6Die Fahrt von LaGrange nach Pine Mountain, auf dem Highway 27 Richtung Süden, war stets ein halbes Wunder für Cal. Er hatte den größten Teil seines Lebens in den Rockies oder in ihrer Nähe verbracht und dabei jede Menge atemberaubende Landschaften gesehen. Berge, richtige Berge: Zerklüftete Steinhänge mit leuchtenden Schnüren von Wasser, die sich in Kaskaden daran entlangzogen, sich verflechtend und wieder entflechtend. Aber dieses Stück Highway war so nicht. Es raubte einem den Atem nicht, sondern es entzog ihn sanft, wie es das Klavier-Zwischenspiel in dem Beatles-Song ›In My Life‹ auf dem Album Revolver immer tat.

Hie und da wehte noch immer Nebel über den Highway, aber die Sonne schnitt hindurch. Die Fichten, die in leichten Wellenlinien längs der zweispurigen Straße auf Posten standen, erinnerten Cal an keltische Krieger, grün gewandet, stets wachsam. Und es war die Fahrt durch diese abgenutzte Piedmont-Topographie, was ihn leichter atmen ließ. Mochte sein Dart noch so sehr spucken und tuckern, wenn es bergauf ging.

An einem solchen Berghang sah Cal einen gnomenhaften Schwarzen, der auf dem oberen Ast einer Fichte am Straßenrand saß und aus den Nebelfetzen zu ihm herabgrinste. Mein Gott, dachte Cal, das ist Horsy Stout – so hieß der Stallknecht, der bei Lias Bruder Jeff auf dem Gestüt, der Brown Thrasher Barony, arbeitete. Weil Stout, ein muskulöser Zwerg um die Fünfzig, keinen rationalen Grund dafür haben konnte, da zu sitzen, wo er saß, starrte Cal ungläubig zu der Erscheinung hinauf.

Pickford, sagte er sich, du hast Erscheinungen.

Stouts Grinsen wurde breiter. Er hob die Hand und winkte. Dann verschwand der Zwerg wie Alices Cheshire-Katze, und Cal war davon überzeugt, daß der Märznebel und die beunruhigenden Ereignisse des Vormittags ihn halluzinieren ließen. Wenn er weiter nachdächte über das, was er soeben ›gesehen‹ hatte, würde er verrückt werden, und weil sein Dart jetzt wieder bergab fuhr, verbannte er das Bild des kleinen Mannes entschlossen aus seinen Gedanken, um auch weiterhin leicht zu atmen.

Das ist nicht wirklich passiert, dachte er, und du wirst es niemals irgend jemandem gegenüber erwähnen …

Als das Einkaufszentrum zwanzig Minuten hinter ihm lag, sichtete er den Wasserturm von Pine Mountain. Der Name der Stadt marschierte in sauberen grünen Lettern, größer als irgendein Mensch, um den kalkweißen Tank, und an der ersten roten Ampel (die Stadt hatte nur zwei) bog er links ab und fuhr die Chipley Street zwei Blocks weit bis zu dem Doppelhausapartment, das er und Lia von den McVanes gemietet hatten. Sofort erblickte er das ungeheure Tier, das vorn im Garten angekettet war. »Hallo, Vike«, murmelte er.

Viking war ein sibirischer Husky-Rüde – schwarz, silbern und cremefarben –, den Lias Bruder Jeff ihnen ungefähr drei Tage nach ihrer Ankunft in Georgia geschenkt hatte. An Weihnachten war der Hund in der Brown Thrasher Barony aufgetaucht, dem Gestüt, dessen Verwalter Jeff war. Zwar hatten Jeffs Kinder ihn angefleht, den Hund behalten zu dürfen, aber Jeff hatte dem Hund nicht genügend vertraut, um ihn auf den Weiden umherstreunen zu lassen, auf denen die Pferde seines Arbeitgebers grasten. Und so war Viking in die Stadt gekommen, um bei Lia und Cal zu wohnen. Ein erwachsener Husky in einer Doppelhaushälfte, in der sie eigentlich allein wohnten.

