatur hielt.
Malleus sah die charakteristisch gezackten Zigarren vor sich, die mit verschiedenen Banderolen versehen waren. Entzückt betrachtete er sie, kleine Einschübe trennten die Farben voneinander ab, damit der Inhalt nicht durcheinandergeriet.
»Blau, schwarz, grün«, sagte Karak und deutete auf die Culebras, als würde er Speisen kredenzen, »und wir haben sepiafarben, rot, violett, teefarben und rubinrot. Nicht zuletzt: bernsteinfarben.«
Sehr, sehr glücklich betrachtete Malleus die Ansammlung und entspannte sich. Nun konnte nichts mehr schiefgehen.
Dann nahm Karak ein kleines Aluminiumröhrchen scheinbar aus dem Nichts und legte es darunter. »Voilà. Etwas Neues.« Er verschwand durch den Vorhang. »Versuchen Sie diese Kostbarkeit, Herr Bourreau. Ich hole eben noch rasch das Päckchen, das für Sie gekommen ist.«
Malleus wusste, dass es sich bei dem erwähnten Päckchen um seinen alten und schmerzlich vermissten PDA handelte. Sein Bastelkumpel hatte es an diese Adresse geschickt, weil sie sicher war.
Er nahm die metallene Verpackung, schraubte sie auf.
Ein Geruch von Tausendundeiner Nacht stieg heraus, der Orient schien in die Culebra gebannt worden zu sein.
Vorsichtig ließ Malleus die Zigarre in die Hand rutschen. Dunkelpurpur. »Darf ich sie versuchen, Herr Karak?«
»Sicher, sicher«, tönte es gedämpft. »Sie wurde eigens für Sie angefertigt, nachdem ich Gerüchte hörte, wo Sie sich überall für Interpol herumtreiben mussten. Und wenn sie Ihnen behagt, lässt sich Nachschub organisieren. Sie kennen mich.«
Malleus schnitt das Mundstück ab und tat das Gleiche mit der anderen Seite, nahm Span und Streichholz, entzündete mit dem Holz wiederum die wundervoll duftende Culebra.
Das erste Paffen deutete an, welche Aromen der Kreateur in die Blätter eingewoben hatte. Nach etwa vier Zügen entwickelte sich der volle Geschmack, den Malleus als ebenso mild wie aromatisch empfand.
Leichter Schwindel breitete sich aus, in den Schläfen zog es.
»Kann es sein, dass der Tabak stärker ist als der andere?«, erkundigte er sich und fuhr sich mit Daumen und Zeigefinger über den Fu-Manchu.
Karak kehrte zurück und reichte ihm das Päckchen mit dem PDA darin; der schwere Vorhang verhinderte, dass die Tabakgerüche in sein Atelier zogen und die Garderoben der Kunden ungewollt mit Qualm weihräucherten. »Es ist die neuste Ernte, und die soll dieses Mal besonders gut ausgefallen sein, was die Qualität angeht. Dafür gibt es weniger davon. Eine Frage des Preises.« Der dünne Schneider sah sichtlich glücklich aus, dass seinem Kunden die Ware zusagte. »Ich wage die Prognose, mein verehrter Herr Bourreau, dass ich Ihnen welche davon beschaffen darf?« Er setzte sich Malleus gegenüber auf die Couch, auf der er klein und beinahe verloren wirkte.
»Prognostizieren Sie, Herr Karak.« Er lehnte sich zurück und schwenkte die Culebra, die mit ihrer Spitze wie sonst auch rote Linien in die Luft malte und mit ihrem Rauchzeichen die Echos dazu produzierte. »Sie haben natürlich recht. Eine Kiste wird reichen.«
»Sehr wohl.« Karak lächelte zufrieden und wissend. »Was Ihr Obergewand angeht: Ich habe vier nach Kurta-Manier fertiggestellt, zwei in helleren Farben und zwei in Schwarz. Die Stickereien sind reduziert, sodass sie nicht mehr auffallen, ganz wie Sie es das letzte Mal wünschten.«
»Sehr gut.« Malleus schmauchte und genoss. Man kann schwer aufhören.
»Dazu vier Paar Hosen, zwei Sakkos mit einem ähnlichen indischen Einschlag.«
»Ausgezeichnet, Herr Karak. Ganz ausgezeichnet.« Er deutete auf den Hut am Ständer. »Wie Sie bemerkt haben, ist das ein Notkauf. Der Hut, den ich hier erstand, wurde mir leider … genommen.«
»Ja, Ihre Aufträge fordern immer wieder Verluste, auch und gerade, was Ihre Garderobe anbelangt.« Karak lächelte. »Wir werden uns später um einen Hut kümmern, mein werter Herr. Was den Stoff anbelangt, den ich für die Neuanfertigungen nutzte: Ich habe einen sogenannten Spinnenstoff mit eingesetzt.«
Malleus blickte durch die Rauchschwaden, die er wie eine Nebelbank zwischen dem Schneider und sich aufgebaut hatte und seine Wahrnehmung verzerrten. Der Mann sah durch die Gespinste ungewöhnlich aus, wie nicht von dieser Welt, der Qualm fügte einen Rauschbart in das rasierte Gesicht ein. »Wegen der Gewichtseinsparung?«
»Es geht in Richtung Kevlarpanzerung, geschätzter Herr Bourreau. Das Gewebe ist vollkommen neu. Ich benutzte es für Ihre Kleidung zum ersten Mal.«
»Sie wollen mir sagen, mein Gewand ist kugelsicher?«
»Sicher, nun ja. Es wird einiges aushalten, zumindest gegen normale Kaliber und Klingen.« Karak wirkte noch zufriedener. »Damit leidet die Garderobe weniger, hoffe ich.«
Malleus war auf die Rechnung gespannt, die ihm Karak et Frères präsentieren würde. Aber wofür verdiente er sonst Geld?
»Zahlen Sie dieses Mal in bar, mein verehrter Herr Bourreau?« Karak deutete scherzhaft auf das Aluminiumköfferchen.
Malleus lachte und stieß dabei Rauch aus, der sich verräterisch schlangenhaft formte, als wüsste er, was der Mann dachte. »Sie sind doch ein Freund des Ungewöhnlichen, Herr Karak?«
»Unbedingt!«
»Dann zeige ich Ihnen etwas.« Malleus, leicht beschwingt von der Wirkung der grandiosen Culebra, nahm das Köfferchen, öffnete die Verschlüsse und klappte den Deckel hoch. Dort befand sich in einer Klarsichtfolie der abgeschnittene, aufgerollte Tentakel des aschfarbenen Wesens. Gegen die Zersetzung halfen die Folie und die einstellbare Temperatur, einem Humidor nicht unähnlich. Malleus stellte den Koffer auf das Tischchen und drehte ihn.
»Oh, das ist wahrlich faszinierend!«, stieß Karak bei dem Anblick aus. »Ein … bad-Fangarm.«
Malleus verschluckte sich beim nächsten Paffen. »Sie wissen, was das ist?«
»Meine Brüder und ich haben ein Faible für mythologische Wesen. Wir sind immer auf der Suche nach Inspiration, was unsere Mode angeht. Das war bereits vor der Rückkehr der Götter so«, erklärte der schlanke Schneider. »Abgesehen vom Cthulhu-Mythos gibt es nicht ganz so viele Bestien, die mit Tentakeln bewehrt sind. Die bad sind aus der sumerischen Mythologie, übersetzt bedeutet es Mauer, weil sie allem standhalten.« Er blickte auf den Tentakel. »Außer Ihnen, Herr Bourreau. Wem Sie so alles begegnen, ich muss schon sagen: be-ein-druck-end!«
Malleus musste grinsen. »Warum wundert mich das jetzt nicht?«
»Weil Sie scharfsinnig sind, mein geschätzter Herr.«
»Wissen Sie zufällig auch etwas über Namtarú?«
»Ein Gott aus dem gleichen Umfeld, aber mehr kann ich da aus dem Stegreif nicht beisteuern.« Karak deutete auf die Gliedmaße. »Für Ihre Trophäensammlung?«
»Ich wollte es präparieren lassen.« Malleus wunderte sich über seine eigene Redseligkeit und schob es auf die ungewohnte Zigarre. Ich werde darauf achten müssen, sie nur zu rauchen, wenn ich schweigen kann. Kurz kam ihm der Gedanke, dass Karak ihm vorsätzlich etwas verabreicht hatte und der unbekannte Sammler ihn bestochen haben könnte. Nein, er ist integer.
»Als Peitsche?«
Malleus blinzelte vor Verwunderung. Auf die Idee war er noch nicht gekommen. Er sah den Kampf gegen dieses Monstrum vor seinem inneren Auge ablaufen und welchen Schaden der Tentakel angerichtet hatte. Das wäre perfekt.
»Das ist ein ziemlich guter Vorschlag, mein lieber Herr Karak.« Er setzte sich bequemer in den Sessel, schlug ein Bein über das andere und betrachtete die rötliche Spitze der Culebra. »Nur: Wer sollte mir den Greifarm eines bad präparieren und zugleich die Wirkung der kleinen Klingen aufrechterhalten?«
Karak erhob sich eilends und deutete einen Diener an. »Mein verehrter Herr Bourreau, es wäre mir eine größte Ehre und Freude, meinem Namen als Herrenausstatter alle Ehre zu machen. Ich habe gute und verschwiegene Kontakte. Wenn Sie mir das Stück überlassen, erhalten Sie es als Peitsche zurück. Das schwöre ich bei …«
»Lassen wir Entitäten aus dem Spiel. Ihr Wort genügt.« Malleus grinste. »Machen Sie es so, Herr Karak.« Er erhob sich aus dem Sessel und fühlte sich leicht wie eine Feder. »Beginnen wir mit der Anprobe.« Mit einer Handbewegung klappte er den Kofferdeckel zu, rollte die Glut von der Culebra ab, damit die Zigarre nicht weiterbrannte. »Und danach: einen neuen Hut, bitte.«
Wieder verbeugte sich Miles Karak ehrfürchtig, als wäre Malleus nicht ein Inspektor bei Interpol und guter Kunde, sondern eine Herrschaft, die mit den Gottheiten auf einer Stufe stand.
Celtica, Paris-Lutetia, November 2019
Es gab noch einen Grund, warum Malleus die Kundin mit dem gestohlenen Artefakt nicht sofort aufsuchte.
Dieser Grund befand sich unter strengem Polizeigewahrsam im Amarcolitanus-Krankenhaus, durch dessen Flure er gerade schritt.
Mit einem Trick hatte er sich die Erlaubnis besorgt, Ove Schwan einen Besuch abzustatten, obwohl der germanische Staatsschutz massive Bedenken vortrug. Man verlangte die unverzügliche Auslieferung des Mannes und fühlte sich von Interpol bevormundet, aber als Malleus deutlich machte, dass es dabei weniger um GodsEnd, sondern um den Verbleib der Goldkäfer ging, beruhigte man sich in Germanien. Aber lange würden sich die deutschen Kollegen nicht mehr hinhalten lassen.
Malleus sah die beiden schwergepanzerten und mit FAMAS ausgestatteten Polizisten am Durchgang zu dem Flur, in dem sich die Quarantänestation befand. Dieses Mal ging es nicht um hochansteckende Krankheiten, sondern um einen gefährlichen Extremisten.
»Bonjour, Messieurs«, sagte er freundlich und tippte sich an die Hutkrempe, zeigte zuerst seinen Ausweis, danach die Erlaubnis, die ihm vom leitenden Ermittlungsbeamten ausgestellt worden war.
Sie ließen ihn mit einem knappen Nicken passieren. Einer gab über Funk durch, dass sich ein autorisierter Besucher näherte, der andere hielt ihm die Tür auf.
Dahinter folgte ein weiterer Gang mit vielen hermetisch verschließbaren Glastüren, in dem sich vier weitere Gerüstete befanden, die FAMAS trugen. Die Celtica-Sicherheitskräfte gingen bei Ove Schwan keinerlei Risiko ein, zumal man wusste, dass er eine militärische Vergangenheit hatte. Der Mann und seine Freunde von GodsEnd blieben gefährlich.
Malleus ging an ihnen vorbei und blieb vor der Tür stehen, auf der ein Hinweis prangte, nicht ohne Absprache einzutreten. Als wenn das irgendwie möglich wäre.
Der Eingang schwang vor ihm auf, und ein braunhaariger Ermittler in einem verknitterten Anzug bat ihn mit einer knappen Geste herein. Er schien in der Kleidung geschlafen zu haben.
Malleus trat ein und sah Ove Schwan mit Eisenschellen ans Bett gefesselt, die eine gewisse Bewegungsfreiheit erlaubten, ihn aber nicht entkommen ließen. Um seinen hellblonden Kopf lag ein Verband, auch unter dem OP-Hemd waren dickere Stellen zu erkennen, wo sich Kompressen befanden.
Es roch nach Desinfektionsmittel und einem Resthauch Mittagessen, was ein unangenehmes Konglomerat bildete. Bett, Beistelltisch, zwei Extrastühle und ein Tisch. Mehr gab es in dem weiß getünchten Zimmer nicht, abgesehen von diversen Anschlüssen für Krankenhausgerätschaften.
Der Hüne blieb ruhig und warf Malleus einen verächtlichen Blick zu, der perfekt gespielt war. Niemand durfte ahnen, dass die beiden sich kannten. Besser kannten.
Neben dem Bett stand ein weiterer Gepanzerter, eine HK UMP schräg vorm Körper haltend. Er betrachtete Malleus knapp und entspannte sich.
»Herr Kollege«, sagte der junge Anzugträger, der eine schusssichere Weste deutlich sichtbar über seinem Hemd trug. »Sie wollten mit Schwan sprechen?«
Malleus nickte. »Würden Sie bitte draußen warten?«
Der Anzugträger runzelte die Stirn. »Davon weiß ich nichts.«
»Jetzt wissen Sie es ja, geschätzter Kollege«, erwiderte er sehr höflich. »Es geht um eine Interpol-Sache, die mit GodsEnd nichts zu tun hat. Und damit auch nicht mit der Sûreté.« Malleus sah dem Mann an, dass er zum neu gegründeten Geheimdienst gehörte, was dessen ablehnende Miene sogleich bestätigte. »Und nehmen Sie bitte den Sicherungskollegen mit.«
»Das muss ich erst klären.«
»Das tat ich bereits für Sie.« Malleus präsentierte den Schrieb, der ihm die Sonderbefugnisse bei der Befragung von Ove Schwan zubilligte.
»Mh«, machte der Sûreté-Mann und winkte dem Gepanzerten zu. »Auf Ihre Verantwortung. Und gehen Sie nicht zu nah ran. Der Bastard ist gefährlich.« Dann verschwanden sie hinaus.
Malleus zog seinen PDA und aktivierte ihn – aber nicht die Aufzeichnungsfunktion, sondern den Störsender, den sein Kumpel eingebaut hatte. Im Umkreis von zwei Metern würde kein Funksignal und kein elektronisches Gerät mehr Leistung erbringen. Dann legte er seinen Hut auf den Tisch.
Schwan lachte. »Der Bastard ist gefährlich. Niedlich, der Franzose.« Er hob ansatzweise die Arme, die Ketten spannten sich klirrend.
