3»Machen Sie doch den letzten Käfig sauber und gönnen Sie sich eine frühe Mittagspause«, sagte Mr. Kemmings, als Cal wieder hereinkam.
Es war schon halb zwölf. Cal brauchte ungefähr zwanzig Minuten für ein Aquarium, wenn er es gründlich ausschrubbte, die ›Bären‹ in warmer Seifenlauge badete und die Biester trockenfönte. Gott sei Dank benötigten sie diese Behandlung nur einmal in der Woche. Trotzdem, die ›frühe‹ Mittagspause heute würde ihm netto nur zehn Minuten zusätzlich einbringen. Himmelarsch, Mr. Kemmings Großzügigkeit war atemberaubend.
Aber Mr. K. wußte, wie spät es war. »Nehmen Sie sich eine volle Stunde«, sagte er. »Sie haben es verdient. Sie sind mit der Lady fertig geworden, Pickford. Ich habe sie Ihnen angehängt, wissen Sie. Sie hatte so etwas an sich, daß ich mich nicht getraut habe, sie zu bedienen. Aber Sie haben sie angenommen und einen hübschen Abschluß zustandegebracht. Einen sehr hübschen Abschluß.«
»Ja, Sir. Dabei dachte ich, ich könnte schon von viel Glück sagen, wenn ich Ihr ein paar weiße Mäuse verkaufe.«
»Weiße Mäuse?«
»Ja. Ich hatte den Eindruck, sie würde sie mit nach Hause nehmen und auffressen wie ›Mein bester Quetscher‹.«
Mr. Kemmings lachte. ›Mein bester Quetscher‹ nannte er die Boa constrictor des ›Happy Puppy Pet Emporium‹. Mit Genugtuung hörte man, wie Mr. K. ein echtes Kichern entwich. Er war nicht übel, der alte Knacker – nur eben ein eingefleischter Calvinist, wie Cal, seinem Namen zum Trotz, es niemals werden würde. Protestantische Arbeitsethik in jeder Hinsicht, das war Mr. K. Für guten Schweiß gab’s guten Preis.
»Was hat Sie denn nervös gemacht?« wollte Cal wissen. »Wissen Sie, wer sie ist?«
»Ihren Namen kenne ich nicht, aber sie kam mir irgendwie bekannt vor. Ich glaube, deshalb war ich beunruhigt.«
»Jedenfalls hatte sie irgendwie Geld, Mr. Kemmings. Sie hätten mal den Wagen sehen sollen.« Bei sich fügte er hinzu: Von dem Witzbold, der vor ihr da war, ganz zu schweigen.
»Haben Sie einen Blick auf das Kennzeichen werfen können?«
»Nein, ich war zu …« Cal brach ab. Hatte er nicht einen Zehn-Pfund-Sack Zedernspäne in den Kofferraum des Caddie gewuchtet? Natürlich. Langsam erschien es vor seinem geistigen Auge, das Nummernschild am Wagen der Frau. »Es war eine Bundesnummer«, sagte er, die Vision interpretierend. »Nicht aus Georgia, sondern ein Kennzeichen mit … äh … irgendeinem hohen U.S.-Regierungssiegel oder Emblem.« Seine Angst kehrte zurück, intensiver als vorher, potenziert durch die Tatsache, daß er und Mr. K. eine empirische Basis für ihr »Miss«-Behagen gefunden hatten.