Der Trick scheiterte auch bald. Einen Hund von Vikings Größe konnte man nicht lange verstecken, und als Cal und Lia anfingen, außerhalb zu arbeiten, konnten sie ihn nicht allein in der Wohnung lassen, bis sie von der Arbeit zurückkamen. Er zerkaute Cals Bücher und haarte auf Lias Polstermöbel. Und so kam es zu einem der ersten grandios fetzenden Donner-und-Blitz-Kräche in Georgia um einen sibirischen Schlittenhund, den Cal, so sehr er Tiere liebte, eigentlich nicht haben und den Lia nicht gehen lassen wollte.

Zum Glück sah Mr. McVane keinen Grund, ihnen wegen Hundehaltung die Wohnung zu kündigen. Zum Glück, denn Lias Wunsch, Viking zu behalten, triumphierte über Cals Befürchtung, man tue dem Hund, indem man ihn in eine Stadt sperrte, im Haus oder im Freien, schreckliches Unrecht an (denn Huskies brauchten Platz, und Pine Mountain war nicht ganz das gleiche wie der Yukon).

Viking lag auf der Terrasse an einer zehn Meter langen Kette; die Kette war an einer Stange befestigt, die unter einem Magnolienbaum in den Boden getrieben war. Cal parkte den Dart parallel zur Chipley Street am Rande des Gartens. Der Hund hob den großen Kopf und starrte den Wagen unter cremefarbenen Fellbüscheln hervor an, die Cal an eine Art unheimliche Augenbrauen denken ließen.

Cal drehte das Fenster herunter und rief: »Hey, Vike, wie wär’s denn, wenn wir dir mal die Kette abnehmen?«

Der Husky stand auf und schleifte die Kette hinter sich her zum Auto. Cal hörte sein erstickt klingendes Brummen, eine beunruhigende Abart des Knurrens – nicht wütend, sondern in freudiger Erwartung –, das den Hund zu einem sehr wirkungsvollen Wachhund machte. Die meisten Passanten sahen, wie groß und wild Viking aussah, und sie nahmen an, dieses einschüchternde Geräusch solle ihnen zur Warnung dienen. In Wirklichkeit war es seine eigentümliche Art und Weise, Besucher davon in Kenntnis zu setzen, daß er Aufmerksamkeit wünsche. Die kleinen schwarzen Kinder, die vor und nach der Schule die Chipley Street hinauf und herunter trotteten, fürchteten sich vor Viking und hatten es sich zur Gewohnheit gemacht, auf die andere Straßenseite zu gehen und Stöcke und Steine bei sich zu tragen. Verdenken konnte man es ihnen eigentlich nicht. Viking hatte viel Ähnlichkeit mit einem Wolf.

Cal stieg aus dem Dart, packte den Hund beim Kopf und warf ihn hin und her. Viking mochte das. Er stellte sich auf die Hinterbeine und stemmte Cal die erdverkrusteten Vorderpfoten gegen die Brust, und dabei verstärkte er das Knurren, das Leute, die damit nicht vertraut waren, so sehr ängstigte. Cal schob den Hund beiseite, aber Viking kam zurückgesprungen: Er wollte mehr, und er knurrte sein Knurren.

»Er ist ein Schatz«, sagte Lia immer. »Ein aufgeplusterter Bluffer.«

Vielleicht. Vielleicht auch nicht. So oder so, Cal hatte noch nie – auch nicht zur Hälfte – ein so faszinierendes Tier besessen, und zuerst hatte er ihn auch nicht haben wollen. Schließlich konnte man nie wirklich sicher sein, daß das Knurren wirklich nur ein »aufgeplusterter Bluff« war, aber man hoffte und glaubte, daß es so war.

»Hey, Vike, hast du Hunger? Wie hätte dir ein Breschnew-Bär zum Mittagessen gefallen?«

Der Hund setzte sich und schaute Cal aufmerksam an.

Yeah, ich hätte dir diesen Breschnew-Bären mitbringen sollen, dachte Cal. Du hättest ihn sehr viel schneller erledigt, als ›Mein bester Quetscher‹ Mr. K.s Mäuse verputzt, nicht wahr?

Cals schaute nach den Wasser- und Futternäpfen auf der Veranda. Das Futter war natürlich weg, aber im Wassernapf war noch Wasser. Im Februar, als er und Lia beschlossen hatten, Viking im Garten anzuketten, war die Temperatur ein paarmal unter den Gefrierpunkt gefallen, und das Wasser des Hundes hatte sich im Napf in klaren Stein verwandelt. Bis er und Lia von der Arbeit nach Hause gekommen waren, war Viking so durstig gewesen, daß er drei oder vier Kochtöpfe voll Wasser leergeschlappert hatte, kaum daß sie ihn ins Haus geholt hatten.