»Danke, dass du auf sie aufgepasst hast«, sagte Malleus mit leiser Stimme und steckte die Hände in die Taschen des Militärmantels.
»Du hast ihn immer noch«, gab Schwan zurück und nickte auf das schwere Kleidungsstück.
Malleus betrachtete den muskulösen, durchtrainierten Mann. »Was ist passiert?«
»Ich habe einen Typen gestellt, der sie verfolgt hat. Allerdings besaß der eine Stetschkin APB, die ich ihm abgenommen habe. Als ich ihn kaltmachen wollte, packt dieses Arschloch vergiftete Wurfsterne aus«, fasste Schwan knurrend zusammen.
Malleus lachte auf. »Wurfsterne? Das ist ziemlich retro.«
»Ja. Dieses Arschloch. Die Ärzte hatten ganz schön was zu tun, um die Blutvergiftungen einzudämmen. Sie haben nicht rausgefunden, mit was er die eingeschmiert hat. Das Problem ist aber die APB, denn es stellte sich raus, dass es die Waffe eines Serienkillers ist. In Italien. Und jetzt hängt man mir die Scheiße an. Davon hast du mir nichts gesagt. Nur, dass die Kleine bedroht wird.«
Malleus durchlief es kalt. Ich muss ihm erklären, an wen er geraten ist. »Hast du ihn erledigt?«
»Die Polizei hat eine Zeitlang gesucht, aber keine Leiche gefunden. Er dürfte also noch unterwegs sein.« Schwan durchschaute seinem Blick nach längst, warum Malleus nicht überrascht war. »Du kennst ihn woher?«
»Ich hatte eigentlich gedacht, dass Lagrande von jemand anderem bedroht wird. Wie in den beiden Fällen vorher.« Malleus fasste rasch zusammen, was in den letzten Wochen geschehen war und wie sich der Glyphenmörder zu seinem Schatten aufgeschwungen hatte, der ihn öfter beschützte. Doch was dessen wahre Absichten waren, wusste er nicht.
Er fuhr sich über die schwarzen Bartenden und wischte eine schwarze Strähne aus den Augen. »Ich habe ihn abgehängt, also lungerte er wahrscheinlich bei Lagrande herum, weil er annahm, dass ich mich bei ihr melde.«
»Für mich sah es in der Métro danach aus, als wollte er sie auf die Gleise stoßen.«
Malleus hätte sich einen solchen Anschlag auf seine Sekretärin nicht erklären können. Sie umbringen und verletzen … wozu? Als Strafe? Weil ich ihn ausschließe? Damit hätte es nicht nur der unbekannte Sammler auf die blonde Frau abgesehen. Gut, dass ich ihr Polizeischutz verpasst habe. »Ich besorge dir über Umwege einen Anwalt. Den besten, den man für Geld bekommen kann.«
Schwan grinste. »Das kann teuer werden. Bei den Vorwürfen.«
Malleus verbat sich, seinem Kampfgefährten eine Hand beruhigend auf die Schulter zu legen. Er traute zwar dem Störsender, aber unter Umständen könnte jemand hereinkommen.
»Hast du sein Gesicht gesehen?«
»Nur halb. Erkennen würde ich ihn.« Schwan lieferte eine ungefähre Beschreibung, und Malleus rief ein Phantombild-Programm auf dem PDA auf, um zusammen mit dem Freund die Züge desjenigen zu formen, der für seine Taten zur Rechenschaft gezogen werden musste.
Nach zehn Minuten hatten sie ein Gesicht erschaffen, das Malleus mit einigen schnellen Klicks durch die Interpol-Datenbank laufen ließ. Es war unauffällig, harmlos, ein wenig moppelig. Das ist er also, mein wahnsinniger, mörderischer Schatten.
»Sehr gut.« Malleus lächelte Schwan an, dann räusperte er sich. »Du erinnerst dich an die Bestien, die so viele von uns erledigten?«
»Wie könnte ich die flackernden Augen und diese aschgraue Haut mit dem Zeichen darauf jemals vergessen!?«
»Ich bin ihrem Herrn auf der Spur.« Knapp fasste Malleus zusammen, was er in Gomorraha erlebt und erfahren hatte. »Aber noch fehlt mir die Erklärung, was diese Scheusale in Germanien suchten und warum sie dort in den Übergangskriegen kämpften«, schloss er.
Schwan sah ihn mit finsterem Gesicht an. »Welcher Kulturkreis ist das? Babylonisch?«
»Sumerisch-akkadisch.« Malleus rieb sich erneut über den Fu-Manchu. Der Gedanke an die Bestien löste Nervosität aus. »Jedenfalls waren sie ganz weit weg von Zuhause.«
»Wir müssen herausfinden, wer sie uns auf den Hals hetzte!« Der großgewachsene Kämpfer schien urplötzlich von unbändiger Energie erfüllt zu sein. Er richtete sich auf und betrachtete seine klirrenden Fesseln, als könne er sie mit ein wenig Geschick sprengen.
»Langsam«, beschwichtigte ihn Malleus. »Du kämst keine fünf Meter. Draußen steht ein halbes Dutzend Polizisten mit Sturmgewehren. Erst der Anwalt, dann alles Weitere.«
Schwan ließ sich zurück in die Kissen sinken. »Liefern sie mich aus? Weißt du was?«
»Ich denke, es wird zwischen den Behörden hin- und hergehen, wenn sie feststellen, dass mit der Waffe auch in Italien, in Riga und in … vermutlich anderen Städten Menschen erschossen wurden.«
Schwan sah Malleus besorgt an. »Und immer dort, wo du warst, Malleus. Sie werden dich bald überprüfen. Und dann noch mehr mich, und früher oder später bemerken sie, dass wir in einer Einheit kämpften.«
»Ich hatte stets gute Gründe, an diesen Orten zu sein.« Malleus blieb gelassen. »Aber das spielt im Moment keine Rolle.«
»Was sage ich, wenn sie mich zu den Goldfigürchen befragen?«
Malleus wandte sich zur Tür und nahm seinen Hut mit der Rechten. »Nichts. Schweig einfach von jetzt ab.«
Schwan lachte böse. »Das kann ich sehr gut.«
Malleus zwinkerte ihm zu. »Sie werden es bereuen, nicht mit Interpol zu kooperieren«, rief er dann laut und öffnete den Ausgang. »Wir hätten Ihnen einen Deal anbieten können, aber so wird das nichts. Sagen Sie den Leuten von der Sûreté Bescheid, sobald Sie Ihre Meinung ändern.«
»Verpiss dich, Bulle«, rief Schwan gespielt wütend. »Du kriegst mich nicht klein. Du nicht und die anderen Penner erst recht nicht. Nicht mal die beschissenen falschen Götter! GodsEnd wird triumphieren. Wir sind überall und der Aufgabe verpflichtet, die Menschen zu erwecken.«
Malleus schloss die Tür und suchte sein Zigarrenetui aus dem Mantel, wählte eine mit grüner Banderole, auch wenn die dunkelpurpurfarbene ihn schwer lockte. »Wichser.«
Der Anzugträger stand neben der Tür an die Wand gelehnt, die Arme vor der Brust gekreuzt, und betrachtete ihn. »Harter Knochen, was?«
»Ist er.« Malleus setzte den Hut auf, entzündete den Span und damit die angebohrte Culebra, ohne Rücksicht auf die Krankenhausumgebung. »Aber Sie schaffen das schon, Kollege.«
Er ging an ihm vorbei und paffte. Der Qualm löste sich sofort in nichts auf, als wüsste er, dass sonst die Rauchmelder anschlügen.
Malleus blickte auf seinen PDA, schaltete den Störsender ab und rief die Reisedaten auf, um zu seiner Kundin aufzubrechen. Sein Flug nach Puliwya, wie es auf Quechua hieß, oder auch Wuliwya auf Aymara oder zu Deutsch Bolivien, ging in zwei Stunden.
Er besaß genug Zigarren und eine neue Garderobe.
Malleus fühlte sich allem gewachsen und dem Gegenspieler Nummer eins dicht auf der Spur.
Beschissene Organhehler!
Haben mich den Anschluss an ihn, dem ich folge, gekostet. Kann jetzt zusehen, wie ich ihn wiederfinde, ohne die ganzen Wanzen und Tracker, die ich ihm untergeschoben hatte.
Fuck, wenigstens gab’s in den Buden der Idioten Geld, ein paar Waffen, Klamotten. Das reicht.
Ihn finden kann ich vergessen. Nicht ohne Anhaltspunkt.
Aber ich bin schlau. Hab mich wieder an Blondie gehängt, und dieser andere Wichser ist ja weg vom Fenster. Eingebuchtet.
Kam in den Nachrichten: Ove Schwan.
Was ist das für ein Name? OVE?
Klingt wie eine Abkürzung für ein Formular. Oder eine Krankheit. OVE hat HIV. So was.
Er liegt im Krankenhaus und wird von den Bullen durchgemangelt. Würde ihn zu gerne besuchen, das Arschloch. Auspusten. Weghauen. Den Schädel zwischen Türblatt und Rahmen zum Platzen bringen. Wegen ihm haben sie meine APB.
MEINE APB!
Ich stehe schon wieder kurz vorm Durchdrehen. Ruhig. Ich darf die Kontrolle nicht verlieren, weder über meine Wortwahl noch meine Beherrschung.
So oder so: Das gute Stück ist weg, kann ich vergessen. Finde ich nie wieder auf dem Markt. Jedenfalls nicht im verfickten Lutetia. Hat keine Russen hier, denen ich das Beschaffen zutraue.
Vielleicht in Berlin … oder haben sie das auch umbenannt? Egal. In Berlin, da gibt es die Russen, die ich brauche.
OVE, fuck, du bist tot. So was von. Nicht nur wegen der APB. Du Hundeficker hättest mich umgebracht, wenn ich meine Ninjasterne nicht gehabt hätte.
Dafür opfere ich dein Leben, Drecks-Terrorist. Ich kann verdammt nachtragend sein. Wirst du bald sehen.
Da fährt die Achtziger-Madame. Zusammen mit zwei Bullen. Mal wieder.
Hat das Mädchen unter Polizeischutz gestellt. Musste er wohl, wo ihr Schatten weg ist.
Apropos weg: Ich muss mir Wurfsterne kaufen und präparieren. Sind echt gut, die Dinger. Ha, ha, ha, wie das aussah: durch die Kapuze in den Kopf. Geile Scheiße. Als wäre ihm eine Sternschnuppe in den Schädel gerauscht.
Langsam werde ich ruhiger. Gut. Das macht das Nachdenken einfacher.
Oh, wohin fahren wir denn?
Tresoriale. Schau an, ein Tresorbunker am Flughafen?
Was wird denn … ja, ich sehe schon. Sieht gut aus, mit den ganzen Sicherheitskontrollen.
Aber ich komme da auch rein. Die Klamotten und den Ausweis von einer der Wachen habe ich mir so schnell besorgt, so schnell können die gar nicht schauen.
Bin jetzt immer da, wo die Achtziger-Frau ist.
Denn früher oder später muss er zu ihr.
Zu ihr – da freut sie sich, die kleine Casablanca-Ingrid. Nee, Ingrid wird ihr nicht gerecht. Toughes Mädchen.
Trotzdem braucht er noch eine Bestrafung. Weil er mich abgehängt hat.
Ganz schöne To-do-Liste, die entstanden ist. Macht nichts. Ich habe sonst nichts vor.
Dann mal Blinker setzen und hinterher.
Puliwya (Quechua)/Wuliwya (Aymara)/Bolivien (Deutsch), Departamento La Paz, Tiwanaku November 2019
Malleus bestaunte auf der Fahrt im geliehenen BMW i8 die auferstandene Stadt, die bis vor wenigen Jahren noch zu den wichtigsten archäologischen Stätten des Landes gehört und im Jahr 2000 den Titel Weltkulturerbe der UNESCO verliehen bekommen hatte.
Das Atmen fiel ihm auf knapp viertausend Metern Höhe nicht ganz so leicht, doch sein Körper war viel gewohnt, und genau deswegen verzichtete Malleus nicht auf seine Culebra. Blaue Banderole.
Was er auch als archäologisch Unkundiger sofort bemerkte: Es gab einen eklatanten Unterschied im Stil der Bauwerke, als wären zwei verschiedene Architekten beauftragt worden, aus den Ruinen etwas Neues zu machen.
Sein PDA teilte ihm den Grund mit.
Das ältere Tiwanaku oder auch Tiahuanaco galt als der religiöse und administrative Mittelpunkt einer Kultur, die vor den Inka auf dieser Hochebene lebte und von der man wusste, dass sie ihren Höhepunkt von 600 bis 900 nach Christus erlebte, sie aber schon viel früher hier siedelten.
Das Einflussgebiet reichte damals bis zur Küste, der Atacamawüste und nach Argentinien. Aber die Bewohner mussten es aufgrund klimatischer Verschlechterung aufgeben. Die aufstrebenden und früher von ihnen unterdrückten Inka fanden bereits Ruinen vor.
Aymara und Inka. Zwei Kulturen und buchstäblich alte Feinde. Malleus hatte noch in Erinnerung, dass die Rückkehr der Götter in den mittel- und südamerikanischen Staaten viel reibungsloser vonstattengegangen war als in den USA oder anderen monotheistisch geprägten Ländern. Zwar war der Katholizismus eine große Kraft, besaß aber schon vor dem Erscheinen der Entitäten nicht mehr die bestimmende Macht über die indigenen Völker, die sich ihrer Tradition zuwandten.
Als plötzlich die Inka-Gottheiten real erschienen, vollzog sich der Wechsel rasch und automatisch. Es kam in der Bevölkerung nicht einmal die Frage auf, ob es richtig sei, sich vom Gott der europäischen Eroberer abzuwenden. Vielmehr schwoll der Ärger darüber an, dass man sich ihm hatte zuwenden müssen – und den bekamen die Kirchenbauten ab.
Der Autopilot des i8 fuhr wie aufgetragen an den Besonderheiten von Tiwanaku vorbei, um Malleus einen Eindruck zu verschaffen. Dank der Bewässerungssysteme und der Nähe zum Titicacasee ergrünte die Stadt an allen Ecken, es gab im Umland große Felder, wie er beim Überflug mit der kleinen Maschine gesehen hatte.
Stufenpyramiden reckten sich, mal traditionell aus Stein, dann aus Glas und Stahl, Verbindungsbrücken mit Laufbändern spannten sich über den Straßen und erlaubten den Fußgängern, über dem Verkehr schneller voranzukommen. Eine Inka-Statue hier, dort der Eingang zum Versunkenen Hof, andernorts lockte die Kalasasayaplattform, der Platz der stehenden Steine mitten in der Stadt, von mehr als hundert mal hundert Metern und mit Monolithen umrahmt. Es gab dort einen halb unterirdischen Tempel, und manche Experten sahen die Kalasasaya als Sonnenobservatorium der Prä-Inka-Zeit.
Das viele Tonnen schwere Sonnentor fand Malleus besonders spannend, mit seinen mehr als drei mal drei Metern war es aus einem einzigen Stein geschlagen. Es stammte noch aus der Aymara-Kultur, wurde restauriert und wirkte auf eine unerklärliche Weise beeindruckend, nicht nur wegen des Frieses mit der Gottheit, die zwei Schlangenzepter in den Händen trug.
