Nachwort
UWE ANTON
Michael Bishops DIESER MANN IST LEIDER TOT und die literarischen Erben Philip K. Dicks
Was wäre, wenn …«, fragt Philip K. Dick in ›The Man in the High Castle‹ (dt. als ›Das Orakel vom Berge‹), dem Roman, den Michael Bishop für den besten des Autors hält: was wäre, wenn die Achsenmächte den Zweiten Weltkrieg gewonnen und des Tennos Truppen und Nazi-Deutschland die USA unter sich aufgeteilt hätten? Die Japaner haben in Dicks Roman die Westküste – die Pazifischen Staaten Amerikas, die PSA – okkupiert, die Nazideutschen die Ostküste. Dazwischen liegen die Rocky Mountain-Staaten als Pufferzone. Vor diesem Hintergrund entwickelt sich die Handlung um das Schicksal von vier Hauptpersonen, von denen drei im von den Japanern besetzten San Francisco leben.
Diese Ausgangssituation muß die Leser Anfang der sechziger Jahre – lediglich gut fünfzehn Jahre nach dem Ende des Hitlerfaschismus – zutiefst schockiert haben. Doch nicht nur die Idee, sondern auch die Ausführung von ›Das Orakel vom Berge‹ ist Dick brillant gelungen. Mit diesem Roman ist Dick eine Mischform zwischen dem Mainstream-Roman und der Science Fiction geglückt, wie er sie schon lange angestrebt hatte. Der Roman liest sich anfangs wie eine ganze normale Beschreibung des zeitgenössischen amerikanischen Alltagslebens; auch seine Handlung ist und bleibt in den wichtigsten Zügen völlig realistisch. Doch die Handlungsprämisse ordnet das Werk eindeutig der Science Fiction zu, und zwar der Unterart des Parallelwelt-Romans, dessen bester und bekanntester Vertreter es auch noch fast dreißig Jahre nach seinem Entstehen ist.
In dem vorliegenden Parallelwelt-Roman, den Michael Bishop fünfundzwanzig Jahre nach ›The Man in the High Castle‹ schrieb, formuliert er die Frage um und hängt die Handlung anfangs an der Biographie des Autors vom ORAKEL auf. Was wäre, wenn – fragt Michael Bishop, um seinem Roman Struktur und Fundament zu geben – Philip K. Dick nicht als Science Fiction-Autor bekannt geworden wäre, sondern in der Mainstream Literatur seine Reputation erworben hätte? Und zu dieser Frage hat er, sieht man sich Dicks Lebenslauf etwas näher an, auch allen Grund. ›The Man in the High Castle‹ nimmt für Philip K. Dick beim Verlauf der Dinge, wie sie sich auf unserer Welt entwickelt haben, zweifellos eine Schlüsselposition ein.
Philip Kindred Dick wurde am 16. Dezember 1928 in Chicago geboren. Seine ersten Kindheitstage verliefen alles andere als glücklich. Philip und seine Zwillingsschwester Jane kamen als Frühgeburten zur Welt, die Schwester starb am 26. Januar 1929, einen Monat nach ihrer Geburt. Kurz darauf zog die Familie Dick nach Kalifornien und ließ sich in Berkeley nieder. Die Ehe war nicht von langer Dauer; als Philip fünf Jahre alt war, ließen sich seine Eltern scheiden. Sein Vater Joseph Edgar zog nach Reno (Nevada), und Philip blieb mit seiner Mutter Dorothy (geb. Kindred), seinen Großeltern und einer Tante in Berkeley. Diese Stadt – ein Zentrum der linken Intelligenz in den USA – prägte ihn und sein Werk zutiefst.
Mit zwölf Jahren entdeckte Dick durch Zufall sein erstes SF-Magazin, Stirring Science Stories. Eigentlich suchte er nach einer Ausgabe des Magazins Popular Science, das jedoch vergriffen war; der Titel Stirring Science Stories interessierte ihn jedoch mehr als etwa Romance Nurse Stories.
