Coda
Thi Boi Loan, Aufseher der Nachtschicht in der Revolutionären NanoTech zu Hanoi, Vereinigte Republik Vietnam, blieb vor dem Haupteingang des Industriekomplexes stehen, um den Mond zu betrachten, der durch Schwärme von stroboskopisch blitzenden Rubinen, Smaragden, Saphiren und Amethysten kreiste – als sei er im Begriff, zu explodieren und Splitter von Chorschale und verborgenem Mondgestein über den Himmel regnen zu lassen. Die Windschutzscheiben der in der Nähe parkenden Autos und die Glasfassaden der Regierungshochhäuser reflektierten diese Show auf eine Weise, die Loan angenehm schwindelerregend empfand. Er blinzelte und betrat das Montagewerk.
»Sie kommen zu spät«, sagte Ngo Pham Lan, sein Assistent. »Unsere Gäste sind schon seit fünfzehn Minuten hier.«
Er sah auf die Uhr. »Dann sind sie vierzehn Minuten zu früh gekommen, Lan. Meine Säumigkeit ist nicht der Rede wert.«
Loan fand die Amerikaner in seinem Büro, wo sie friedfertig warteten. Er kannte den Mann, Harom Bertholt, als Präsident Jordans Berater für nationale Sicherheit; die Frau war Bertholts Frau, Grace Rennet, eine ehemalige Filmschauspielerin, die früher einmal aktiv die unrechtmäßige Einmischung ihres Landes in den Konflikt zwischen vietnamesischen Nationalisten und den Marionetten des westlichen Kolonialismus verfochten hatte. Anscheinend hatte ihre Ehe mit Bertholt zusammen mit gewissen anderen historischen Ereignissen sowohl ihre Xenophobie als auch ihren fanatischen Antikommunismus gemäßigt. Gut so. Eine solche Person wäre verloren in einer Welt unter der gemeinsamen Regierung jedes legitimen Staatswesens und dem wohlwollenden Auge des Chores von Mira Ceti.
Das Ehepaar war in Begleitung zweier kräftiger Geheimdienstmänner. Sie trugen – taktloserweise, wie Loan fand – die grünen Mützen, die das Kennzeichen ihrer barbarischen Spezialeinheit in dem unglückseligen US-Engagement im vergangenen Krieg gewesen war. In einem Krieg, der vor zehn Jahren zu Ende gegangen war.
Ebenfalls anwesend war der neunjährige Sohn der Bertholts, ›Master Bryerly‹. Loan, selbst Vater, schaute den Jungen zweimal an: Er sah bleich und geprügelt aus, eher wie eine mißhandelte Straßenwaise aus einem Dickens-Roman als wie ein spaßliebender Mississippi-Bengel aus einem Buch von Mark Twain. Master Bryerly preßte eine Leinentasche an die Brust, die ihm anscheinend mindestens so wertvoll wie das eigene Leben war.
»Willkommen, Mr. Sicherheitsberater«, sagte Loan auf englisch und verbeugte sich höflich. »Willkommen, Miss Rennet.« Er wußte, daß so gut wie jede Begrüßung bei dem Jungen verschwendet war.
»Mein Titel ist ein Anachronismus«, sagte Bertholt. »Heutzutage täten Sie besser daran, mich als Berater in Fragen des technischen Fortschritts, nicht in Fragen staatlicher Sicherheit, zu bezeichnen. Leider sind alte Terminologien zählebig.«
Loan wies seine Gäste in die Richtung der weitläufigen Werkshalle. Aber gleich erhob sich ein Problem. Master Bryerly bettelte darum, in Loans Büro bleiben zu dürfen; er wolle lesen. Um dieser antisozialen Grille entgegenzukommen, würde einer der beiden Geheimdienstmänner bei ihm bleiben müssen. Was für eine Schande, dachte Loan. Der Junge würde bei diesem Rundgang so viel mehr lernen als in dem trivialen Lesestoff, den er sich da aus den Vereinigten Staaten mitgebracht hatte, was immer es sein mochte.
Nur einen Augenblick später führte Loan Mr. und Mrs. Bertholt und ihren Leibwächter an den von Fenstern durchbrochenen Edelstahlbottichen vorbei, in denen programmierte Molekular-Assembler-Maschinen, die für das unbewaffnete Auge unsichtbar waren – in einem raffinierten Gemisch aus proteinreichen Flüssigkeiten leichtgewichtige Traktor-, Auto-, Jet- und sogar Raketen-Triebwerke ›wachsen‹ ließen. Rohrleitungslabyrinthe speisten die benötigten Stoffe in diese Bottiche, während wassergekühlte Wärmeaustauscher verhinderten, daß sie zu unberührbaren Glutöfen wurden. Loan besprach sich mit den Technikern, die die Bottiche zu ›speisen‹ hatten, und stellte seine Gäste dann einem der Molekularprogrammierer vor, die die Tagesordnung für die nanotechnologischen Wunder dieser Nacht vorbereitet hatten.
Miss Rennet, das merkte Loan, war fasziniert von den geschmeidigen Gebilden, die hinter den Fenstern in den Bottichen Gestalt annahmen. Sie beobachtete den Formungsvorgang ebenso aufmerksam, wie irgendein Kinofan mit großen Augen zusehen würde, wenn sein Lieblingsstar aus Hollywood auf der Filmleinwand erschien. Und trotz der Tatsache, daß der Chor von Mira Ceti seinem Land diese Technologie als Gratisgeschenk überlassen hatte, verspürte Thi Boi Loan ein tiefes Gefühl von Stolz und Leistung.
»Ich verstehe die Mechanik dieser Sache nicht«, sagte die Frau.
Cao Thu, der Nanoprogrammierer, begann in seiner Muttersprache, auf vietnamesisch, zu erklären, und Loan übersetzte.