»Glauben Sie, sie war vom FBI?« fragte Cal. »Von der Nixon’schen Klopfnicht-Brigade?«
»Agenten hängen sich kein Schild ans Auto. Sie wären dumm, wenn sie sich zu erkennen gäben.«
»Was dann?«
»Ich weiß es nicht. Vielleicht die Frau von irgendeinem hohen Bonzen. Vielleicht hatte sie etwas mit Fort Benning unten in Columbus zu tun. Auch die hohen Bonzen und ihre Familien haben ein Leben zu leben. Manchmal gehen sie wahrscheinlich einkaufen wie normale Leute. Es muß nicht unbedingt ein Besuch sein, bei dem unsereins in Angst und Schrecken geraten muß.«
»Es ist aber auch nicht unbedingt kein solcher Besuch. Weshalb ist uns die Sache denn so verdammt unheimlich?«
»Vielleicht kam sie von irgendeiner Bundesbehörde. Vielleicht war es eine getarnte Inspektion – um zu kontrollieren, ob wir den Bundesvorschriften zur Bekämpfung der Papageienkrankheit genügen, und so weiter.«
»Mr. Kemmings, sie hat sich die Sittiche nicht mal angeschaut. Oder die Makaos. Oder sonst irgendwelche Vögel. Ihr Besuch hatte mit Papageienkrankheit nichts zu tun.«
»Vielleicht nicht. Wenn es eine offizielle Überprüfung war, und wenn wir dabei durchgefallen sind, dann werden wir es beizeiten erfahren, und so lange können wir nichts tun.«
»Ja, Sir.«
»Ich werde jetzt ›Meinen besten Quetscher‹ füttern. Es ist zwei Tage her, daß er etwas gefressen hat, und er bewegt sich schon wieder.«
Cal fragte sich, wie dieser reizende alte Knabe es ertragen konnte, der Boa constrictor des ›Pet Emporium‹ dabei zuzuschauen, wie sie die niedlichen weißen Mäuse, von denen sie sich ernährte, in ihren langgestreckten Kropf stopfte. Sie fraß sie natürlich lebendig, und die paranoide Unruhe, die er und Mr. K. im Kielwasser der Besucherin verspürten, war kaum zu vergleichen mit dem Entsetzen der Mäuse, die Mr. K. jetzt zum Quetscher in den Käfig setzte. Cal schloß die Augen und ballte die Fäuste.
»Ich wünschte, Sie würden damit warten, bis ich Pause habe«, sagte er.
»Vermutlich könnte ich das«, räumte Mr. K. ein. »Aber ob Sie nun hier sind oder anderswo, es passiert doch immer das gleiche.«
Mr. Kemmings war schon dabei, das erste der zum Schlangenopfer auserkorenen Tiere aus seinem Käfig zu heben, eine rosaäugige kleine Maus, deren Fell die Farbe eines Seehundbabys hatte. In einer Blitzvision sah Cal seinen Boss in Karibu-Lederstiefeln und Kapuzenparka, wie er einem dieser tauäugigen kleinen Seehunde einen Baseballschläger über den Schädel hieb. Die Mutter kläffte derweilen protestierend, und Blutschwälle von dieser und von benachbarten Knüppeleien färbten das Eis rosenrot. So lebendig war diese Vorstellung, daß arktische Kälte durch den Laden wehte, Cals Knochen blankscheuerte und seine Knöchel weiß werden ließ.
Beruhige dich! dachte er. Heute, Calvin, steht wirklich keine deiner Reaktionen in einem vernünftigen Verhältnis zu ihrem Auslöser. Er öffnete die Fäuste und versuchte, die Anspannung aus den Fingern zu schütteln.
Mr. Kemmings würde niemals einen Seehund erschlagen. Als junger Mann (das hatte Cal aus einigen Erinnerungen erfahren, von denen der Boss beiläufig gesprochen hatte) hatte Mr. K. eine kleine Fabrik in Pine Mountain aufgemacht – das war am Ende des Zweiten Weltkriegs gewesen, in dem er eines Herzleidens wegen nicht hatte dienen können –; er hatte handgestrickte Argyle-Socken hergestellt und dazu acht bis zwölf Einheimische beschäftigt. Das Unternehmen hatte geblüht, bis ein Mann in Athens, Georgia, ein automatisches Verfahren zur Herstellung der Strümpfe erfunden hatte und Mr. K.s Arbeiter dem Ausstoß ihres Konkurrenten nicht entsprechen konnten. So war die Fabrik in Pine Mountain 1956 oder 1957 geschlossen worden.