Malleus’ Auftraggeberin wohnte in dem Viertel, das auf dem Ruinenfeld von Puma Punku stand, dessen genau behauene Monolithen zu einem nicht fertiggestellten Bauwerk der Aymara-Kultur gehörten.
Der i8 zog an den titanischen Steinen vorbei, die auf einem abgesperrten Areal standen und darauf warteten, eingesetzt zu werden.
Ungewöhnlich. Die zurückgekehrten Entitäten zögerten sonst selten, ihre Macht zu demonstrieren. Auf den Grund hierfür war Malleus gespannt.
Der Wagen bog in eine sehr frisch asphaltierte Straße, der man durch Motivstempel und Farbe den Anschein von Steinpflaster gegeben hatte. Das Haus von Ana Carmen Tejada befand sich auf der rechten Seite, ein klassischer Kastenbau mit beigefarbener Steinverblendung, ganz nach dem alten Vorbild der Ahnen.
Der BMW hielt an, Malleus setzte sich den Hut auf und stieg dabei aus. Es war warm, der Mantel blieb im Wagen. Die neue Garderobe von Karak trug sich leicht und passgenau wie eine zweite Haut.
Unübersehbar waren die wunderschönen Reliefs an der Vorderseite der Behausung, die eine deutliche Ähnlichkeit zum Sonnentor-Schmuck aufwiesen. Das ungeübte westeuropäische Auge vermochte Einzelheiten der Ornamentik auf die Schnelle nicht zu erfassen.
Sein PDA wusste es genauer, als er damit zwecks besserer Einordnung über die Fassade schwenkte. Motiv: Original Reproduktion der Raimondi-Stele Chavín de Huántar, stand auf dem Display. Darstellung: Wesen mit Raubtierzähnen und Greifvogelklauen. Die Zepter in den Händen werden aus gebündelten Katzen und Schlangen gebildet, Gürtelschmuck: je zwei Schlangen an den Seiten. Auffällig großer Kopfputz mit übereinandergeschichteten katzenhaften Fratzen sowie strahlenförmigen Ausläufern, Haare oder Federn, samt Schlangen. Ähnliche Darstellungen von Entitäten: spätere Anden-Kulturen sowie in der Tiahuanaco-Kultur, dargestellt auf dem Sturz des Sonnentors.
Malleus fand das abstrakt-anthropomorphe Bild reichlich verwirrend. Sicherlich ist viel Vorstellungskraft gefragt.
Deutungsversuche gab es viele, von Schlangen- bis Drachengott und zum felino volador, einer Art fliegender Katzengott. Nicht alle Rätsel lösten sich mit der Rückkehr der Entitäten.
Er ging über einen kurzen Plattenweg zur Eingangstür, über die sich ein Vordach schob.
Kaum näherte er sich, öffnete ihm eine ältere Frau in einer Garderobe, die denen der Inkas nachempfunden war, mit viel Weiß und gedeckten Naturfarben.
Vom Äußeren her gehörte Tejada zu den Indios, das schwarze Haar trug sie offen, es wurde von verschiedenen Goldkettchen und Spangen aus dem Gesicht gehalten. An den Ohren baumelten große Creolen, eine Kette aus Lapislazuli und Silber lag um ihren faltig braunen Hals.
Sie lächelte Malleus freundlich an und bat ihn mit einem Winken herein. Drinnen roch es nach Zitrusfrüchten und frisch gebackenem Brot.
»Ich habe mir schon Sorgen gemacht, Mister Bourreau«, sagte sie mit deutlichem Akzent in einer durchdringenden Stimme. Wenn Tejada schreit, könnte sie damit Stein schneiden.
Er setzte den Hut ab und deutete eine Verbeugung an, mit dem Stofftaschentuch wischte er den Schweiß weg. »Der Autopilot brachte mich sicher vom Flughafen. Aber die Verzögerung bleibt mein Verschulden, Miss Tejada. Ich wollte mir noch ein, zwei Sehenswürdigkeiten im Vorbeifahren anschauen. Wer weiß, wohin mich Ihr Auftrag verschlägt.«
Sie lachte und geleitete ihn durch den kleinen Flur, der ebenso mit Terrakotta gefliest war wie das Wohnzimmer, in das sie gelangten. Die Malereien an den Wänden wiesen alle eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Wandmotiv des Hauses auf, die Malleus durchaus verwirrten. Die gewebten Teppiche auf dem Boden und an den Wänden strotzten vor Farben und wilden Mustern.
»Nehmen Sie doch Platz«, lotste Tejada ihn auf den kleinen Sessel neben dem Fenster, von dem aus man in einen sehr kargen Kakteen-Steingarten blickte.
Anders als an den Plätzen, an denen er auf der Fahrt vorbeigekommen war, schien es hier weniger Wasser zu geben. Oder Tejada hatte eine Vorliebe für diese genügsamen Gewächse.
Für jemanden, der Kunstschätze sammelt, hat sie äußerst wenige davon. Um genau zu sein, entdeckte Malleus lediglich eine alte Schale, die ungeschützt auf dem Schrank stand, als wartete sie darauf, mit Knabbereien gefüllt zu werden.
»Erklären Sie mir doch, Mister Bourreau, weswegen Sie meinen Auftrag annehmen wollen.«
Damit hatte Malleus nicht gerechnet. »Wie meinen Sie das, Miss?« Seine kontaktlinsenblauen Augen richteten sich auf die Dame.
»Das Geld kann es nicht gewesen sein«, sagte Tejada. »Die Summe ist nicht allzu hoch. Zudem sind Sie Atheist und bekannt dafür, sich Vorkommnissen anzunehmen, die mit Göttern in Verbindung stehen.« Die Indio setzte sich und betrachtete ihn. »In meinem Fall geht es um einen schnöden Diebstahl.«
Es kam Malleus merkwürdig vor, sich für die Annahme des Auftrags vor der Person rechtfertigen zu sollen, die ihn anheuerte. Er fuhr sich über den Fu-Manchu.
»Der Gegenstand, um den es geht, erweckte meine Neugier«, gab er unumwunden zu. »Denn Sie müssen zugeben: Das Horn des Nandi passt nicht unbedingt nach Bolivien. Daher möchte ich auch wissen, wie das vermeintliche Stierhorn, das in Verbindung mit einer hinduistischen Gottheit steht, in dieses Land kam.«
Tejada nickte wie eine Therapeutin, deren Patient einen eigenen Erkenntnisgewinn vorweisen konnte. »Ich dachte mir das.«
»Weswegen ist es für Sie wichtig, Miss?«
»Ich bin misstrauisch.«
»Gehe ich recht in der Annahme, dass Sie denken, ich spiele ein doppeltes Spiel?«, schloss er verwundert daraus. »Ah, natürlich! Sie halten es für möglich, dass ich von dem verfeindeten Sammler den Auftrag bekommen habe, Ihnen noch mehr zu rauben.«
Tejada seufzte zustimmend. »Schrecklich, wie schnell man als alter Mensch den Glauben an das Gute verliert.« Sie deutete um sich. »Aber die letzten Jahre ließen nicht viel Platz für Vertrauen. Ich gehöre zu den Nachfahren der Aymara, die Tiwanaku gründeten. Allerdings haben die Inka-Kindeskinder ihren Anspruch deswegen nicht aufgegeben.« Ihre braun gebrannte, runzlige Hand legte sich auf Malleus’ Rechte. »Alle reden davon, dass der Christengott und Allah und Jahwe verschwunden sind und dass die zurückgekehrten Götter sich grausam rächten. Aber niemand spricht über den Hass, der in den eigenen Reihen aufbricht. Die Gegend, in der ich lebe, ist nichts anderes als ein schickes Getto. Aber ich weiß, dass die Inkas uns am liebsten opfern würden.«
Malleus gestand sich ein, dass er darüber nicht nachgedacht hatte, jedenfalls nicht, was die indigenen Völker in Mittel- und Südamerika anging. In Europa gab es Differenzen zwischen den frisch Konvertierten und den NeoPagans, die schon lange zu den alten Entitäten beteten und sich als die besseren Anhänger betrachteten. Doch das beruhte weniger auf Volkszugehörigkeiten.
»Das ist richtig«, stimmte er zu und überlegte, was sie von ihm wollte. Beistand gegen die Anfeindungen oder die Suche nach dem Horn? »Europa ist weit weg.«
Tejada nickte. »Ach, ich rede und rede«, sagte sie mit einem leisen entschuldigendem Ächzen, »und dabei sind Sie wegen etwas ganz anderem gekommen.« Sie drückte kurz zu und zog ihre Finger von seinen, der Ohrschmuck wippte und schlug klirrend gegen die Halskette. »Vergeben Sie einer alten jammernden Frau.«
Malleus lächelte sie an. Sie hat es nicht leicht. Aber ich muss sie dazu bringen, mehr von dem Fall zu berichten.
Tejada nahm den Tabletcomputer, der auf dem Beistelltisch lag, und rief ein Bild auf, reichte das Gerät an ihn weiter. »Das Horn von Nandi. So sieht es aus.«
Malleus verschwieg, dass er genau wusste, wie es aussah, sondern betrachtete es eingehend. »Ein schönes Stück.«
»Kennen Sie die Legende dazu?«
»Dass es vom Götterstier stammen soll, ja.«
»Nein. Ich meine, wie es abhandenkam?«
»Oh, nein. Diese Legende kenne ich nicht.« Malleus zoomte die Abbildung größer und erkannte die vielen gravierten Details, die in das Horn geschnitzt und herausgearbeitet waren. Endlich Informationen!
»Schade. Ich auch nicht.« Tejada blickte sich um, die braunen Augen wirkten erschrocken. »Du liebe Zeit! Ich habe Sie gar nicht gefragt, ob Sie etwas trinken möchten. Wollen Sie, Mister Bourreau?«
Langsam nervte ihn die etwas wirre Art, doch das war auch seiner eigenen Ungeduld geschuldet. Nach wie vor wusste er nicht, ob er den unbekannten Sammler jagte oder es sich als falsche Fährte erweisen würde. Sei kein Arschloch.
»Sagen Sie mir doch erst, woher Sie das Horn haben«, schlug er vor und nahm das Zigarrenetui hervor. »Ich würde gerne die Recherchen beginnen. Und« – er tippte auf das digitale Bild – »ich bräuchte einen Beweis, dass Sie die rechtmäßige Eigentümerin sind.« Er öffnete die Schachtel und ließ den Duft aufsteigen, wählte eine Culebra mit grüner Banderole.
»Natürlich, natürlich«, haspelte die Indio. »Ich habe als Mädchen einen sehr reichen Mann aus Europa geheiratet, von dem ich wenig wusste, außer dass wir uns lieben. Das reichte mir damals.« Tejada lachte auf. »Es stellte sich heraus, dass er eine Kunstsammlung hatte, die er mir nach seinem Tod überraschend vermachte. Sie besteht aus hundert Objekten, aus den verschiedensten Kulturen und Epochen, von Gemälden bis zu Skulpturen und Artefakten.« Sie wischte auf dem Display herum und zauberte eine Fotogalerie hervor. »Hier können Sie in Ruhe schauen.«
Malleus schloss aus der Erzählung, dass sich die Sammlung nicht in diesem Haus befand. »Sie haben diese Schätze wo verwahrt?«
»Ich hatte sie einem Museum als Dauerleihgabe zur Verfügung gestellt, weil ich dachte, sie wären bei den Profis am besten gesichert, und gleichzeitig haben die Menschen etwas davon.« Tejada seufzte. »Was ich von meinem Mann noch vererbt bekam, war jener verfeindete Sammler. Ich bin mir sicher, dass er bei dem Unfalltod meines Gatten damals die Finger im Spiel hatte. Er machte mir danach ein Kaufangebot, zuerst für das Horn, danach für die gesamte Sammlung.«
Das passt zu ihm. Malleus schluckte. »Das wird eine große Summe gewesen sein.« Er schnitt das Mundstück ab und entzündete den Span und damit die Zigarre. Er wünschte sich, dass Tejada endlich zum Punkt kam. Die Culebra beruhigte ihn und schraubte hoffentlich die Ungeduld herab.
»Das Geld interessiert mich aber nicht, Mister Bourreau. Ich kann diesen Kerl nicht ausstehen!« Sie lehnte sich in den Sessel, ihre Blicke richteten sich auf den Kakteengarten. »Kaum hatte ich die Angebote ausgeschlagen, wurde mir mitgeteilt, dass in das Museum eingebrochen worden sei. Gestohlen wurde trotz aller Schätze das vergleichsweise unspektakuläre Horn des Nandi.«
»Wie gingen die Täter vor?«
»Der Direktor wusste es nicht. Am nächsten Morgen bei Öffnung der Ausstellung fiel die leere Vitrine auf.«
»Und weil der verfeindete Sammler unbedingt das Horn haben wollte, schlossen Sie daraus, dass er dahintersteckt«, fügte Malleus hinzu. »Hätten Sie wohl einen Namen für mich?«
»Nein.«
»Nein?«, wiederholte er vor Überraschung. Jetzt verliere ich die Geduld. »Miss, Sie müssen doch …«
»Mein Mann sprach von ihm niemals mit Namen. Und er wendete sich an mich über einen Mittelsmann«, erklärte Tejada und suchte aus den Falten ihres Gewandes ein Schriftstück, das neben der Sprache der Einheimischen auch eine englische Fassung enthielt. »Das ist der Erbschein, der die Rechtmäßigkeit des Testaments bescheinigt. Das wollten Sie doch, oder?«
Malleus nahm das mehrsprachig ausgestellte Papier entgegen und überflog es.
Auf den ersten Blick war alles in Ordnung, im Anhang gab es eine Liste mit den Kunstschätzen, die ihrem Gatten gehört hatten. Als er die Zeile mit dem Horn erreichte, stutzte er und paffte mehrmals. »Hier steht nichts vom Horn des Nandi«, wandte er sich fragend an die Indio. »Es wird aufgelistet als Horn des Alexander des Großen.«
Tejada nickte heftig. »Ich weiß. Ein Trick. Mein Mann wollte nicht, dass hinduistische Fanatiker auftauchen, um ihn vor Gericht zu zerren und das Artefakt aus religiösen Gründen für sich zu beanspruchen. Oder noch schlimmer: dass Shiva auftaucht.« Sie warf die Arme in die Luft. »Stellen Sie sich vor, Mister Bourreau, was geschehen würde! Hier, inmitten von Tiwanaku, wo verschiedene Gottheiten und Völker eh nicht gut aufeinander zu sprechen sind, mischt sich auch noch ein weiterer Gott ein.«
Malleus konnte es sich gut vorstellen, doch es amüsierte ihn mehr, als dass es ihn beunruhigte.
Was ihm weniger gefiel, war die Unsicherheit bezüglich des Artefakts.
Es konnte eine Kopie sein – und wer sagte, dass man Tejada keinen Schund angedreht hatte? Malleus setzte auf das Gespräch mit dem Direktor oder Kurator.
»Dann brauche ich von Ihnen eine Bestätigung, dass Sie mich beauftragten, die Adresse des Museums und die Kontaktdaten des Mittelsmanns«, bat Malleus sie. »Ich lege sofort mit den Recherchen los.«
Tejada seufzte erleichtert, und die Steine der Kette rieben leise.