»Im Zentrum der Bodenplatte jedes Bottichs sitzt ein unsichtbarer ›Keim‹. Tatsächlich handelt es sich um einen molekülgroßen Computer, der die Konstruktionspläne für den Gegenstand enthält, den die Nanokonstruktoren im jeweiligen Bottich schließlich bauen werden. Diese Molekularkonstruktoren – die Assembler, verstehen Sie? – sitzen an dem ›Keim‹, und der ›Keim‹ übermittelt ihren eingebauten Computern die Informationen, die sie benötigen, um den Gegenstand zu ›generieren‹. Jeder einzelne Assembler in der mit Chemikalien angereicherten Flüssigkeit ›weiß‹, wo er sich in Relation zu allen anderen befindet. Nach einer Weile entsteht aus diesem fließenden Chaos eine Art ›Assembler-Kristall‹, der die weitere Gestaltung der Schablone steuert – ob es sich nun um ein Raketentriebwerk oder ein Heli-Chassis oder einen Solarofen handelt. Nachher – um meine Erklärungen abzukürzen – lassen wir die milchige Flüssigkeit ab, und zurück bleibt die Schablone, die durch das Sichtfenster aussieht, als sei sie aus klarem weißen Plastik. Die Nanokonstruktoren, die sich noch in dem Bottich befinden, werden wiederum mit einer Flüssigkeit gespeist und beginnen mit dem Bau des Gegenstandes, der durch das im Bottich schwebende Modell dargestellt wird. Schließlich – wiederum, um es kurz zu machen – wird der Bottich ein zweites Mal geleert, und das Produkt selbst – nicht die Schablone – wird herausgehoben. Es trocknet und kann sehr bald benutzt werden.«
»Unglaublich«, sagte Harmon Bertholt. Er griff nach Cao Thus Hand und schüttelte sie. Cao Thus machte die Begeisterung des Amerikaners verlegen; er senkte das Kinn auf die Brust. Eine Demutshaltung, die Loan – einigermaßen überraschend – an den Sohn der Bertholts erinnerte.
Loan warf einen Blick zu seinem Büro. Durch das breite Fenster sah er Master Bryerly an seinem Schreibtisch sitzen und über einem Buch oder einer Zeitschrift brüten. Seine Eltern, dachte Loan, hätten ihn zwingen sollen, den Rundgang mitzumachen. Aber wie zu viele dieser nachsichtigen Amerikaner macht es ihnen mehr Kopfzerbrechen, wie sie ihr Kind besänftigen, als wie sie es anleiten können. Nicht einmal der Chor hat daran etwas ändern können …
Verärgert führte Loan die Bertholts und ihren Bewacher weg von den Assembler-Bottichen, um ihnen ein paar der fertigen Maschinen zu zeigen, die im Trockenraum über dem Fußboden schwebten. Er wies darauf hin, daß sie nahtlos, elastisch, robust und so leicht seien, daß Miss Rennet einen nanokonstruierten Traktormotor ganz allein tragen könne. Er ließ sie hinlangen und an einen der Motoren klopfen, ein opalisierendes Objekt, das eher wie ein großer Edelstein denn wie ein Maschinenteil aussah. Der Motor schwang in seinem Traggeschirr hin und her und tönte wie ein kristallener Kelch. Loan erklärte, daß er aus Aluminiumoxid und eingewobenen Kohlenstoffasern bestehe, komplett vom Nanocomputer entworfen, um die Masse zu reduzieren und die Leistungsfähigkeit zu steigern.
»Warum haben sie Ihnen diese Technologie gegeben?« platzte Miss Rennet heraus.
Loan zuckte vor dieser Frage zurück, als habe sie ihn geohrfeigt, und Bertholt sagte: »Um Gottes willen, Grace, fang nicht damit an.«
»Es tut mir leid«, sagte sie, aber sie war nicht ehrlich zerknirscht. »Ich begreife nur die Erwägungen nicht, die den Chor zu seinen Schenkungen bewogen haben. Warum dieses Volk? Warum nicht die Australier oder die Filipinos oder sonst ein Volk mit ein wenig Respekt vor Freiheit und Menschenwürde?«
»Verdammt, Grace!«
Loan kam wieder auf die Frau zu. »Jedes Land hat andere Dinge vom Chor bekommen, Miss Rennet. Weil es bei uns eine echte industrielle Entwicklung nicht gab, hat Vietnam das Wissen zur Einrichtung der Revolutionären NanoTech bekommen. Die USA haben andere Wohltaten empfangen – schnellere, sauberere und weniger kostspieligere Transportmittel zum Beispiel. Und wir alle haben die Verheißung eines brandneuen geistigen Wissens erhalten.« Nicht, daß es einem taktlosen Weib wie dir etwas nützen würde, dachte er.
Laut fügte er hinzu: »Und natürlich müssen wir die Gaben, die uns gewährt wurden, wenn wir sie vervollkommnet haben, allen anderen Völkern auf unserem Planeten weiterreichen. Ein Geschenk des Chores an ein Land ist letzten Endes ein Geschenk für alle Länder.«
»Darum sind wir gekommen«, sagte Bertholt zu Miss Rennet. »Um unseren Anteil an der Technologie zu beanspruchen, die Mister Loan und seine Landsleute hier in Hanoi entwickelt haben.«
Diese Erläuterungen brachten die ehemalige Schauspielerin zum Schweigen, aber den Rest des Besichtigungsgangs erledigte sie in einer sauren Stimmung, die spürbar bedrückend war. Loan hatte Mühe, weiter höflich zu ihr zu sein. Aber in seinem Büro entlud sich die Abneigung, die sie gegen ihn und gegen alle anderen Vietnamesen hegte, über ihrem Sohn: »Bryerly, pack deinen Mist ein und komm! Wir fahren zurück ins Hotel!«
Loan brachte noch einen letzten, subtilen Seitenhieb unter: »Fröhliche Ostern, Miss Rennet und Master Bryerly.« Die versteckte Implikation – die sie wahrscheinlich noch nicht einmal bemerkt hatten – war die, daß bekennende Christen sich liebevoller benehmen sollten, als Miss Rennet es getan hatte. Morgen war der vorgebliche Jahrestag der Auferstehung ihres Erlösers, aber sie benahm sich nicht, als sei ihr Glaube an dieses fragwürdige historische Ereignis besonders tief. Möglicherweise glaubte sie gar nicht daran; infolgedessen hatte sein Seitenhieb sie gar nicht getroffen.