Der einzige Nachteil bei dem Verfahren, den Husky vor ihrer Doppelhaushälfte anzubinden – das heißt, wenn man von der Langeweile absieht, die für ihn damit verbunden war –, bestand eigentlich darin, wie es sich auf den Garten auswirkte. Unter dem mickrigen Magnolienbaum hatte er sich eine Suhle gegraben, und er hatte seine Kette so viele Male durch das Gesträuch vor dem Haus hin und hergezogen, daß er einige der Sträucher entwurzelt hatte. Aber die McVanes, denen das Haus gehörte, beschwerten sich nie über Vikings brutale Landschaftsgestaltungstechniken. Lia behauptete, Mrs. McVane tolerierte das Zerstörungswerk, weil sie sich sicherer fühlte, wenn der Hund Wache hielt.

 

Cal schloß die Haustür auf und ging hinein, und er ließ Viking mit ins Haus schlüpfen. Er drehte die Heizung an, wusch sich am Spülbecken in der Küche die Hände und setzte sich mit einem Plastikbecher Joghurt an den Tisch. Mittagessen. Ein verspätetes Mittagessen. Er war nicht verrückt nach Joghurt, aber Lia hatte immer ein paar Becher im Kühlschrank, und da er keine Lust hatte, sich etwas irgendwie Kompliziertes oder Zeitraubendes zu machen, wählte er den Weg des geringsten Widerstandes. Blaubeerjoghurt. Das schmeckte besser als gebratene Mäuse oder rohes Meerschweinchen, und weil er sich allmählich matt fühlte – vielleicht hatte die Tollerei mit Viking ihn die letzten Kräfte gekostet –, hatte er sich selbst gegenüber die Verpflichtung empfunden, etwas runterzuwürgen. Irgend etwas.

»Runtergewürgt.« Das war der Ausdruck, den Lone Boy benutzt hatte, um seine einzige Leseerfahrung mit Philip K. Dick zu beschreiben.

Dumm, dachte Cal. Ungerecht.

Jetzt brachte er keinen Joghurt mehr runter. Das Zeug sah aus wie Holzleim, in den man einen Klecks Tinte hineingerührt hatte. Er stand auf, suchte eine Müsli-Schale aus dem Schrank, kippte den Joghurt hinein und stellte sie für Viking auf den Boden. Viking verschlang den Joghurt mit einem einzigen geräuschvollen Schluck und schob die Schale dann bis an den Herd bei seinen Versuchen, sie sauber auszulecken.

Cal ließ ihn, wo er war, und ging durch die Diele in das winzige Zimmer, das er und Lia zur ›Bibliothek‹ erklärt hatten. Lia besaß einen Schreibtisch, einen Aktenschrank und eine teure Korrekturschreibmaschine sowie einen billigen Bücherschrank aus dem Kaufhaus, der einen großen Teil ihrer Lehrbücher vom Colorado College enthielt. Cal hatte ein turmhohes Kiefernholzregal, dessen Bretter auf Ziegelsteinen ruhten, für seine Western, Kriminalromane und Fantasy Fiction-Taschenbücher. Ein zweiter solcher Turm enthielt die ›seriösen‹ Bücher: Große englische und amerikanische Prosa, eloquente Lyrik, gelehrte Historienwerke und profunde Philosophie. Die zerlesenen Exemplare von P. K. Dicks zeitgenössischen Romanen beanspruchten eines der oberen Borde in seinem zweiten Turm.

In dem Zimmer stand außerdem – mit einem Kissen versehen, so daß man darauf sitzen konnte – eine vergammelte olivgrüne Army-Kiste, die mit einem Vorhängeschloß gesichert war. Cal nahm das bestickte Kissen von der Kiste und schleuderte es in die Diele. Dann kniete er vor der alten Kiste nieder, öffnete das Vorhängeschloß mit seinem Schlüssel und klappte den verbeulten Deckel auf. In einem Haufen stockfleckiger Briefe von seinen Eltern (etliche von ihnen mit der Schere durchlöchert, andere mit schwarzer Tinte unleserlich verschmiert – namens des Bürgerzensurausschusses) lagen die spiralgebundenen Mappen, in denen Cal seine illegalen Kopien von Philip K. Dicks unveröffentlichten Science Fiction-Romanen aufbewahrte.