Dick besuchte die High School und arbeitete nebenbei in einem Schallplattengeschäft; sein Interesse wandte sich von der Country-Music zur klassischen Musik. Daneben schrieb er Texte für eine Radiosendung, die sich der klassischen Musik widmete. 1949 heiratete er, ein Jahr später ließ er sich wieder scheiden. Für einige Semester belegte er Kurse an der University of California in Berkeley. 1951 heiratete er ein zweites Mal. Um diese Zeit lernte er Anthony Boucher kennen, den Herausgeber des Magazine of Fantasy and Science Fiction, der ebenfalls eine Radiosendung über klassische Musik schrieb und Dick zum Verfassen von Kurzgeschichten anregte. Im Oktober 1951 verkaufte er seine erste Story (an Boucher), ›Roog‹, die allerdings erst 1953 erschien. Dick kündigte von einem Tag zum anderen seinen Job in dem Schallplattengeschäft, um als freiberuflicher Schriftsteller zu leben. In der Folge produzierte Dick eine Unmenge von Kurzgeschichten – 1953 dreißig Veröffentlichungen, 1954 achtundzwanzig, 1955 immerhin noch zwölf –, von denen Anthony Boucher zu vermerken wußte, daß sie »jedesmal genau dem Geschmack und den Bedürfnissen der jeweiligen Magazinherausgeber angepaßt« waren. 1953 verkaufte er Stories an fünfzehn verschiedene Magazine, und im Juni jenes Jahres erschienen gleichzeitig in sieben verschiedenen Magazinen Stories von ihm.
Dick versuchte sich nun an Romanen. Monatelang schrieb er an ›Solar Lottery‹ und verkaufte den Roman schließlich an Donald Wollheim beim Verlag Ace. Obwohl das Buch gute Kritiken erhielt (u.a. auch in der New York Herald Tribune – allerdings verfaßt von seinem Freund Anthony Boucher), war dies im nachhinein vielleicht ein bedeutungsschwerer Fehler. Denn Ace Books stellte den in etwa miserabelsten amerikanischen Taschenbuchmarkt dar: Die Honorare waren schlecht, und nur allzu oft mußte der Autor gleich alle Rechte verkaufen, ohne für Nachdrucke oder Auslandsausgaben noch einmal Geld zu sehen. Dick sah sich gezwungen, in schneller Folge zu produzieren, um genug Geld zu verdienen. Es erscheinen Romane wie ›The World Jones Made‹ (dt. ›Die seltsame Welt des Mr. Jones‹), ›Eye in the Sky‹ (dt. ›Und die Erde steht still‹), oder Storysammlungen wie ›A Handful of Darkness‹ (dt. ›Eine Handvoll Dunkelheit‹) und ›The Variable Man‹ (dt. ›Krieg der Automaten‹). 1957 trennte sich Dick von seiner zweiten Frau; 1958 heiratete er Anne Rubenstein. Aus dieser Verbindung ging die Tochter Laura hervor. Die Ehe hielt bis 1966. In dieser Zeit endete auch Dicks erste Romanphase. Jahrelang nahm man an, daß er unter einem ›writer’s block‹ litte und von 1959 bis 1961 kaum etwas schrieb und mit seiner Frau Anne in deren Juweliergeschäft arbeitete. Erst 1962 meldete sich Dick mit dem Roman ›The Man in the High Castle‹ – dem obigen ›Das Orakel vom Berge‹ – zurück, der die zweite Phase in einem Romanwerk einleitete und mit dem Hugo Award ausgezeichnet wurde. Doch die Auffassung, Dick habe über einen längeren Zeitraum hinweg nicht geschrieben, ist, wie man heute weiß, völlig falsch. Anne Dick bestätigte, daß Dick während ihrer Ehe ständig an Manuskripten gearbeitet hat. Geschrieben hat er – nur veröffentlichen konnte er das Geschriebene nicht.
Denn es gab noch einen ›anderen‹ Philip K. Dick, einen Schriftsteller, wie er eigentlich ins damalige Berkeley gepaßt hätte: einen Autor, der seine Kurzgeschichten schrieb – hohe Literatur natürlich – und sie seinen Freunden und Kommilitonen vorlas, nur damit sie anschließend wieder in der Versenkung verschwanden. Dick jedoch versuchte, diese ›hohe Literatur‹, diese Mainstream-Texte, ebenfalls zu verkaufen: zuerst auf eigene Faust, dann über seine Agentur Scott Meredith bot er sie zahlreichen Verlagen an. Einer seiner ›Hauptabnehmer‹ war der Verlag Harcourt, Brace and Company, der sogar aufgrund eines Exposés einen Roman ›in Auftrag gab‹, dann aber doch nicht ankaufte.
Es sind insgesamt dreizehn Mainstream-Romane bekannt:
›The Earthshaker‹, geschrieben etwa 1948 – 50; die ersten Kapitel und das Exposé sind erhalten geblieben. Dieser Text könnte als Grundlage für den späteren SF-Roman ›Nach dem Holocaust‹ gedient haben.
›Voices from the Street‹, etwa 1952 – 53, 547 Manuskriptseiten.
›Gather Yourselves Together‹, 481 Manuskriptseiten.
