Im Krieg gibt es immer Opfer, auch im Mittelalter. Dem US-amerikanischen General George Patton wird der Ausspruch zugeschrieben: „The object of war is not to die for your country but to make the other bastard die for his.“ Anders formuliert: Ein Kämpfer, der im Krieg fällt, hat seine Aufgabe nicht erfüllt. Trotz aller Beschwörungen des heroischen Opfers für den Sieg, das Vaterland oder ,die Sache‘ geht es im Krieg nicht darum, Opfer zu werden, sondern andere zu Opfern zu machen. Opfer sind somit keine Begleiterscheinung des Krieges, sondern dessen ureigenster Zweck. Sie sind nur in einer sehr zynischen Logik ,kollateral‘.
Von Kombattanten und Nichtkombattanten
Die Unterscheidung von Kriegsteilnehmern in Kombattanten und Nichtkombattanten ist terminologisch modern, inhaltlich aber durchaus an mittelalterliche Vorstellungen angelehnt. In kriegsrechtlichen Texten des Hoch- und Spätmittelalters finden sich Hinweise darauf, dass bestimmte Personenengruppen vom Krieg ausgenommen werden sollten. Sie sollten von den aktiven Kämpfern geschont und nicht zum Ziel kriegerischer Gewalt gemacht werden. Dazu zählten Frauen, Alte, Kranke und Priester. Diese Personen haben gemein, dass sie keine Waffen führen |79|und dass sie nicht in der Lage sind, sich zu verteidigen. Sollte etwa ein Priester dennoch zum Schwert greifen, verliert er den Anspruch auf Schutz; dieser ist somit eine Frage des Verhaltens, nicht ausschließlich des Standes. Interessant ist, dass manche der Regelungen auch diejenigen zu den schützenswerten Personen zählen, die in der Landwirtschaft arbeiten; so lesen wir etwa in einem kriegsrechtlichen Traktat Honor Bouvets (†1405/10):
[Geschont werden] sollen auch die Viehhirten, Landwirte und Landarbeiter [...] – diejenigen, die für alle Menschen und die ganze Welt arbeiten und durch deren Arbeit alle Arten von Menschen leben.1
Die Schutzwürdigkeit der Bauern liegt weniger in ihrer Wehrlosigkeit, als in ihrer gesellschaftlichen Funktion begründet: Von der Arbeit der Bauern lebt die ganze mittelalterliche Gesellschaft, und so erscheint es nur sinnvoll, durch die Schonung der Bauern die eigene Lebensgrundlage zu sichern. Dies ist freilich nur die Theorie des Krieges und hat mit der Praxis nicht immer viel gemein. Derartige Überlegungen zeigen aber, dass auch im Mittelalter über eine Eingrenzung des Krieges nachgedacht wurde, der die Unterscheidung in Kämpfer und solche, die es nicht waren, zugrunde lag.
Warum aber sprechen wir so kompliziert von ,Nichtkombattanten‘? Das ist – offensichtlich – kein mittelalterlicher Begriff. Wenn es zeitgenössische Sammelbezeichnungen für die schützenswerten Bevölkerungsgruppen gibt, dann zielen diese auf die fehlende Bewaffnung dieser Gruppen ab, und bezeichnen sie als ,unbewaffnet‘ (lateinisch: inermis). Dies weist erneut auf den engen Zusammenhang zwischen Verhalten und Schutz hin: Ein Bauer, der sich im Kampf mit welcher Waffe auch immer seinem Gegner stellte, konnte nicht aufgrund seiner |80|Standeszugehörigkeit mit Schonung rechnen. Diesem Umstand trägt auch die moderne Bezeichnung als Nichtkombattant, als Nicht-Kämpfer also, Rechnung. Je nach Verhalten und Situation konnte ein und dieselbe Person Kämpfer oder Nicht-Kämpfer sein. Am deutlichsten wird das am Beispiel der gefangenen Kämpfer. Sie wechseln mitten im Kampfgeschehen den Status: Dieser Übergang wird im Falle eines hochadligen Kämpfers, dessen Lösegeld den Fänger zu einem reichen Mann machen kann, durch bestimmte symbolische Akte markiert: Teile der Rüstung (etwa ein Handschuh oder der Helm) werden dem besiegten Gegner abgenommen. Er wird so vom bekämpfenswerten Kriegsgegner zum schützenswerten Nichtkombattanten. Als solcher nimmt er nicht mehr aktiv am Krieg teil.
Die Bezeichnung ,Zivilist‘ ist für mittelalterliche Kriege wenig passend. Sie basiert auf der Unterteilung der Gesellschaft |81|in Soldaten und solche, die es nicht sind. Ohne Soldaten gibt es keine Zivilisten. Soldaten im modernen Sinne wiederum gab es im Mittelalter nicht, weil entscheidende Aspekte dieses Berufsstandes fehlten: geregelte Ausbildung, Kasernierung, Uniformen und militärische Ränge. Zwar gab es für manche dieser Elemente Ansätze, die auf die stehenden Heere der Frühen Neuzeit verweisen; insgesamt gesehen aber war es im Mittelalter eine Frage des situationsspezifischen Verhaltens, nicht des Berufes, ob man als Kämpfer angesehen wurde oder nicht.
Der Topfhelm – Ein ritterlicher Kopfschutz
Im Laufe des Hochmittelalters entwickelte sich der Helm, den man gemeinhin mit dem mittelalterlichen Rittertum verbindet: der Topfhelm. Er umschließt den ganzen Kopf, bietet dadurch viel Schutz, schränkt aber auch die Beweglichkeit und die Sicht des Kämpfers ein. Sehen konnte man nur durch Sehschlitze, atmen durch Luftlöcher oder -schlitze, die sich meist auf der rechten Seite des Helmes befanden, also der Schwerthand des (meist rechtshändigen) Gegners abgewandt. In der Verbreitung des Topfhelms wird ein Grund für die Entwicklung der mittelalterlichen Wappenkunde gesehen: Die Kämpfer wurden durch die Rüstung, zu der auch der Helm zählte, zunehmend uniform und unkenntlich; deswegen mussten sie auf farbige Zeichnungen zurückgreifen, um sich zu identifizieren.