Sie zerrte den erschrockenen Bryerly von Loans Schreibtisch weg, während der Junge sich noch bemühte, irgendwelche Hefte in seine Tasche zu stopfen. Begleitet von Ngo Pham Lan und dem größeren Geheimdienstmann segelten Mutter und Sohn zum Werkstor hinaus und nahmen Kurs auf das Ho Chi Minh-Hilton.
Berthold entschuldigte sich für das Benehmen seiner Frau (»Sie leidet schrecklich unter dem Jet-Lag «), dankte Loan überschwenglich für den Rundgang (»Hat mir wirklich die Augen geöffnet«) und setzte sich hin, um das ausgedruckte Makrofaksimile eines Nanocomputerprogramms für die Bottichherstellung eines Kommunikationssatelliten aus dem Protein in Reiskleie und Wasserbüffeldung zu lesen (»Diese Art von schadstofffreier Produktion könnte sehr wohl die Rettung für unseren Planeten bedeuten«). Der Überschwang des ›Sicherheitsberaters‹ hatte eine belebende Wirkung auf Loan, und der Besuch der Amerikaner war ihm sehr viel angenehmer, als Bertholt sich schließlich verabschiedete.
Wieder allein, setzte Thi Boi Loan sich an seinen Schreibtisch, um festzustellen, welche Bottiche vor dem Morgengrauen ihr Produkt fertiggestellt haben würden. Sein Fuß glitt über etwas Fremdes. Er bückte sich, hob den Gegenstand auf und stellte fest, daß es ein Comic-Heft war.
Dekadente kapitalistische Phantasien für Kinder. Ein Superheld in einem komischen Anzug. Reihenweise aktionsstrotzende Bildchen von amerikanischer Straßenkriminalität und deren Bekämpfung durch gewalttätige Brutalität.
Der Chor ist jetzt seit acht Jahren hier, dachte Loan. Morgen wollen sie die Namen der sieben menschlichen Familien bekanntgeben, die auf ihre Heimatwelt reisen und Gott begegnen sollen. Warum also erlauben sie noch, daß dieser ekelhafte Schwachsinn – und hier schlug er mit der Handkante auf das Heft – den Geist von leicht beeinflußbaren Amerikanerkindern wie Master Bryerly vergiftet?
Da er keine Antwort auf diese Frage wußte, warf Loan das Comic-Heft in den Papierkorb neben seinem Schreibtisch.
Fünfundzwanzig Minuten später, nachdem er sich vergewissert hatte, daß niemand ihn sah, nahm er Master Bryerlys Comic wieder aus dem Papierkorb, öffnete die Schreibtischschublade, legte das Heft hinein und blätterte schuldbewußt darin.
Zwar hatte er 1974 (zwei Jahre nach der Niederlage der Kolonialmarionetten des Südens) in Ho Chi Minh City Englisch gelernt, aber das Vokabular in diesem Comic war ihm großenteils unbekannt. Er würde es mit nach Hause nehmen und dort studieren müssen.
Mein Interesse, sagte er sich, ist rein akademisch. Welchen Reiz hat solcher Schund für die Kinder im Westen? Reicht pure Habgier hin, um erwachsene Männer und Frauen zu veranlassen, sich an der Herstellung solcher Machtphantasien zu beteiligen? Und was wird der Chor tun, um unsere Spezies von derartigen beklagenswerten Unternehmungen und Interessen fortzulenken?
Und während er über diese Fragen nachsann, vertiefte Loan sich mehr und mehr in die Abenteuer des Helden im roten Anzug, der sich spurtend und mit Karate-Kicks seinen Weg durch die Seiten von Bryerly Bertholts Comic-Heft bahnte …
Leah hörte die Zwillinge kommen, bevor Dolf die Augen geöffnet hatte. Es war kaum hell, aber sie sah die Dunstwölkchen, die in dem kalten Zimmer aus ihren Nasenlöchern stiegen.
Normalerweise markierte der letzte Sonntag im April – dieses Jahr fiel er auf den siebenundzwanzigsten – für die Menschen in Waisenburg, Gardner und Snowy Falls den Beginn des frühlingshaften Wetters. Aber dieser Winter war rauh gewesen, und Wochen nach der Frühlings-Tag- und Nachtgleiche rieselte immer noch Schnee von den Sangre-de-Cristo-Bergen herunter auf die Städte, die geduckt zwischen ihnen oder an ihrem Fuße lagen.
»Aufwachen, Mommy! Aufwachen, Daddy!«
»Aufwachen! Aufwachen!«
Eldred kam zuerst zur Schlafzimmertür hereingestürmt, dicht gefolgt von seiner Schwester Karina. Die beiden trugen mit niedlichen Kuscheltieren bedruckte Flanellpyjamas mit angenähten Füßen und verstärkten Sohlen. Dolf sagte immer, daß sie mit fünf, verflucht noch mal, zu alt wären, um in diesem kitschigen Kindergarten-Outfit herumzulaufen, aber die angenähten Füße waren im Winter unbedingt nötig, und Dolfs Daddy, Reece, hatte diese Pyjamas selbst ausgesucht. Die alten Packards hatten schon so viele Kleider für die Zwillinge gekauft, daß Leah manchmal das Gefühl hatte, sie usurpierten ihre mütterlichen Vorrechte. Aber, mein Gott, es war eine echte finanzielle Hilfe, das mußte sie zugeben …
»Aufstehen, aufstehen!« krähte Eldred und zerrte an Leahs autothermischer Decke in der Hoffnung, sie damit der Kälte aussetzen zu können.