»Was mir dabei gegen den Strich ging«, erzählte er Cal, »war nicht, daß einer, der schlauer war als ich, mich fertigmachte, sondern daß ich all die guten Leute, die auf die Arbeit bei mir angewiesen waren, gehen lassen mußte.«
»Was haben sie gemacht?«
»Sie haben sich anderswo umgesehen. Ich auch. Und ich bekam schließlich einen Job in der Verwaltung irgendwelcher Sozialprogramme hier in Troup County – von ’58 bis ’76 –, und so hatten wir weiter unser Essen auf dem Tisch. Ich hätte mich für dreißig Jahre verpflichten und eine noch bessere Pension beziehen können, aber als Nixon zum drittenmal gewählt wurde, zog ich es vor, frühzeitig aus meiner Regierungsvorstellung in den Ruhestand zu gehen. Es war reines Glück, daß ich einen Franchise-Vertrag von ›Happy Puppy‹ bekam, als sie West Georgia Commons bauten, aber ich bin froh, daß es geklappt hat.«
Damit du Seehundbabies – ich meine, weiße Mäuse – an ›Meinen besten Quetscher‹ verkaufen kannst, dachte Cal. Aber das war unfair. Wie konnte man an jemandem herumnörgeln, der so besorgt um andere Leute war und der in der Tierhandlung jeden Tag ein anderes Paar der in seiner längst stillgelegten Fabrik gefertigten Argyle-Socken trug? Es waren pointiert unmoderne Socken, aber so liebevoll gestrickt, daß man sie noch drei Jahrzehnte nach der Herstellung zur Arbeit tragen konnte.
Jetzt setzte Mr. Kemmings die Maus in ›Mein bester Quetschers‹ Glasgefängnis. Cal wollte sich wieder den Meerschweinchen zuwenden, aber sein Chef hielt ihn fest. Cal blickte aus den Augenwinkeln auf den kleinen Nager, der bereits an einem Ende des Käfigs hin und her rannte. Die Boa hob den großen Kopf, züngelte, entrollte den ersten halben Meter ihres zweieinhalb Meter langen Körpers und löste das Scharnier ihres Kiefers, um das schnurrbärtige Mittagsmahl besser verschlingen zu können. In den einfachen Bewegungen der Boa lag so viel lässige Bedrohlichkeit, daß Cal anfing, die Situation vom Standpunkt der Maus aus zu betrachten. Potenziertes Entsetzen. Terror hoch drei.
»Mein Gott. Ich weiß nicht, wie Sie das fertigbringen, Mr. Kemmings.«
»›Mein bester Quetscher‹ ist darauf angewiesen. Wenn ich es nicht täte, würde er sterben.«
»Könnte Quetscher nicht auch mit Joghurt oder grünen Erbsen oder so was über die Runden kommen?«
»Das bezweifle ich ernsthaft.«
»Selbst Hundefutter aus der Dose wäre besser als das hier.«
»Für Sie, Pickford. Nicht für Quetscher.«
Mr. K. versperrte Cal regelrecht den Rückzug, und das Nagetierchen, am ganzen Leibe von der Schnauze bis zur Schwanzspitze zitternd, stand vor der Boa auf drei Beinen, eine Vorderpfote angehoben, und die steinharten roten Äuglein glitzerten wie angerissene Streichholzköpfe. Der Quetscher schwankte cool mit dem vorderen Teil seiner Körperlänge und hypnotisierte Micky. Entweder war es das oder ein eingebauter Abwehrmechanismus – eine uralte, im Krisenfall aktivierte Barmherzigkeit der Gene –, jedenfalls war die Maus hypnotisiert.