Man kann zwei Wege unterscheiden, wie Nichtkombattanten zu Opfern des Krieges wurden: direkt und indirekt. Zum einen betraf kriegerische Gewalt Nichtkombattanten ganz unmittelbar: Sie wurden von Kämpfern getötet, verstümmelt, verbrannt, vergewaltigt und verletzt. Dies geschah im Kontext von Kriegszügen und Belagerungen, bei Plünderungen und Brandschatzungen, im Kollektiv oder einzeln, auf Befehl oder eigenen Antrieb. Indirekt wurden Nicht-Kombattanten zu Opfern des Krieges, wenn dieser ihre Lebensgrundlage zerstörte oder sie Angehörige an ihn verloren, wenn die Ernte vernichtet oder gestohlen wurde oder der Ehemann nicht mehr aus dem Krieg heimkehrte.
Gewalt gegen Frauen
Während das aktive Kriegertum (beinahe) ausschließlich Männersache war, zählten Frauen meist zu den Opfern des Krieges (vgl. S. 111):
Wenn die Heiden so über uns gesiegt hätten, würden sie die Besiegten nicht grausamer behandeln. Es half den Frauen nichts, dass sie sich in die Kirchen geflüchtet und ihre Habe dorthin getragen hatten; denn die Männer waren in die |82|Wälder geflohen oder wo sonst sie in einem Versteck Rettung hoffen konnten. Die Frauen schändeten sie [die Leute König Heinrichs IV.] noch in den Kirchen, selbst wenn sie sich zum Altar geflüchtet hatten, und wenn nach Barbarenweise ihre Lust befriedet war, verbrannten sie die Frauen mit den Kirchen.2
In diesem Ausschnitt aus Brunos Buch über den Sachsenkrieg wird viel von der Grausamkeit des mittelalterlichen Krieges deutlich. Bruno beschreibt das Vorgehen der siegreichen Truppen König Heinrichs IV. nach einem Sieg über die ,aufständischen‘ Sachsen im Jahr 1075. In diesem Konflikt zwischen dem König aus dem Hause der Salier und den Sachsen stand Bruno eindeutig aufseiten der Sachsen. Seine Darstellung von den Gräueltaten der Sieger ist also sicherlich parteiisch, und der Hinweis auf Vergewaltigungen dient der Delegitimierung des Gegners. Wer Frauen vergewaltigt, verhält sich wie ein Heide – das ist der schlimmste Vorwurf, den man einem christlichen Krieger machen kann.
Im Vorwurf Brunos gegen die siegreichen Truppen Heinrichs steckt aber noch mehr: Er wirft den Siegern nicht nur Vergewaltigung vor, sondern steigert diesen Vorwurf durch den Hinweis, dass die Vergewaltigungen in Kirchen, ja auf den Altären, stattgefunden hätten. Es entsteht hier der Eindruck einer dreistufigen Steigerung: Vergewaltigung, Vergewaltigung in Kirchen und Vergewaltigung am Altar. Diese Schilderung passt zum einen zum Heiden- und zum Barbarenvergleich; wie die heidnischen Barbaren kennen auch die Kämpfer Heinrichs keinen Respekt vor christlichen Werten. Diese Steigerung verweist aber auch auf eine andere Dimension des Redens vom mittelalterlichen Krieg; es erscheint Bruno offenbar nicht ausreichend, den Gegnern ,nur‘ Vergewaltigungen zu unterstellen. |83|Er muss die Übergriffe auf Frauen mit dem Hinweis auf Kirchenschändung verknüpfen, um ihnen so (mehr) Schärfe zu verleihen. Dies weist – wie etliche andere mittelalterliche Quellen – darauf hin, dass Vergewaltigungen im Krieg zahlreich und allgegenwärtig waren. Mit dem Alltäglichen aber konnte man in der Geschichtsschreibung niemanden beeindrucken – so zynisch das in diesem Fall in unseren Ohren klingen mag. Berichtenswert ist das Außergewöhnliche, und dazu zählten Vergewaltigungen im Krieg offenbar nicht.
In diese Richtung weist auch folgendes Beispiel:
Ein großer Teil der reichen Stadtbürger wurde gefangen und nach England verbracht, um Lösegeld zu erpressen. Ein sehr großer Teil der gemeinen Leute wurde gleich getötet. Zahlreiche schöne Bürgerinnen und ihre Töchter wurden vergewaltigt, was eine große Schande war.3
Nichtkombattant ist hier nicht gleich Nichtkombattant. Arme und Reiche werden ebenso unterschiedlich behandelt wie Männer und Frauen. Männer, deren Armut sie in der Ökonomie des Krieges wertlos erscheinen lässt, werden umgebracht. Männliche reiche Bürger werden verschleppt, um Lösegeld zu erpressen. Darüber hinaus erfahren wir von den Übergriffen auf schöne Bürgerinnen und ihre Töchter. Sollen wir aus diesem Bericht schließen, dass nur die schönen Bürgerinnen und ihre Töchter vergewaltigt wurden? Wohl kaum. Vielmehr scheint es erst die soziale Stellung (als Stadtbürgerin) und das Aussehen zu sein, welche die Übergriffe auf diese Frauen erwähnenswert machen.
Die Gewalt des Krieges traf nicht nur Frauen, sondern auch männliche Nichtkombattanten: Sie wurden vertrieben und mussten sich in den Wäldern verstecken – wie im Sachsenkrieg – oder wurden zur Lösegelderpressung verschleppt – wie im Hundertjährigen Krieg. Im Rahmen der mittelalterlichen Vorstellungen von Familie und der Vorrechtstellung des Mannes richtete sich eine Vergewaltigung darüber hinaus immer auch gegen den Mann, der nicht in der Lage war, seine Frau zu beschützen und damit seine Rolle als Familienoberhaupt auszufüllen. Dies betonen die zahlreichen Quellenstellen, die von Vergewaltigungen von Frauen und Töchtern in der Gegenwart der Männer und Väter berichten. Auf diese Weise wurde den Unterlegenen ganz plastisch ihre Hilflosigkeit und Ohnmacht vor Augen geführt.