»Ja. Wird Zeit, daß wir anfangen, unsere Geschenke auszupacken.« Karina wandte sich Dolf zu, der sich auf den Bauch drehte und ein Kissen über den Kopf zog. »Komm schon, Daddy. Wenn wir die Geschenke aufgemacht haben, wird der Choragus die Lotteriegewinner bekanntgeben.«
»Schon gut, schon gut«, sagte Leah. »Wir kommen ja.«
»Nein, wir kommen nicht«, brummte Dolf.
Aber es war unausweichlich, daß selbst Daddy nachgab, und alle vier – Dolf mit der geringsten Begeisterung – hüllten sich in ihre Bademäntel und gingen die Zedernholztreppe des Giebelhauses hinunter ins Wohnzimmer. Das wandgroße Fenster mit Blick auf den Big Sheep Mountain zeigte einen grieseligen Tag mit Schneetreiben und gespenstischen Tannenbäumen. Eine große Elster hockte auf dem Rückspiegel des zugedeckten Kleinlasters, mit dem Dolf tags zuvor von Earl Rudds Ranch nach Hause gekommen war, und die Einschienenbahn, die die Städte im östlichen Colorado mit der Hochebene bei der Great Divide verband, huschte in dem blendenden Weiß vorüber wie ein funkelnder Laserstrahl. Leah fröstelte.
»Schaut«, sagte Dolf zu den Kindern. »Eure ersten weißen Ostern.«
Der Baum der Packards – eine hohe Fichte, geschmückt mit Polymer-Lilien und polierten Austernschalen – stand am anderen Ende des Wohnzimmers, dem Auferstehungskreuz gegenüber, das Dolf vor sechs Jahren für Leah gekauft hatte. Päckchen lagen unter Kreuz und Baum. Das Kreuz überragte die Geschenke, die eine Dienstgemeinde in Denver später den Gefangenen in Canyon City aushändigen würde; im Schatten des Baumes lagen die Pakete, die die Packards nachher selbst auspacken würden.
Vorausgesetzt, dachte Leah, ich kann die Kinder dazu bringen, daß sie lange genug aushalten, um Gott für diesen köstlichen Morgen zu danken. Und um Dolf in der Küche den Kaffee aufsetzen zu lassen.
Die Kinder dazu zu bringen, daß sie vor dem Kreuz niederknieten, war nicht schwierig, aber sie mehr als eine Minute dort zu halten, war unmöglich, und Dolf war dabei überhaupt keine Hilfe. Kaum hatte er in der Küche den Yubik eingeschaltet, hatte er die Fernbedienung in der Hand und klickte den billardtischgroßen Tri-D-Schirm ein, den Earl Rudd ihm als Bonus spendiert hatte, weil er den Auftrieb im letzten Jahr in einer Rekordzeit von drei Tagen feldmarschallmäßig durchgeführt hatte. Dieser Schirm beanspruchte den größten Teil der Ziegelwand unter den Schlafzimmern im ersten Stock, und kaum hatte er begonnen, Bilder hervorzubringen, hatten Eldred und Karina sich von den Knien erhoben und überlegten ratlos, wohin sie sich nun wenden sollten. Zum Tri-D oder zum Baum?
»Es ist Ostern, Dolf. Kannst du deine Elektronikfixierung nicht ein einziges Mal überwinden?«
Dolf, der immer noch über die Schulter ein Auge auf die Today Show warf, kam unter dem Schlafzimmmerüberhang hervor.
»Die Präsidentin spricht gleich, Leah. Außerdem habe ich das Gefühl, ich müßte mich … verflucht, ich weiß nicht – reorientieren.«
»Reorientieren? Was meinst du damit?« Am Ostermorgen ging er ihr immer auf die Nerven. Er hatte keine Geduld mit den aufgeregten Kindern, und wenn es nicht noch immer schneite, und wenn der Feiertag ihr und den Zwillingen so viel bedeutet hätte, wäre er wahrscheinlich schon wieder zu Earl hinaufgefahren, um bei den Frühjahrskälbern den Babysitter zu spielen.
Dolf zog sie an sich und küßte sie. Eldred und Karina setzten sich wie kleine Buddhas unter den Baum. Aber, weiß Gott, dachte Lia, sie sind zu verdammt zappelig, um die Buddhaschaft überzeugend nachzuahmen.
Der Ansager der Today Show wich einer Großaufnahme von Präsidentin Jordan. Die Zwillinge schossen hinüber zum Bildschirm, und Big Barbara begann, mit ihrem singenden weiblichen Bariton ihre Osterbotschaft zu verlesen. Der Klang ihrer Stimme schien das ganze Erdgeschoß zu wärmen.
»O meine amerikanischen Landsleute«, sagte sie, »was für ein glückverheißender Morgen dies ist. Ihnen, die Sie Christen sind, wünschen wir hier im Weißen Haus den freudenbringenden Segen der Auferstehung unseres Erlösers. Und wenn Sie einem anderen religiösen oder metaphysischen Glauben anhängen, ist der Tag immer noch ein glückverheißender.
Heute nachmittag um ein Uhr östliche Standardzeit, in nur vier Stunden von jetzt an, wird der Choragus des seraphischen Chors, der sich vor beinahe acht Jahren auf unserem Mond niedergelassen hat, die Namen der sieben Erdenfamilien verkünden, die auserkoren sind, den Herkunftsplaneten im Binärsystem von Mira Ceti zu besuchen. An diesem wundervollen Aussichtspunkt werden die glücklichen Menschen Zeugen des wunderschönen Aufruhrs sein, mit dem Mira Ceti A die letzten Stadien seiner stellaren Entwicklung durchläuft – nur wenige Tage, bevor dieser Stern, dessen Durchmesser mehr als vierhundertmal so groß ist wie der unserer Sonne, als Supernova verlodert.