Cals eigene Furcht war jetzt beinahe greifbar. »Mr. Kemmings …«
»Wieso haben wir kein Mitleid mit Tieren, die kriechen? Wir stigmatisieren sie als böse. Wir allegorisieren sie als Werkzeuge des Satans. Und dann verunglimpfen wir sie, weil sie sich verhalten, wie die Natur es ihnen aufträgt.«
»Aber es riecht nichts so übelkeitserregend wie eine Schlange, Mr. Kemmings.«
»An einen Geruch kann man sich gewöhnen, Pickford.«
»Vielleicht. Aber lieber lasse ich mich jederzeit ins Affenhaus sperren. Da riecht es auch streng, aber doch wenigstens nach Säugetieren.«
»Und was da aus Ihnen spricht, ist ein provinzielles Vorurteil, aber keine Vernunft.«
Cal schaute zu Boden, auf das regellose Muster der Fliesen. Er wußte, daß ›Mein bester Quetscher‹ Micky gepackt hatte und verschlang – die dumpfen Schläge an der Glaswand hatten es ihm gesagt –, und er hatte kein Verlangen danach, zu sehen, wie die Schlange die Maus peristaltisch zermalmte, während sie den gelähmten Klumpen in ihren Verdauungstrakt hinunterwürgte.
»Der Quetscher benimmt sich ganz plangemäß. Er braucht Frischfleisch. Sonst wird er schmächtig, rollt sich zusammen und stirbt. Ein Tier zu hassen, weil es sich benimmt, wie es seiner Geburt entspricht, ist idiotisch. Damit erniedrigt man sich selbst ebenso wie das Objekt seiner Verachtung. Man muß über derartige Gefühle hinauswachsen und Empathie für ein natürliches Verhalten entwickeln, das man einst als niedrig oder abscheulich empfand. Der Quetscher fügt der Welt nicht nach seinem willkürlichen Belieben Schaden zu. In gewisser Hinsicht ist er ein vorbildlicher Bewohner unseres vergänglichen Büßertals: Er bewegt sich nur, wenn der Hunger ihn verlockt, sich zu bewegen. Die übrige Zeit verbringt er schlummernd; er tut niemandem etwas Böses und träumt von … tja, wer kann das sagen?«
»Und die Mäuse, die er ermordet, wenn er wach ist?«
»Die dienen zumindest einem guten Zweck. Sie sterben, um neues Leben zu ermöglichen – nur so kann man es sehen.«
»Wenn man sich für schuppiges, schlangenhaftes Leben begeistern kann.«
Mr. K. mußte wider Willen leise lachen. »Sie sind ein unverbesserlicher Schlangenhasser, Pickford. Ich habe Ihnen mit meiner Kampagne für die Tiere ein Loch in den Bauch geredet, und Sie haben Ihre frühe Mittagspause versäumt. Den letzten ›Bären‹-Käfig können Sie sich vornehmen, wenn Sie gegessen haben. Machen Sie eine Stunde Pause.«
Aber Cal lehnte ab; er erklärte, sein Mäuse-Sandwich – okay, sein Chicken-MacFilet – werde ihm sehr viel besser schmecken, wenn er zu Ende gebracht hätte, was er angefangen hatte. Mit diesen Worten wandte er sich wieder dem zu, was er zu tun hatte, und überließ es Mr. K., ein zweites Opfer für den Quetscher herauszufischen, derweil die Boa in gutmütiger Erwartung des Desserts die Zunge hervorschnellen ließ.
Die köteldurchsetzten, pipigetränkten Zedernspäne kamen in einen Dempsy-Container hinter der Tierhandlung. Cal trug das Zeug in einem alten Spänesack hinaus und wuchtete ihn über die Seitenwand des khakifarbenen Kippcontainers. Dann kehrte er zurück, um die durchweichten Zeitungsblätter vom Glasboden des Aquariums zu schälen. Dieser Teil der Arbeit war ihm zuwider. Der Uringestank war im Papier konzentrierter als in den Spänen, und fast immer färbte die Druckerschwärze an seinen Händen ab und tätowierte ihn mit verschwommenen Schlagzeilen und Fotofragmenten von Sportlern und Politikern.