Auch im Mittelalter kannten Heerführer diese Form der kriegerischen Gewalt und brachten sie ganz gezielt für politische oder strategische Zwecke zum Einsatz. Als die Sachsen aus fränkischer Sicht ihren Widerstand nicht aufgaben, ließ Karl der Große 799 etliche Mitglieder der sächsischen Führungsschicht mit Frauen und Kindern ins Frankenreich umsiedeln und auf verschiedene Regionen verteilen. Deportation war hier ein strategisches Mittel, um ein langfristiges Kriegsziel zu erreichen. Auch aus taktischen Überlegungen wurde im Mittelalter deportiert: König Eduard III. von England ließ 1346 die männlichen Bürger von Harfleur auf Schiffen nach England bringen, damit diese nicht im Rücken der weiterziehenden englischen Truppen zur Bedrohung werden konnten.
Gewalt in den Berichten vom Krieg
Krieg und Gewalt sind untrennbar miteinander verbunden; daher verwundert es nicht, wenn in Kriegsberichten von Gewalt die Rede ist. Irritierend, weil zynisch und teilnahmslos, wirken |85|hingegen jene Texte, die vom Krieg sprechen und auf jeden Hinweis auf Gewalt verzichten. In ihnen mutiert der Krieg zu einer Art Spiel, in dem es ums Gewinnen geht, der Weg dahin aber weitgehend ausgeblendet wird.
Ganz anders ist es um die Texte bestellt, die ausdrücklich auf die Gewalt Bezug nehmen. Dies kann in verschiedenen Kontexten und mit unterschiedlichen Absichten passieren. So sollen Hinweise auf (erfolgreich) ausgeübte Gewalt die kämpferischen Qualitäten der eigenen Seite betonen. Gewalt dient dann der Unterhaltung der eigenen Seite, wenn sie zur Selbstversicherung beiträgt. Ähnlich wie heute in zahlreichen Hollywood-Filmen die Darstellung von Gewalt zur Unterhaltung des Publikums beiträgt, erfüllte die Schilderung von Gewaltsamkeit auch in mittelalterlichen Texten diese Funktion.
Entscheidende Voraussetzung dafür, dass Gewalt das Publikum unterhalten kann, ist ihre Qualität: Es muss sich im Sinne der Adressaten um ,gute‘ Gewalt handeln. Sie muss im Kontext des Krieges gerechtfertigt sein, darf also nicht vorhandene Abgrenzungen und Normen überschreiten. Außerdem muss Gewalt erfolgreich ausgeübt werden: Es muss eine möglichst große Zahl von Feinden darunter leiden. Das Diktum ,viel Feind – viel Ehr‘ wirkt in diesem Zusammenhang ganz buchhalterisch: Je mehr Feinde ein Held umbringen kann, desto unterhaltsamer sind seine Taten. Entscheidend für den Unterhaltungswert von Gewalt ist hier die Verknüpfung mit einem Helden: Dieser wird eben dadurch zum Held, dass er Gewalt ausübt. Dies gilt für James Bond genauso wie für mittelalterliche Recken vom Schlag eines Siegfrieds, und ist eine kulturelle Konstante. Entscheidend ist, dass die Gewalt ins rechte Licht gerückt wird: Sie richtet sich gegen einen würdigen Gegner und meist gegen ,den Bösen‘. Ist dieser Kontext |86|erst einmal etabliert, trägt die Schilderung von Gewalt zur Heroisierung und damit zur Unterhaltung bei:
Auch das Heer des Königs [Heinrich IV.] rückte vor, die Treffen gehörig aufgestellt, und eilte schon gegen den Feind. [...] Schwer tobte der Kampf und es erhob sich das Tosen des Krieges; mit ihren Waffen brachen sie [die Kämpfer König Heinrichs] in die dichtgedrängten Schlachtreihen der Sachsen ein, freudig schleuderten sie überall die Leiber beiseite, als wenn die Sichel das reife Korn schnitte. Mit dem Schwert mähten sie die Häupter, wie bei der Ernte – ein schrecklicher Anblick! – und mit dem Schwert bahnten sie sich überall einen Weg mitten durch die Feinde. Der getreue Panzer vermochte die Glieder nicht zu schützen, noch der verzierte Helm das Haupt, überall war Tod. Die mit Leichen bedeckte Flur war nass von Blut.4
Mit diesen Worten beschreibt das Lied vom Sachsenkrieg die Schlacht an der Unstrut zwischen König Heinrich IV. und den aufständischen Sachsen 1075 – aus der Sicht des siegreichen Königs. Das Gedicht schwelgt geradezu in der Beschreibung der Gewalt, die den Sachsen angetan wird. Die Ernte-Metapher, in welcher die Feinde wie reifes Korn gemäht werden, macht die Aussageabsicht der Quelle deutlich: Die richtige Seite (die eigene) ist den Feinden so überlegen, dass diese massenhaft getötet werden und dabei letztlich keinen Widerstand leisten können. Die Guten fahren hier ihre Ernte ein. Diese Metaphern für kriegerische Aktionen, die alle auf der Chancenlosigkeit der Gegner basieren, kennen wir auch aus anderen Zeiten und Kontexten: In der Bibel liegen die Feinde wie das Korn hinter dem Schnitter (Jeremia 9, 21), und in modernen Kriegen werden Feinde mit dem MG ,umgemäht‘.