In der Sowjetunion, sowohl vor als auch nach der Detente, hatten systemkritische Autoren ihre Schriften unter ihren Freunden in Form von selbstverlegten Manuskripten verbreitet, die oft nur Durchschläge oder Fotokopien der Originaltyposkripte waren. Dieses System nannte man ›Samisdat‹, Selbstverlag, ein Ausdruck, der gewiß schon um 1970 herum entstanden war, der seine Vorläufer aber vielleicht schon zur Zarenzeit gehabt hatte.

Tja (entsann Cal sich), mit der Ankunft der gefürchteten Klopfnicht-Truppe kurz nach Nixons Niederlage gegen Herbert Humphrey im Jahr 1968 und mit dem Verbot der Redefreiheit während seines Siegeszuges in Vietnam war Samisdat auch in die Vereinigten Staaten von Amerika gekommen.

Als Antikriegs-Student an der Universität Colorado gegen Ende der sechziger Jahre und später als Ranch-Helfer während der beiden ersten Amtsperioden Nixons hatte Cal eine kleine, aber belastende Bibliothek von ›selbstverlegten‹ Manuskripten erworben. Trotz der nordvietnamesischen Kapitulation im Jahr 1974 und der angeblich zunehmenden ›Milde‹ des Präsidenten seit seinem Erdrutschsieg über die Demokraten im Jahr 1980 konnte Cal, wie er wußte, für den Besitz dieser Fotokopien immer noch in den Knast wandern. Lia und er hatten sich schon oft deswegen gestritten – viel heftiger, als sie jemals über die Frage gestritten hatten, ob sie den Hund behalten sollten.

Vor ihrem Umzug nach Georgia hatte Lia sogar vorgeschlagen, Cal solle all seine illegalen Dickiana zusammenpacken und sie auf einem Scheiterhaufen auf Arvill Rudds Ranch verbrennen. Sie fand, sie sollten einen neuen Anfang machen, und so verlockend ihm die Vorstellung auch erschienen war, er hatte es nicht vermocht, Dicks Werke zu vernichten. Dieses gehetzte Genie hatte seine Romane als empörten Aufschrei gegen die schmierigen ›Bombardiert sie, bis sie schreien!‹-Köpfe von King Richard und seinen größenwahnsinnigen Henkersschergen geschrieben. Außerdem hätte er die Erinnerung an seine Mom und seinen Dad verraten, wenn er die Bücher angezündet hätte.

Viking kam mit blaubeerjoghurtverschmierter Nase in die Bibliothek getappt. Er stupste Cal mit der Nase an und knurrte sein Knurren.

»Schon gut. Sei nicht so neugierig. Ich zeig’s dir.«

Der Husky setzte sich neben Cal.

»Das hier ist mein Lieblingsbuch. ›The Doctor in High Dudgeon‹.« Cal legte die Mappe vor Viking auf den Boden. »Es ist eine weit in der Zukunft angesiedelte Historie, in der die Richard-Nixon-Gestalt – Dick nennt ihn Abendsen Ferris – eine Kampftruppe zu einem fernen Sternensystem entsendet, nur um jeden einzelnen Mann zu verlieren. Dann läßt er seine Frustration an den Bürgern aus, die gegen dieses Unternehmen protestiert haben, indem er Cyber-Diener für sich und seine kaiserlichen Adjutanten aus ihnen macht. Klingt ein bißchen albern, wenn man es derart zusammenfaßt; das gebe ich zu. Die Sache ist bloß, du darfst nicht vergessen, daß Dick es gleich nach ›Nicholas and the Higs‹ geschrieben hat – aber vor der ’68er Wahl. Und das ist eine ziemlich erstaunliche Leistung, Vike. Das ist nicht bloß vorausschauend, das ist schon eher hellseherisch. Die Folge war, daß Dick das Buch nicht verkaufen konnte. Die Verleger hatten Angst. Sie erkannten, daß es ebenso Satire wie Science Fiction war, ein ätzender Kommentar zu einer komplexen amerikanischen Persönlichkeit. Sie lehnten es ab – wobei sie nicht etwa zugaben, daß sie fürchteten, der neue Präsident werde es mißbilligen, sondern indem sie dem Autor erzählten, ein Roman dieser Art werde die Leserschaft, die ihn als realistischen Sozialkritiker kenne, nur verwirren. Nach dem Debakel mit ›Nicholas and the Higs‹ (sagten ihm die Lektoren bei Hartford & Brice) müsse man sorgsam darauf achten, die letzten Fetzen von Achtbarkeit, die von seiner Reputation noch übrig seien, zu bewahren.«

Viking legte fragend den Kopf schräg.