Aber Cal machte sich trotzdem an die Arbeit, und als er die oberste Schicht der gedunkelten Zeitung ablöste, sah er, daß sie über zwei Wochen alte Nachrufe enthielt. Todesmeldungen. Das Ironische – das Unpassende – daran, Todesmeldungen in der Meerschwein-Pisse zu finden, ließ ihn innehalten. Menschen verließen den Mutterleib unter den Schmerzen mütterlicher Geburtswehen, plagten sich durch Säuglings- und Kindesalter, um erwachsen zu werden, und erlitten täglich wie viele Entwürdigungen, nur um sich als menschliche Wesen definieren zu können? Und am Ende stand was? Eine Beerdigung, und dann Vergessenheit. Es erschien ihm wie Gottes letzte, obszöne Kopfnuß, daß er ihre Nachrufe auf dem Boden eines Käfigs für Breschnew-Bären landen ließ.
Cal kniete vor dem Aquarium, umfaßte den Plastikschutz, der den gläsernen Rand bedeckte, und blinzelte auf die Nachrufe hinunter. Was er zu tun hatte, war einfach: Er mußte sie lesen. So viel Ehre würde er diesen Leuten eben erweisen, die gestorben waren und die diese letzte kosmische – um nicht zu sagen, komische – Entwürdigung erlitten hatten. Was hatte der Nachruf-Reporter der Atlanta Constitution über sie geschrieben? Vielleicht würde ihn das einen Teil der zusätzlichen halben Stunde kosten, die Mr. Kemp ihm spendiert hatte, aber ein solches Opfer konnte man für die Mitglieder der Spezies, zu der man gehörte, schon bringen. Das verlangte der simple Anstand.
Und so las Cal, über das stinkende Zeitungspapier gebeugt, und aus jeder der Meldungen erfuhr er das Geburtsdatum, die Bildungs- und Berufslaufbahn, bemerkenswerte Leistungen und die Namen der Hinterbliebenen. Eine Frau, 28, Ballerina, gestorben an Knochenkrebs. Ein Mann, 71, pensionierter Vizepräsident einer Fleischkonservenfirma, Opfer des Herzinfarkts. Ein siebzehnjähriger Junge, noch auf der High School, in einem Fastfood-Imbiß an der I-85 in den Kopf geschossen von ›einer oder mehreren unbekannten Personen‹, die möglicherweise auf der Hochstraße blindlings aus einem vorüberrasenden Auto geschossen hatten. Himmel!
Cal hob das durchfeuchtete Blatt, wendete es und fand auf der anderen Seite einen Nachruf, der ihn wie ein Schlag mit der flachen Hand ins Gesicht traf:
PHILIP K. DICK, BEKANNTER AMERIKANISCHER AUTOR STIRBT MIT 53 AN DEN FOLGEN EINES SCHLAGANFALLS IN SANTA ANA, KALIFORNIEN
Philip K. Dick, der am 18. Februar in Santa Ana, Kalifornien, einen Schlaganfall erlitt, verstarb gestern früh um 8 Uhr 10 im dortigen Western Medical Center im Alter von 53 Jahren.
Dick erwarb sich mit einer Reihe höchst origineller Romane von der Mitte der fünfziger Jahre bis zu Beginn der Siebziger einen Ruf als bedeutende Nachkriegsgestalt der amerikanischen Literatur.
Sein erster Roman, ›Stimmen von der Straße‹, erschienen 1953, fand wenig unmittelbaren Beifall, da er zergliedert und überlang war, aber der Kritiker Orville Prescott wegen seines »einzigartigen Gespürs und die beißende Kritik an den Werten der amerikanischen Mittelklasse«.
Sieben wichtige Bücher folgten: ›Mary and the Giant‹ (1956), ›A Time for George Stavros‹ (1957), ›Pilgrim in the Hill‹ (1957), ›The Broken Bubble of Thisbe Holt‹ (1958), ›Puttering About in a Small Land‹ (1958) und ›In Milton Lumky Territory‹ (1959), den das TIME-Magazin als »die verheerendste mimetische Destruktion des Kapitalismus seit Arthur Millers ›Tod eines Handlungsreisenden‹« pries.