|87|Die Sachsen wollen sich an der Unstrut freilich nicht ganz kampflos in ihr Schicksal ergeben, und so geht die Schilderung weiter:
Die Sachsen, die bei dem gewaltigen Gemetzel zurückwichen, suchten sich dagegen zu stemmen, um nicht ungerächt [ zu sterben, und griffen die Sieger verschiedentlich an. [...] Der eine stürzte auf den Feind und trat dabei auf seine eigenen Eingeweide, der andere zog den kalten Stahl aus dem eigenen Körper, und sterbend erschlug er den Feind, der ihn tötete.5
Mit dem Widerstand der Sachsen ist dann das (Schlacht)Feld bereitet für den Auftritt des eigentlichen Helden, König Heinrich IV.:
Wie ein Blitz fuhr der König dahin, schimmernd in herrlichen Waffen, und streckte viele Tausend des eidbrüchigen Volkes nieder.6
|88|Ein Held ist, wer viele Feinde tötet, und Heinrich IV. ist der Held des Liedes vom Sachsenkrieg: Er tötet die Sachsen massenhaft. Gerade in epischen Texten haben mittelalterliche Autoren keine Probleme damit, kriegerische Gewalt sehr ausführlich und plastisch darzustellen. Gleiches gilt auch für die mittelalterliche Buchmalerei; ihre Bilder lassen der Fantasie wenig Raum und zeigen kriegerische Gewalt in allen blutigen Details.
Die bildliche Darstellung dürfte dabei ebenso wenig der Realität des mittelalterlichen Krieges entsprochen haben wie das Epos zum Sachsenkrieg. Der Krieg war sicherlich grausam und blutig; es wurden aber weder Männer mit einem Hieb in zwei Teile geteilt, noch haben einzelne Könige Tausende Feinde erschlagen. Beide Gewaltschilderungen sind künstlerisch überzeichnet. Sie kommen aber der Wirklichkeit auf den Schlachtfeldern sicherlich näher als alle klinischen Berichte gewaltfreier Darstellungen.
Gewalttätig ist immer der Gegner
Eine andere Stoßrichtung von Gewaltbeschreibungen ist die Delegitimierung des Gegners. Dessen Position wird ins Unrecht gesetzt, indem ihm Handlungen jenseits der akzeptierten Normen zugeschrieben werden. Damit sind wir bei einem ganz typischen Punkt mittelalterlicher Berichte von Kriegsgräueln: Übergriffe begehen immer nur die anderen. Dies zeigt deutlich, dass wir es gerade bei Kriegsberichten – genau wie heute – stets mit Parteien zu tun haben, die sich in ein gutes und die Gegner in ein schlechtes Licht setzen wollen. Ausschlaggebend ist dabei nicht die Intensität der Gewalt, sondern ihr Kontext. Das massenhafte Hinschlachten von Feinden – inklusive eines Meeres von Blut und herausquellender Gedärme – wurde als ein probates |89|Mittel eingestuft, um Heldengeschichten vom Krieg zu erzählen. Nicht die reine Gewalt setzt den Akteur ins Unrecht.
Dieses Unrecht wird vielmehr durch ganz bestimmte Formen von Gewalt evoziert und begründet: Dies sind vor allem Übergriffe auf Personen, die als schützenswert galten, oder auf sakrale Einrichtungen. Ein besonders drastisches – und daher lehrreiches – Beispiel für Gewaltzuschreibung an eine Fremdgruppe erzählt der Chronist Jean Froissart zum Aufstand der französischen Bauern 1358, der sogenannten Jacquerie:
Ich könnte mich niemals überwinden, die schrecklichen und schändlichen Dinge niederzuschreiben, welche sie [die Bauern] den adligen Frauen angetan haben. Aber – unter vielen anderen brutalen Übergriffen – haben sie folgendes gemacht: Sie töteten einen Ritter, spießten ihn auf und brieten ihn über dem Feuer vor den Augen seiner Frau und seiner Kinder. Nachdem gut ein Dutzend die Frau vergewaltigt hatten, versuchten sie die Frau und ihre Kinder dazu zu zwingen, das Fleisch des Ritters zu essen. Danach töteten sie alle auf grausame Weise.7
Hier finden sich so ziemlich alle Gewalt-Stereotypen, die man im Mittelalter einem Gegner unterstellen kann: Kannibalismus, Vergewaltigung von Frauen und all das vor den Kindern der Opfer. Für den modernen Betrachter sagt diese Zuschreibung freilich mehr über die Gewaltvorstellungen Froissarts und seiner Zeitgenossen aus als über die Handlungen der aufständischen Bauern. Auch hier muss man stereotype Vorstellungen von der Wirklichkeit unterscheiden. Dem Autor geht es darum, die Bauern als grausam und niederträchtig darzustellen und auf diese Weise die Gewalt zu rechtfertigen, die von den adligen Rittern Frankreichs eingesetzt wurde, um den Aufstand niederzuschlagen. Denn nichts legitimiert Gewalt so überzeugend |90|wie das Argument der Reziprozität: Wir sind brutal (oder noch brutaler), weil die anderen auch brutal waren. Das Vorgehen der Ritter bedarf dabei vor allem deswegen der Begründung, weil es sich bei den Bauern um Landsleute und Glaubensbrüder handelte. Um gegen seinesgleichen gewaltsam vorzugehen, brauchte man eine Legitimation: Wer Frauen schändet und zum Kannibalismus zwingt, hat sich offenbar aus der Gemeinschaft der Christen verabschiedet und kann mit allen Mitteln bekämpft werden.
