16Das Schlimmste muß vorüber sein, dachte Cal, als er Lia vom Grab ihrer Mutter zu der silbernen Limousine geleitete. Sie würden mit Jeff und Suzi Bonner und den Kindern der Bonners, Martin und Carina, vom Friedhof zur Brown Thrasher Barony fahren. Jeder, dem jemals etwas an Miss Emily gelegen hatte – jeder, der auch nur flüchtig mit ihr bekannt gewesen war –, würde ebenfalls zur Farm hinausfahren, mit Platten voll Huhn und Schinken, Schüsseln mit gekochtem Gemüse, Krügen mit Tee, Kuchenformen mit diversen Desserts – genug Proviant, um die britischen und die argentinischen Kämpfer auf den Falklands wochenlang auf den Beinen zu halten.
Es würde strapaziös werden auf diesem Beerdigungsempfang, aber nicht so strapaziös wie die beiden Tage, die sie nach dem verheerenden Herzanfall, den Miss Emily im Eleanor-Roosevelt-Pflegeheim erlitten hatte, im Meriwether Memoral Hospital verbracht hatten. Im Krankenhaus hatten sie beinahe von Anfang an gewußt: Sie warteten einfach darauf, daß sie starb. Und auf jeden Fall würde der Empfang weniger strapaziös werden als die Fahrt ins Leichenschauhaus von LaGrange, um den Leichnam zu besichtigen. Dabei hatte Lia – coole Psychotherapeutin hin oder her – soviel geweint, daß sie aussah, als habe sie ein hart geschlagener Tennisball auf jedes Auge getroffen.
Ja, so sah sie immer noch aus, und Cal zog sie auf dem Rücksitz immer wieder an sich, drückte ihre Schulter und streichelte mit fürsorglichem Finger über die entzündeten Ringe unter ihren Augen – bis sie, seiner Aufmerksamkeit allmählich müde, sein Handgelenk packte und seine Hand sanft in seinen Schoß drückte.
Das Schlimmste muß vorüber sein, überlegte Cal. Miss Emily ist unter der Erde, die Lobreden sind gehalten, und die Menschen versammeln sich um Jeff und Suzi, Martin und Carina. Und um Lia und mich. Sogar um mich, um Cal Pickford, den Außenseiter-Schwiegersohn, den Miss Emily manchmal – unfairerweise – als Engel des Todes zu betrachten schien.
Suzi und der kleine Martin saßen bei Lia und Cal auf dem Rücksitz der Limousine. Jeff und das Mädchen Carina saßen vorn bei dem jugendlichen Fahrer der Bestattungsfirma.
Die Bonner-Kinder, elf und neun Jahre alt, waren heute wie niedergeschlagene Kobolde; sie trauerten ebenso tief wie jeder Erwachsene – nur daß ihr Schmerz größer und ihr Verständnis geringer war – und sprachen kein einziges Wort.
Gute Kinder, fand Cal. Wirklich bewundernswerte, erstklassige kleine Persönchen. Ihre Würde war ihm nie zuvor aufgefallen. Sie waren ihm immer wie Standard-Exemplare von Kindern vorgekommen, angemessen zerzaust und sommersprossig, weder Wunder an Brillanz noch Monster an Görenhaftigkeit. Aber jetzt rückte ihr Schmerz sie für ihn ins Bild und zeichnete sie auf erstaunliche Weise aus. Sie hatten jemanden verloren, der wichtig war, und Cal konnte mit ihnen fühlen.
Was Suzi anging, nun, sie war auch eine anständige Person. Merkwürdig ernst selbst zu fröhlichen Anlässen; vielleicht in dem Bewußtsein, daß Martin und Carina in einer veränderten Welt aufwuchsen. Heutzutage verhielt man sich unauffällig. Wenn man tanzte, tanzte man zu der Musik des langnasigen Musikanten. Der Ernst, den ihre Kinder heute zur Schau trugen, würde ihnen später gut zu Gesicht stehen. Sie würden nicht viel zu lachen haben, wenn es so weiterging, und Suzi – selbst in einer gemäßigten Position – wußte das.
Cal sah Jeffs Hinterkopf an. Der Bruder seiner Schwester. Ein Kerl, der eine so ordentliche Frau und solche Kinder gar nicht verdiente. Nicht, daß er ein Hampelmann gewesen wäre – aber er hatte vor dem Status quo kapituliert. Er verwaltete ein Gestüt für einen ausschweifenden, abwesenden Grundbesitzer, einen Mann, der – ganz im Ernst – Denzil Wiedenhoedt hieß und der sein Geld in den fünfziger Jahren mit dem Verkauf und Verlegen von Teppichböden gemacht hatte.
Jeff hatte es zu gut unter Wiedenhoedt: Das Unrecht, das diese Regierung an Leuten mit weniger guten Verbindungen beging, bedeutete ihm nichts. Jeff wußte nichts von diesem Unrecht; er bemühte sich, weiterhin nichts davon zu wissen. Was ein Grund dafür war, daß er Cal nicht mochte und sich wünschte, Lia hätte einen Jungen aus dem Ort geheiratet.
Vielleicht bist du unfair, ermahnte Cal sich. Schließlich gibt es auf dem Gestüt einen schwarzen Stallknecht – Kenneth ›Horsy‹ Stout –, und Jeff behält ihn auf seiner Lohnliste.
Und als du hier ankamst und dich bemühtest, Arbeit zu finden, da hat Lia ihn gebeten, dich zu engagieren – nicht als Ersatzmann für Stout, sondern als Aufseher oder als zusätzlichen Helfer, Rollen, die Jeff schon selbst spielte. Möglicherweise also, Mr. Pickford, sind Sie derjenige, der Jeff nicht ausstehen kann.