›Mary and the Giant‹, etwa 1954/55, 1987 veröffentlicht.
›A Time for George Stavros‹, etwa 1956, Manuskript verschollen, könnte als Grundlage für den späteren ›Humpty Dumpty in Oakland‹ gedient haben.
›Pilgrim on the Hill‹, etwa 1956, Manuskript verschollen.
›The Broken Bubble of Thisbe Holt‹, etwa 1956, 1988 unter dem Titel ›The Broken Bubble‹ veröffentlicht.
›Puttering About in a Small Land‹, 1957, 1985 veröffentlicht.
›Nicholas and the Higs‹, 1957/58, Manuskript verschollen.
›In Milton Lumky Territory‹ (dt. ›In Milton Lumky Land‹), 1958, 1985 veröffentlicht.
›Confessions of a Crap Artist‹ (dt. ›Eine Bande von Verrückten‹), 1958/59, 1975 veröffentlicht.
›The Man Whose Teeth Were All Exactly Alike‹ (dt. ›Der Mann, dessen Zähne alle exakt gleich waren‹), 1960, 1984 veröffentlicht.
›Humpty Dumpty in Oakland‹, Mitte 1960, wahrscheinlich Überarbeitung von ›George Stavros‹, 1986 veröffentlicht.
Dick mußte schließlich feststellen, daß seine Mainstream Romane unverkäuflich waren (1963 erhielt er sie alle von seinem Agenten Scott Meredith zurück; ein schwerer Schlag für Dick, der damit seine Karriereträume in dieser Richtung endgültig begraben mußte), und wandte sich nun wieder phantastischen Themen zu. Sichtlich durch die Mainstream-Fingerübungen gereift, verfaßte er 1961 mit ›The Man in the High Castle‹ den Roman, der ihm in der Science Fiction endgültig den Durchbruch bescherte und der seine zweite – und nach Meinung vieler Kritiker fruchtbarste – Schaffensphase einleitete. In der Folge entstanden solch herausragende Werke wie ›Martian Time-Slip‹ (dt. ›Mozart für Marsianer‹), ›The Three Stigmata of Palmer Eldritch‹ (dt. ›LSD-Astronauten‹), ›Dr. Bloodmoney‹ (dt. ›Dr. Bloodmoney‹), ›Do Android Dream of Electric Sheep?‹ (dt. ›Träumen Roboter von elektrischen Schafen?‹, auch als ›Blade Runner‹[7]) und ›Ubik‹ (dt. ›Ubik‹), in denen Dick die Wirklichkeit nicht nur hinterfragte, sondern nachhaltig zertrümmerte. Seine Protagonisten waren zumeist kleine Angestellte oder Handwerker, die sich plötzlich in alptraumhaften Welten wiederfanden, aus denen es kein Entrinnen zu geben schien. Ihnen blieb nur die Möglichkeit, niemals aufzugeben und ihre eigenen moralischen Vorstellungen von Recht und Unrecht über alle Verlockungen und Unbilden der Welt zu stellen, die sich gegen sie verschworen zu haben schienen. Dick schuf mit seinen besten Romanen ein homogenes Gesamtwerk, das in der amerikanischen SF einzigartig dasteht.
Nach der Scheidung von Anne Dick im Jahre 1966 heiratete Dick ein Jahr später zum viertenmal. Seine finanzielle Lage hatte sich nicht grundlegend gebessert; hinzu kam eine schöpferische Pause, die die erste Hälfte der siebziger Jahre anhielt. Dick arbeitete an dem ersten Roman seiner dritten Phase – ›Flow My Tears, the Policeman Said‹ (dt. ›Eine andere Welt‹[8]) –, doch die Fertigstellung zog sich hin. 1971 wurde in seinem Haus in Marin County eingebrochen – der amerikanische Geheimdienst hatte herausgefunden, daß Dick an einem Roman schrieb, in dem die USA als Polizeistaat dargestellt werden – eben ›Flow My Tears‹ –, und versuchte, das Manuskript zu finden. Dick hatte ein kritisches politisches Bewußtsein entwickelt; er engagierte sich darüber hinaus in Bürgerrechtsbewegungen und forderte öffentlich die Absetzung des damaligen amerikanischen Präsidenten Nixon nach der Watergate-Affäre.