Ein Gewaltbild, das im Mittelalter immer wieder begegnet, ist das Anzünden einer Kirche, in der sich Menschen befinden (siehe den Abschnitt, Gewalt gegen Frauen’, S. 81). Im christlichen Abendland werden durch so eine Handlung gleich mehrere Tabus gebrochen. Man vergreift sich an einem sakralen Ort; man lässt die Hoffnung der Gläubigen, die sich in den Schutz ihres Gottes geflüchtet haben, ins Leere laufen; und man tötet Wehrlose. So verwundert es nicht, dass dieser Vorwurf der Gegenseite immer wieder gemacht wurde und eines der Gewaltszenarien darstellt, die als berichtenswert eingestuft wurden. Bei allen Abstrichen, die man bei den stilisierten Gewaltzuschreibungen – wie etwa bei Froissart – machen muss, belegen sie doch eins: Wenn der Chronist zu derartigen Bildern greifen muss, kann man davon ausgehen, dass die alltägliche Gewalt in dieser Zeit massiert auftrat.
Es ist dabei interessant festzustellen, wie langlebig diese Gewaltbilder im Abendland sind und waren. Im Jahr 2000 erzählte der Film Der Patriot mit Mel Gibson in der Hauptrolle die Geschichte des amerikanischen Unabhängigkeitskampfes im 18. Jahrhundert. In einer Szene treibt eine britische Kavallerie-Einheit die Bewohner eines Dorfes (vornehmlich Frauen und Kinder), das die Rebellen unterstützt, in der Kirche zusammen und zündet diese dann an. Hier wird, ähnlich wie in den |91|mittelalterlichen Chroniken, ganz gezielt ein bestimmtes Gewaltszenario eingesetzt, um jenseits der historischen Wirklichkeit der Unabhängigkeitskriege zu zeigen, wer die Bösen sind. Der Bezugspunkt für diese Szene, welche die Kavalleristen in schwarzen Uniformen zeigt, ist freilich nicht das Mittelalter, sondern ein Kriegsverbrechen der Waffen-SS im französischen Dorf Oradour-sur-Glane im Jahr 1944.
Gewalt als Mittel der Kriegführung
Fragt man nach den kriegerischen Situationen und Konstellationen, in denen Nichtkombattanten im Mittelalter Opfer von Kriege(r)n wurden, so ergibt sich ein Befund, der die Ähnlichkeit mittelalterlicher und moderner Konflikte verdeutlicht: Gewalt gegen Nichtkombattanten wurde auch von mittelalterlichen Heerführern ganz bewusst eingesetzt, um Kriegsziele zu erreichen. Etliche Übergriffe waren sicherlich die Folge mangelnder Disziplin oder wurden einfach billigend in Kauf genommen. Hier wird man sicherlich auch die gewaltfördernde Dimension von Gruppendynamik in Betracht ziehen müssen. Aus dem Verhalten und den Berichten mittelalterlicher Heerführer wird aber auch deutlich, dass sie ganz bewusst auf Nichtkombattanten abgezielt haben. Stadtbewohnerinnen und -bewohner wurden umgebracht und verschleppt, um anderen Städten die Entschlossenheit und Härte der eigenen Truppen zu demonstrieren. Auch das gegenteilige Verhalten ist belegt: Ostentative Schonung von Unterlegenen sollte verbleibende Gegner davon überzeugen, sich zu unterwerfen.
Indirekte Gewalt gegen Nichtkombattanten verbirgt sich oftmals in lapidaren Bemerkungen:
|92|Aber des Kaisers Sohn Karl schlug eine Brücke über die Elbe und führte sein Heer so schnell wie möglich hinüber gegen die Linonen und Smeldinger [...], verwüstete weit und breit ihre Felder und kehrte dann mit seinem Heere ohne allen Verlust wieder über den Fluss nach Sachsen zurück.8
Hier berichten die Reichsannalen, die man als offiziöse Hofgeschichtsschreibung des karolingischen Herrscherhauses bezeichnen könnte, über einen Kriegszug Karls – des ältesten Sohnes Kaiser Karls des Großen – gegen zwei elbslavische Stämme. Aus Sicht der Franken läuft alles bestens: Sie gehen über die Elbe, verwüsten das Feindesland sehr erfolgreich und kehren ohne Verluste wieder in die Heimat zurück. Hinter der Formulierung ,verwüstete weit und breit ihre Felder‘ verbergen sich aber menschliche Schicksale. Will man diesen Satz nicht nur als Floskel verstehen, der den Erfolg der fränkischen Operation umschreiben soll, dann wurde hier die Lebensgrundlage von Frauen und Kindern der Linonen und Smeldinger vernichtet. Wie so oft hat auch hier der Sieger kein Interesse am Leid der Verlierer, werden die Opfer des Krieges aus den Erzählungen vom Krieg ausgeblendet.
Zu den Opfern des Krieges zählen auch die Hinterbliebenen der gefallenen Kämpfer: Der Krieg war Witwen- und Waisenmacher. Jan van Heelu verweist auf die Intensität eines Krieges:
Das war [die] erste Heerfahrt […], die viele zu Waisen und Witwen machte, denn der Krieg blieb so erbittert, hart und schwer, wie keiner je zuvor war.9
Wir können die Zahl der Opfer unter den Nichtkombattanten, das Ausmaß ihrer Schädigung oder ihr Leidens heute nicht mehr quantifizieren. Wir können auch nicht feststellen, ob die Kriege |93|des Mittelalters tendenziell mehr oder weniger Nichtkombattanten getroffen haben als die Kriege anderer Epochen. Aus der Sicht der Opfer ist diese Frage auch nachrangig und zynisch.
Kämpfer als Opfer des Krieges
Krieger kamen im Mittelalter in großer Zahl ums Leben. Teilnehmer an einer Schlacht oder Belagerung gingen immer das Risiko ein, getötet zu werden. Dieses Risiko schwankte je nach sozialer Stellung und Funktion im Heer, nach Kriegsschauplatz und -art und war vor allem abhängig von Sieg und Niederlage.
Ein Ritter, der in einem Krieg zwischen Christen siegreich war, hatte sicherlich deutlich bessere Überlebenschancen als ein als Fußkämpfer agierender Bauer, der einem andersgläubigen Feind unterlegen war. Ihr Status schützte die Ritter ebenso wie ihre Panzerung. Sie waren mehr wert als einfache Fußkämpfer und daher schonenswert; außerdem waren sie schwieriger zu töten.