Celtica, Paris-Lutetia, November 2019
»Wieder zum Tresoriale?«
»Natürlich, Jean-Luc.« Marianne Lagrande fühlte sich sehr gut, während sie einmal mehr mit den beiden Polizisten durch Lutetia fuhr und einem Ziel entgegenstrebte, das ihren Triumph krönen sollte. Die Frage klang, als wäre sie eine feine Dame, die sich mit ihren beiden Assistentinnen in den besten Club der Stadt oder in das schönste Restaurant kutschieren ließ.
Aber tatsächlich befand sich Lagrande auf dem Weg zur Arbeit. Es würde dieses Mal gelingen, das spürte sie. Deutlich.
Dann muss mich der Inspecteur zum Essen einladen. Sie grinste wie ein Honigkuchenpferd. Und es wird ein wundervoller Abend werden. Das Banlieue-Mädchen und der Atheist. Sie unterdrückte ein Kichern.
Ihr Höhenflug war berechtigt.
Es war ihr in der Nacht gelungen, das letzte der Artefakte zu bestimmen, indem sie den Code knackte.
Hannes Hein hatte dazu geschrieben:
BRONZEDOLCH (England), auch »Dolch des Goibniu«
Inv.-Nr. 699
Bronzedolch,
dazu eine Hülle aus zusammengefügtem Holz, Horn u. Knochen (Original)
*Herkunft: Athlone, Co. Westmeath
*Fundort: Flussbett des Shannon
*Material: Bronze
*Länge: 16,5cm
*Alter: ca. 2500 v. Chr.
*Preis: 50.000+ Euro
Zeigt untypische Merkmale für die damalige Zeit auf, wie mehrere Blutrinnen i. d. Klinge, Einlegearbeiten im Griff aus Gold u. Silber.
Zeichen darauf, die evtl. auf kelt. Gottheit Goibniu hinweisen. Man beachte die eingebr. Fingerabdrücke!
Die Wette mit Marcus Roy Crick war zumindest nicht verloren. Lagrande hatte auf ein letztes keltisches Artefakt getippt, er hingegen auf ein osteuropäisches. Die Bronzezeit konnte man nicht wirklich als keltisch bezeichnen – auch wenn der Shannon in Irland als Fundort eindeutig in den keltischen Bereich fiel. Wir einigen uns am besten auf unentschieden.
Der Peugeot wurde von Jean-Luc zum Flughafengelände gefahren, sein Kollege Jonathan achtete derweil auf die Umgebung.
Lagrande hatte eine einfache zerrissene Jeans mit hervorblitzender schwarzer Strumpfhose gewählt, ein weißer Rollkragenpulli schützte sie zusammen mit dem Parka vor der Kälte; die blonden Haare lagen unter einer roten Mütze.
Sie freute sich über ihre beiden hochoffiziellen Leibwächter, die gepanzert und bewaffnet waren, denn sie erinnerte sich äußerst gut daran, mit welcher Übermacht sie schon mehrfach zu tun gehabt hatte. Deswegen gab es noch ein zweites Team, das ihnen folgte, ohne in Erscheinung zu treten. Sie waren für die Rückendeckung verantwortlich.
Wegen ein paar Artefakten und eines hysterischen Sammlers, der auf alle Gesetze pfeift. Lagrande sah die Einzäunung des Flughafens auftauchen.
Jean-Luc lenkte den Wagen souverän durch die Kontrollen, die dank der Polizeiausweise dieses Mal kein Problem waren. Man kannte sich mittlerweile.
Sie parkten den Peugeot vor Halle 2 von Tresoriale, einem mit Wachmännern versehenen Hochsicherheitstrakt.
Ihre beiden Personenschützer blieben vor dem einzigen Zugang in das Gebäude, in dem sich Stahlcontainer an Betoncontainer reihten. Einst errichtet für die wertvollste Ware und für die einbehaltenen Gegenstände auf Flügen oder aus dem Zollbereich, wurden die beinahe atomschlagsicheren Gehäuse gegen viel Geld diskret vermietet. Wie Schließfächer einer Bank. Nur eben um ein Vielfaches größer.
Es gab sie klimatisiert und nicht klimatisiert, Lagrande hatte die hermetische Variante mit Sonderausstattung gemietet.
Dahin machte sie sich nun auf, ausgerüstet mit Thermoskanne, viel Wissen plus Computer, um die Gemeinsamkeiten der entwendeten Artefakte aus Hannes Heins Kabuff zu ergründen.
Lagrande fühlte sich in der immensen Halle sehr sicher. Niemand, der hier nichts zu suchen hatte, bekam einen Fuß hinein. Ohne einen entsprechenden Ausweis, der einen als Mieter legitimierte, gab es kein Vorbeikommen an den gepanzerten Sicherheitsleuten mit ihren Hunden und Schnellfeuergewehren.
Lagrande fand ihren Tresor und öffnete die Tür mit dem Code und dem Fingerabdruckscan, zischend schwang das armdicke Schott nach innen auf; die Bolzen, mit denen er verriegelt wurde, waren mehr als fingerdick. Höchstens ein Gott vom Kaliber eines Hephaistos kam durch das Hindernis.
Sie setzte sich an den kleinen Tisch, wo die Artefakte säuberlich nebeneinanderlagen.
Im Schein der Arbeitslampe, mit Lupe und Scanner rückte sie den Gegenständen einmal mehr bis ins kleinste Detail zu Leibe.
Belenos steh mir bei. Der Durchbruch ist ganz nahe. Tatsächlich hatte sie bei dem japanischen Fächer, der Inuit-Harpunenspitze, der afrikanischen Statue sowie dem darin enthaltenen Diamanten und sogar auf den Goldkäfern, bevor sie ihr gestohlen wurden, etwas entdeckt, was sie stutzig machte. Abgesehen von der Tatsache, dass man im damaligen Afrika nicht in der Lage gewesen war, einen Diamanten derart zu polieren, fand sie ein rätselhaftes Symbol bei sämtlichen Artefakten. Es versteckte sich gut, mal in kleinsten Schnitzdetails, auf dem Fächer als ertastbare Prägung, als Unreinheit im Diamanten, als scheinbar verbranntes Stückchen im Inneren der Statue.
Die Abmessungen entsprachen sich in Relation ganz exakt, es gab nicht ein My Abweichung.
Lagrande hatte die Materialien heimlich in einem Labor auf das Entstehungsalter untersuchen lassen, inklusive der Zeichen. Damit konnte sie ausschließen, dass ein Spaßvogel die Artefakte nachträglich mit seinem Symbol versehen hatte, als Versuch, ein künstlich generiertes Rätsel zu lancieren.
Ein echtes Rätsel. Lagrande wäre bereit zu wetten, dass sich auch auf den fehlenden Gegenständen irgendwo dieses Zeichen befand.
Belenos, sieh: Ich habe die Gemeinsamkeit und den Grund, warum der Sammler sie jagt. Sie drehte die Thermoskanne auf und goss sich ein.
Doch die Bedeutung erschloss sich ihr nicht. Deswegen saß sie erneut im Container.
Tresoriale.
Ziemlich bewacht. Zumindest von außen. Aber hier …
Das sieht aus wie eine Containerstadt in einer Lagerhalle.
Manchmal ist es doch einfacher, als man annimmt. Habe mir einen der unachtsamen Rundgangsecuritys geschnappt, samt Klamotten, Ausweis und Waffen. Bis sie die Leiche finden … werde ich Ingo Rittmann sein. Ein Ausländer. Ein Germane. Bin gespannt, wie er so lebt, in Lutetia. Seine Adresse habe ich gratis dazubekommen.
Stahlkammern an Stahlkammern an Betonbunker an Betonbunker.
Was hier wohl alles liegt? Garantiert Schmuck und Schätze und alles, was man sich an Reichtümern vorstellen kann.
Da geht sie, Blondie.
Die Bullen hat sie vor dem Eingang abgestellt, aber weil ich ihr über die Container folge, sieht sie mich nicht.
Keine Kameras. Klar. Privatsphäre. Wird sich keiner filmen lassen wollen, wenn er Beutekunst bewundert oder … keine Ahnung … Koks in Fünfundzwanzig-Kilo-Säcken durch die Gegend schleppt.
So, sie bleibt stehen. Umschauen, mich nicht entdecken, sehr gut, und rein in den unklimatisierten Container.
Klack, Stahltür wieder zu.
So. Prima. Jetzt kann ich nur hoffen, dass sie auch wieder rauskommt.
Garantiert untersucht sie die Artefakte.
Ist aber ziemlich blauäugig, die beiden Bullen mitzunehmen. Die wissen nun zumindest mal, wo sie was versteckt hält.
Könnte mal nach ihnen sehen, könnte mal … Halt. Da kommen zwei, drei, vier Typen rein, alle mit riesigen Schießeisen. Garantiert suchen die meine Achtziger-Frau!
Das nehme ich jetzt aber doch ein wenig persönlich. Ist ein bisschen wie mit ihm, dem ich folge: Niemand außer mir bestimmt, wann er stirbt.
Das gilt auch für die Idioten dort unten.
Ihr Götter, was gäbe ich für meine APB.
Muss aber so gehen.
Wird es auch.
Also, in aller Ruhe wieder hinlegen, diese langweilige P7 Halbautomatik in den Anschlag, die Kante als Stütze dienen und entsichern.
Wen kille ich zuerst?
Puliwya (Quechua)/Wuliwya (Aymara)/Bolivien (Deutsch), Departamento La Paz, Tiwanaku, November 2019
Malleus fuhr durch die Stadt, die ihm vergleichsweise leer vorkam.
Die meisten Geschäfte hatten bereits geschlossen, die Rollos und Gitter waren heruntergelassen. Da er die Hinweisschilder in den Landessprachen nicht lesen konnte, blieb ihm der Grund für die auffällige Ruhe zunächst im Verborgenen.
Das änderte sich, als er an einer Kreuzung auf Polizisten stieß, die den Verkehr umleiteten, weg von der Hauptstraße. Auf dem großen Platz vor einer riesigen Stufenpyramide, der in einiger Entfernung zu erkennen war, versammelten sich Hunderte Menschen mit Plakaten und Transparenten.
Eine Demonstration. Malleus rieb sich über den Fu-Manchu und folgte den gewinkten Hinweisen des Polizisten, der Navigationscomputer zeigte umgehend die neue Strecke an.
Wenn Geschäfte früher dichtmachten, wurde sicherlich mit Gewalt gerechnet. Malleus vermutete, dass es um diese Sache zwischen Inka- und Prä-Inka-Nachfahren ging. Die Entitäten schienen sich dabei vornehm zurückzuhalten und es die Menschen unter sich austragen zu lassen.
Malleus überließ dem Autopiloten das Fahren und sah sich um, hing seinen Gedanken rund um die alten neuen Staaten in Mittel- und Südamerika nach.
Es gab zumindest in Tiwanaku einen Sonnenkult. Dazu wurden in Bolivien die Versuche stärker, das Ständesystem der Inka einzuführen und mit der Moderne in Einklang zu bringen, was Zeit und Überzeugungsarbeit kostete. Die Abkehr von der demokratischen Staatsführung und die Etablierung eines eher rückwärtsgewandten Systems benötigte viele gute Gründe.
Der traditionelle Kult um den Sonnengott Inti verbot zwar keine sonstigen Gottheiten, aber schränkte deren Anbetung ein. Dagegen würden die Entitäten, wie der Schöpfergott Viracocha und die Erdgöttin Pachamama, sicherlich etwas haben – oder einen eigenen Weg finden, ihre Macht auszubauen. Zudem spielten auch animistische Elemente eine Rolle in der Bevölkerung.
Früher zumindest. Sein Wissen in diesem Teil der religiösen Welt erwies sich als lückenhaft. Malleus wusste, dass zwar die Zeit der Ruhe in Südamerika eingekehrt war, sich aber einige aufgewühlte Dinge im Bewusstsein der Menschen festgesetzt hatten.
Dazu stand eben auch in Tiwanaku die Frage im Raum, wie man mit den vorangegangenen Kulturen und deren Göttern umgehen sollte, denen ein Popularitätsproblem anhaftete. Würde mich nicht wundern, wenn sich Milords Truppe in dieser Gegend aufhält.
Malleus verdrängte den angenehmen Gedanken an die brünette Agentin, die ihn zum Abschied geküsst hatte.
Der i8 fuhr auf ein großes Gebäude zu, das einen hallenähnlichen Charakter besaß und an dessen Vorderseite ein großes Sonnensymbol prangte. Auf der LED-Wand und den herabhängenden Fahnen wurde für verschiedene Ausstellungen über die Inkas geworben, die in dem Neubau versammelt waren.
Malleus ließ den Autopiloten in einer Seitenstraße einen Parkplatz suchen, setzte sich den Hut auf und verließ den Wagen. Erst jetzt vernahm er das Dröhnen von Trillerpfeifen und unzähligen Trommeln, das von der Demonstration bis zum Museum drang.
Im Gehen schrieb er eine Nachricht an Lagrande, dass sie ihm bitte mehr Informationen über seine Auftraggeberin sowie ihren verstorbenen Mann beschaffe. Den Namen des Mittelsmanns, Eduardo Juaréz, sollte sie auch gleich via Interpol-Datenbank prüfen.
Für Malleus kühlte der Fall ab.
Er wusste nicht genau, wie er die alte Indio-Dame einzuordnen hatte und wie viel von ihrer ältlichen Art gespielt sein mochte.
Bei seiner Rückkehr würde er ihr ein paar kleine Fragen stellen und sie dabei genauer beobachten. Das war nicht zuletzt der Antwort des Museumsdirektors geschuldet, der auf die E-Mail-Anfrage zwecks Treffen und Untersuchung des Diebstahls mit sehr vielen Smileys geantwortet hatte, was weder zum ernsten Thema noch dem Verlust eines Kunstschatzes passte.
Ich habe mich zu früh gefreut, fürchte ich. Malleus musste einmal um den Block laufen, weil er auf der Querstraße bereits die ersten dahinziehenden, aufgeputschten Demonstranten sah und herumschwenkte. Auf eine Begegnung mit ihnen verspürte er als deutlich erkennbarer Europäer wenig Lust. Die meisten trugen Inka-Gewänder mit gewaltigen Masken und Federschmuck, um ihr kulturelles Bekenntnis deutlich zu zeigen. Sätze wurden skandiert, die Menge klang stolz und fordernd.
Dahinein möchte ich nicht geraten. Malleus verfiel ins Traben, weil er sonst zu spät zum Treffen erschien.
Plötzlich rannten zwei atemlose Personen aus einer Seitengasse und kollidierten mit ihm.
Den Sturz konnte er gerade noch vermeiden, indem er zwei Ausfallschritte machte, der Mann und die Frau jedoch gingen zu Boden.
Es waren Einheimische, die keine besonders auffällige Kleidung trugen, die Frau verlor ihren großen Strohhut und schürfte sich das Knie auf. Dabei erfasste Malleus die anderen Blessuren, die sie bereits trug. Ihr Begleiter stemmte sich schimpfend in die Höhe, auch seine Jacke zeigte ein eingerissenes Loch und mehrere schmutzige Stellen.