1972 ließ sich Dick von seiner vierten Frau Nancy Hackett scheiden. Aus der Ehe war die Tochter Isolde hervorgegangen. Völlig entwurzelt und ausgebrannt, flog er im März nach Kanada und hielt dort auf einer Science Fiction Convention seine berühmt gewordene Rede ›The Android and the Human‹. Er blieb in Vancouver und unternahm einen Selbstmordversuch. Anschließend arbeitete er in einem Drogenrehabilitationszentrum. Als die California State University in Fullerton ihm anbot, seine Manuskripte und Papiere in einer Sammlung zu ordnen, zog er wieder nach Kalifornien zurück.
1974 endlich erschien ›Flow My Tears, the Policeman Said‹. Der Roman erhielt den John W. Campbell Award als bester Roman des Jahres. Bei der Erstauflage gab es Unregelmäßigkeiten im Verkauf, die Dicks Meinung bestärkten, daß der Roman von den amerikanischen Behörden unterdrückt wurde. Er schrieb bereits an dem neuen Buch, ›A Scanner Darkly‹, das allerdings erst 1977 erschien, ein wenige Jahre in der Zukunft spielender Text, der eher ein Mainstream-Roman war und die Drogenszene kritisch untersuchte.
1973 heiratete Dick zum fünften Mal. Aus dieser bis 1976 dauernden Ehe mit Tessa Busby ging der Sohn Christopher hervor. Und im März 1974 erfuhr Dick nach eigener Aussage die Offenbarung einer transzendenten göttlichen Macht, die er als VALIS – Vast Active Living Intelligence System – erkannte. Hatte er bislang in seinen Romanen und Kurzgeschichten zumeist die Struktur der Wirklichkeit hinterfragt und in seinen Texten einen Solipsismus propagiert, der darauf hinauslief, daß es nur die subjektive Wirklichkeit des einzelnen Individuums gab, glaubte er nun, den Einfluß einer göttlichen Macht zu erkennen, die die Wirklichkeit ständig neu gestalten könne. Unter dem Eindruck dieser Offenbarung folgte 1981 der erste Teil einer Trilogie, die Dicks vierte Schaffensphase bildet – der Roman ›Valis‹ (gefolgt von ›A Divine Invasion‹, ebenfalls 1981, und ›The Transmigration of Timothy Archer‹, posthum 1982; dt. als ›VALIS‹, ›Die Göttliche Invasion‹ und ›Die Wiedergeburt des Timothy Archer‹). Durch die Verfilmung seines Romans ›Do Androids Dream of Electric Sheep‹ unter dem Titel ›The Blade Runner‹ wurde Dick endlich einer größeren Öffentlichkeit bekannt; auch verkaufte sich ›Valis‹ in Bestsellerbereichen. Dick hatte den Durchbruch erzielt, auch in finanzieller Hinsicht.
Er konnte jedoch die Früchte seiner jahrelangen Arbeit, seiner unentwegten Suche nach der Wirklichkeit, nicht mehr genießen. Am 18. Februar 1982 erlitt er einen verhältnismäßig leichten Schlaganfall. Ein zweiter Schlag warf ihn in ein tiefes Koma. Er wurde an ein Lebenserhaltungssystem angeschlossen, es konnte jedoch keine Gehirnaktivität mehr festgestellt werden, und die Ärzte schalteten das System schließlich ab. Philip K. Dick starb am 2. März 1982 um 8.20 Uhr Ortszeit.
Durch den Erfolg von ›The Blade Runner‹ und der ›VALIS‹-Trilogie war Dick für die Öffentlichkeit und damit auch für die Verlage wieder interessant geworden. In der Folge erschienen zahlreiche seiner unveröffentlichten Romane (fast alle Mainstream-Texte, ein SF-Roman und ein Jugendbuch) und eine Gesamtausgabe seines Kurzgeschichtenwerks in fünf Bänden. Es folgten ständig Neuausgaben seiner SF-Romane im In- und Ausland, und ein neuer kommerzieller Höhepunkt wurde mit der Verfilmung seiner Kurzgeschichte ›We Can Remember It for You Wholesale‹ (dt. zuletzt 1990 als ›Mr. Quails Erinnerungen‹), James Gunn (Hrsg.), ›Von Clement bis Dick‹ (›Wege zur Science Fiction‹, 6. Band[9]) erreicht, die sich unter der Regie von Paul Verhoeven und mit Arnold Schwarzenegger in der Hauptrolle unter dem Titel ›Total Recall‹ als der amerikanische Sommer-Hit des Jahres 1990 behauptete und enorme Einspielergebnisse erzielte.