Cal wurde unruhig. Hatte er vielleicht nicht nur gegen seinen Schwager etwas, sondern auch gegen den schwarzen Stallknecht? Wenn Stout nicht gewesen wäre, hätte Cal jedenfalls von Anfang an einen Job auf dem Gestüt haben können …
Suzi unterbrach ihn in seinem sorgenvollen Grübeln. »Ich bin überrascht, daß Grace Rinehart und Minister Berthelot gekommen sind, Lia. Du mußt wirklich Eindruck auf sie gemacht haben. Daß sie hier auftritt, meine ich.«
Das war es, dachte Cal. Ein Auftritt. Die Frau ist super im Auftrittemachen. Ihr Leben ist ein Auftritt.
Laut sagte er: »Genau das haben wir gebraucht bei Miss Emilys Beerdigung: Zwei Bonzen und ein paar kanonentragende Geheimdienstvögel.«
»Sie sieht wirklich toll aus, nicht wahr?« meinte der Fahrer. Er trug einen dunklen Anzug und trotz des milden Wetters ein Paar Kalbslederhandschuhe.
»Ich habe im Zweifelsfall bei einer Beerdigung lieber Sicherheitspersonal anwesend«, meinte Jeff, ohne sich umzudrehen. »Was ist los, Cal. Haben sie dich nervös gemacht?«
»Es war eine Show, Jeff. Keiner von diesen Leuten hat eure Mama gekannt, und in Wirklichkeit interessiert es sie« – die Kinder im Wagen diktierten Cals Wortwahl – »keinen Pfifferling, daß sie gestorben ist. Es ist nur Politik.«
»Ich bin nicht gerade aus dem Häuschen über die Art, wie Grace manche Dinge angeht«, sagte Lia, »aber sie ist nicht gefühllos. Daß sie heute zur Beerdigung gekommen ist, war eine Show, okay – aber eine Show, die ihr Mitgefühl zeigen sollte.«
»Es war lieb, daß sie gekommen ist«, pflichtete Suzi ihr bei.
»Und was ist mit Gatte Hiram?« fragte Cal verärgert.
»Er ist gekommen, weil er zu Hause ist und nicht in D.C., und weil Grace wollte, daß er mitkommt. So benehmen sich gute Ehemänner eben. Er hätte mühelos wegbleiben können. Ich kann mir denken, daß er genug zu tun hat, mit seinen Rindern und seinen Breschnew-Bären und all dem Ärger über Stützpreise und so weiter.«
»Aber die Agenten mit ihren grünen Baretts«, sagte Jeff und schaute weiter vorn zum Fenster hinaus, »die machen den armen alten Calvin zapplig. Irgend etwas muß ihm auf der Seele liegen. Wahrscheinlich sein Gewissen.«
Leck mich im Arsch! dachte Cal. Aber er sagte: »Ich mag die Gestapo nicht, Jeff, und mir ist egal, welche Farbe ihre Mützen haben.«
»Gestapo?« wiederholte der Fahrer. »Sie meinen Deutsche?«
»Geheimdienstleute sind keine Klopfnichts«, erwiderte Jeff. »Sie sind nicht mal besonders geheim. Sie tragen die Baretts, um uns zu zeigen, daß sie völlig offen arbeiten.«
»Um uns einzuschüchtern, meinst du wohl.«
»Cal, du bist wirklich paranoid.«
»Ich möchte eines Tages auch so ein Barett tragen«, sagte Martin.
»Du würdest blöd aussehen damit«, stellte Carina fest, eine körperlose Stimme vom Vordersitz.
Suzi hinderte Marty an einer Antwort. Der Fahrer schaute in den Rückspiegel. »Die haben die nächsten drei Autos hinter uns, Leute. Wenn es einen von Ihnen zapplig macht, daß sie dabei sind – na, dann können Sie auch bei der Feier zapplig sein. Hoffentlich gibt’s genug zu essen.«
Cal drehte sich um. Der nächste Wagen in der Prozession war Grace Rineharts korduanbrauner[5] Cadillac. Heute aber saßen zwei barrettragende Agenten darin. Miss Rinehart und Hiram Berthelot saßen auf dem Rücksitz des nachfolgenden Wagens. Dahinter, sichtbar nur, als die Bestatterlimousine in eine Landstraße einbog, folgte ein dritter gepanzerter Luxuswagen. Dutzende andere Autos sämtlicher Größen, Formen und Marken fuhren hinterdrein.
Das ist keine Beerdigungsprozession, dachte Cal. Das ist ein gottverdammter Konvoi.
»Ich habe Grace eingeladen«, sagte Lia. »Ich habe sie gestern angerufen und ihr gesagt, sie sei willkommen. Minister Berthelot ebenfalls. War das in Ordnung?« Sie schaute an Cal vorbei Suzi an und wartete auf ein Ja oder Nein.
»Natürlich«, sagte Suzi. »Unser Haus ist dein Haus, Lia. Das weißt du. Du kannst einladen, wen du willst.«
Tiglath-pileser den Dritten, dachte Cal. Attila den Hunnenkönig. Adolf den Hitler. Wen du willst.
Das Gestüt, die Brown Thrasher Barony, lag hingeduckt etwa sechs Meilen nordwestlich von Pine Mountain. Es bestand aus sechzig Morgen Land, einem Dutzend nervöser Vollblüter, vielleicht zwanzig Warmblütern und einem Stall, der unermeßlich viel größer war als das Haus, in dem die Bonners wohnten.