Keine Gefahr für mich. »Warten Sie, ich helfe Ihnen.« Malleus reichte der Frau die Hand, als er einen Einschlag im Rücken spürte; gleich darauf sah er neben sich den Stein kullern, der ihn getroffen hatte.
Schnell half er der Indio auf und wandte sich um.
Er sah eine Gruppe von dreißig, vierzig Einwohnern, die ihr Rennen verlangsamten und ihn feindselig anschauten. Manche trugen faustgroße Steine in den Händen, die sie nach dem Paar schleudern wollten. Das unerwartete Auftauchen des Fremden schien sie vorerst davon abzuhalten. Zwei aus der Gruppe hielten gesenkte Plakate, sie schienen zu den Demonstranten zu gehören. Inzwischen trennten ihn und die Menge keine zehn Meter mehr.
»Mischen Sie sich nicht ein«, bat die verletzte Frau, die nur noch mit einem Bein auftreten konnte. Sie musste sich den Knöchel verstaucht haben. »Gehen Sie weiter. Dann wird Ihnen nichts geschehen.«
»Lassen Sie das ruhig meine Sorge sein, Miss. Rufen Sie die Polizei«, befahl Malleus dem Mann, ohne die näher rückende Meute aus den Augen zu lassen.
»Sie kommen nicht. Nicht wegen Aymara wie uns.« Er hob die Frau auf seine Arme und eilte davon, so rasch es ihm möglich war.
Das werden wir sehen. Malleus zog seinen PDA und aktivierte den Notruf. Für ihn würden die Ordnungshüter kommen müssen. Anschließend reckte er die Arme. »Stopp«, rief er der Menge entgegen. »Sie werden …«
»Aus dem Weg«, schrie ihn ein Junge auf Englisch an und hob drohend seinen Stein. »Ihr habt uns nichts mehr zu befehlen.«
Ihr. Europäer meint er. »Das lag nie in meiner Absicht.« Malleus lächelte gewinnend, obgleich sich die Lage auch für ihn negativ entwickelte. »Lassen Sie bitte die beiden Herrschaften in Frieden ihrer Wege gehen.«
»Verpiss dich!« Der Junge warf den Stein nach ihm.
Malleus wich dem Geschoss aus, es klackerte harmlos über den Straßenbelag. Er unterdrückte den Impuls, in die Tasche zu greifen und den Apache Deringer zu ziehen. Noch hoffte er darauf, dass die Polizei schnell eingreifen würde.
Weitere Steine flogen über ihn hinweg.
Das Pärchen schrie auf, während der Pulk jubelte. Man sah an den Körperhaltungen, dass sie sich zum Stürmen anschickten, ganz gleich, was der Europäer ihnen sagte.
Ich werde kein Lynchen zulassen. Malleus machte sich bereit.
Da jaulte ein schweres Motorrad auf, und ein Polizist in einer schwarz-weißen Lederkombi kam neben Malleus mit seiner sportlichen Maschine zum Stehen, das Vorderrad wippte in der Federung. Das verspiegelte Visier seines Helms gab ihm etwas von Judge Dredd. »Sir, Sie haben den Notruf gewählt?«, erkundigte sich der Mann, ohne abzusteigen. Mit einem satten Blubbern erstarb der Motor.
Die Menge blieb unschlüssig stehen.
Malleus zeigte auf die Ansammlung. »Ja, Sir. Diese Menschen bedrohten« – sein Finger schwang zu dem Pärchen, der Mann lag auf den Knien und hielt sich den Kopf, wo ihn ein Gegenstand getroffen hatte, während die Frau ihn stützte –»diese beiden.«
»Es sind Aymara«, zischte es aus der schützenden Menge.
Der Polizist sah zwischen den beiden Parteien hin und her und fragte dann Malleus: »Was genau geht Sie das an, Sir?«
Hat er das wirklich gesagt? »Menschen kommen zu Schaden, Sir. Das geht jeden etwas an.«
»Das geschieht jeden Tag auf der ganzen Welt. Manchmal mit Grund.« Der Polizist richtete das Visier auf Malleus. »Sehe ich das richtig, dass man Sie nicht bedroht hat, Sir?«
»Ich wurde mit einem Stein beworfen.«
»Lüge!«, schrie der Junge. »Wir haben ihm nichts getan. Das denkt er sich aus.« Die Leute um ihn herum nickten.
»Sir, ich verstehe, dass Sie mit der Situation überfordert sind«, sagte der Beamte unterkühlt. »Folgen Sie mir bitte, und ich bringe Sie aus …«
»Es tut mir leid, Sir, aber ich bin kein bisschen überfordert, sondern sehe vielmehr bei Ihnen eine mangelnde Bereitschaft, diese beiden Leute vor der Willkür der Angreifer zu schützen«, unterbrach ihn Malleus. »Und da Sie vermutlich nicht zu den Aymara gehören, werden Sie deswegen auch nichts unternehmen, abgesehen davon, dass Sie mich als Zeugen des Geschehens wegbringen.«
Der Polizist räusperte sich. »Sie unterstellen mir, dass ich gegen die Vorschriften verstoße, Sir?«
Malleus wusste, dass dem Mann ein Vorwand ausreichte, um ihn auf die nächste Wache zu verfrachten. Widerstand gegen die Staatsgewalt. Damit wäre das Schicksal des Pärchens besiegelt.
Ihn schockierte, wie offensichtlich die Abneigung von Inka- und Prä-Inka-Nachfahren zutage trat und in welche Gewalt es umschlagen konnte. Unter den Augen des Gesetzes, die durch das Spiegelvisier ganz klar blind wurden. Unter den Augen der Entitäten.
Malleus langte in seine Hosentasche und zog das Portemonnaie mit dem Dienstausweis hervor. »Mein Name ist Bourreau von Interpol, Sir, was mich zu einem Kollegen macht«, sprach er laut und deutlich. »Sollten Sie sich weigern, zugunsten der Bedrängten einzugreifen, muss ich das tun und werde Sie, Sir, bei Ihrem Vorgesetzten anzeigen. Und bei Ihrer übergeordneten Behörde.« Er tippte auf den PDA in seiner Brusttasche. »Ich zeichne das übrigens auf.«
Der Polizist drehte den Kopf zur Menge und sprach mit ihnen im Landesdialekt, woraus sich ein Wortwechsel ergab, den Malleus nutzte, um einen Rettungswagen zu ordern. Die beiden Verletzten wären auf diese Weise in Sicherheit gebracht.
»Es ist alles geklärt, Sir«, wandte sich der Polizist wieder an Malleus. »Sie können gehen.«
»Das tue ich liebend gerne, sobald der Wagen eingetroffen ist.«
»Wagen, Sir?«
»Die Ambulanz. Die beiden Herrschaften müssen ins Krankenhaus zur Untersuchung.«
»Sind Sie Arzt?«
»Nein, bin ich nicht«, blieb Malleus die Freundlichkeit in Person. »Genau deswegen habe ich ja einen Rettungswagen bestellt.«
Aus der Menge wurden Wörter zu ihnen gerufen, der Polizist machte eine resolut-beschwichtigende Geste. »Sir, Sie sind ein sehr umsichtiger Mensch. Dafür werden Ihnen die beiden Aymara sehr dankbar sein. Ansonsten würde ich Ihnen raten, den Rest Ihres Aufenthaltes sehr vorsichtig zu sein, wenn Sie durch dunkle Straßen unserer schönen Stadt gehen.«
»Ist es denn so gefährlich?«
Der Polizist zeigte auf die Meute, die sich langsam zurückzog und verächtliche Handbewegungen in Malleus’ Richtung machte. Einige schossen Fotos von ihm mit ihren Smartphones. »Für Sie ab heute, ja, Sir.« Er ließ die Maschine an und fuhr röhrend davon.
Fast gleichzeitig erschien der Rettungswagen und hielt an, die Sanitäter stiegen aus und kümmerten sich anstandslos um die Verletzten.
Die humpelnde Indio warf Malleus einen dankbaren Blick zu, während sie mit der Hilfe eines der Weißgekleideten in den Innenraum des Transporters stieg.
Er tippte sich erleichtert an die Hutkrempe und eilte vorwärts, um den Direktor zu treffen.
Malleus zweifelte nicht daran, dass der Polizist die Wahrheit gesprochen hatte. Und das, obwohl keine einzige Entität in den Vorfall verwickelt war. Ich kann mich auch ohne die Gottheiten in Bedrängnis bringen.
Celtica, Paris-Lutetia, November 2019
Lagrande nahm einen großen Schluck Kaffee, der nach unveränderter Zufriedenheit schmeckte: Sie war stolz auf die Entdeckung des Symbols auf den Artefakten. Jedoch erwiesen sich sowohl die großen Weiten des Internets als auch die herkömmlichen Bibliotheksverzeichnisse als Nieten, wenn es um dessen Bedeutung ging.
Lagrande fürchtete, demnächst in uralten, miefigen Archiven zu sitzen, eingehüllt in schlechtes Kunstlicht, wo es noch Microfiche gab und vergilbte Karteikarten, die unter den Fingern zerfielen, und es von Asseln und Spinnen und anderen Tierchen wimmelte.
Ihr Ehrgeiz befahl ihr praktisch, diesen Weg zu gehen, um dem Inspektor bei seiner Rückkehr fast die gesamte Lösung des Falles zu präsentieren.
Notfalls müsste ich in den Vatikan. Sie haben eine sehr große Sammlung.
Auf ihrem Laptop ging eine Nachricht ein: Die Taube muss fliegen.
Ihr wurde kurz kalt, das Blut sackte in ihren Magen. Es ist soweit!
Hastig raffte sie ihren Klapprechner, auf dem sie ihr Wissen gespeichert hatte, trank den Kaffee aus und schraubte die Thermoskanne zu.
Dann ging Lagrande zum verborgenen zweiten Ausgang des Tresors, sah sich ein letztes Mal um und huschte hinaus; die Beretta U22 Neos war durchgeladen, entsichert und in ihrer Rechten. Für den Notfall.
Mh.
Nein, ich warte noch. Erst mal sehen, ob es nicht doch kolumbianische Drogendealer sind, die ihre Frischware zwischenlagern.
Gehen von Container zu Container, checken die Nummern.
Jetzt bleiben sie …
Was macht denn die Achtziger-Frau da?
Sie … ha, ha, ha, da ist ein zweiter Ausgang! Schleicht sich raus, während die Arschgeigen vorne Stellung beziehen.
Guter Kniff.
Schalte ich vier Trottel aus?
Einer sieht in meine Richtung und … ach, scheiße. Seine Brille hat irgendwas eingebaut, wie meine alte. Vielleicht Hitzesensoren oder dergleichen. Jedenfalls wissen sie, dass ich da bin.
Er ruft was, und abgetaucht sind sie.
Alles klar. Finden wir heraus, wer der bessere Schütze ist. Aber mit einer P7 auf die Distanz, das sieht schlecht aus für mich.
Da fällt mir auf: Jetzt bin ich zu Blondies Schutzengel geworden, weil ich ihren alten umgelegt habe.
Ha, ha, ha!
Was macht die eigentlich?
Ruft bestimmt Verstärkung und lässt die Wichser zusammenschießen.
Puliwya (Quechua)/Wuliwya (Aymara)/Bolivien (Deutsch), Departamento La Paz, Tiwanaku, November 2019
Malleus wartete höflich darauf, dass Museumsdirektor Adolfo Soto aufhörte zu lachen.
Er fuhr sich über den Fu-Manchu, musterte den Indio, der einen gut sitzenden Anzug mit traditionellen Mustern der Inka trug. In seinem schwarzen Haar steckten Schmuckfedern und Edelsteine, was bei ihm durchaus erhaben und weder verkleidet noch lächerlich wirkte.
Schuld an dem Heiterkeitsausbruch war die Frage, was es mit dem gestohlenen Horn des Nandi beziehungsweise dem Horn des Alexanders auf sich habe. Soto wollte sich gar nicht mehr beruhigen. Und das Lachen war leider echt.
Inzwischen ahnte Malleus, dass es entweder keinen Überfall gegeben hatte oder sich etwas Eklatantes an diesem Fall ganz anders darstellte, als seine Auftraggeberin behauptete.
Der Direktor räusperte sich und wischte sich die Tränen aus den Augenwinkeln. »Entschuldigen Sie, Mister Bourreau. Es tut mir leid, dass Sie den langen Weg machen mussten. Für nichts.«
»Verzeihen Sie, Sir, dass ich darauf poche, aber das bedeutet, das Horn des Nandi ist nicht gestohlen?«
»Ja und nein. Es gab einen sehr dilettantischen Versuch, einige Kunstschätze zu entwenden. Das Interesse der Täter richtete sich dabei auf Inka-Gegenstände und Exponate, die von fremden Kulturen stammen, wie eben das Horn des Alexanders«, erklärte er. »Aber beim Eintreffen der Sicherheitskräfte verloren die Täter die Beute. Ich gab das Horn in die Restaurierung, es hat einige Kratzer abbekommen.«
Malleus steckte sich die Culebra an, die er bereits vor sich gelegt hatte. Sepiafarbene Banderole. Er hoffte, dass seine Lunge damit auf 4000 Metern Höhe besser zurechtkam. Das Atmen fiel ihm nach wie vor schwer. »Darf ich es einmal sehen, bitte, Sir?«
Soto stützte die Ellbogen auf den Tisch und lächelte. »Woher rührt Ihre Skepsis?«
»Die Geschichte, die ich von meiner Auftraggeberin hörte, klang anders.«
Er machte ein verächtliches Gesicht. »Das liegt daran, dass Tejada verrückt ist.« Der Direktor zögerte, dann griff er in den Schrank und nahm einen Ordner heraus, blätterte suchend und drehte Malleus anschließend ein Papier hin. »Das sind das Testament und der Erbschein, die das Museum zum Alleinerben der Sammlung ihres Gatten machen. Und sicherlich hat sie Ihnen erzählt, sie wäre die Erbin.«
Ich ahnte so was. Malleus zog den Ordner zu sich und überflog die Zeilen, die auf Englisch und in einer Indio-Sprache verfasst waren.
Tatsächlich hatte der Gemahl seiner Auftraggeberin die Schätze dem Museum zur besseren Pflege und Verwahrung vermacht – und zwar auf Seite zwei des Testaments, das als Anhang beigefügt war. Im gleichen Schrieb stand, dass der entsprechende andere Paragraf, der Tejada begünstigte, nichtig wurde. Gleichzeitig sah der Letzte Wille vor, dass die Witwe jederzeit Zugang haben durfte.