»Und weißt du, was Dicks Antwort auf dieses lektoriale Gefasel war, mein wölfischer Freund?«

Aufmerksam wartete Viking, bis er es erfuhr.

»Er sagte: ›Das ist Blödsinn, Jungs.‹ Und dann fügte er hinzu: ›Das könnt ihr euch ins zarte Ärschlein schieben. Wer braucht euch ängstliche Establishmentfiguren eigentlich überhaupt?‹ Leider sollte er nur zu bald herausfinden, daß er sie anscheinend brauchte. Niemand sonst wollte ›The Doctor in High Dudgeon‹ nehmen, und bis vor ungefähr einem Jahr dann Valis bei Banshee herauskam, konnte Dick in den nächsten vierzehn Jahren – von schlichten Neuauflagen abgesehen – überhaupt nichts mehr veröffentlichen. Ein Verbrechen. Eine Schande und ein Verbrechen.«

Und jetzt ist der Arme tot, dachte Cal. Er tastete auf einem Bücherbord herum, fand seinen Vorrat und drehte sich einen Joint. (Es war ein Merkmal seiner altmodischen Einstellung, wußte er, daß er kein Koks nahm. So was war für jungdynamische Aufwärtsstrebende, für ›Upwardly Mobiles‹, und er war kein gottverdammter UpMo.) So rauchte er seine Marijuana-Zigarette, und Vike sah geduldig zu, während er wieder in seinen verbotenen Dickiana wühlte.

Er suchte mehrere Mappen heraus und stapelte sie vor Viking auf: ›Do Androids Dream of Ambitious Veeps?‹, ›Flow My Tears, the Policeman Said‹, ›Now Wait for Last Year‹, ›They Scan Us Darkly, Don’t They?‹, ›No-Knock Nocturne‹ und vier oder fünf andere, darunter ›Yubig‹ und ›The Dream Impeachment of Harper Mocton‹. Viking starrte den Stapel lange Zeit an. Cal ebenfalls, und er erinnerte sich dabei an die Umstände, unter denen er jede einzelne Fotokopie erworben hatte.

»Möchtest du gern wissen, wie ich die bekommen habe?«

»Gern«, antwortete der Hund.

»Also gut, dann hör zu! Ein Freund von mir in Boulder – das war damals, ’69 – kannte jemanden, der Dick in Santa Venetia, Kalifornien, gekannt hatte, und Dick hatte diesem Typen eine Fotokopie des Manuskripts von ›The Doctor in High Dudgeon‹ gegeben. Einfach gegeben. Mein Freund machte eine Kopie von der Kopie von Dicks Freund und schickte Dick einen Scheck über zehn Dollar durch Dicks Freund … Ist das zu kompliziert für dich, Vike?«

»Wenn du es erzählen kannst, kann ich es jederzeit verstehen.«

»Stimmt auch wieder. Entschuldige.« Cal nahm einen tiefen Zug. »Wir fühlten uns moralisch verpflichtet, einen Autor, von dessen Arbeit wir eine Kopie machten, um sie zu behalten, auch zu bezahlen. Sofern wir es uns leisten konnten, natürlich. Auf diese Weise machte schon vor Nixons Wahl eine Menge Mist die Runde – Underground-Comics, Gedichte, Poster, Songs und so weiter. Als hätten wir die bevorstehende Zensur geahnt. Nicht viele Kunststudenten wollten Geld für ihre Sachen, aber wenn man auf jemanden von nationalem Ruf stieß, der diesen Ruf im Protest gegen den nahenden Faschismus ins Feld führte, wie Philip K. Dick es tat – na, da fühlte man sich nicht berechtigt, Kopien seiner Arbeit zu behalten, ohne etwas dafür zu geben. Ich meine, ein paar von diesen Leuten waren Profis. Sie verdienten ihren Lebensunterhalt damit, daß sie schrieben oder malten oder auftraten, und wenn sie ihre Ware nicht mehr durch kapitalistische Kanäle verhökern konnten, dann schadete ihnen das.«

»Und deshalb gab Dick das Manuskript vom ›High Dudgeon‹ seinem Freund, damit der Freund es herumzeigen und etwas Geld für Dick auftreiben könnte?«

»Nein, nein, nein! Verdammt, Vike, du bist der Gefangene einer bourgeoisen Hund-frißt-Hund-Mentalität. Was, zum Teufel, ist los mit dir?«

Vike leckte sich betreten die Lefzen.