Denzil Wiedenhoedt war zwar kein Geizkragen, aber er fand doch, daß der größte Teil des auf dem Gut ausgegebenen Geldes für die Wartung der Zäune und des Grundes und für Futter und Pflege der Pferde verwendet werden solle. Als er indessen von Miss Emilys Tod erfahren hatte, da hatte er den Bonners telegraphisch tausend Dollar überwiesen, damit sie vor ihrem Haus (einem schlecht getarnten doppelbreiten Wohnwagen) ein riesiges Sonnensegel aufspannen und Klapptische auf dem Rasen aufstellen lassen konnten, um all die Leute, die an dem Beerdigungsempfang teilnahmen – ihn selbst eingeschlossen –, unterzubringen. Er hatte auch transportable Toiletten, Parkplatzwärter und eine mit ebenholzschwarzen Girlanden geschmückte Musikbox besorgt.
Diese Musikbox spielte fromme Musik von der Art, die Cal Zahnschmerzen verursachte. Bis in die Wurzeln.
Unter dem hohen, fransengezierten Sonnensegel wurde Lia von zehn Leuten zugleich getröstet; der Landwirtschaftsminister unterhielt sich mit Wiedenhoedt, und Miss Grace stand an einem der Tische, lehnte Autogrammwünsche höflich ab und lud jedem, der mit einem Designer-Pappteller vorüberkam, Gemüse auf: Felderbsen, kandierte Jamwurzeln und Gemüse (Rüben, Senfsprossen oder Kohl). Wahrscheinlich hält sie sich für Jesus, der den Aposteln die Füße wäscht, dachte Cal.
Zwei Geheimdienstmänner lungerten um Liberty Belle herum, und vier Agenten bewachten Berthelot und Wiedenhoedt; sie musterten die Menge wie Knastbullen, die beim Hofgang nach Unruhestiftern Ausschau halten.
Cal hatte den Eindruck, daß jeder, der in Pine Mountain wohnte – plus einhundert andere –, anwesend war. Mr. Kemmings war da, und Cal brachte ihm einen Teller zu einem Tisch neben dem doppelbreiten Wohnwagen und unterhielt sich ein paar Minuten lang mit ihm. Dann erblickte er Shawanda Bledsoe mit einigen Freunden und Angehörigen und winkte sie zu den Serviertischen, damit sie später damit angeben könnten, daß Grace Rinehart – jawohl, die Grace Rinehart – ihnen auf ’ner weißen Beerdigungssause tatsächlich Süßkartoffeln und Gemüse aufgeschaufelt hatte.
Ein paarmal versuchte er, Lia ein Zeichen zu geben, aber es hatte keinen Sinn – sie war belagert von Trostspendenden. Schließlich verließ er den Rasen und wanderte auf dem sauberen Sandweg vom Haus der Bonners zu den Stallungen hinunter. Perlbüsche und blühende Quitten ließen ihre Farben tanzen. Dabei begann die Musik aus Denzil Wiedenhoedts idiotischer Musikbox und das gesellige Treiben an den Tischen zu schwinden, und er hörte leises Wiehern aus der Scheune. Auch der beißende, herausfordernde Geruch von Pferdefleisch wirbelte ihm grüßend entgegen.
Das gewaltige Tor des Stalls – groß genug, um zwei Lastwagen einzulassen – stand offen, so daß man zwei gegenüberliegende Reihen von graugestrichenen Boxen sehen konnte, vielleicht zwanzig auf jeder Seite. Der Boden aus gegossenem Zement war so sauber, daß er schimmerte wie Elfenbein. Das Tor am anderen Ende der Scheune schien so weit weg wie Italien zu sein, aber Oberlichter in der türmchenbesetzten Decke gossen Sonnenlicht über die ganze Distanz, sich kreuzende Säulen aus Buttertoffee. Stäubchen und Fasern von Heu oder Stroh schwammen in diesen Säulen und erinnerten Cal an unbekannte Lebensformen in einem kolossalen, aber wasserlosen Aquarium.
Er ging an der Reihe der Stallboxen entlang, lauschte dem hohlen Tappen seiner Sonntagsschuhe und betrachtete die nervösen Vollblüter. Mein Gott, dachte er, sie sind schön. Bei jedem Pferd stand der Name an der Box: Golightly, Divine Intervention, Radioactive, Ubiquity und so weiter.
Vor dem hinteren Tor grasten weitere Pferde; deshalb waren einige der Boxen leer, und Cal blieb vor einer leeren Einheit stehen, um zu sehen, wie sie angelegt war. Er bemerkte sofort, daß Horsy Stout rings um die Box einen Sims gebaut hatte, der so hoch war wie der in Beton gegossene Wassertrog – so daß er auf dieser Plattform stehen und seine Schützlinge abreiben und striegeln konnte.
Ich und Horsy Stout, dachte Cal. Zwei Männer in derselben Branche. Er mit seinen Pferden, ich mit meinen Breschnew-Bären.
Laut sagte er: »Ich brauche einen Joint.«
Er suchte sich ein Plätzchen. Der Gang zwischen den Ställen war dafür nicht geeignet. Vollblüter waren empfindsam; sie würden tänzeln und sich aufbäumen, wenn man in ihrer Nähe etwas anzündete. Wenn man sie zu sehr aufregte, würden sie – beinahe mutwillig – in ihren Boxen herumpoltern, bis sie sich die Flanke aufgerissen oder einen Huf gesplittert hätten, fast so, als sei ihnen bewußt, daß sie sich nur selbst Schaden zufügen mußten, wenn sie wollten, daß man sein Benehmen bereute. Wir sind teure Biester, sagten sie mit dieser Haltung, und wenn du uns nicht richtig behandelst, geht’s dir zur Strafe ans Portemonnaie.
Schließlich gelangte Cal in die Sattelkammer. Rennsättel ruhten auf Sägeböcken oder stapelten sich auf einem Sperrholztisch. Und weil Wiedenhoedt für die Arbeit auf der Farm und zum Vergnügungsreiten auch Warmblüter hatte, hingen drei von manchem Hintern polierte Westernsättel an der Wand. An hölzernen Haken daneben baumelte ein Sortiment von Zaumzeugen, Scheuklappen und Kandaren.