Mag ›Die Totale Erinnerung‹, so der deutsche Titel, auch eher ein Schwarzenegger- als ein Dick-Film sein, führte Dicks Tod jedoch auch zu einer neuen, sicherlich unkommerzielleren Strömung in der internationalen Science Fiction. Philip K. Dicks Werk steht in der SF so homogen und stark da, wird so sehr mit der Hinterfragung der Wirklichkeit assoziiert, daß sein Tod – oder vielleicht auch die Umstände seines Todes – eine Katalysatorfunktion gehabt haben muß. Mehrere Autoren kamen unabhängig voneinander auf die Idee, Geschichten im Stil von Philip K. Dick zu verfassen oder in Stories über Philip K. Dicks Leben nach dem Tod zu spekulieren. Philip K. Dicks Leben, seine Aussagen und die Probleme, die er in seinem Werk aufgriff, waren zum Kollektivgut geworden. Robert Silverberg verfaßte eine Hommage an Dick, Richard Lupoff sinnierte darüber, wie es Dick nach seinem Tod ergangen sein mochte – ein Aspekt, den auch der deutsche Autor Gero Reimann in einer Opernerzählung aufwarf. (Diese Erzählungen liegen in Deutschland gesammelt vor unter dem Titel ›Willkommen in der Wirklichkeit – Die Alpträume des Philip K. Dick‹, herausgegeben von Uwe Anton.[10]) Ein Philip K. Dick-Award wurde gegründet, mit dem Romane ausgezeichnet wurden, die in ihrer Erstveröffentlichung als Taschenbuch erschienen waren (nahezu alle Romane Dicks wurden nämlich nicht in gebundenen Ausgaben, sondern als Taschenbücher veröffentlicht) – und ausgezeichnet wurden vielversprechende und inzwischen erfolgreiche junge Schriftsteller wie Tim Powers, John P. Blaylock oder (auf den Plätzen) K.W. Jeter, alles Freunde von Dick aus seinen letzten Lebensjahren in Südkalifornien. Die literarischen Erben des Autors, denen das vorliegende Buch gewidmet ist, hatten Philip K. Dick als großen Kollegen gewürdigt oder, was die Preisträger betrifft, sich endgültig etabliert. Und der Einfluß, den Dick auf die amerikanische und internationale Science Fiction ausübt, ist ungebrochen.
›The Man in the High Castle‹ stellte einen bedeutenden Wendepunkt in Dicks Leben dar. ›Das Orakel vom Berge‹ war Philip K. Dicks erstes großes Meisterwerk; mehrere folgten. Mit diesem Roman liegt der beste Parallelwelt-Roman der Science Fiction vor; ein Roman, der – auch von seiner Anlage her – die Grenzen des Genres sprengt und zur großen zeitgenössischen amerikanischen Literatur gerechnet werden muß. Dick schien seine literarische Form gefunden, sein langes Streben verwirklicht und den Ausbruch aus der Science Fiction vollzogen zu haben: Die gebundene Erstausgabe (1962 beim Verlag Putnam) verzeichnete lediglich ›A Novel‹ – ein Roman – und enthielt nicht den geringsten Hinweis darauf, daß es sich um Science Fiction handelte. Mit neuem Enthusiasmus machte Dick sich ans Werk, weitere solcher literarischer Hybriden zu verfassen, Mischformen zwischen Mainstream- und SF-Texten. Doch für seinen nächsten Roman dieser Art, ›We Can Build You‹ (dt. ›Die Rebellischen Roboter‹), den er bereits fünf Monate nach ›Das Orakel vom Berge‹ abschloß, fand er keinen Verleger. (Er erschien erst 1969 in Fortsetzungen in einem SF-Magazin und erfuhr erst weitere drei Jahre später seine erste Auflage als Taschenbuch, ironischerweise beim neuen Verlag von Dicks altem Herausgeber Wollheim, DAW Books.) Auch der nächste Roman, ›Martian Time-Slip‹ (dt. ›Mozart für Marsianer‹), fand keinen Hardcover-Verlag, sondern erschien nach mehreren Ablehnungen als Taschenbuch in einer SF-Reihe. Doch der amerikanische Science Fiction Book-Club hatte die Lizenzrechte für ›The Man in the High Castle‹ erworben und veröffentlichte das Buch noch im gleichen Jahr in hoher Auflage. Wäre der Roman sonst bei der reinen Science Fiction-Leserschaft völlig untergegangen, erzielte er durch diese Buchclub-Ausgabe jedoch einen solchen Eindruck im amerikanischen SF-Fandom, daß er 1963 zum besten Roman des Vorjahres gewählt wurde. ›The Man in the High Castle‹ wurde mit dem Hugo Award ausgezeichnet, und die Science Fiction hatte Philip K. Dick endgültig für sich gewonnen.