Der Choragus versichert mir und allen anderen Führern der Erde, daß unsere menschlichen Vertreter vor der Bombardierung mit kosmischen Strahlen umfassend geschützt sein werden. Überdies werden sie nur sechs Monate nach ihrer Abreise wieder auf der Erde sein. Vergessen Sie die relativistischen Effekte, die Sie erst heimbringen würden, wenn wir alle, die wir Ihnen Lebewohl sagen, schon seit Jahrhunderten tot sind. Wie der Chor dies zu bewerkstelligen gedenkt, können wir nicht restlos begreifen – aber wie es scheint, werden unsere Reisenden durch denselben paradimensionalen Tunnel zum achten Planeten von Mira Ceti B gelangen, den auch der Chor benutzt hat, als er 1976 bei unserem Mond erschien.
Warum hat der Choragus den Ostersonntag erwählt, um die Gewinner der Lotterie bekanntzugeben? Nun, die da auserkoren sind, Mira Ceti B VIII zu besuchen, werden, wie der Chor uns wiederholt erklärt hat, nicht nur den Todeskampf der größeren der beiden Sonnen in ihrem Binärsystsem miterleben, sondern überdies das greifbare Erscheinen des Göttlichen. Um genau zu sein: Die Manifestation des HEILIGEN, der den gesamten physikalischen Kosmos gefügt hat und der ihn selbst im Angesicht kataklysmischer galaktischer Gewalt aufrechterhält. Diese Gunst wird den intelligenten Bewohnern solcher Sonnensysteme gewährt, die zum Untergang in einer Supernova verurteilt sind, aber der Chor wünscht, sie mit der Menschheit zu teilen. Warum? Weil wir ihnen gestattet haben, auf unserem Mond Wohnung zu nehmen, und weil wir ihre fortschrittlichen Technologien und ihre weisen Erwägungen zu unseren zahlreichen politischen, ökonomischen und religiösen Konflikten so bereitwillig angenommen haben.«
»Als ob wir da ’ne Wahl gehabt hätten«, sagt Cal.
Nach der Osterbotschaft von Präsidentin Jordan rekapituliert der Nachrichtensprecher von Today die Ereignisse des vergangenen Tages und berichtet am Schluß von einem gemeinschaftlichen britisch-argentinischen Satellitenstart und der Einweihung eines palästinensisch-israelischen Fusionsreaktors auf den Golan-Höhen, der bereits Strom nach Israel und Syrien lieferte.
Leah trat an Cals Seite und hakte sich bei ihm unter; sie schaute nur mit halber Aufmerksamkeit auf den Tri-D-Schirm. Sie dachte an den unheimlichen Abend im Jahr ’76, als der Chor – wie die meisten Menschen der englischsprachigen Welt die Aliens nannten – am Himmel über der Erde mit einem »Plopp« zum Vorschein gekommen waren. Sie waren durch ein paradimensionales Territorium gekommen, das ihre Freundin Erica Gipp als ›Id-Raster‹ bezeichnete. Oft kann der Verstand ein Problem besser durch Träume oder Tagträume lösen als durch bewußte Logik. Auf die gleiche Weise können Sternenreisende weite Distanzen besser überwinden, wenn sie die physikalische Ebene des Universums verlassen, statt auf seiner Oberfläche dahinzugleiten. Somit liegt – wenn der Raum wie der Geist bewußte und unbewußte Aspekte aufweist – der kürzeste Abstand zwischen Mira Ceta und der Sonne auf Ericas ›Id-Raster‹.
Aber wie man ihre Ankunft auch erklären mag, der Chor erschien aus dem paradimensionalen Korridor an Bord einer transparenten Kugel, etwa so groß wie der Mond. Diese Kugel, die auf die Erde und ihre Gewässer keinen meßbaren Gravitationseffekt ausübte, näherte sich dem Mond; dann öffnete sich an ihr eine vertikale Naht, und sie verschluckte den Satelliten. Dieser Prozeß – abwechselnd faszinierend und entsetzlich – dauerte genau eine Woche. Seitdem ist der Mond ein chamäleonhafter Fremdling. Manchmal sieht er aus wie eine polierte Radkappe, manchmal wie eine Glaskugel voll tropischer Fische und biolumineszenter Aale, und manchmal wie die Linse eines Riesenprojektors, der surrealistische Filme in kaleidoskopischem Technicolor zeigt.
Es gehen Dinge vor dort oben, seltsame Dinge. Hin und wieder überflutet der Chor die Lüfte der Erde mit geisterhafter Musik, mit Botschaften, die mit der fremdartigen Mondhaut im Takt pulsieren. Ein paar ausgewählte Menschen – der Chor hat sie ausgesucht – sind in der Lage, diesen ›Gesang‹ zu übersetzen: In Empfehlungen zur Entwicklung neuer Technologien oder zur Lösung der diversen Probleme, die noch immer die Bevölkerung der Erde spalten. Und bisher haben fast alle diese Empfehlungen einen unmittelbaren Einfluß zum Guten ausgeübt. Andererseits, denkt Lia, kann man nun den Mond nicht mehr anschauen und die Konturen sehen – Krater, Meere und Seen –, die NASA und Sowjets in den Hochzeiten des ost-westlichen ›Weltraumrennens‹ höchst ernsthaft kartographiert haben.
»Ich hab’s jetzt satt, hier auf’m Hintern zu sitzen und auf euch zwei zu warten«, teilte Eldred seinen Eltern mit.
»Ich auch«, sekundierte Karina.
O nein, dachte Leah. Daddy wird euch den Hintern, auf dem zu sitzen ihr satt habt, versohlen. Und unser ganzer verfluchter Vormittag ist beim Teufel.
Aber Dolf lachte nur. »Darauf wette ich, Paatnah«, sagte er. »Und mit dir auch, Missy K.« Er schaltete das Tri-D mit der Fernbedienung ab und führte alle hinüber zum Baum.