In der Sattelkammer befanden sich auch Kleiderspinde, ein Fernsehapparat, zwei Sessel und ein mit Limonade und Bier gefüllter Kühlschrank. Und was noch besser war: Für müde Reiter verbarg sich eine Dusche hinter der halbhohen Wand mit den Spinden.
Ungestörtheit.
Cal bewegte sich durch den kleinen Raum und schob sich in die Duschkabine. In letzter Zeit hatte sie niemand benutzt – die avocadofarbenen Kacheln waren trocken. Deshalb hatte er keine Bedenken, sich in seinem guten Anzug in die Ecke zu hocken und in den Taschen nach den Zutaten zu einem Joint zu wühlen.
Aus einer Innentasche seines Jacketts zog er seine ›Pouch House‹-Paperbackausgabe von ›The Broken Bubble of Thisbe Holt‹ aus der Kassette, die Le Boi Loan ihm am Tag vor Miss Emilys Tod persönlich in die Tierhandlung gebracht hatte. Dieses Buch mit dem frischen Imprimatur des Medienzensurausschusses war der einzige Mainstream-Titel von Dick, den Cal noch nicht gelesen hatte. Wegen der Hospitalwachen und des Trubels der Beerdigungsvorbereitungen hatte er bis jetzt noch keine Gelegenheit gefunden, das Buch aufzuklappen. Er verspürte leise Gewissensbisse, weil er hier las, während der Empfang im Gange war, aber eigentlich vermißte ihn niemand, und er hatte sowieso nicht vor, besonders lange wegzubleiben.
Cal nahm einen oder zwei Züge aus seiner Zigarette, bevor er das Buch aufschlug – Seite eins, Kapitel eins.
Im selben Augenblick sah er Miss Emily vor sich, wie sie in einer seltsamen Dimension jenseits der Zeit aufgebahrt lag. Diese Vision, das wußte er, hatte nichts mit dem Marijuana zu tun. Es war ein geistiges Bild, das nicht von Cannabis sativa heraufbeschworen wurde, sondern von der Trauer, seiner eigenen und Lias.
Dort, in der offenen Tür der Duschkabine, schwebte Miss Emily vor ihm empor, schwerelos auf einem Nebelhauch oder einem Leichentuch (Nebelhauch und Leichentuch, dachte Cal in albernem Singsang); ihr schmales Gesicht war wächsern, und ihre Hände ruhten neben ihr wie Klauen aus Gips.
»Einst lebendig, doch nun tot.« Die tiefgründigste Banalität – oder die banalste Tiefgründigkeit –, die ein Mensch nur äußern konnte.
Ein Mysterium.
Der ›Thisbe Holt‹ entglitt Cals Händen. Er wandte den Blick nicht von Miss Emily, nahm aber schnell hintereinander mehrere tiefe Züge – ein Verstoß gegen jede Joint-Etikette, die ihm bekannt war –, um das Bild seiner toten Schwiegermutter halten zu können.
Es ging nicht.
Beinahe augenblicklich begann sie zu mutieren; ihre Gesichtszüge schmolzen wie unter heißem Scheinwerferlicht und formten sich neu, als seien darunter gestaltende Hände am Werk. Eine schockierende Neuordnung von Wangenknochen, Stirn, Nase, Kinn, Augenhöhlen, Mund. Das Gesicht von Lias Mutter, verschwunden. Aus der wächsernen Schlacke erschien ein neues Frauenantlitz, und es gehörte Cals verstorbener Mutter, Dora Jane Pickford.
Cal konnte sich nicht rühren. Er fühlte, wie der Joint seine Finger verbrannte, aber er ließ ihn nicht fallen. Das Gesicht gehörte seiner Mutter, jawohl. Wie sie ’71 ausgesehen hatte. Wie er sich vorgestellt hatte, daß sie im Sarg aussehen müsse – auch wenn er sie darin nie gesehen hatte.
Bevor er noch mit ihr sprechen konnte, begann Dora Janes Gesicht sich zu verändern. Diesmal ahnte er, was er zu erwarten hatte, und dennoch – als die Züge zusammenfielen, sich wieder aufblähten und sich zusammenfügten, um das Gesicht seines Vaters Royce Pickford zu bilden, war Cal trotzdem erschrocken. Verblüfft.
Miss Emilys Tod, das wußte er, hatte seine Vision ausgelöst, aber dieses Wissen machte den Anblick seiner längst verstorbenen Eltern nicht minder herzzerreißend. Ebenso wie sein Mitgefühl für den Verlust, den seine Frau erlitten hatte, das Mitgefühl für sich selbst nicht weniger scharf spürbar machte.
Schließlich ließ Cal seine Zigarette fallen; er saugte an den Blasen, die an seiner Hand erblüht waren, und sprang vor, um Royce Pickfords schwebenden Leichnam zu berühren. Sogleich löste sein Vater sich auf, und Cal hockte auf der Kante der Duschkabine – und wäre um ein Haar kopfüber in die Sattelkammer gekippt. Und hätte fast gebrüllt wie ein Stier unter dem Vorschlaghammer.
King Richards Vizepräsident der ersten Amtsperiode ist einen Tag vor der Siegeskundgebung nach Denver gekommen. Die Stadt hat eine Parade auf der Colfax Avenue organisiert, und ›Speero the Heero‹ – wie die Kids in Boulder ihn mit Vergnügen nennen – sollte der Zirkusdirektor sein.
Cal ist von Arvill Rudds Ranch in Gardner heraufgekommen, um sich die Show anzusehen. An fünf oder sechs verschiedenen Straßensperren hat er der Staatspolizei versichert, daß er ein glühender Patriot ist, kein moralisch verdorbener Hippie, und dieses unglaubliche Kunststück hat er vollbracht, indem er seinen Indianerzopf unter den Stetson gestopft, zwanzigtausendmal »Ja, Sir« und »Nein, Sir« gesagt und mehrfach vorgeführt hat, daß die Tragetasche in seinem Laster kleine amerikanische Fähnchen enthält – und keine Molotow-Cocktails.