Offen blieb eine Frage in der Tradition des Romans: Was wäre, wenn Philip K. Dick seine literarische Karriere nach seinen Intentionen verwirklicht hätte und der Science Fiction verloren gegangen wäre …?
Eine der zahlreichen möglichen Antworten darauf gibt Michael Bishop mit seinem vorliegenden Roman, der eine geistige Aufarbeitung des Phänomens Dick und seines Todes darstellt. Bishop hat die oben erwähnte kleine literarische Strömung in der SF zu einem Roman konzentriert und mit ›The Secret Ascension‹ bzw. (wie vom Autor gewünscht) ›Philip K. Dick Is Dead, Alas‹, dt. ›Dieser Mann ist leider tot‹ ein Werk geliefert, das einerseits voll in der Tradition der Dick’schen Motive und Handlungsanlagen steht, andererseits jedoch ein brillant geschriebenes und völlig eigenständiges Werk ist.
Die Handlungsanlage läßt sich kurz umreißen, die eigentliche Handlung nicht: Nach seiner religiösen ›Offenbarung‹ erhebt sich Dicks ›Geist‹ aus seiner Leiche und wird in einer Welt körperlich, die einer der Parallelwelten entspricht, die Dick in seiner ›Exegese‹ ausgearbeitet hat: jener schrecklichen Welt hinter dem ›Schwarzen Eisenvorhang‹, in der Amerika den Vietnam-Krieg gewonnen und eine fest bemannte Mondstation errichtet und Präsident Richard M. Nixon in seiner vierten Amtsperiode eine Tyrannei durchgesetzt hat. Die Reisefreiheit in den USA ist stark eingeschränkt, populäre, ›linke‹ Künstler wie Bob Dylan oder Joan Baez sind irgendwann einfach ›verschwunden‹, Fidel Castro baumelte irgendwann am Strick, ein Großteil der farbigen Amerikaner ist in einem umfassenden ›Naturalisierungsprogramm‹ nach Afrika verfrachtet worden, und die USA rekrutiert neue Bürger aus den Überlebenden des Vietnam-Krieges, die zwar nicht interniert werden, aber immer wieder von neuem beweisen müssen, daß ihnen der amerikanische Way of Life durch massive ›Amerikulturations‹-Programme in Fleisch und Blut übergegangen ist. Auch einen Philip K. Dick gibt es in dieser Welt: einen einstmals angesehenen Mainstream-Autor, der in seinen letzten Jahren der amerikanischen Regierung mit immer größerem Mißtrauen begegnete und dieses Mißtrauen auch in seinen zum Teil unveröffentlichten, zum Teil verbotenen Büchern äußerte. (Eine Reihe von Science Fiction-Romanen des Autors, die nie veröffentlicht wurden, kursieren in begehrten Manuskript-Kopien unter seiner Anhängerschaft, aber ihr Besitz ist lebensgefährlich.)
Die Handlung des Romans erinnert in ihrer Anlage an die verzweigten Plots von Dicks Meisterwerken, in denen zahlreiche Charaktere agieren und die verschiedenen Handlungsstränge zu einem Höhepunkt kulminieren.
Cal Pickford, Angestellter in einer Tierhandlung, verkauft einer Unbekannten zwei ›Breschnew-Bären‹, neugezüchtete Haustiere, und muß betroffen feststellen, daß es sich bei der Käuferin um Miss Grace Rinehart handelt, einer Art ›Medienreferentin‹ des Präsidenten Richard M. Nixon, die dessen Politik als Show verkauft und gleichzeitig enorme politische Macht ausübt. In der Praxis von Cals Frau Lia, einer Psychologin, taucht ein seltsamer Fremder auf, der um eine Behandlung bittet und sich kurz darauf buchstäblich in Luft auflöst; dann erscheint Miss Grace dort und versucht, Lia zu überreden, für den Staat zu arbeiten. Mittlerweile hat Cal, Fan von Dick und Besitzer einiger seiner verbotenen Manuskripte, erkannt, daß es sich bei diesem Fremden um Dick handeln muß. Le Boi Loan, ›amerikulturierter‹ Vietnamese, wird von Miss Grace gezwungen, diese Manuskripte zu stehlen; Dick erscheint in immer neuen Reinkarnationen und spricht durch Tiere Cal Hoffnung zu, dem nichts anderes übrig bleibt, als sich Miss Grace zu unterwerfen, will er nicht in einem Konzentrationslager enden, und wird von ihr als Betreuer der Breschnew-Bären (die die Moral der dortigen Besatzung aufrichten sollen) zur Mondstation geschickt. Auch ›King Richard‹ ist dabei; vom Mond aus kündigt er die erste bemannte amerikanische Mars-Expedition an und zeigt dabei sein wahres Gesicht: er ist ein machtbesessener Diktator, ein Kriegstreiber, der nach Vietnam die UdSSR ausmerzen will. Mehr noch: er entpuppt sich als Satan, der von einem Bischof – mit Hilfe Dicks, der dort materialisiert – exorziert wird (wobei die Mondstation vernichtet wird und alle ums Leben kommen).