Ganz in diesem Sinne berichtet Ordericus Vitalis, dass in der Schlacht von Br mule im Jahr 1119 zwischen den Königen von England und Frankreich, Heinrich I. und Ludwig VI., nur eine geringe Zahl von Rittern ums Leben gekommen sei:
Ich habe gehört, dass in dieser Schlacht zwischen zwei Königen, in der ungefähr 900 Ritter kämpften, nur drei getötet worden sind.10
In dieser Schlacht starben also nur drei Kämpfer? Mitnichten: Die Quelle interessiert sich nur für die Ritter und erwähnt andere Kämpfer gar nicht. Wir wissen schlicht nicht, ob und wie viele nicht-ritterliche Kämpfer bei Br mule ums Leben kamen, weil sich die zeitgenössische Geschichtsschreibung nicht für sie interessiert hat. Dieses Beispiel ist symptomatisch. Genaue |94|Angaben zu Verlusten sind schwierig, sowohl relativ als auch absolut. Weder können wir generelle Aussagen darüber machen, zu welchem Prozentsatz mittelalterliche Kämpfer gefallen sind, noch wissen wir für etliche Schlachten, wie viele Kämpfer genau starben. Ausgangspunkt für alle Überlegungen zu Verlusten muss dabei die Frage sein, wie viele Kämpfer überhaupt in die Schlacht zogen.
Von Truppenstärke und Opferzahlen
Angaben zur Truppenstärke können wir im Wesentlichen aus zwei verschiedenen Quellengruppen beziehen: Dies ist zum einen die Geschichtsschreibung. Im Rahmen von Schlachtschilderungen vermerken die Chronisten oft, wie viele Kämpfer sich gegenüberstanden. Allerdings sind diese Angaben meist wenig zuverlässig. Oftmals können die Geschichtsschreiber die Zahlen gar nicht genau kennen. Auch wenn sie Augenzeugen einer Schlacht waren, hilft das nur bedingt: Es ist – zumal für in militärischen Belangen ungeschulte Kleriker – sehr schwierig, durch bloßen Augenschein die Größe einer Menschenansammlung zu schätzen. Dies gilt besonders für das gegnerische Heer und die Unübersichtlichkeit einer Schlacht. Erst wenn der Geschichtsschreiber Einblick in die Organisation und Verwaltung des Heeres hat, kann er zu präziseren Angaben gelangen. Dies ist aber nur selten der Fall; außerdem erscheint es sehr fraglich, ob überhaupt ein Teilnehmer eines Kriegszuges oder einer Schlacht genau wusste, wie viele Kämpfer auf einer Seite fochten. Aber selbst wenn einem Geschichtsschreiber zuverlässige Zahlen zur Verfügung standen, ist damit noch nicht gesagt, dass er diese auch ungeschönt niederschrieb.
Gerade durch Zahlenangaben ließen sich bestimmte Wirkungen in der Geschichtsdarstellung erzielen: Wir haben verloren, |95|weil wir wenige und die anderen viele waren; oder: Obwohl wir so wenige waren, haben wir die große Übermacht des Feindes in die Flucht geschlagen; oder: Die große Anzahl unserer Truppen belegt, wie viele Unterstützer unsere Sache hatte. Die Angaben zur Truppenstärke aus der Geschichtsschreibung sind also selten zuverlässig. Dies belegt etwa ein Beispiel, in dem die Angabe der Truppenstärke rein metaphorisch zu verstehen ist und auf die Größe des christlichen Gottes, der den Seinen den Sieg schenkt, verweisen soll; Ansbert berichtet in seiner Geschichte zum Kreuzzug Kaiser Friedrichs I. von einem Angriff der Muslime auf das Lager der Christen im Jahr 1190:
Aber das Heer des lebendigen Kreuzes begegnete den Angriffen tapfer, zuerst mit Fußtruppen, dann mit der Reiterei, sodass zwei zehntausende in die Flucht schlugen.11
Hier wird nicht die historische Wirklichkeit wiedergegeben, sondern mit einem Zitat aus dem Buch Deuteronomium (32, 30) Gottes Allmacht betont: Nur ein wahrhaft mächtiger Gott vermag zwei Christen gegen 10 000 Muslime den Sieg zu schenken.
Der günstigere Fall für den modernen Historiker liegt dann vor, wenn sich Soldlisten oder andere Akten der mittelalterlichen Kriegsverwaltung erhalten haben. Dies ist aber nur vergleichsweise selten der Fall und trifft vor allem für solche Kriegsherren zu, die über ein gut ausgebautes Verwaltungswesen und eine ausgefeilte Kriegsbürokratie verfügten, wie für die englische Monarchie im 14. und 15. Jahrhundert. So kennen wir etwa für die Schlacht von Agincourt (1415) Musterungslisten (Muster Rolls) und die Auflistungen von Gefolgsmännern (Retinue Lists). Hier ist verzeichnet, wer gegen Soldzahlung und wer als Teil seiner Pflicht als Gefolgsmann für den englischen |96|König Heinrich V. an dem Kriegszug teilgenommen hat: 1422 Reiterkrieger und 5116 Bogenschützen. Die Engländer hatten also für den Kriegszug nach Frankreich 6538 Mann auf der Liste. Dies sagt natürlich noch nichts darüber aus, wie viele genau bei Agincourt gekämpft haben, da Ausfälle auf dem Marsch, Desertionen und andere Vorkommnisse, welche die Anzahl der Kämpfer reduzieren konnten, nicht berücksichtigt sind. Wir haben aber immerhin einen ziemlich präzisen Anhaltspunkt. Vergleichbare Zahlen für die französische Seite liegen uns freilich nicht vor.