Die Packards setzten sich vor das frostige Rechteck des Panoramafensters und begannen ihre Päckchen zu öffnen.
Die beiden ersten waren für die Kinder – große Schachteln, und Dolf sagte, sie sollten sie gemeinsam öffnen.
Päckchen eins enthielt ein Paar fußhohe Plastikpferde mit Spielzeugsätteln, Zaumzeug und Reitern.
Päckchen zwei, das nicht ausgewickelt werden mußte – es genügte, den Deckel vom Karton zu nehmen – barg zwei weitere kleine Geschöpfe. Aber diese beiden waren lebendig: Ein Paar Meerschweinchen, mit einem Pelz so weiß wie Schnee. In den Tierhandlungen nannte man sie ›Schneebabies‹ statt Meerschweinchen, und so sahen sie auch aus: Wie Schneebabies. Die Kinder würden ein bißchen älter sein müssen, um sie richtig zu versorgen, meinte Leah; aber Dolf hatte darauf bestanden, sie trotzdem zu kaufen.
Für Leah war die kleinste Schachtel von allen. Eine goldene Brosche lag darin, das Intaglio-Profil eines Fisches. Leah war überrascht und entzückt, denn Dolf gehörte normalerweise nicht zu den Leuten, die Schmuck verschenkten.
Dolf bekam ein Buch. Er hatte erkannt, was in dem Papier war, als sie es unter den Baum gelegt hatte. Natürlich konnte er nicht wissen, welches Buch sie gekauft hatte, und so sah Leah aufmerksam zu, als er das Papier abriß.
»Ah«, sagte er. »Philip Kyle Dick. ›The Three Desiderata of Calvin Deckard‹.« Und er küßte sie.
»Ich wußte, daß du seine Romane magst.«
»Das hier ist kein Roman. Dick nennt es seine ›Exegese‹, ein Buch zur spekulativen Theologie. Das einzige, was daran romanhaft ist, besteht, glaube ich, in der Tatsache, daß er es einem hellseherischen Jünger des Unsterblichen in den Mund legt. Dieser Jünger heißt Calvino Deckard.«
»Des Unsterblichen? Christi?«
»Nicht genau. Dick – ich meine, der fiktionale Calvino Deckard – nennt ihn einen ›Plasmaten‹, eine Form von lebendiger Information, und er schreibt folgendes über ihn:« Dolf blätterte durch das Hardcover. »›Der Oberste Apollo wird bald zurückkehren.‹ Das hat er ’74 geschrieben, und es klingt wie eine Weissagung von der Ankunft des Chors.«
Und weiter hinten dann dies: »›Alle Schöpfung ist Sprache und nichts als Sprache, die wir aus irgendeinem unerklärlichen Grunde außen nicht lesen und innen nicht hören können …‹ Natürlich hat der Chor nun begonnen, uns zu zeigen, wie man diese ›Sprache‹ lesen und hören kann, und wenn unsere Lotteriegewinner nach Mira Ceti reisen, um Gott zu sehen und vom Rande der Manege aus die Ereignisse zu verfolgen, die der Supernova ihres Sterns vorausgehen, dann werden wir über die Schöpfung und über die Sprache, die sie formuliert hat – mehr wissen als irgend jemand, der gelebt hat, bevor der Chor hier aufgetaucht ist. Bloß schade, daß ich es ihnen übelnehme, weil sie unseren Mond gekidnappt haben und sich in eine Suche einmischen, für die wir selber pfiffig genug sein sollten.«
»Vielleicht sind wir doch nicht pfiffig genug.«
»Sie sind Millionen von Jahren älter als die menschliche Spezies. Wenn wir so viel Zeit hätten, würden wir sicher eine Intelligenz – und Fähigkeiten – entwickeln, die mit der ihren vergleichbar wäre. Aber sie geben uns nicht die Chance.«
»Ebenso wahrscheinlich ist, daß wir uns selbst in die Luft jagen würden.«
»Ich finde nicht, daß das ihre Einmischung rechtfertigt.«
Leah legte Dolf eine Hand auf den Arm. »Genug für jetzt, okay? Laß uns den Kindern helfen.«
»Okay«, willigte er ein und legte das Buch aus der Hand. Und sie zeigten den Zwillingen, wie man Zedernholzspäne in eine Box schüttete, wie man Futterkörnchen in Glasdeckel streute, und wie die Gravitationsstrom-Wasserfläschchen der Babies funktionierten.
Bischof Jamie A. Parr von der Diözese Georgia der Protestantischen Episkopalkirche stand allein auf einer Plattform im Mountain Convention Center in Gainesville, Georgia. Er wartete darauf, daß der Choragus durch den zweihundertköpfigen Menschenchor, der auf einer Tribüne unmittelbar zu seiner Linken stand, zu ihm spräche. Eine Tri-D-Kamera in dem seiner Estrade gegenüberliegenden Regieraum, etwa hundert Schritt weit entfernt, war auf ihn gerichtet.
Scheinwerferlicht fiel auf den Bischof und auf die in Roben gekleideten Chorsänger, die er persönlich aus den Chören von vierzig der größten Kirchen seiner Diözese ausgesucht hatte. Ansonsten war das Convention Center, ein gefliestes Gebäude, so groß wie ein Flugzeughangar, ominös dunkel. Eine Klimaanlage hatte Hainesvilles frühlingshafte Außentemperatur auf frische fünfzehn Grad gesenkt, aber Bischof Parr schwitzte.
Wann würde der Choragus, der für den außerirdischen Chor sprach, sich ihm diesmal offenbaren?