»Es war nichts, was Dick wollte oder erwartete. Er hatte seinem Freund den Roman gegeben, einfach weil er ihn mit anderen teilen wollte. Es war etwas, das die Freunde des Freundes von sich selbst erwarteten, wenn sie sich Kopien machten. Wir wollten den Künstlern unsere Dankbarkeit erweisen, indem wir ihnen etwas dafür gaben – als Anerkenntnis ihrer Fähigkeit und ihres Mutes, und als Ausgleich für den Einkommensverlust, den sie erlitten, als die Mainstream-Vermarkter es ablehnten, sie weiter zu sponsern. Und deshalb schickte mein Freund zehn Dollar an Dick, als er das Manuskript von Dicks Freund kopiert hatte, und deshalb tat ich, so pleite ich damals auch war, das gleiche, als ich ›High Dudgeon‹ gekriegt hatte. Ich wäre mir wie ein absolutes Arschloch vorgekommen, wenn ich es nicht getan hätte. Du verstehst mich doch, oder, Vike?«

»Ich denke ja. Aber da die Kunst, die mir am besten gefällt, meistens aus der Dose kommt, bin ich auch nicht gerade eine Autorität in dieser Frage, nicht wahr?« Der Husky legte eine Pfote auf den Einband ›Flow My Tears, the Policeman Said‹. »Hast du Dick auch für all die anderen Romane einen Scheck geschickt?«

»Wenn nicht sofort, nachdem ich meine Kopie gemacht hatte, dann später, wenn ich ein bißchen Bares hatte. Es wäre mies gewesen, es nicht zu tun, und schau doch nur, was ich dafür bekommen habe.«

Viking legte den Kopf schräg und betrachtete die Mappen auf dem Teppich.

»Elf Meisterwerke der amerikanischen Literatur«, sagte Cal. »Elf unbekannte Meisterwerke. Unbekannt, weil kein etablierter Verlag sie veröffentlicht hat. Aber ich habe Kopien davon, Vike, und das ist eine große Ehre. Es ist außerdem der Auftrag, der Tyrannei zu widerstehen, die diese Werke überhaupt erst daran gehindert hat, gedruckt zu werden.«

»Und wie machst du das, Cal? Indem du in einer Tierhandlung arbeitest?«

Diese unerwartete Frage erboste Cal. »Ich tue es nicht, ich tue es überhaupt nicht, und hör zu: Es kotzt mich an, denn ich weiß, daß ich es nicht tue!« Er drückte den aufgerauchten Joint im Aschenbecher aus und stand auf.

Du Misthund, dachte er. Was verhörst du mich, wenn du nichts weiter tust, als im Scheiß-Garten Löcher zu graben und Dreiviertel jedes gottverdammten Tages zu verpennen?

Aber Viking war ein unerbittlicher Sokratiker. »Ich weiß, daß du es nicht tust, Cal, und ich verstehe da etwas nicht. Wieso begründest du deinen Widerstand gegen die Nixon’sche Tyrannei auf diese unveröffentlichten Romane?«

»Ich kann dir nicht folgen, Arschlochschnüffler.«

»Ich meine, das ist ja schlimm. Aber du hast ein weit drängenderes Motiv, nicht wahr? Ein Motiv, das dir sehr viel näher am Herzen liegt?«

Wage nicht, es auszusprechen! dachte Cal. Paß auf, du beinhebender, flohverseuchter, arschlochschnüffelnder Knurrer. Sag’s ja nicht!

»Was ist mit deinen Eltern?« beharrte Viking. »Ist das, was sie zu erleiden hatten, nicht viel schmerzlicher – für dich, meine ich – als die durch King Richard zerstörte Karriere eines Schriftstellers, mit dem du nicht mal verwandt bist?«

 

Das Wort Eltern bringt das Faß zum Überlaufen. Cal packt Viking beim Halsband und zerrt ihn zur Bibliothek hinaus, durch die Diele und durch das Wohnzimmer zur Haustür. Viking ist froh, wieder hinauszukommen – wahrscheinlich, weil er glaubt, Cal wolle mit ihm Spazierengehen, aber Cal hat andere Pläne. Er hakt die kalte Kette wieder an Vikes Halsband und verschwindet schleunigst wieder im Haus, bevor der Husky begreift, daß er keinen Ausflug, sondern nur eine weitere lange Zeitspanne der angeleinten Langeweile vor sich hat.