Das Ende des Romans ist hoffnungsvoll: Dick hat aus eigener Kraft den ›Schwarzen Eisenvorhang‹ gesprengt, sein persönlicher Kosmos ist zum allgemeinen geworden: durch seine Tat hat er die Welt hinter dem Vorhang hervorgeholt auf eine andere – bessere – parallele Existenzebene, die jedoch plötzlich von Außerirdischen bedroht wird. Und in dieser neuen Welt ist Nixon nicht Präsident, lebt Philip K(yle) Dick noch, hat sich in ein Kloster zurückgezogen und erkennt, was er getan hat: Daß diese Realität die Welt für immer halten wird, wenn er nicht zur Feder greift und sie neu erschafft. Und so macht sich Philip K(yle) Dick daran, die Grundlagen der Realität aufs neue zu ändern …
Michael Bishop, zweifellos einer der großen Stilisten der SF, hat in diesem Roman glaubwürdige Charaktere erschaffen, sich ständig weiterentwickelnde Menschen, die, wie Dicks Helden, stets ihre moralischen Entscheidungen vor sich vertreten und die Konsequenzen dieser Entscheidungen akzeptieren müssen. Es gelingt dem Autor, die niederdrückende Tyrannei dieses Paralleluniversums anhand von Einzelschicksalen aufzuzeigen. Ihre Probleme – kleine Entscheidungen, die letztendlich über persönliche Integrität, Verrat und Selbstachtung entscheiden – fordern wie bei Dick, bei anscheinend unbedeutenden Kleinigkeiten menschliche Größe zu beweisen; dies macht den Tenor des Romans aus. Er ist in zweifacher Hinsicht herausragend: Zum einen fängt er genau das typische Wesen der besten Werke Dicks ein, atmet den Geist dieses Autors; zum anderen ist er viel mehr als eine bloße Hommage, nämlich ein eigenständiges Werk, das auch ein Leser genießen kann, der niemals auch nur eine Zeile von Dick gelesen hat. Bishops Extrapolation eines Paralleluniversums, in dem Nixon eine Tyrannei errichtet, die USA den Vietnamkrieg gewonnen haben und in der Weltraumfahrt führend sind, ist stimmig, scheint auf Fakten zu basieren. Die moralischen Entscheidungen, die die Charaktere treffen müssen, beruhen zwar auf den Prämissen, die Dick in seinem Werk errichtet hat, sind jedoch allgemeingültig.
Für den Leser, der Philip K. Dick kennt, ergeben natürlich die Anspielungen in ›Dieser Mann ist leider tot‹ auf Dick einen besonderen Reiz. Dies geht über eine Erwähnung der Titel von Dicks Mainstream-Romanen und eine gelungene Verballhornung seiner ›unbekannten‹ SF-Romane weit hinaus. Michael Bishop benutzt wie Philip K. Dick eine Erzählform, in der er die Handlung aus der Sicht verschiedener Charaktere schildert. Er greift auf den frühen Philip K. Dick zurück, wie er sich in ›Das Orakel vom Berge‹ präsentiert, und geht mit abrupten Realitätswechseln sparsam um. Doch wenn Bishop am Schluß beschreibt, wie Philip Kyle Dick zu Papier und Bleistift greift und voller Schmerz die charakteristischen Züge des Universums verändert, wenn er vom Schwarzen Eisenvorhang schreibt, erkennt man sofort jene göttliche Macht aus ›VALIS‹, die die Wirklichkeit ständig neu gestalten kann. Und man findet den politischen Philip K. Dick in diesem Roman; den, der ›Eine andere Welt‹ geschrieben und in zahlreichen Artikeln gegen ›Die Nixon-Bande‹ gewettert und vor diesem Präsidenten gewarnt hat. ›Dieser Mann ist leider tot‹ stellt den buchgewordenen Alptraum eines Philip K. Dick dar, der in Watergate das Ende der amerikanischen Demokratie sah.