Um genau ein Uhr, wenn das jüngste Versprechen des modernen Oster-Ereignisses vertrauenswürdig war – der Choragus hatte nämlich vor zwei Sonntagen mit Parr gesprochen, als er auf der Kanzel der Christlichen Episkopalkirche in Savannah gepredigt hatte. Er hatte ihm befohlen, der Welt mitzuteilen, daß sieben menschlichen Familien demnächst eine Audienz bei Gott gewährt werden würde, und er hatte ihn gedrängt, einen repräsentativen Episkopalchor zusammenzustellen, der als Sprachrohr dienen sollte. Dieser Befehl, dieses Drängen, hatte sich dem Bischof inmitten seiner Predigt als eine Art akustische Halluzination offenbart, und die Gemeinde hatte eine merkwürdige Lücke in seinen Darlegungen ertragen müssen, bis er die Sache in eine rechte Ordnung hatte bringen können.
Der Choragus des Chores von Mira Ceti B VIII wollte einen menschlichen Chor als Mundstück – nicht nur, glaubte Parr, weil dies auf den Tri-D-Schirmen der Welt ein Spektakel abgeben würde, sondern auch weil diesem Arrangement eine gewisse Ironie innewohnte. In mehr als acht Jahren hatten die Aliens, die sich auf dem Mond niedergelassen hatten, etwas entwickelt, das eine unbestimmte Ähnlichkeit mit Humor besaß. Ein menschliches Empfinden für das, was komisch und zugleich passend war …
In Parrs Ohr ertönte die Stimme eines Technikers im Regieraum. »Sie sind auf Sendung, Bischof.«
Parr schaute zur Kamera und brachte ein unbeholfenes »Hallo« und ein paar ebenso unbeholfene einleitende Worte zum heutigen Oster-Ereignis zustande. Während er sprach, füllte sich die dunkle Halle mit einem durchscheinenden, maulbeerfarbenen Licht, mit einem fließenden Leuchten wie mit raschelnder Seide.
Ein Windhauch – beinahe arktisch in seiner Kälte – wehte von einem Ende des Mountain Convention Center zum anderen, strich seufzend an dem Bischof vorbei, blähte die indigo-, safran-, maronen- oder elfenbeinfarbenen Gewänder der Chormitglieder. Wie auf ein Stichwort sang der Chor daraufhin einen Dur-Akkord, a capella. Dann noch einen, und noch einen. Der unirdische Wind, der spiralig durch die Halle zog, hatte jeden Menschen zum Singen inspiriert.
Nach kurzer Zeit übersetzte der Bischof diese machtvollen, wortlosen Festgesänge, als wären es lauter Stücke eines verlorenen Textes, den er allein verläßlich deuten konnte. Der Chor sang weiter und weiter, und das seidige, karmesinrote Licht in der Halle wogte rhythmisch, und Bischof Parr verkündete auf englisch und in einer anmutigen Zeichensprache die neueste Liebesbotschaft des außerirdischen Chors auf dem Mond. Für ihn hörte die Zeit auf, während er übersetzte, und für die zweihundert Menschen, die sangen, und für die meisten Menschen der Welt, die vor ihren Tri-D-Schirmen saßen und dem prachtvollen Begleitchoral lauschten.
In den letzten Augenblicken der Sendung sprach Bischof Parr die Namen der sieben Familien aus der ganzen Welt. Der fünfte Name, den er nannte, gehörte der Familie Dolf Packard in Snowy Falls, Colorado.
Dolf hielt den Atem an. Die letzten amerikanischen Astronauten, die versucht hatten, den Mond zu erreichen, waren die glücklose Crew der Apollo-15-Mission im Jahr 1971 gewesen, und ihr Tod im Orbit des Mondes – ein Drama, das sich fünf qualvolle Tage lang live in Radio und Fernsehen abgespielt hatte – hatte mit Nachdruck einen Punkt hinter das amerikanische Raumfahrtprogramm gesetzt und es etwa zur selben Zeit beendet, als die Vereinigten Staaten sich auf Anweisung von Präsident Muskie aus Vietnam zurückzogen.
Jetzt flogen Dolf, Leah, Eldred und Karina Packard – eine unglaublichere Mannschaft von interstellaren Forschern konnte Dolf sich nicht vorstellen – mit einem Fahrzeug zum Mond, das mittels einer Beschleunigungsrampe am Hang des Kilimandscharo in Ostafrika ins All geschleudert worden war. Das Schiff selbst war drei Monate zuvor aus einem Molekular-Assembler der Revolutionären NanoTech in Hanoi gekommen. Rings um die Packards, auf Couchen wie diese, saßen die anderen Passagiere an Bord dieses irisierenden Schiffes, das sie himmelwärts trug.
Eine Familie aus Leningrad, eine Familie aus Hongkong, eine Familie aus Zaire, eine Familie aus Saudi-Arabien, eine Familie aus Peru und eine Familie aus Malaysia.
Keine dieser Familien, das hatte Dolf längst herausgefunden, beherrschte die Muttersprache einer der anderen; bislang hatte alle Kommunikation sich auf Nicken, Lächeln und ratloses Achselzucken beschränkt. Die Tatsache, daß das Schiff fünfunddreißig Menschen beherbergte, vergrößerte die Verwirrung noch.
Das einzige, was verhinderte, daß Dolf in Panik verfiel, war die Anwesenheit seiner geliebten Familie und die Gewißheit, daß sie in sechsunddreißig Stunden den Mond erreichen würden. Dann würden sie durch die vielfarbige Schale, die den Mond umhüllte, auf einer paradimensionalen Schnellstraße fliegen, die das Sonnensystem der Menschen mit dem Binär von Mira Ceti verband.
So zumindest hatte Bischof Parr es der Welt vor neun Wochen dargestellt, als er die Botschaft des außerirdischen Chores in den geisterhaften Harmonien ihrer zweihundert menschlichen Sprachrohre entziffert hatte.
»Ich hab’s euch schon mal gesagt«, quengelte Eldred, »ich will Gott nicht sehen.«
»Ich auch nicht«, sagte Karina und wand sich.
»Seid still und schaut euch den Mond an«, riet Leah ihnen, denn der Mond hing wie ein riesiger bronzefarbener und grüngrauer Kürbis hinter der Reihe der Fenster am vorderen Ende ihres Schiffs.