Das hast du von deiner verdammten naseweisen Aufdringlichkeit, denkt Cal. Er kehrt in die Bibliothek zurück, setzt sich neben die offene Kiste zwischen seine illegalen Dickiana und fährt fort, den Mann zu betrauern.

1974, nach dem Zusammentreffen mit seinem Kontaktmann in Snowy Falls, Colorado, einer Kleinstadt in den Bergen oberhalb von Waisenburg, und nachdem er von dem eine Kopie von ›They Scan Us Darkly, Don’t They?‹ bekommen hatte, schickte er Dick einen Scheck über fünfzehn Dollar – eigentlich mehr, als er sich leisten konnte. Zwei Monate später schrieb er Dick einen Brief zum ›They Scan Us Darkly‹ und vertraute ihn dem Typen an, der sein Kontaktmann gewesen war. Dieser beförderte ihn persönlich zu Dick nach Fullerton und verstieß dabei gegen das Interne Reisebeschränkungsgesetz, durch das der zwischenstaatliche Reiseverkehr geregelt wurde. Zwei Wochen später traf der Schmuggler sich mit Cal in einem Chop-Suey-Lokal in Manitou Springs und übergab ihm eine maschinegeschriebene Mitteilung des Autors.

Während er daran denkt, wie er fummelnd den Brief aufriß, findet Cal ihn mit Klebstreifen an der Innenseite des Covers seiner Fotokopie von ›They Scan Us Darkly‹ befestigt, und er nimmt ihn heraus, um ihn noch einmal zu lesen. Er ist fast acht Jahre alt und noch nicht angegilbt, aber noch immer riecht Cal den chinesischen Küchendunst – Pfannkuchen, süß-saures Schweinefleisch – aus dem schmuddeligen Lokal oben in Manitou, der darin hängt:

 

Lieber Mr. Pickford,

 

danke, daß Sie mir Ihren Kommentar zu ›They Scan Us Darkly, Don’t They?‹ und zu meiner Arbeit im allgemeinen zugeschickt haben. Nachdem ich Ihren Brief zehnmal gelesen habe, sage ich mir schließlich: »Ich glaube, du hast es geschafft; ich glaube, du hast geschrieben, was du dir zu schreiben vorgenommen hattest. Ich sehe es an dem, was Cal Pickford in seinem Brief über deinen Roman sagt.«

Ich habe fünf Jahre gebraucht, um ›They Scan Us Darkly‹ zu schreiben, und ich habe – wie Sie so deutlich erkannt haben – Herz und Leib und Leben hineingesteckt. Es ist ziemlich riskant, so etwas zu Papier zu bringen: Man übergibt seine Seele der Welt.

Natürlich mag das Risiko geringer erscheinen, wenn kein Verlag das Buch veröffentlichen will, aber eigentlich ist es das nicht. Das Risiko liegt darin, daß ich mich in die jämmerlichen kleinen Leben einmische, die ich in meinen unveröffentlichten Werken zu kennzeichnen versuche. Es liegt darin, daß ich versuche, ihr betrübliches Kommen und Gehen dauerhaft aufzuzeichnen. Es liegt im Schreiben.

Ich würde mehr sagen oder noch einmal schreiben und dann mehr sagen, aber ich will Sie nicht ebenfalls einem Risiko aussetzen. Ihre Reaktion auf meine Arbeit und Ihre finanzielle Unterstützung beweisen, daß Sie ein echter Mensch sind. Zu viele von denen, die heutzutage Macht über unser Leben haben, sind künstliche Menschen.

Und so bin ich von Herzen der Ihre für eine bessere Zeit, später einmal, wenn die Leute verstehen.

 

Der Name ›Philip K. Dick‹ stand natürlich in Maschinenschrift am Fuße dieses Briefes, aber darüber hatte der Mann »Phil« geschrieben, in einer lässigen, vorwärtsgeneigten Kursivschrift, die Cal das Herz erwärmte.