Verglichen mit antiken und neuzeitlichen Heeren waren mittelalterliche Verbände also eher klein(er). Für das 15. Jahrhundert hingegen waren 6000 Mann eine beachtliche Truppe. Die Größe der Heere wurde durch verschiedene Faktoren bestimmt: Rekrutierungsmechanismen, Heeresstruktur oder auch die Bevölkerungszahl. Man kann sie auch als Indiz für den Grad an Verstaatlichung verstehen, in der sich eine Gesellschaft befindet. Je mehr Zugriff ein Staat auf seine Untertanen und deren finanzielle und personelle Ressourcen hat, desto größere Kontingente kann er unter Waffen stellen und in den Krieg schicken. Hochphasen dieser Systematik stellen die römischen Legionen und die Volks- oder Massenheere des 21. Jahrhunderts dar. Das Mittelalter steht gleichsam zwischen diesen beiden Polen.
Rekrutierung von Truppen erfolgte in dieser Zeit auf verschiedenen Wegen, war aber niemals vergleichbar flächendeckend wie in der Antike oder der Neuzeit. Es lassen sich zwei Rekrutierungsmechanismen unterscheiden: Verpflichtung und Sold. Entweder zwang ihre gesellschaftliche Stellung Männer zum Kriegsdienst – oder zur Zahlung, um sich davon zu befreien. Kriegsherren griffen zu jeder Zeit im Mittelalter andererseits auch auf Soldzahlungen und Söldner zurück. Oftmals |97|waren es dabei genau dieselben Personengruppen, die vorher (oder am Anfang eines Kriegszuges) als Lehnsdienstpflichtige mitgezogen waren, die sich nun bezahlen ließen. War die Lehnsverpflichtung abgelaufen und der Krieg noch nicht vorbei, mussten die Kämpfer für ihre Dienste bezahlt werden.
Es kamen aber auch Söldner im klassischen Sinne zum Einsatz: Landfremde Profis, die ihren Lebensunterhalt mit dem Krieg verdienten und oft einen schlechten Ruf hatten, weil sie den Krieg professionell und ausschließlich unter ökonomischen Gesichtspunkten betrieben und: weil sie Fremde waren. Bekannte Beispiele für Söldnergruppen sind die Brabanzonen des 12. oder die Armagnaken des 15. Jahrhunderts. Beide Bezeichnungen leiten sich letztlich von einer Region ab (Brabant und Armagnac), zu der diese Söldnertruppen ursprünglich in Beziehung standen. Beide zeichneten sich durch zahlreiche Plünderungen und Übergriffe aus und wurden für ihre Kriegsherren zum Problem, wenn die Kassen leer oder die Kämpfe vorbei waren. Dann galt es, für eine kampferprobte Einheit bewaffneter Kämpfer eine Beschäftigung zu finden. Aus diesem Grund kämpften diese Gruppen immer wieder auf verschiedenen Seiten eines Konfliktes.
Die Größe mittelalterlicher Heere war durch die Finanzkraft der jeweiligen Kriegsherren beschränkt, die nicht nur für den Sold, sondern in gewissem Umfang auch für die Verpflegung und Ausrüstung ihrer Kämpfer aufkommen mussten. Für große Heere antiken oder modernen Umfangs fehlten schlicht und einfach die Mittel.
Für die Ermittlung von Opferzahlen sind wir meist auf die Geschichtsschreibung verwiesen – und hier mit den gleichen Problemen konfrontiert, die wir schon bei den Angaben zur Truppenstärke kennengelernt haben: Die Zahlen sind schwer zu ermitteln und obendrein verzerrt. Woher wusste man, wie |98|viele Kämpfer gefallen waren? Für etliche Gefechte wird berichtet, dass nach dem Kampf das Schlachtfeld nach Toten und Verwundeten abgesucht wurde; es ging darum, die Toten zu plündern, die Verwundeten nach potenziellen Lösegeldkandidaten abzusuchen oder sie, wenn ihr sozialer Status diese Möglichkeit ausschloss, umzubringen. Eine Niederlage führte nicht selten zu horrenden Verlusten: Bei Agincourt sollen 1415 circa 40 Prozent der französischen Ritter gefallen sein. Auch wenn das Lösegeldsystem und die gute Körperpanzerung der Reiterkrieger die Chancen verbesserten, eine Schlacht zu überleben, so war das persönliche Risiko doch immer hoch. Dies galt besonders für die nicht-adligen Fußkämpfer, die durch Defensivwaffen schlechter geschützt und im sozialen Gefüge weniger wert waren. Die Unterscheidung in Adlige und ,einfaches Volk‘ diente im Mittelalter zur Differenzierung von Verlusten:
Nicht leicht ließ sich schätzen, wie viele Tausend auf der einen, wie viele auf der andren Seite in der Schlacht getötet worden waren, so viel aber stand eindeutig fest, dass hier mehr Adlige, dort mehr aus dem niederen Volk gefallen waren.12
Mit diesem aus heutiger Sicht zynisch wirkenden Vergleich der Toten kommentiert Lampert von Hersfeld die Niederlage der Sachsen im Kampf gegen König Heinrich IV. an der Unstrut im Jahr 1075. Lampert steht aufseiten der Verlierer und will den Sieg Heinrichs durch die hohen Verluste an Adligen zerreden.