Auf der Colfax stellt Cal sich neben einer Gruppe Soldaten aus Fort Carson auf. Geschäftsleute, gutgekleidete Mütter mit Vorschulkindern, Collegestudenten in Jackett und Krawatte und eine große Vielfalt von anderen Zuschauern – darunter aber bezeichnenderweise keine Bohémiens aus der Gegenkultur – säumen denselben Gehweg. Cal sieht mit Erstaunen, daß die Zusammensetzung der Menge so völlig anders ist, als sie noch vor zwei Jahren gewesen wäre, als so gut wie jeder Langhaarige, Jesusfreak und hitzige Friedensmarschierer nach Denver gepilgert wäre, um ›Speero the Heero‹ zu sagen, wo er sich’s hinstecken soll und warum.
Aber die Stimmung in der Nation hat eine radikale – ha!, nenne es lieber eine bemerkenswert konservative – Veränderung erfahren, und King Richard und der Kongreß, den er sich mit Schmeicheleien und Schikanen gefügig gemacht hat, haben es der Antikriegspartei immer schwerer gemacht, noch ein Forum zu finden. Ja, die Senatoren Morse und Fulbright haben die Seiten gewechselt, und zwar unter Berufung auf die Starrköpfigkeit der nordvietnamesischen Regierung und der Grausamkeiten, die ihre Truppen während der Tet-Offensive im Jahre 1968 an Tausenden südvietnamesischer Zivilisten begangen hätten.
Cal kennt selber einige Kids, ehemalige Blumenkinder, die sich in letzter Zeit dem Argument angeschlossen haben, der Konflikt in Indochina sei kein Bürgerkrieg (wie die eingeschüchterten Verfechter der Friedensbewegung immer noch zittrig behaupten), sondern ein klarer Fall von nackter Aggression. Die Aggressoren sind Onkel Hos rote Horden; die Angegriffenen sind die tapferen Bürger des demokratischen Südens. Zu dieser Anschauung – King Richards unverblümt artikulierter Anschauung – Bekehrte klingen in Cals Ohren oft wie wiedergeborene Christen. Sie sind glühend in ihrem Glauben, und sie können von nichts anderem reden.
Die Soldaten neben Cal auf der Colfax Avenue brechen in Beifall aus. Einer von ihnen schreit: »Da ist er!« Die Klänge von zwei verschiedenen Marschkapellen – eine von der städtischen High School, eine aus Fort Carson – kollidieren; Cal fühlt sich an eine sardonische Symphonie von Charles Ives erinnert.
Der Vizepräsident steht auf dem ersten Wagen (der aussieht wie ein Flugzeugträger); er steht im Bug in einem Plastikzylinder, der ihn vor unfreundlichen Wurfgeschossen schützen soll. Er redet, und seine lautsprecherverstärkten Worte hallen durch den langen Canyon der Colfax Avenue wie die Verkündungen eines apoplektischen Richters.
»… die geschwätzigen Niemande, die euch erzählen wollen, oben sei unten und unten sei oben!« schreit er finster. »Nun, heute fangen wir nicht einmal mehr an, ihnen zu glauben. Ihr Tag ist zu Ende, und der unsere ist angebrochen. Also seht euch um. Wenn ihr einen dieser brütenden, brabbelnden Verbreiter verbrämter Unbrauchbarkeiten erblickt, brennt ihm brutal eins auf den Brägen!«
Was, zum Teufel, soll denn das bedeuten? fragt Cal sich verwundert. Niemanden hier scheint es zu kümmern. Aber es klingt, als habe ›Speero the Heero‹ soeben ein paar Arschtritte verteilt, und die Farbe seiner Sprache – ein magniloquenter Malven-Ton – wirkt anscheinend elektrisierend auf jedermann.
Aber bald genug ist der Vizepräsident vorüber, und auch wenn mehrere Soldaten dem Wagen nachjagen und dabei ihre Mützen schwenken, ist Cal doch aus einem anderen Grund nach Denver gekommen. Siegesparaden wie diese finden jetzt seit ungefähr drei Monaten statt, in strategisch verteilten Städten überall im Land, zumeist mit hochrangigen Regierungsvertretern als Zeremonienmeister. New York, erinnert sich Cal, hat Kissinger. Boston hat Melvin Laird, Chicago William Rogers. Und so weiter.
Aber Cal hat kein Interesse an großen Fischen – nur an blutsverwandten kleinen Leuten.
Vor einem Jahr wurden Royce und Dora Pickford, die in Snowy Falls, Colorado, eine Wochenzeitung hatten – von ein paar Rindern nicht zu reden –, verhaftet worden, weil sie eine antimilitaristische Haltung eingenommen und Exemplare des aufrührerischen Huerfano Warrior mit der staatlichen Post an jede bedeutende Persönlichkeit in Washington geschickt hatten. Aber ›verhaftet‹ ist das falsche Wort: Cals Eltern waren einfach verschwunden. Erst nach wochenlangen hartnäckigen und riskanten Nachforschungen konnte er herausfinden, daß sein Vater im Staatsgefängnis von Canyon City saß und seine Mutter in einem ›sicheren Haus‹ – safe house war die eigene, vernebelnde Bezeichnung der Regierung dafür – auf dem Luftwaffenstützpunkt Ent in Colorado untergebracht worden war.
Sein Vater, ein harter, aber ehrenhafter Mann, in einer Institution, die für Mörder, Vergewaltiger und ihre gewalttätigen Kollegen gedacht ist. Seine Mutter, die sanftmütigste, geselligste aller Frauen, in gewaltsamer Klausur, fern von Familie und Freunden.