Auch Erinnerungen an Dicks Roman ›Radio Free Albemuth‹ (dt. ›Radio Freies Albemuth‹) werden wach; dabei handelt es sich um die Urfassung von Dicks späterem ›VALIS‹. Der Roman entstand etwa 1975/76; Dick versuchte vergeblich, ihn zu verkaufen, und arbeitete den Stoff schließlich zu der ›VALIS‹-Trilogie um. Auch in diesem Roman, der posthum 1985 erschien, nimmt Dick selbst als handelnde Person eine wichtige Rolle ein. Er wird aus der Sicht zweier Protagonisten erzählt, einmal Dick selbst, der völlig unverfremdete Einzelheiten aus seinem Leben preisgibt, einmal von Nicholas Brady, einer Art verfremdetem Dick, bei dem wichtige biographische Stationen ebenfalls übereinstimmen. So wird Bezug genommen auf den Versuch von FBI-Agenten, Dicks damalige Frau zu überreden, die Socialist Workers Party, der sie eine Zeitlang angehörte, auszuspionieren; so berichtet Dick ausführlich von dem Einbruch, bei dem auf der Suche nach seinem Manuskript ›Flow My Tears, the Policeman Said‹ sein Haus verwüstet wurde; und so wird die USA, wie im vorliegenden Roman, als Land beschrieben, das die Freiheit verloren hat. Nixon erscheint hier als Präsident Ferris F. Fremont, eine dominierende Gestalt im Hintergrund, die die USA zu einem diktatorischen Regime umfunktioniert hat. Fremont stammt aus Orange County, »einer so reaktionären Gegend, daß sie uns in Berkley wie ein Phantomland erschien«. Ob nun Fremont in ›Albemuth‹ oder Nixon in ›Dieser Mann ist leider tot‹ – das Klima, das über dem Land liegt, entspricht genau dem, vor dem sich Philip K. Dick als aufrechter und kämpferischer Demokrat stets gefürchtet hat.
Auch sonst treibt Michael Bishop nicht nur ein faszinierendes Spiel mit linearen, parallelen und anderen Wirklichkeiten, sondern auch mit deren Popkulturen. So läuft in seinem Roman die Fernsehserie ›Star Trek‹ bereits erfolgreich im fünfzehnten Jahr, wo doch jeder weiß, daß in unserer Welt für Captain Kirk, Mister Spock und Dr. McCoy bereits nach drei Jahren Schluß war. Doch wer kann schon sagen, welche Auswirkungen es auf die Science Fiction gehabt hätte, wenn die USA tatsächlich den Vietnam-Krieg gewonnen und eine Mondstation errichtet hätten?
Viel unwahrscheinlicher für den SF-Leser als fünfzehn Jahre ›Star Trek‹ klingen hingegen die von Bishop ausführlich beschriebenen Geschicke des Marvel-Superhelden Daredevil alias Matthew Murdock, der seiner verstorbenen Liebe Elektra nachtrauert. Tatsächlich wurde in Heft 181 dieser Serie Elektra von Bullseye getötet, und tatsächlich zeigt das Titelbild der nächsten Ausgabe vom Mai 1982 auch in unserer Welt einen Matt Murdock, der ihr Kreuz umklammert.
Vielleicht war die Abrechnung mit der Nixon-Regierung auch in der Popkultur lange überfällig. Nur wenig später erschien die bahnbrechende und revolutionäre Comic-Serie ›Watchmen – Die Wächter‹, die wiederum Anleihen bei ›Dieser Mann ist leider tot‹ genommen haben könnte: Die USA haben den Krieg in Vietnam gewonnen, ein herzkranker Nixon ist noch immer Präsident, und das Klima im Lande kann nur noch als diktatorisch bezeichnet werden. Philip K. Dick hatte schon sehr früh ein untrügliches Gespür für die Zeichen der Zeit.
Michael Bishop, geboren 1945 in Lincoln/Nebraska, Magister der englischen Literatur, veröffentlichte seine erste Kurzgeschichte 1970 in Galaxy. Als einer der besten Stilisten des Genres wurde er 1982 für seinen Roman ›No Enemy But Time‹ (dt. ›Nur die Zeit zum Feind‹[11]) mit dem Nebula Award ausgezeichnet. Schon 1975 schrieb er mit seiner Kurzgeschichte ›Rogue Tomato‹ (deutsch in ›Willkommen in der Wirklichkeit – Die Alpträume des Philip K. Dick‹, hrsg. von Uwe Anton[12]) eine Hommage an Philip K. Dick. Der vorliegende Roman erschien 1987 in England unter dem Titel ›Philip K. Dick is Dead, Alas‹ und im selben Jahr als ›The Secret Ascension‹ in den USA.
Copyright © 1991 by Uwe Anton