Was den Verlierern nach der Schlacht auf dem Schlachtfeld blühen konnte, erzählt uns der Schweizer Chronist Johannes von Winterthur. Im Jahr 1292 bekämpften sich die Städte Zürich und Winterthur, Zürich verlor, etliche Züricher flohen, und andere blieben verwundet zurück:
|99|Die übrigen [Züricher] aber sind entweder erschlagen oder verwundet worden; der größte Teil aber ist, weil sie [die Winterthurer] sie menschlich behandelt haben, gefangen abgeführt worden. [...] Denn die Winterthurer hatten durch das Dahinstrecken der Feinde und ihrer Pferde eine so große Menge an Blut vergossen, dass viele der Feinde sich darin wälzen konnten wie Schweine in der Suhle, damit sie für tot gehalten wurden und so dem Tod entgehen konnten.13
Hoheit über das Schlachtfeld
Die Hoheit über das Schlachtfeld gehörte stets den Siegern, ja wurde sogar als Ausdruck des Sieges verstanden: Wer das Feld behaupten und besetzen konnte, hatte gewonnen. Damit war auch die Hoheit über die auf dem Schlachtfeld verbliebenen Leichen und Verwundeten verbunden, sowohl die der eigenen Seite als auch die des Gegners. So berichtet der Chronist Otto von St. Blasien vom Morgen nach einer Schlacht zwischen aufständischen Römern und einer kaiserlichen Truppe unter Führung zweier deutschen Bischöfe vor der Burg Tusculum 1167:
Des Morgens eilten die Römer zum Schlachtfeld, um die Leichen der Gefallenen zu holen, aber die Bischöfe schickten Ritter in ihre Reihen, die sie in die Flucht schlugen. [...] Schließlich sandten sie Boten zu den Bischöfen und beschworen diese untertänigst, sie möchten aus Liebe zum heiligen Petrus und in Anbetracht der Christenheit ihnen gestatten, ihre Toten aufzunehmen. Dies wurde von den Bischöfen unter der Bedingung erlaubt, dass sie die Zahl der Toten und Gefangenen aus dem Kampf ihrerseits zusammenzählten, unter Eid ihnen schriftlich gäben und so endlich nach gegebenem Frieden ihre Toten zum Begräbnis aufnähmen.14
|100|Zu den Privilegien des Sieges zählt hier nicht nur die Hoheit über das Schlachtfeld, welche die Bischöfe ganz handfest umsetzten, sondern auch der Anspruch auf eine Bilanzierung des Krieges. Die Sieger wollen genau wissen, wie viele Gegner sie getötet und gefangen haben; das Ergebnis wird – ganz buchhalterisch – aufgelistet. Otto von St. Blasien nennt dann auch das Ergebnis der Zählung: 15 000 Tote und Gefangene. Diese Angabe erscheint nach heutigen Überlegungen zu hoch; derartige Zahlenangaben stehen in der Historiographie des Mittelalters einfach für ,sehr viele‘. In der Tendenz wird diese Zahl aber von den Angaben der anderen Quellen zu dieser Schlacht gestützt. Die Verluste der Römer – genannt werden Zahlen zwischen 1500 und 15 000 Gefallenen und zwischen 1700 und 7000 Gefangenen – müssen horrend gewesen sein.
Verwundung
Kombattanten wurden nicht nur durch den Tod zu Opfern des Krieges. Sie konnten verwundet oder verstümmelt werden oder gerieten in Gefangenschaft. Die mittelalterlichen Quellen sprechen über Verletzungen meist nur dann, wenn hochrangige Kämpfer betroffen sind oder sie einen Gesamteindruck des Grauens vermitteln wollen.
Nachdem der König Otto, Walram [Herzog von Limburg] und viele andere auf beiden Seiten schwer verwundet, mehrere auch gefangen und getötet waren, kehrten alle nicht ohne schweren Schaden heim.15
So berichtet die Fortsetzung der Kölner Königschronik zum September 1205, als im Zuge des Thronstreites zwischen dem Staufer Philipp von Schwaben und dem Welfen Otto IV. Letzterer beim Kampf um die Stadt Köln verwundet wurde. Nur der |101|König und einer seiner hochrangigen Gefolgsmänner werden namentlich genannt, die übrigen Verwundeten hingegen bleiben namenlos; auch über die Art der Verwundung erfahren wir nichts.
Gefangenschaft
Physisch meist weniger gravierend, mitunter aber finanziell ruinös war es für einen mittelalterlichen Kämpfer, in Gefangenschaft |103|zu geraten. Wenn die Möglichkeit im Raum stand, Lösegeld zu erpressen, sicherte dies dem Gefangenen meist das Leben, wenn auch nicht in allen Fällen die körperliche Unversehrtheit. Die Gefangenschaft von hochrangigen Kämpfern war in der Regel eher angenehm, da sie entsprechend ihres Standes behandelt wurden, teilweise auch ihre eigene Dienerschaft bei sich hatten. Man konnte gegebenenfalls auf Ehrenwort versichern, nicht zu fliehen, und so erniedrigender Einkerkerung entgehen. Karl, Herzog von Orl ans, geriet im Alter von 20 Jahren in der Schlacht von Agincourt in englische Gefangenschaft, in welcher er 35 Jahre verblieb. In dieser Zeit lebte er in London und schrieb zahlreiche Gedichte.
Diese Art von Gefangenschaft war sicherlich nicht allzu entbehrungsreich. Ganz anders gestaltete sich die Sachlage, wenn die Gefangenen weniger prominent waren. Oftmals wurden sie herangezogen, um dem Kriegsgegner eine Botschaft – im übertragenen Sinne – zu übermitteln. So ließ im Jahr 1198 der englische König Richard 14 französischen Rittern beide Augen ausreißen, einem 15. Ritter wurde ein Auge belassen, damit er seine Gefährten zurück zum französischen Heer führen konnte. Der französische König Philipp Augustus ließ im Gegenzug 15 englische Gefangene blenden. Dieser Richard ist der König mit dem Beinamen Löwenherz, der uns in zahlreichen Robin Hood-Legenden als besonders ritterlicher und ehrenvoller Monarch präsentiert wird.
Der ganze Zynismus des Krieges kommt in einem Bericht des arabischen Autors Usamah ibn Munqid († 1188) im Kontext der Kreuzzüge zum Ausdruck:
|104|Die Franken haben ihn gefangen und folterten ihn auf verschiedene Weise. Sie wollten ihm sogar das linke Auge ausreißen. Aber Tankred – Allah möge ihn verfluchen – sagte zu ihnen: „Reißt ihm lieber das rechte Auge aus. Wenn er seinen Schild trägt, wird das linke Auge [durch den Schild] bedeckt sein, und er wird gar nichts mehr sehen können.“16