Das war und ist empörend. Wahrhaft empörend. Aber niemand will Cal erlauben, Vater oder Mutter zu besuchen. Einmal, als er nach Ent hinauffuhr, um das ›sichere Haus‹, in dem seine Mutter ist, zu suchen, haben ihn Sicherheitsposten des Stützpunktes festgenommen und zur Stadtgrenze eskortiert, mit der Warnung, daß nochmaliges unbefugtes Eindringen zu seiner Verhaftung führen werde.
Indem er mehrere nervöse Abgeordnete seines eigenen County- und Kongreßbezirks bearbeitete, konnte Cal schließlich die Adressen seiner Eltern in Erfahrung bringen. Jetzt wechselt er monatlich Briefe mit seiner Mutter, deren Aufenthalt stets wechselt, obgleich die Adresse immer dieselbe bleibt, und mit seinem Vater in Canyon City, aber er hat das sichere Gefühl, daß jede Neuigkeit von Royce, die er seiner Mutter, und jede Neuigkeit über Dora, die er seinem Vater schreibt, mit schwarzer Tinte ausgelöscht oder mit einer Rasierklinge herausgeschnitten wird, bevor der Bürgerzensurausschuß seine Korrespondenz freigibt. Es macht aber wahrscheinlich nicht viel aus, denn die Briefe seiner Eltern an ihn sind stets entweder sorgfältig geschwärzt oder von kleinen Fenstern vielfältig durchlöchert, und er hat auch eigentlich nicht viel Neues zu berichten. Trotzdem …
Und so ist Cal nun zur Siegerparade gekommen. Er sieht zu, wie ein Trupp ledergekleideter Cowboys auf ihren nervösen Pferden vorüberreitet, gefolgt von einer Schar traurig aussehender Utahs zu Fuß. Zwei der Utahs vollführen planlose Tanzschritte, die keinen ersichtlichen Zusammenhang mit irgendwelchen Vorgängen hier haben.
Einem Gerücht zufolge, das Cal gehört hat – er möchte es glauben und zugleich nicht glauben –, steht mindestens ein Wagen in der Siegesparade zur Ausgestaltung durch Dissidenten zur Verfügung. Die Menge hat Gelegenheit, zu buhen und zu pfeifen, ein spannungslösendes Verfahren, das von zwei der einflußreichsten Adjutanten King Richards eingeführt und energisch durchgesetzt worden ist. Die Idee dazu – so will es das Gerücht wissen – kam den beiden, als sie Filme sahen, in denen amerikanische Kriegsgefangene von ihren nordvietnamesischen Bezwingern durch die Straßen von Hanoi geführt wurden und niedergeschlagen die Beschimpfungen der Menge ertrugen. Zuerst dachten Nixons Adjutanten daran, das gleiche mit nordvietnamesischen Soldaten zu tun, aber die Transportkosten und die Tatsache, daß eine solche Aktion im Widerspruch zur Genfer Konvention steht – folglich auf internationaler Ebene ein potentielles PR-Desaster darstellt –, bewog die Männer zu der Überlegung, die feindlichen Ausländer durch heimische Dissidenten zu ersetzen. Und so ist es dann gekommen. Behauptet das Gerücht.
Telex-Lochstreifen – oder ein überzeugendes Faksimile – treiben träumerisch durch die Stadtschlucht. Ein Stück landet auf Cals Schulter.
Hinter den Indianern wogt ein Bataillon von Männern mit gelben Schutzhelmen die Avenue herauf; sie lachen und formen das Siegeszeichen, das zweifingrige V, beliebt bei King Richard und in letzter Zeit von den Dissidenten wiederbeansprucht, die es früher als Friedenszeichen benutzt haben; Cal staunt immer noch, wenn er sieht, daß es zur Unterstützung des Krieges zur Schau getragen wird.
Die lärmenden Schutzhelmträger sind nicht – wie Cal mit einiger Verspätung sieht – ein formaler Bestandteil der Parade, sondern ein Schwarm patriotischer Enthusiasten, die jetzt zu beiden Seiten der Colfax Avenue ausschwärmen und jedem ein amerikanisches Fähnchen überreichen, der nicht schon eines schwenkt oder sonstwie an sich trägt.
»Hier, Mack«, sagt ein riesiger Helm zu Cal. »Flagge zeigen.«
»Schon okay. Ich habe zwei Stück in der Tasche.«
»Scheiße, was machen sie denn in deiner Tasche?«
»Na, wenigstens hab’ ich sie mir nicht an den Hosenboden genäht.« Cal hofft, die Bemerkung möge klingen wie brüderliches Geflachse.
»Yeah. Gut für dich. Sonst hätten wir dir die Hose runterreißen und dich dahin treten müssen, wo du sonst sitzt.« Ein herzhaftes Lachen. Und weiteres Gelächter von zwei anderen stiernackigen, muskelbepackten Männern – der eine in weißem T-Shirt, der andere in einem Arbeitshemd mit offenem Kragen –, die sich vor Cal zu ihrem Freund auf dem Gehweg gesellen.
»Erst hab ich gedacht, ihr marschiert hier«, sagte Cal. Er fürchtet, sie werden den Zopf entdecken, den er sich unter den Hut gestopft hat.
»Tun wir auch«, sagt der Mann im T-Shirt und deutet auf seinen Lunchbeutel. »Wir marschieren für Gott und Vaterland.«
Sie haben mich umzingelt, denkt Cal. Und sieh doch: Da sind noch mehr von der Sorte auf der anderen Straßenseite. Sie stehen in Zweier- und Dreiergruppen um andere Zuschauer herum. Mit ihren gelben Bauarbeiterhelmen fallen sie auf.