»Das wusste ich nicht, Mister Soto«, bestätigte Malleus nachdenklich. »Danke für die Akteneinsicht.«
»Gern geschehen. Ich möchte vermeiden, dass wir beide aneinandergeraten, nur weil Ihnen die Fakten vorenthalten wurden.« Der Direktor schloss den Ordner und stellte ihn zurück ins Regal. »Sie werden bemerkt haben, dass es in Tiwanaku gerade zu Spannungen kommt.«
»In der Tat.«
»Miss Tejada gehört zu den Aymara, die sich vor den Inka hier ansiedelten und wirklich imposante Ruinen zurückließen. Meine Vorfahren haben etwas Neues aufgebaut, nachdem sie das Joch der Aymara abschüttelten. Und das« – Sotos Gesicht bekam einen feindseligen Ausdruck –» haben wir ihnen weder vergeben noch vergessen. Nachdem die europäischen Eroberer alles taten, damit wir unsere Identität verloren, kehrt sie mit der Ankunft der Götter umso stärker zurück. Das muss nicht allen gefallen.«
Malleus verstand die Ansage. »Was hat das mit Tejada und dem Horn zu tun?«
»Miss Tejada ist als Aymara darauf bedacht, für Unruhe zu sorgen. Sie werden sie als nette alte Dame erlebt haben, die tut, als wäre sie zerstreut. Aber ich kann Ihnen versichern, Mister Bourreau, sie sorgt mit Gerüchten, mit bezahlten Kampagnen und Anzeigen dafür, dass wir Inka uns an die Zeit der Unterdrückung erinnern. Diese alte Giftspritze macht keinen Hehl daraus, dass sie es besser fände, in den alten Zeiten zu leben.«
»Aber deswegen heuert sie mich doch nicht an, um einen misslungenen Diebstahl aufzuklären?«
Soto zuckte mit den Schultern. »Ich kann Ihnen nicht sagen, was ihre Intention ist. Beistand vielleicht? Aufgrund ihres Verhaltens mussten wir ihr Hausverbot im Museum erteilen.«
»Das verstößt gegen das Testament.«
»Miss Tejada verstößt gegen die Regeln. Das kann ich nicht hinnehmen. Ihr Auftreten in den Räumlichkeiten ist eine einzige Provokation, und es kam deswegen schon zu Handgreiflichkeiten in den Ausstellungsräumen. Sie wiegelt die Menschen gegeneinander auf.« Soto zeigte zum Fenster hinaus, die Steine in seinem Haarschmuck blitzten auf. »Die Demonstration ist alleine Tejadas Schuld. Bevor Sie ankamen, hat sie Flyer in Tiwanaku verteilen lassen, um an die glorreichen Aymara-Zeiten zu erinnern, und wie fortschrittlich ihre Ahnen im Vergleich zu den Inka gewesen seien. Sie stellt Forderungen und verlangt Abgaben von Nicht-Aymara, was maßlos ist.«
Malleus begriff, dass er zwar einen Fall hatte, von dem er aber nicht einzuschätzen vermochte, wohin er führte. Erst das Artefakt. »Kann ich mir das Horn dennoch ansehen, Sir?«
Soto erhob sich. »Natürlich.«
Gemeinsam verließen sie den Verwaltungsbereich und gingen durch die Ausstellungsräume, die sehr ansprechend und aufwändig gestaltet waren.
Im Mittelpunkt, das bemerkte Malleus, auch ohne die Sprache und Schriftzeichen zu verstehen, stand die Inka-Zeit. Kein Wort über die Aymara, die einst eine gewaltige Stadt auf der Hochebene ins Leben gerufen hatten. Totgeschwiegen und ausgeklammert, obwohl die Überreste deutlich in Tiwanaku umherstanden und von Touristen fotografiert wurden, wie eben das Sonnentor.
Dann gelangten sie in die Sammlung von Tejadas Gemahl, in der sich alles stapelte, was der Mann gesammelt hatte.
Das Horn des Nandi befand sich in der Orient-Ecke, zusammen mit anderen Kunstschätzen, die weniger Artefaktcharakter besaßen.
Malleus umrundete die Vitrine, rief auf seinem PDA die Abbildungen auf, die Lagrande aufgetrieben hatte. Dabei bemerkte er mehrere aufgelaufene Nachrichten, darunter auch von seiner Sekretärin. Später.
Sein PDA analysierte das Horn in dem Schaukasten, glich es mit den gespeicherten Bildern ab und umkreiste im Display die Punkte, die voneinander abwichen, entweder weil sie unscharf waren oder es tatsächliche Unterschiede gab.
Das sind ziemlich viele. Malleus paffte an seiner Culebra. »Das ist das Original?«, richtete er die Frage an Soto.
»Selbstverständlich, Mister Bourreau. Ich habe es nach Erhalt der Sammlung prüfen lassen.«
»Kann es nicht sein, dass die Diebe Ihnen eine Kopie hinterließen?«, sprach er seine Mutmaßung aus, ohne den Direktor anzuschauen, während der PDA immer neue Abweichungen feststellte, je mehr Malleus zoomte. »Hätte das nicht bei der Restaurierung auffallen müssen?«
»Das … das wäre ja …« Soto fehlten sichtlich die Worte. Er nahm sein Smartphone und gab eine Kombination ein, dann wurde das Glas der Vitrine auf einer Seite herabgefahren.
Der aufgeregte Direktor zückte ein Taschentuch, nahm damit das Horn nervös heraus und begutachtete es.
Malleus beschäftigte sich mit den Gedanken, die ihn anfielen: Was stand in Hannes Heins Kabuff und war gestohlen worden? Das Original oder die Fälschung?
Hatte der unbekannte Sammler es mit einer geschickten Finte austauschen lassen?
Oder hatte der Austausch erst im Anschluss an den Raub in der Restaurierungswerkstatt stattgefunden?
»Wie viele Menschen können Exponate in den Vitrinen wechseln?«, erkundigte sich Malleus und betrachtete den Direktor, dessen Entsetzen nicht gespielt war.
»Außer mir: nur der Kurator. Die Alarmanlagen sind lediglich durch die Feuerwehr oder die Polizei abzuschalten«, antwortete Soto abwesend und betastete das Horn dabei, als würden seine Fingerkuppen ihm mehr verraten als die Augen. »Ich bin mir nicht sicher.«
»Sicher, Sir?«
»Was ich in den Händen halte. Ich bin mir nicht sicher, ob es das echte Horn ist.« Soto starrte Malleus an. »Jedenfalls danke ich Ihnen, dass Sie mich auf die Spur brachten. Die Diebe waren wohl doch schlauer als angenommen.«
»Nicht unbedingt. Aber womöglich«, verbesserte Malleus und paffte langsamer, weil er Schwindel spürte. »Gab es Spuren oder Hinweise auf die Täter?«
»Nein. Die Ermittler haben nichts gefunden, keine Fingerabdrücke oder Sonstiges. Weil der Raub scheiterte, beließ man es dabei.« Soto nahm das Horn in die Rechte. »Ich muss es prüfen lassen«, murmelte er. »Nicht auszudenken, wenn …« Für Malleus gab es noch eine Möglichkeit, wer hinter dem scheinbar misslungenen Raub steckte. »Gab es jemals Anfragen aus Indien, die eine Rückgabe betrafen? Es ist immerhin ein Artefakt von hohem Wert, das in direkter Verbindung mit Shiva steht. Ich denke nämlich nicht, dass man sich von einer simplen Namensänderung täuschen lässt. Dafür sieht das Exponat zu charakteristisch aus.«
»Nein.«
Folglich wusste man in Indien höchstwahrscheinlich, dass es sich um eine Kopie handelt und das Original verschollen blieb. In Heins Kabuff. Malleus spürte Verunsicherung aufsteigen. Es gab zu viele Variablen, die Logik scheiterte an der unvollständigen Formel.
Somit blieb seine Intuition.
»Würden Sie mich informieren, sobald Sie Näheres zum Nandi-Horn wissen, Sir?«, bat Malleus. »Ich möchte mit Miss Tejada sprechen und ihr berichten, wie sich die Sachlage gerade verhält.«
»Natürlich. Natürlich tue ich das«, erwiderte Soto und machte Anstalten, ihn hinauszubegleiten, wirkte aber mit dem Artefakt in der Hand leicht überfordert.
»Ich finde selbst raus. Guten Tag.« Malleus trat den Rückzug an und stand einige Minuten danach vor dem Museum im Sonnenschein.
Es bleibt undurchsichtig. Er setzte Hut und Sonnenbrille auf, rauchte die geknickte Zigarre weiter und scrollte sich durch die Nachrichten auf dem PDA. Mal sehen, was die Welt von mir möchte.
Lagrande berichtete von einem Durchbruch: Sie habe das letzte und neunte Artefakt entschlüsselt. Außerdem sei sie der Gemeinsamkeit auf die Spur gekommen, und das mache sie äußerst stutzig. Näheres würde sie bei seiner Rückkehr erläutern, aber es gäbe eine Art Kennzeichen, ein einfaches wie ungewöhnliches Muster, das sie auf allen Gegenständen gefunden habe. Sollten es die anderen Artefakte ebenfalls aufwiesen, wäre es ein Beleg, dass sie jemand markiert hatte.
Oder gar sämtliche Gegenstände herstellte?
Tejada schickte ihm die Mitteilung, dass sie ein Bild von ihrem verhassten Sammler gefunden habe. Es sei bei einer Gartenparty entstanden. Auch wenn sie den Namen nicht kenne, könne Malleus auf diese Weise mehr über ihren Widersacher herausfinden.
Ein Bild! Perfekt! Sofern es stimmt. Malleus besaß nach der Episode im Jet einige Hinweise auf den Mann, die er mit dem Foto abgleichen könnte.
In der Ferne heulten Sirenen, Einsatzkräfte schienen auf dem Weg zu einer Unfallstelle zu sein.
Malleus hob den Blick und entdeckte die Rauchsäule, die fett und schwarz über Tiwanaku stand. Unter das Jaulen mischte sich Trommeln und schrilles Pfeifen, die Demonstranten hatten noch lange nicht aufgegeben, ihren Unmut auszudrücken.
Da Malleus seinem Orientierungssinn traute, lag dort, wo ein gewaltiger Brand toben musste, auch das Haus von Tejada.
Verdammt! Er rannte die Straße entlang in Richtung des geparkten i8, den er mit einem Knopfdruck zu sich beorderte, um wertvolle Zeit zu sparen.
Es schien, als wolle sein Gegenspieler die beste Spur zu ihm mit Flammen von der Erdoberfläche tilgen.
Celtica, Paris-Lutetia, November 2019
Wo stecken die Wachleute? Für was bekommen die ihr Geld, wenn sie nicht auftauchen, sobald eingebrochen wird! Hat die Achtziger-Frau draußen nicht Bescheid gesagt?
Das ist … fuck, die Ersten schießen nach mir. Klar, halten mich für Ingo Rittmann, den freundlichen Wachmann.
Deckung, zurückrobben vom Container. Die P7 taugt nichts, nicht auf die Entfernung. Und die sind nicht schlecht. Zwei zwingen mich mit den Maschinenpistolen, in Deckung zu bleiben.
Was die anderen machen, sehe ich nicht.
Runter vom Container. Springen, landen, abrollen – genau vor die Füße von einem der Idioten.
Die P7 hoch, Schuss, aus. Kopftreffer sind eben am besten.
Was hat er denn für eine … ah, ein Steyr AUG A3. Gut, ist besser. Knattert und bockt, hat aber Bums, wie es sich für ein Sturmgewehr gehört. Jetzt ist es mein.
Beschuss von der anderen Seite, die Wichser verfehlen mich knapp. Wie gut, dass es hier alles massive Bauten sind, Stahl und Beton sind die besten Deckungen.
Weiterpirschen, Kopf unten halten.
Ich merke es deutlich, meine Beherrschung ist dahin. Mein Vokabular lässt zu wünschen übrig. Wie gut, dass meine Gedanken …
Da ist wieder einer! Er hat eine Schrotflinte und legt los.
Flach hinwerfen, hinter den Container. Die Kügelchen erwischen meine rechte Sohle, aber ich spüre nichts. Glück gehabt.
Ich halte das Steyr blind um die Ecke und lasse das komplette Magazin in kurzen Stößen herausrattern, die Kugeln fliegen ziellos herum.
Dann trete ich um die Ecke, hebe die P7 und warte, dass einer aus der Deckung auftaucht.
Und hier ist er, unser Gewinner – zwei Schuss, Brust, Kopf, durch.
Bleiben noch zwei.
Magazinwechsel, alles neu bestückt und ready to rock.
Zurück zum Container mit den Artefakten.
Wo stecken die maskierten Idioten?
Behutsam, ganz behutsam näher ran … da hängt doch was an der Tür?
Drähte!
Verfickte Scheiße! Drähte, die aus einem Sprengstoffpäckchen rausschauen!
Sind die bescheuert, die können doch nicht …
Puliwya (Quechua)/Wuliwya (Aymara)/Bolivien (Deutsch), Departamento La Paz, Tiwanaku, November 2019
Die Polizei hatte die Straßen abgesperrt, die nach Puma Punku hineinführten. Malleus musste den i8 parken, was angesichts der vielen Menschen und Fahrzeuge nicht einfach war.
Tausende aufgebrachte und euphorische Einheimische drängten sich an den Barken und Schranken, hielten Transparente in die Höhe und trommelten in einem gleichbleibenden Rhythmus, der etwas Beschwörend-Rituelles besaß. Dazu erschallte der Ruf »Inti!« – der Name des Sonnengottes, zu dem die Inkas beteten.
Ich muss zu Tejada. Er drängelte sich durch die frenetische Menge, bis er eine Lücke und einen unbeobachteten Moment gewährt bekam, um sich an den Sicherheitskräften vorbeizuschmuggeln und in das Viertel zu rennen, das lichterloh in Flammen stand.
Fast sämtliche Behausungen hatten sich in Fackeln verwandelt, die Lohen schlugen aus den Fenstern und Dächern. Malleus sah die Feuerwehren, die sich damit begnügten, die Fassaden jener Häuser mit Wasser zu kühlen, die nicht zu Puma Punku gehörten. Sie tun nichts! Der Zwist zwischen Aymara und Inka erreichte die nächste Stufe, mit ausgelöst durch seine Auftraggeberin und ihre Aktionen.
Malleus wählte eine Route, die ihn halbwegs vor der großen Hitze bewahrte, während er flammende Gebäude passierte. Dabei bemerkte er mehrmals Blutspritzer und -lachen auf dem Boden, an den Wänden, Schleifspuren wie nach einem Robbenschlachten führten über die hellen Wege in brennende Häuser.
Er sah keine Polizisten, keine Rettungswagen. Niemand kümmerte sich um das Inferno, das sich Straße um Straße vorwärtsfraß.
Mehrmals kamen ihm Indios entgegen, die in schweren Koffern das bisschen Hab und Gut retteten, das ihnen am Herzen lag. In ihren Augen standen die blanke Angst und die hilflose Wut, das Unverständnis darüber, was hier geschah. Manche waren verletzt, hatten Schnittwunden an den Armen und im Gesicht.
Neue Zeit, alter Hass. Malleus gelangte zur Straße, in der Tejada wohnte.
Unaufhaltsam rückte der Brand auch hierher vor, der trockene Untergrund begünstigte das Ausbreiten.
Die Menschen halfen sich gegenseitig, es wurden Autos beladen, bis die Federung zu brechen drohte. Kinder weinten, Frauen klagten, und Männer fluchten, während die Hitze ankündigend bis zu ihnen rollte und sie zu größerer Geschwindigkeit anstachelte.
Keiner kümmerte sich um Malleus, den Fremden, der auf das Haus von Tejada zurannte.
Dann erklangen wieder die Trommeln.