Als die beiden Zwillinge weiter protestierten, beugte Dolf sich über Leahs angeschnallten Körper und schrie: »Ruhe!«
Sehr viel leiser fügte er hinzu: »Ihr werdet Gott sehen. Und es wird euch gefallen. Haben wir nicht demokratisch abgestimmt, um festzustellen, ob wir mitmachen oder nicht? Und habt ihr beide nicht immer wieder erklärt, ihr wollt sehen, wie ein Stern explodiert?«
»Beinahe explodiert«, korrigierte Eldred.
»Okay, beinahe explodiert. Nun, dies ist eine freie Familie, und eure Stimme zählt, und ich will nichts mehr hören von diesem Gefasel mit ›ich will nicht‹. Es ist zu spät, sich das Ganze noch einmal zu überlegen.«
»Ich mache mir Sorgen um unsere Schneebabies«, sagte Karina.
»Opa und Oma Packard haben sie«, sagte Leah. »Denen geht’s prima. Das haben wir auch alles schon besprochen.«
Aber der Streit ging weiter, und Dolf fragte sich einen Moment lang, ob der Chor wohl je in Erwägung gezogen hatte, seine Lotteriegewinner mit irgendeiner Art Schlafmittel für hyperaktive fünfjährige Pilger auszustatten. Wenn die Zwillinge auf der ganzen Reise bis Mira Ceti so zappelig bleiben würden, dann wären seine Nerven ruiniert, lange bevor sie in ehrfurchtsvoller Audienz vor dem Antlitz des Heiligen erschienen. Er und auch Leah …
Endlich aber beruhigten sich die Kinder doch und spielten ein erfundenes Schwerelosigkeitsspiel mit einem roten Gummiball und einem Pappbecher.
Leah legte Dolf die Hand auf den Oberschenkel. »Es ist wirklich schade, daß Präsident Humphrey das nicht mehr erlebt hat«, sagte sie und deutete mit dem Kopf zum Mond. Die bronzenen und grüngrauen Streifen hatten jetzt die Farbe von Zinn und Platin und strömten in entgegengesetzter Richtung über die Chorschale. Ein bemerkenswerter, wenn auch verwirrender Anblick.
»Yeah, das stimmt«, pflichtete Dolf ihr bei. Humphrey war bei einem Hubschrauberabsturz in Camp David ums Leben gekommen, einen Tag, nachdem die Apollo-11-Astronauten in Cape Kennedy zur ersten erfolgreichen Mondlandung gestartet waren. Frisch vereidigt, hatte Muskie die drei, Armstrong, Aldrin und Collins, nach ihrer Rückkehr an Bord des Flugzeugträgers U.S.S. Hornet begrüßt, aber der Triumph der Nation war von tiefer Trauer gedämpft worden. Die NASA weihte die nächsten vier Apollo-Missionen dem Gedenken an den verstorbenen Präsidenten, aber der schockierende Fehlschlag der Apollo-15-Mission läutete die Totenglocke für das gesamte Programm. Die Sowjets hatten, indem sie ihre Versuche auf Orbitalflüge beschränkt hatten, buchstäblich sichergestellt, daß vor dem Jahr 2000 kein Mensch mehr einen Fuß auf den Mond setzen würde.
Und dann war im zweihundertsten Jahr Amerikas der Chor gekommen. Zunächst – Massenhysterie. Dann – die wachsende globale Überzeugung, daß die Menschheit sich niemals auf den Mond wagen würde, solange diese geheimnisvollen Aliens ihn bewohnten.
Im selben Jahr besiegte Barbara Jordan, die von Muskie für die Demokraten als Präsidentschaftskandidatin nominiert worden war, Ronald Reagan in der allgemeinen Wahl, und der Chor fing an, die wie vom Donner gerührte menschliche Spezies mit Technologie und Ratschlägen einzudecken.
Acht Jahre ihrer Großzügigkeit indessen hatten Dolf nicht unempfindlich für die Absonderlichkeit – ja geradezu Abartigkeit – der Beziehung zwischen diesen unfaßlichen Energiewesen und der Menschheit werden lassen, doch nun fuhr er hier in einem ihrer Schiffe zu dem unglaublichsten aller himmlischen Rendezvous, und seine oberste Sorge war nicht die, daß die Packards unversehrt nach Hause zurückkehren möchten oder daß er einen guten Eindruck auf Gott machen möge, sondern daß die Kinder davon Abstand nehmen möchten, ihn und Leah auf dieser Reise verrückt zu machen. Er war kurz davor, um ihr gutes Benehmen zu beten, und wenn er es täte, würde der Heilige ihn hoffentlich, verflucht noch mal, erhören …
In einem Kloster in der Nähe von Conyers, Georgia, saß Philip Kyle Dick in seiner Zelle und schrieb.
Gott oder der Demiurg hatte ihm die Hand auf die Schulter gelegt und gab ihm zu verstehen, daß diese verschrobene Realität noch immer nicht die sei, in der er leben wolle.
Er war dreiundfünfzig Jahre alt, und seine literarische Laufbahn lag hinter ihm in Trümmern.
Daher sein Rückzug in diese trappistische Einrichtung, ein Ableger von der in Kentucky, in die Thomas Merton gehört hatte.
Daher seine fieberhaften Betrachtungen bis tief in die Nacht hinein, weit über alle kanonischen Stunden mönchischer Anbetung hinaus.
Daher seine Erkenntnis, daß er für sich und seine Landsleute den Weg aus der Knechtschaft hinaus würde schreiben müssen.
Denn diese Realität würde sie für immer festhalten, wenn er nicht zur Feder griffe und sich daran machte, die Welt neu zu erschaffen. Noch einmal mußte er eine konzertierte Bemühung wagen, die Erlösungsschaltung zuwege zu bringen.
Und so bewegte Philip Kyle Dick die Feder übers Papier und änderte sorgsam die grundlegenden Konturen des Universums.