»Gibt es heute einen Wagen mit Dissidenten?« erkundigt er sich – nicht nur, um Konversation zu treiben, sondern um eine Antwort auf die Frage zu erhalten, die ihn schon den ganzen Morgen plagt.
»Yeah. Der kommt noch. Und das hier ist wahrscheinlich das beste Stück auf der Colfax, um ihn zu erwischen.«
»Erwischen?«
Der Bauhelm mit den Fähnchen schaut Cal prüfend ins Gesicht. »Ihn zu sehen, meine ich. Ist schön breit hier. Was dachtest du denn, was ich meinte?«
Cal murmelt eine unverständliche Antwort, und der Mann wendet sich zur Seite.
Unter lautem Applaus schreitet ein Kontingent Marinesoldaten mit grünen Baretts vorbei. Zwei Kampfflugzeuge donnern am Himmel vorüber. Und dann beginnt eine Straße weiter ein feindseliges Rumoren, das anschwillt, ein vielstimmiges Johlen, das die Gehwege überzieht und hin und her über die Colfax Avenue gellt, immer lauter und häßlicher, je näher es kommt.
Hinter den Geschütztürmen zweier hochmoderner Panzer sieht Cal die rote Fahrerkabine einer Zugmaschine und den offenen Tieflader, auf dem die Dissidenten fahren müssen, die dieser Siegeskundgebung als Gegenstandslektion zu dienen haben. Der Sattelschlepper hat durchsichtige Plastikflanken, aber kein Dach, und als er sich dem Teil der Avenue nähert, auf dem Cal mit den Helmträgern steht, laufen mehrere von deren Freunden auf die Straße hinaus und bewerfen die Plastikwände des Anhängers mit Steinen und Eiern und faulem Gemüse.
Die Steine prallen – bedrohlich – ab, aber Eier und Gemüse und Früchte zerplatzen und bleiben kleben und verwandeln die klaren Schutzscheiben in scheußliche, abstrakt-expressionistische Wandgemälde. Und hinter den Gemälden sind die Dissidenten selbst in ihrer weiten Gefängniskleidung, vielleicht dreißig alles in allem; manche zucken vor dem Aufprall der Wurfgeschosse zurück, andere kauern sich auf der Ladefläche des Anhängers zusammen und tun vergeblich so, als wären sie woanders.
»Gott«, platzt Cal heraus.
»Hier«, sagt der zweite Bauhelm und nimmt einen dicken Stein aus seiner Papiertüte. »Schmeiß diesen Burschen im Bogen über die Scheibe.«
»Yeah«, sagt der dritte und nimmt sich auch einen Stein. »Da hast du ’ne ordentliche Chance, einem ein Loch in den Kopf zu pfeffern.«
Cal läßt den Stein fallen und läuft auf die Straße. Der Tieflader zieht mahlend vorüber. Verzweifelt läuft er an ihm entlang und späht durch verschmiertes Eigelb und zermantschte Tomaten zu den Gefangenen hinein, die diese qualvolle Prüfung über sich ergehen lassen.
Verfassungswidrig, denkt er. Verfassungswidrig! Bei Gott, das ist doch verfassungswidrig, verdammt!
Aber es geschieht, und während er neben dem Lastwagen hertrabt, trifft ihn ein fauler Kürbis an der Schulter. Ein Ei streift seinen Stetson und stößt ihn vom Kopf, so daß sein Indianerzopf herunterfällt. Inzwischen tun fast alle Bauhelme und viele der übrigen Zuschauer, was der Kerl in dem T-Shirt vorgeschlagen hat: Sie werfen faustgroße Steine hoch und über die Schilde und sehen dann zu, wie sie auf die Gefangenen herniedersausen wie V-2-Raketen im Blitzkrieg auf London.
Tatsächlich ist das hier ein Blitzkrieg im Mikrokosmos, und das Gejohle der Bauhelme hallt zwischen den Gebäuden von Denver wie rauhe Schrapnellexplosionen. Cal hört auch das Geräusch von Steinen, die von Metall, von Plastik und von zerbrechlichen menschlichen Knochen abprallen.
Cals Vater sieht ihn zuerst – er hängt an einem Gurt dicht hinter der Zugmaschine, und er hebt die Hand und klopft sich an den Hinterkopf, um pantomimisch zu übermitteln, daß Cal seinen Hut verloren hat, und daß man den Indianerzopf sehen kann. Seine Mutter – sie blutet schon an der Schläfe – erscheint unter Royces Arm. Sie erblickt ihren Sohn und warnt ihn, näherzukommen; sie schüttelt den Kopf und macht abwehrende Bewegungen mit beiden Händen. Cal trabt weiter neben dem Tieflader her und brüllt: »Mom, Dad! Mom, Dad!« Verzweifelt wehrt er die verschimmelten Orangen und die Asphaltbrocken ab, die auf den Wagen oder auf ihn geworfen werden.
Schließlich aber stolpert und fällt Cal über irgendwelchen Müll, der auf der Straße liegt, und als er wieder auf die Beine gekommen ist und den Tieflader eingeholt hat, ist das Bombardement der Zuschauer – angeführt von den schadenfrohen Helmträgern – zu einem mörderischen Regen geworden, und Royce und Dora Jane Pickford haben sich auf die Ladefläche des Lasters geworfen, um die Leiber anderer zu decken, die jünger sind als sie.
Es ist schwer, durch die verschmierten Gemälde auf den Seitenscheiben zu sehen, aber anderthalb Straßen weiter erkennt Cal, daß der hingestreckte Körper seines Dad auf jedes neuerliche Wurfgeschoß nicht mehr wie ein Mann reagiert, der Schmerz empfindet, sondern wie eine Puppe, die bei einer Berührung oder einem Schubs krampfartig zuckt. Was seine Mutter angeht, so kann er sie in dem Berg von Leibern, die da auf der Ladefläche hilflos hin und her rutschen, gar nicht mehr entdecken.