Um eine Ecke bogen fast hundert Vermummte, schlugen auf die gespannten Felle im gleichen Takt ein und stürmten laut rufend auf die Aymara zu. Die Klingen von langen Macheten und Dolchen blitzten, Knüppel und Totschläger wurden geschwungen. Die Maskierten wollten nicht zulassen, dass sich die Flammenopfer in Sicherheit brachten.
Chaos brach unter den Flüchtenden aus. Manche Männer blieben und kämpften, andere sprangen in die Autos, um ihre Familien wegzubringen.
Wo sind die Entitäten, wenn man sie braucht? Malleus zog einen seiner Apache Deringer, falls es nötig werden würde, sich zu verteidigen. Die Blutspuren auf den Wänden und dem Asphalt ließen dies vermuten. Er wagte keinen Versuch, den Menschen Beistand zu leisten, auch wenn es ihm schwer fiel. Der Mob war angestachelt, aufgepeitscht und Argumenten nicht zugänglich, schon gar nicht, wenn sie aus dem Mund eines Europäers kamen. Eines ehemaligen Eroberers und Unterdrückers.
Er kannte solche Szenarien aus der Zeit der Übergangskriege, die sich nun mit anderen Vorzeichen in Bolivien wiederholten. Hier halfen nur Entitäten oder Polizei und Armee und schwere Waffen, um sich Respekt zu verschaffen; aber da die Institutionen überwiegend aus Inka-Nachfahren bestanden, würden sie sich Zeit lassen.
Falls sie überhaupt eingreifen.
Malleus erreichte das Haus seiner Auftraggeberin und stürmte zur angelehnten Tür herein. Die Marodeure sind schon drin!
»Miss Tejada?«, rief er und lauschte, den Deringer zum Einsatz bereit.
Aus dem Wohnzimmer erklang ein Scharren, dann klirrte es, und eine Frau röchelte.
Malleus rannte vorwärts, sicherte dabei stets Ecken und Nischen, bis er durch den Gang in den Raum gelangte.
Die drei Maskierten hatten gewütet, alles umgeworfen und die Wände mit Parolen beschmiert, die Malleus nicht lesen konnte. Eine Frau würgte Tejada, die bäuchlings auf dem Teppich lag und sich nicht zu wehren vermochte, mit bloßen Händen. Die Arme und Beine waren erschlafft, das Gesicht violettfarben vor Luftmangel und gestautem Blut.
Ein Mann sprang sofort heran, riss eine Machete zum Schlag in die Höhe.
Malleus schoss ohne Vorwarnung gezielt in den Kopf. Diese Leute würden keine Rücksicht auf ihn nehmen. Warum sollte ich es tun?
Sein Kumpan, der ein Headset trug, schrie durch die Gegend und riss einen Revolver aus dem Hosenbund, da bekam er eine Apache-Kugel mitten durch die Brust.
Die Maskierte warf sich rückwärts von Tejada und ging hinter dem Sessel in Deckung, es klickte laut. Auch sie trug unzweifelhaft eine Feuerwaffe mit sich, anschließend hörte es sich an, als krame sie in einem Beutel.
Was tut sie? Malleus begab sich neben der Tür in Deckung.
Es roch streng nach Benzin, aus dem ersten Stock erklang ein charakteristisches Knistern. Ein weiterer Brandherd breitete sich aus, der nicht mehr zu löschen wäre.
Tejada rührte sich nicht, die Augen waren geöffnet, und die Zunge hing aus dem Mund. Am Hals zeigte sich eine deutliche Deformierung auf Höhe der Kehle, zerdrückt durch die Kraft der Angreiferin. Eine Creole war ausgerissen, die Kette lag gesprengt neben der Indio.
Dumpf knallte es, als die Maskierte durch den Sessel auf Malleus schoss.
Die Kugeln durchschlugen das Möbelstück, flogen aber an ihm vorbei und landeten in der Wand, wo sie Löcher in die Parolen und aufgemalten Götterzeichen sowie Teppiche stanzten.
Das Ratschen eines Feuerzeugs erklang. Eine Sekunde darauf flog ein Molotowcocktail hinter der Couch hervor.
So nicht. Malleus fing die Flasche geistesgegenwärtig und richtete den Apache auf die Deckung der Frau, die mit einem siegessicheren Lachen auftauchte, um nach dem Erfolg ihrer Attacke zu sehen.
Bevor sie reagieren konnte, schoss er ihr in den Oberkörper, aber sie löste im Zusammensacken ihre Makarow Halbautomatik noch einmal aus.
Das Projektil verfehlte Malleus, zerschlug jedoch das dünnwandige Gefäß in seiner Hand. Das Benzin-Diesel-Öl-Gemisch verteilte sich sofort auf seinem Ärmel.
Scheiße! Er riss den Arm schnell genug zur Seite, sodass die brennende Lunte ihn nicht erwischte. Sie fiel zu Boden und entzündete die kleine Lache auf dem Teppich.
Das zweimalige Knallen hinter ihm schmerzte gleichzeitig in den Ohren und im Rücken, die Kugeln und die Pein trieben ihm die Luft aus den Lungen sowie Tränen in die Augen. Ohne das neuartige Stoffgewebe, das ihm Karak angedeihen hatte lassen, wäre er in dieser Sekunde gestorben, unspektakulär, rücklings feige erschossen.
Ganz ohne eine Gottheit. Malleus ließ sich fallen und simulierte seinen Tod, um sich Zeit zu verschaffen; dabei drehte er sich und sah durch die schmalen Lider den Polizisten, der ihm damals mehr oder weniger in der Seitengasse zu Hilfe gekommen war.
Er hielt eine schwarze Colt M1911 Halbautomatik mit einer Hand auf ihn gerichtet und näherte sich vorsichtig. »Wie viele tote Ausländer brauchen wir?«, funkte er auf Englisch. »Ich habe noch einen.«
»Gut. Damit hätten wir vier Touristen«, kam die Antwort leise. »Kannst du ihn mitbringen, oder lassen wir ihn da liegen?«
»Nein, der verbrennt sonst sinnlos. Sie haben schon Feuer gelegt.« Die Mündung blieb auf Malleus gerichtet. »Ist ein Bulle. Das macht es noch aufregender für die Medien.«
»Bulle? Woher weißt du, dass es ein Bulle ist?«
»Den habe ich heute schon mal getroffen.« Der Polizist lachte. »Klang französisch. Bourreau, glaube ich.«
Welchen Sinn ergibt das? Malleus sah, dass das Feuer sich an sein Bein heranfraß. Er musste bald handeln.
»Hast du eben Bourreau gesagt?«, meldete sich die Gegenseite alarmiert.
»Ja. Warte, ich kann nachschauen. Er hat einen Interpol-Ausweis dabei, mit dem er vorhin rumfuchtelte und sich wichtigmachte.«
Ein lauter Fluch erklang deutlich. »Das war scheiße!«
»Wieso?«
»Das ist ein Freund von Exitus!«
Malleus durchzuckte es. Sie kennen Ove?
»Woher sollte ich das wissen?«, gab der Polizist zurück, das Spiegelvisier verbat einen Blick auf sein Gesicht. »Er hatte kein Schild um oder ein Empfehlungsschreiben dabei.« Fluchend ging er vor Malleus in die Hocke. »Was machen wir?«
»Liegen lassen. Er soll verbrennen«, lautete die neue Anweisung. »Ich hoffe, Exitus bekommt das nicht raus, sonst sind wir beide am Arsch!«
Sie sind von GodsEnd!
»Er liegt doch bei den Bullen im Krankenhaus.« Der Polizist setzte Malleus die Mündung des Colts an die Stirn.
»Na, wer weiß, wie lange?« Der andere Mann atmete durch. »Beschissen, ist aber nicht mehr zu ändern. Dann komm zurück und such dir einen anderen Touristen.«
»Alles klar.«
»Die Unruhen laufen gut?«
»Tun sie. Beste Idee, die Flyer in Umlauf zu bringen. Die Alte hat eh nicht mehr geschnallt, was sie alles in Auftrag gegeben hat und was nicht.« Der Polizist stand auf. »Ich ziehe los.«
»Gut. Und stell sicher, dass der Bulle von keinem mehr erkannt werden kann, hörst du? Keine Zahnabdrücke, keine Fingerabdrücke, nichts.«
»Alles klar.« Er beendete das Gespräch und steckte die Waffe weg, schimpfte nun wieder in seiner Sprache und wandte sich zum Flur, um in die Küche zu gehen, wo er bestimmt die Utensilien zum Verstümmeln suchen wollte, die er benötigte: Geflügelschere und Steakklopfer.
Malleus trat ansatzlos zu und räumte den Mann von den Beinen. Er prallte mit dem Kopf gegen die Wand und sackte nach unten. Der Helm verhinderte seine Ohnmacht, er griff sogleich nach einer Halbautomatik.
Daraus wird nichts. Malleus schoss ihm durch die Hand, die Deringer-Kugel riss Blut und Gewebe heraus. Die Finger des Polizisten spreizten sich ungewollt, die Sehnen waren beschädigt und nicht mehr einsatzfähig. »Keine Bewegung«, befahl er und erhob sich. »Visier hoch.«
Der Mann ächzte laut und unterdrückt, leistete der Aufforderung aber Folge. Zum Vorschein kam ein glatt rasiertes Indio-Gesicht mit deutlich abzulesendem Schmerz.
»Was richtet GodsEnd hier an? Einen Volksaufstand? Um was zu beweisen?«, brach es aus Malleus fassungslos heraus. »Sie hetzen Inka und Aymara aufeinander!«
»Erst der vielfache Tod der Menschen und größte Katastrophen werfen die Frage nach den Göttern auf«, erwiderte der Polizist keuchend. »Warum sie nicht handeln, obwohl es sie doch gibt. Das wird den Verstand der Menschen wachrütteln. Wenn nicht hier, dann in Europa und im Rest der Welt. Und wenn nicht nach dem Brand und dem Massaker an den Aymara, dann bei unserer nächsten Aktion. Wir hören nicht auf. Niemals!«
Malleus fühlte das Bedürfnis, den Mann zu schlagen. Niederträchtig. Durch und durch niederträchtig.
Er konnte sich nicht vorstellen, dass Ove genauso dachte und das Sterben von Hunderten in Kauf nahm, um den Beweis zu erbringen, dass die Entitäten nichts anderes als Schwindler waren.
Es ist nicht mal ein Beweis. Es sind kriminell-terroristische Taten, die einzig damit legitimiert werden, dass ein Umdenken erreicht werden könnte.
Malleus starrte wütend auf den Polizisten. »Sie sind festgenommen«, verkündete er. »Ich werde Sie vor Gericht stellen.«
»Aber wir stehen auf der gleichen Seite«, erwiderte der Mann ächzend und erhob sich, aus seiner durchschossenen Hand rann das Blut. »Sie glauben nicht an die Götter, und wir doch auch nicht.«
»Deswegen begehe ich keine verabscheuenswerten Akte, die ganze Bevölkerungsgruppen aufeinanderhetzen!«, fuhr er ihn an und langte an den Gürtel des Mannes, um die Handschellen zu ziehen. »Hände hinter den Nacken.«
Nachdem er ihn gesichert hatte, wollte er nach dem Bild suchen und den Tabletcomputer von Tejada mitnehmen.
Er hoffte, auf das Bild des Sammlers zu stoßen. Die Ermittlungen rund um das Horn von Nandi rückten in den Hintergrund, zumal Malleus dank der PDA-Analyse recht überzeugt war, dass es sich beim Artefakt im Museum lediglich um eine Kopie handelte. Was für ein Auftrag.
Der Polizist stieß überraschend mit dem behelmten Kopf zu.
Malleus wich der Attacke aus und versetzte dem Mann einen Kniestoß in den Unterleib, der ihn zusammenklappen ließ. Dabei umrundete er ihn und legte ihm die Schellen mit einer fließenden Bewegung an. Klickend schnappten sie zu. Dann trat er ihm in die Kniekehlen und band dem Kauernden die Schnürsenkel zusammen.
»Sie warten.« Malleus kehrte ins Wohnzimmer zurück, stieg über die erwürgte Tejada und die drei Erschossenen, während die Flammen und der beißende Rauch sich stetig ausbreiteten.
Er zwang sich zur Ruhe beim Suchen, sicherte das Pad und entdeckte unter dem Beistelltischchen eine alte Fotografie, auf der eine Partyszene zu sehen war.
Das muss es sein! Malleus steckte es ein und wandte sich zum Korridor.
Dort lagen die abgestreiften Schuhe des Polizisten, der Mann hatte sich davongestohlen. Damit fehlte der einzige Zeuge und jeglicher Beweis, dass es sich bei den Unruhen um das Werk von GodsEnd handelte.
Oder ist er noch draußen? Malleus tastete sich in den Korridor vor, ging gebückt, um nicht in die Rauchschwaden zu geraten. Durch die offene Haustür sah er das sich ausbreitende Inferno, das im Stadtteil Puma Punku wütete und die Gebäude vernichtete. Es war klar, dass kein Aymara-Nachfahre nach diesem grauenhaften Vorfall jemals wieder in Tiwanaku siedelte.
Ob die Rechnung von GodsEnd aufging, würde sich zeigen, aber Malleus bezweifelte es. Die Menschen fanden immer Ausreden, um das Versagen ihrer Entitäten zu entschuldigen, so paradox es klang. Man hatte sich daran gewöhnt, dass es keine omnipotenten und allgegenwärtigen Gottheiten gab.
Mit dem Angriff aus der Küche hatte Malleus gerechnet. Es reichte ein rascher Schritt zur Seite, und der lauernde Polizist trat ins Leere.
Malleus schlug ihm mit dem Schlagring des Deringers auf die Kniescheibe, die ein deutliches Knacken von sich gab. »Sie gehen nirgendwo mehr hin ohne mich!«
Im Fallen warf sich der aufschreiende Gegner rückwärts gegen ihn, in den gefesselten Händen hielt er zwei lange Tranchiermesser, von denen er hoffte, eines davon würde den Widersacher erwischen.
Verflucht! Malleus spürte, dass eine Klinge über seinen Bauch glitt, aber das neue Gewand hielt der Schneide stand. Die zweite Attacke wehrte er mit den Titanringen ab. Dabei bog sich die Spitze des Küchenmessers nach oben, die beiden Männer stürzten.
Der Polizist schrie nochmals auf – und erschlaffte.
Ich brauche ihn als Zeugen! Malleus rollte ihn herum. Er darf nicht …
Die lange Klinge war beim Sturz des Mannes durch seinen Körper in die Wirbelsäule getrieben worden.
Verflucht noch eins! Damit starb sein Beweis, dass GodsEnd hinter dem Aufruhr steckte.
Um nicht ebenfalls das Leben in diesem brüllend heißen Backofenhaus zu verlieren, eilte Malleus hinaus und machte sich möglichst klein, damit ihn die herrschende Hitze in den Straßen nicht grillte.
Schweißgebadet, keuchend und mit Sternchen vor den Augen erreichte er die rettenden Absperrungen außerhalb des Gefahrenbereichs und drängte sich hindurch. Erleichtert und erschöpft sank er wenig später in seinen i8 und trank von dem Wasser, das aus dem Spender in einen Becher rann.
Das einzig Gute, das ihm dieser Fall brachte, war das Bild, auf dem sich der Sammler befinden musste.