Er schob den Brief wieder in den angeklebten Umschlag an der Innenseite des spiralgehefteten Deckels. Dann verschwand ›They Scan Us Darkly‹ mitsamt seinen anderen angehefteten Typoskripten wieder in der Kiste, und Cal schloß den Deckel, ließ das Vorhängeschloß zuschnappen und holte das Kissen aus der Diele, um es wieder auf die Kiste zu legen, damit, wenn es nötig wäre, eine müde, verlorene Seele darauf sitzen könnte.

Cal setzte sich und ließ die Hände zwischen den Knien baumeln. Draußen fing Viking an zu heulen – ein unheimliches, kummervolles Klagen.

Genauso fühle ich mich auch, dachte Cal. Du hast es haargenau getroffen.

Irgendwie mußte er seinen Schmerz lindern. Wenn nicht lindern, dann artikulieren. Er hatte es versucht, indem er mit Viking gesprochen hatte, aber Viking hatte ihm aus heiterem Himmel diese hundsmiserable Bemerkung über seine Eltern um die Ohren gehauen, und damit war der Versuch beim Teufel gewesen. Und was jetzt? Was sollte er tun, um seinem Schmerz Ausdruck zu geben, bis Lia nach Hause käme und er seine Frau in die Arme nehmen könnte, als Puffer gegen die Herzlosigkeit der Welt?

Ein Gedicht, dachte Cal. Eine Elegie. Setz dich hin und schreib eine Elegie für Philip K. Dick.

Diese Idee erregte ihn. (Auf der Veranda heulte Viking immer jämmerlicher.) Er ging zu Lias Schreibtisch und nahm einen Block gelbes Kanzleipapier aus einer Schublade. Dann griff er nach einem Stift und setzte sich zurecht, so daß seine Elegie an Dick auf die länglichen Blätter fließen könnte, mühelos wie die Tränen eines von der Trauer überwältigten Kindes.

Nichts geschah.

Cal wartete und dachte einstweilen eifrig nach, aber das Gedicht wollte nicht kommen. Es regte sich Inspiration, aber es waren nur Regungen, und Vikings fortgesetztes Heulen trug nicht zur Erweckung seiner schöpferischen Kraft bei. Er entzog sich ihm, indem er noch einmal an Dicks wundervollen Brief und an all die unbekannten Meisterwerke in seiner Kiste dachte.

Und endlich hatte er eine vernünftige erste Zeile und eine gute zweite gleich dazu.

 

Philip K. Dick – dieser Mann ist leider tot,

Einen Tritt in den Arsch verdienst Du dafür, lieber Gott.[1]

 

Aber nachdem er diesen Vers aufgeschrieben hatte, blieb Cal wieder stecken und wußte nicht, wie es weitergehen sollte. »Klar, daß in einer so öden Welt«, sinnierte er und erprobte die Worte laut. Und gleich darauf: »… dem Präsidenten dein Stil nicht gefällt.« Sie reimten sich, diese Fortsetzungen, aber sie trafen nicht. Cal hätte sie wieder durchgestrichen, wenn er sie hingeschrieben hätte, aber die Mühe hatte er sich gespart. Es war Mist. Er wußte, daß es Mist war.

Und so kam er zu dem Schluß, daß die beiden Zeilen, die er aufgeschrieben hatte – »Philip K. Dickdieser Mann ist leider tot, / Einen Tritt in den Arsch verdienst Du dafür, lieber Gott« – alles, was er zum Tode von Phil Dick zu sagen hatte, perfekt umfaßten. Sie hatten Reim und Rhythmus, und sie drückten seinen Schmerz über den Verlust ebenso aus wie seine Verbitterung. Was konnte man mehr verlangen? Cal stand auf, die Elegie in der Hand, und deklamierte sie vor dem Zimmer mit einer Stimme so tief und melodiös wie das Meer.

Auf der Veranda heulte Viking.

»Halt die Klappe, du Woolworth-Wolf!« schrie Cal. »Verflucht noch mal, halt endlich deine winselnde Klappe!«

Aber Viking hielt die Klappe nicht, und wie Cal so dastand, mitten in seiner und Lias Bibliothek, merkte er, daß ihm Kaskaden von Tränen über die Wangen liefen, und hilflos spürte er, wie ein Wasserfall aus irgendeiner inneren Quelle sich ergoß, deren Sitz er niemals würde finden können.