»Mom, Dad! Mom, Dad!«
Jemand schlägt ihm mit einem Brett – vielleicht auch mit einem Kanupaddel – quer über den Rücken, und er fliegt bäuchlings auf den Juli-Asphalt, rollt herum und richtet sich auf, um nicht an Ort und Stelle festgenagelt zu werden. Gleichwohl kann ein Mann mit Schutzhelm – ein bulliger Kerl, etwa so alt wie Cal – sich für einen Augenblick rittlings auf ihn setzen, derweil er sein Taschenmesser hervorwühlt, um den Zopf abzuschneiden, der Cal als Abweichler ausgewiesen hat.
Erst nachdem Cal dem Bauhelm in panischer Flucht entkommen ist, begreift er, was für einen Gefallen der Kerl ihm – in Anbetracht der Stimmung, die in der Stadt herrscht – getan hat. Ohne den Zopf sieht er durchaus respektabel aus, und er kann gehen, wohin er will – ein Cowboy in der Stadt.
Aber in der Stadt gibt es nichts, wohin er gehen kann. Trockenen Auges, aber gelegentlich das Gesicht mit seinem Taschentuch betupfend, sucht Cal seinen Laster. Dann fährt er auf der I-25 Richtung Waisenberg und Gardner zurück. Unterwegs spürt er, wie der Schmerz aus den Schrammen und Beulen, die man ihm in der Stadt beigebracht hat, herauf sickert; er spürt auch den Beginn des langwährenden Schmerzes, den der gewaltsame Tod seiner Eltern ihm abzwingen wird. Wahrscheinlich für den Rest seines Lebens.
Cal öffnete die Augen und stellte fest, daß die Vision von Miss Emily, Dora Jane und schließlich Royce flüchtige Phantome gewesen waren. Er war allein in der Sattelkammer, kauerte auf allen vieren in der Duschkabine. Seine Augen waren polierte Porzellantassen, leer und trocken. Sein Mund war mit Flanell ausgekleidet.
Endlich, dachte er. Endlich hast du’s rausgelassen. Lias Mama hat’s mit ihrem Tod für dich gebracht, Cowboy. Jetzt brauchst du nur noch zu weinen.
Weine.
Du hast um Philip K. Dick geweint, oder? Um einen Mann, den du nicht mal kanntest. Um einen Typen, den du nur durch seine wunderlichen, aber wunderbaren Bücher kanntest. Und wenn um ihn, warum dann nicht um deine liebenden Eltern? Warum nicht um sie, Calvin?
Mühsam rappelte Cal sich auf und hob den Zigarettenstummel auf, der auf dem Kachelboden lag. Er riß ihn auf, ließ das unverbrannte Gras in seine Jackentasche rieseln, und lutschte an den Brandblasen an seiner Hand. Es ging nicht an, daß er mit seiner traurigen kleinen Party irgendwelche Spuren in Bruder Jeffs Pferdestall hinterließ. Bruder Jeff würde ihn wahrscheinlich beim Georgia Bureau of Investigation anzeigen.
Beim Dschie Bie Ei.
Weine, forderte er sich auf. Weine, Cal, weine! Zum erstenmal, seit du gesehen hast, wie sie starben, hast du die Erfahrung des Verlustes deiner Eltern abreagiert. Es tut weh, verdammt. Es tut höllisch weh. Aber du hast es getan, und das ist gut.
Damit bist du natürlich noch nicht fertig. Noch nicht. Das hier war eine einsame Abreaktion, ohne Anleitung, ohne Therapeuten, aber zumindest hast du den ersten Schritt unternommen, zu dem Lia dich schon so lange gedrängt hat. Du hast lange Verdrängtes heraufbeschworen. Du bist vom Zustand der Amnesie zum Zustand der Anamnese übergegangen. Was Kai als Amnesieverlust bezeichnet hat.
Cal betrachtete seine Situation. Er war verwirrt. Abreaktion war einer von Lias psychologischen Fachausdrücken. Er bedeutete die Erinnerung an unterdrücktes emotionales Material und seine kathartische Entladung. Normalerweise erreichte man die Erinnerung und die Entladung mit Hilfe eines ausgebildeten Therapeuten. Wenn man zur Anamnese – Kais Wort – gelangte, war man erst auf halbem Weg. Cal war eben dort hingekommen, aber weiter konnte er allein nicht gehen. Im Moment jedenfalls noch nicht. Wenn er sich des Schmerzes der Erinnerung entledigen wollte – der Übergang von simpler Anamnese zu heilkräftiger Abreaktion –, würde er Hilfe brauchen. Ohne Hilfe, das war ihm klar, würde er niemals um seine Eltern weinen können.
»Weine, verdammt! Weine!«
Nichts geschah.
Frustriert schlug Cal gegen die Kacheln der Duschkabine. Dann packte er den Duschkopf und drehte ihn so, daß er wie eine Pistolenmündung auf ihn herabzielte. Mit den Handballen fummelte er an den Heiß- und Kaltwasserhähnen herum, drehte sie schließlich und ließ eine Flut herunterprasseln, so prickelnd und eisähnlich, daß er aufschrie.
Aber er blieb unter dem Sprühstrahl, und bald klebte ihm das Haar am Schädel, die Nase tropfte wie ein Spund, sein bester Anzug war vom Revers bis zu den Säumen durchtränkt, und sein Exemplar von ›The Broken Bubble of Thisbe Holt‹ fing an aufzuquellen wie etwas Totes. Seine Socken quietschten in den Halbschuhen, und ringsherum fielen die Tränen – die kalten, unerbittlichen, erlösenden Tränen –, die er so gern selbst geweint hätte.