Ist er es? Malleus zog es heraus und betrachtete es: Annähernd vierzig Personen, mal ganz groß, mal ganz klein, befanden sich auf dieser Fotografie. Auf den ersten Blick machte er darauf niemanden aus, der seinem gefährlichen Widersacher ähneln könnte.
Der schale Geschmack von Niederlage und Enttäuschung breitete sich in seinem Mund aus, den nicht einmal die dunkelpurpurfarbene Culebra beseitigen konnte.
Und Puma Punku brannte derweil nieder.
Celtica, Paris-Lutetia, November 2019
Marianne Lagrande hatte sich das Essen mit Malleus Bourreau ein bisschen romantischer vorgestellt. Aber so lief es oft im Leben: dass man nicht bekam, was man sich erträumte, ob mit oder ohne Götter. Danke auch, Belenos.
Sie saßen wenigstens in einer schönen Brasserie auf dem Montmartre mit einem tollen Ausblick, hatten die Unterlagen zum Fall rund um sich auf dem Tisch verteilt, dazu gesellte sich ein Tabletcomputer, auf dem die neusten Daten lagerten.
Sie trug ein enges, rotes Kleid mit einer kurzen Lederjacke darüber, dazu schwarze Pumps mit Metallspitzen. Die blondierten, antoupierten Haare wurden von einem schmalen Reifen gebändigt.
Bislang gab es eine Suppe als Vorspeise, und Lagrande bezweifelte, dass sie darüber hinaus gelangten. In allen Belangen. Ärgerlich. Dafür hatte sie Belenos nicht geopfert.
Doch nach wie vor fesselte sie der Fall, vor allem die letzten Ereignisse erschienen spektakulär.
Bourreau überflog die Recherchen zum Bronzedolch, der angeblich vom keltischen Gott Goibniu selbst geführt worden war. Dass es nicht zum Alter der Waffe passte, spielte in der Mythologie weniger eine Rolle. Nachträglich wurden gern mal Dinge als göttlich deklariert.
Lagrande nahm sich den kleinen Computer und rief die Aufnahmen des Horns auf, die er in Tiwanaku gemacht hatte. Sie sichtete die verschiedenen Details. »Das ist eine Kopie.«
Bourreau sah auf. Der Blick aus den kontaktlinsenblauen Augen traf sie und bereitete ihr leichte Gänsehaut, sein Lächeln wiederum wärmte sie, was sie beides nach außen nicht zeigte. »Ganz ohne Altersanalyse? Das müssen Sie mir erklären.«
Sie hielt ihm das Display hin. »Sie haben gute Aufnahmen geschossen. Man sieht die ganzen Details, und Ihr PDA fand diverse Abweichungen. Was ich auf keinen Fall sehen kann, ist das Symbol, das ich bei unseren anderen Artefakten fand.«
Bourreau rieb sich mit Daumen und Zeigefinger über die schwarzen Bartenden seines Fu-Manchu. »Dann nutzt unser Sammler nicht nur die brachiale Methode, sondern auch List, wie wir beim Einbruch in Ihr Büro und in Bolivien gesehen haben«, resümierte er. »Er scheint noch nicht die richtige Balance gefunden zu haben, was wo angebrachter ist.«
Lagrande dachte sofort an den Flughafen und den Überfall auf das Tresoriale.
Das Kommando ihres großen Widersachers hatte sich mit einer wohldosierten Sprengung und Brutalität Zugang zum Panzerraum verschafft, die Artefakte gestohlen und sich danach abgesetzt. Zwei Tote blieben zurück und ein Wachmann, den man mit schweren Verletzungen als Folgen der Explosion ins Krankenhaus brachte.
Lagrande wunderte sich, woher der übereifrige Mann gekommen war, der sich mit der Truppe angelegt und sich nicht an die Absprachen gehalten hatte. Vielleicht ein kleiner Held?
Bourreau schien ihre Gedanken zu lesen. »Sie verhielten sich mehr als mutig, Madame. Das kann ich mit einem Essen gar nicht genug belohnen.«
Sie lächelte. »Es macht mir Spaß. Es ist etwas ganz anderes als das langweilige Sekretärinnendasein. Und wie Sie wissen, Monsieur l’Inspecteur: Ich weiß mich zu wehren.« Die Beretta U22 Neos trug sie unter ihrer kurzen Lederjacke. Zur Sicherheit.
Er nickte und winkte den Kellner heran. »Was immer Sie möchten, bestellen Sie es sich.«
Lagrande wählte einen teuren Wein und eine Galette mit Meeresfrüchten, die sie so gerne mochte. »Noch besser wären sie natürlich am Meer«, kommentierte sie.
»Sehr richtig. In der Bretagne gibt es die besten. Waren Sie schon mal dort?«
»Nein. Ich kam bislang nicht viel weiter, als mich Ihre Nachforschungen beschäftigten.«
»Sollten wir nachholen. Vielleicht ergibt es sich bei einem Fall.«
Also will er mich behalten. Lagrande nickte und unterdrückte die nächste aufkeimende romantische Vorstellung, nachdem die Umsetzung ihrer ersten kein bisschen der akuten Realität entsprach. »Haben Sie schon eine Resonanz?«
»Die Artefakte sind unterwegs, aber wie es den Anschein hat, erreichten sie ihr Ziel noch nicht.« Bourreau wählte das Lamm mit Couscous und einen leichten Rotwein. »Alle drei Wanzen bringen in den vorgesehenen Abständen ihr kleines passives Ping an die nächste Funkzelle, sodass wir wissen, wo sie sich gerade befinden, ohne dass ein Sendeimpuls von den Entführern gemessen werden kann.« Er legte seine Hand auf ihre. »Sehr gute Arbeit, Madame Lagrande.«
»Ich habe nur die Anweisungen Ihres Freundes befolgt, wie ich beim Anbringen vorgehen muss.« Sie freute sich über die vertrauliche Geste. »Das Einsetzen der kleinen Geräte fiel sehr leicht. Mehr als ein winziger Fitzel durchsichtiges Papier schien es nicht zu sein.«
»Das ist unsere beste Finte im Kampf gegen den Sammler. Er mag denken, er hat einen Sieg errungen. Aber in Wahrheit führt er uns direkt zu sich.« Bourreau drückte nochmals dankbar lobend ihre Hand und zog zu ihrer Enttäuschung seine Finger weg.
Lagrande wusste, dass alles mit Lautrec abgesprochen war. Die Wachleute des Tresoriale hatten die Anweisung erhalten, nur schwachen Widerstand zu leisten und sich zurückzuziehen, Jean-Luc und Jonathan hielten sich ebenso an den Befehl, keinesfalls zu versuchen, den Raub zu verhindern. Und die zweite Einheit blieb auf Abstand, um sich nicht in Gefahr zu bringen. Dies machte den entscheidenden Unterschied zu den bisherigen Attacken aus: kontrollierte Bedingungen.
Das hatte dazu geführt, dass es vor dem Eingang zu einem kurzen Schusswechsel gekommen war, und es außer den zwei toten Söldnern keine Opfer zu beklagen gab.
Bis auf den Helden. Hoffentlich kommt er durch.
Lagrande deutete auf den PDA. »Wo sind sie aktuell?«
Bourreau sah auf die Anzeige. »Das letzte Signal kam aus Calais. Die Räuber scheinen sich ganz regulär über eine Fähre nach England einschiffen zu wollen. Ich weiß auch, warum: Dabei gibt es die wenigsten Kontrollen. Mit den Artefakten kommen sie durch keine herkömmliche Flughafenabfertigung. Und sie müssen davon ausgehen, dass sie gejagt werden.« Er nahm ein Bild aus der Tasche und schob es zu ihr.
»Eine Gartenparty«, sagte Lagrande. »Schicke Menschen.«
»Das muss digitalisiert zu Crick. In höchster Auflösung. Angeblich befindet sich der Sammler auf der Aufnahme.« Bourreau wirkte plötzlich ernst.
»Ich scanne es ein und schicke es ihm.« Lagrande sah das Essen näher kommen und bündelte die Ausdrucke zu den Artefakten. Sie hatte alle identifiziert, alle neun gestohlenen Gegenstände, vom Fächer bis zum Ziegelstein, von der Harpunenspitze bis zum Dolch. »Verschiedenste Kulturen, verschiedenste Zeitalter, ein Symbol«, murmelte sie vor sich hin.
»Darüber denke ich auch die ganze Zeit nach«, stimmte er ihr zu und kostete den Rotwein, nickte dem Kellner zu. »Dass diese Gegenstände einen Wert per se haben, liegt für Hannes Hein auf der Hand. Aber ich glaube nicht, dass er von diesen einheitlichen Symbolen wusste.« Er rieb sich erneut über den Fu-Manchu. »Was also will der Sammler damit? Worin liegt der wahre Wert?«
Lagrande begann mit dem Essen. »Wir wissen es bald.«
Bourreau lächelte sie an. »Ich bin sehr gespannt, was sich uns offenbaren wird. Und nun: guten Appetit.« Er hob sein Glas. »Das haben Sie sich mehr als verdient.«
Sie stießen an, das leise Klirren schwebte durch die Brasserie.
Auf seinem PDA poppte ein Nachrichtenfeld auf, wie Lagrande sah. Belenos, wenn du jemals wieder Opfer von mir bekommen möchtest, dann … Malleus öffnete die Mitteilung, sein Gesicht verfinsterte sich. Dann erhob er sich und verbeugte sich entschuldigend, ohne vom Lamm überhaupt gekostet zu haben.
»Ich muss leider dringend weg«, sagte er aufgeregt. »Wir sehen uns morgen in Ihrem Büro. Aller Voraussicht nach.«
»Aber …« Lagrande empfand die Welt gerade als sehr unfair. Das bisschen Zweisamkeit, die ihr Chef nicht einmal als solche empfand, wurde zunichtegemacht.
»Es geht nicht anders, Madame.« Bourreau zeigte auf die Weinflasche. »Genießen Sie in Ruhe. Es ist alles bezahlt. Verzeihen Sie mir meinen Aufbruch.« Mit einer weiteren freundlichen Berührung an der Schulter eilte er zum Ausgang. »Bis morgen!«
Draußen rollte der i8 vor, den er via Autopilot vorfahren ließ, dann lief er winkend am Schaufenster der Brasserie vorbei und stieg ein, der BMW brauste davon.
»Ja, bis morgen«, antwortete Lagrande leise. Merde. Sie trank das Glas Rotwein in einem Zug leer und goss sich nach. Genießen. Ja, das werde ich. Viel zu schnell, damit es wirkt. Frust breitete sich aus. Belenos. Unzuverlässiger, böser Gott. Ganz böser Gott.
Sie prüfte schlecht gelaunt mit ihrem Smartphone, was in der Welt geschah, das Bourreau zum Aufbruch nötigte. Sie suchte, bis sie auf die Eilmeldung einer spektakulären Flucht stieß: Der mutmaßliche GodsEnd-Terrorist Ove Schwan war ausgebrochen, wobei es viele Verletzte unter den Polizisten gab.
Natürlich. Sie seufzte und spürte bereits die Wirkung des Alkohols. Nur was Malleus vor Ort wollte, das erschloss sich ihr nicht. Oder es gibt einen anderen Grund?
Statt einer Antwort bekam sie die Nachricht von Lautrec, dass der beim Überfall auf das Tresoriale angeschossene Wachmann, den man ins Krankenhaus gebracht hatte, sich als falscher Wachmann herausstellte. Die Angehörigen seien zu Besuch gekommen und wunderten sich sehr, dass ein Unbekannter im Bett lag. Aber als die Sicherheitsleute des Krankenhauses herbeieilten, sei der Mann trotz seiner schweren Verletzungen geflüchtet. Offen blieb, wo der echte Security-Mitarbeiter steckte.
Für Lagrande lag es auf der Hand, wer in die Rolle des Wachmanns geschlüpft war.
Das muss der Schatten gewesen sein. Er hatte sich an sie gehängt, um wieder an den Kommissar zu gelangen. Seine Tarnung war in dem Fall schlecht gewählt gewesen. Wieder entkommen. Aber diesmal müsste es ein Bild von ihm geben. Ein echtes.
Sie erwog, sich gleich mit dem Krankenhaus in Verbindung zu setzen, aber dann kam der Trotz auf. Bourreau hatte sie versetzt, nein, sitzen gelassen. Dann würden Recherchen auch Zeit haben.
»Guten Abend, Madame Lagrande«, sagte eine weibliche Stimme unvermutet neben ihr, und eine unbekannte Frau setzte sich an den Platz, auf dem sich Bourreau vor wenigen Minuten noch befunden hatte.
Sie trug ein schlichtes, aber elegantes türkisfarbenes Kleid, lange schwarze Haare, war deutlich jünger als Lagrande; etwas Verrücktes, Unstetes flackerte in den grünen Augen.
»Darf ich Ihnen Gesellschaft leisten?« Wie selbstverständlich nahm sie das Besteck und aß von dem Lamm, das der Kommissar bestellt hatte. Genießerisch stöhnte sie und verdrehte die Augen. »Das ist unfassbar lecker.«
Lagrande wusste das Auftauchen nicht zuzuordnen. Dazu wirkte der Wein. »Eigentlich speise ich gerade alleine«, erwiderte sie überrumpelt und vermied, nach der Beretta zu greifen. Wer ist das?
»Weil Malleus früher aufbrechen musste als vorgesehen. Ich weiß.« Die Fremde lächelte und kostete von dem Wein. »Ich wollte die Gelegenheit nutzen und Sie in Kenntnis setzen, Madame, dass Sie Ihre grauenvoll metallic-lackierten Fingernägel von ihm lassen sollten. Sonst machen Sie sich eine Feindin, die Sie nicht haben wollen.« Das scharfe Messer fuhr durch das Lammfleisch und trennte eine Tranche ab. Roter Saft trat aus und verteilte sich auf dem Teller.
Er ist schon vergeben! Das war klar! Lagrande fuhr heißes Eisen durch den Magen. Beschissener Abend. »Oh, das … tut mir leid. Ich dachte … Sie sind seine … ?«
Die Schwarzhaarige schüttelte den Kopf und zwinkerte ihr zu. »Noch nicht. Aber bald. Und dafür brauche ich keine Konkurrenz.«
Lagrande glaubte, sich verhört zu haben. Sie hatte eine Nebenbuhlerin, die allen Ernstes versuchte, sie einzuschüchtern.
Fassungslos lachte sie auf. »Und Ihr Name ist?«
»Marina. Und ich war ihm schon sehr nahe. Mehrfach.« Sie leckte das Messer mit der Zunge ab, genau entlang der Schneide – aber die Haut wurde nicht verletzt. »Legen Sie sich nicht mit mir an.« Sie zeigte auf ihre linke Seite. »Die Pistole würde Ihnen auch nicht helfen.«
Mit einer schnellen Bewegung steckte sie sich das letzte Stückchen Lamm in den Mund, trank nochmals vom Wein und stand auf, ging einfach hinaus.
Ist das gerade wirklich geschehen? Marianne Lagrande rührte sich nicht.
Nicht nur, dass Belenos sie enttäuschte und ihr romantischer Traum vollkommen im Arsch war, sie hatte offenbar eine Verrückte gegen sich aufgebracht.
Eine Verrückte, deren scharfe Zunge jeder Klinge trotzte.