In den sechziger Jahren nahm Dicks Produktivität ab. Etliche behaupteten, er sei ausgebrannt, nachdem er sieben große Romane in ebenso vielen Jahren geschrieben habe.
Aber in den acht Jahren vor Richard Nixons Präsidentschaft gelang es ihm immer noch, drei bemerkenswerte Werke hervorzubringen: ›Confessions of a Crap Artist‹ (1962), den viele für seinen besten Roman halten, ›The Man Whose Teeth Were All Exactly Alike‹ (1963), in dem sich versteckte Gesellschaftskritik mit Dicks idiosynkratischem Interesse an Paläoanthropologie paart, und – der merkwürdigste – von allen – ›Nicholas and the Higs‹ (1967).
Die meisten Dick-Bibliographen glauben, daß ›Nicholas and the Higs‹ schon in den fünfziger Jahren geschrieben, dann vom Autor als ›unrettbar‹ beiseitegelegt und in den drei Jahren nach dem Mord an John F. Kennedy am 22. November 1963 in Dallas, Texas, komplett überarbeitet wurde.
Dieses merkwürdige Buch wurde beinahe von allen Rezensenten verrissen. Einer sprach von einer ›undisziplinierten Posse‹ und dem ›konkreten Beweis‹ dafür, daß Dicks literarische Kräfte nachließen. Andere warfen Dick vor, er suche pynchonesker als Pynchon zu sein (der amerikanische Romancier Thomas Pynchon war damals am bekanntesten für sein Werk ›V‹).
Die meisten Einwände gegen ›Nicholas and the Higs‹ indessen basieren auf Dicks verschrobener Integration von Elementen der Phantastischen Literatur und der Science Fiction in eine ansonsten naturalistische Erzählung …
»Pickford, ist alles in Ordnung?« Cal hörte die Frage wie aus weiter Ferne. Dann aber begriff er, daß Mr. K. – der sah, wie er auf den Boden eines Meerschweinchenkäfigs starrte – denken mußte, er habe sich einen Muskel gezerrt oder es sei ihm plötzlich übel geworden. Vielleicht glaubte sein Boss, er werde gleich in das Aquarium kotzen. Betäubt und erschrocken zugleich begriff Cal, daß die Möglichkeit durchaus bestand.
»Pickford!« Mr. K.s Stimme schwang sich in himmlische Falsetthöhen.
»Mir fehlt nichts«, beruhigte Cal ihn hastig. »Wirklich, mir fehlt nichts.« Aber er traf keine Anstalten aufzustehen; er war fasziniert sowohl von der Tatsache, daß dies Philip K. Dicks Nachruf war – der Mann war vor fast drei Wochen gestorben, und er erfuhr es erst jetzt –, als auch von dem klinischen Resümee zu Dicks Stellung in der amerikanischen Literatur. Cal starrte also weiter auf die feuchte Meldung und bemühte sich, sie zu Ende zu lesen.
»Können Sie sich nicht bewegen? Brauchen Sie einen Sanitäter?«
»Ich habe gerade erfahren, daß jemand, den ich liebe, gestorben ist«, sagte Cal, und spontane Tränen ließen verschwimmen, was er sah.
»Ihre Mutter? Ihr Vater?«
»Nein, nein. Nichts dergleichen, Mr. Kemmings. Mir fehlt nichts, wirklich nicht. Lassen Sie mich nur zwei Minuten in Ruhe. Bitte.«
… Erfolgreiche Bücher von Pynchon, Joseph Heller, James Barth und Kurt Vonnegut jr. mögen Dicks eigenes Vordringen in den ›literarischen Surrealismus‹ veranlaßt haben, aber die meisten Kritiker sind sich darin einig, daß er seine Stärke nicht war.
Nach ›Nicholas and the Higs‹ veröffentlichte Dick vierzehn Jahre lang kein neues Buch. 1981 aber erschien ›Valis‹, sein letzter Roman, bei Banshee Books, einem kleinen New Yorker Taschenbuch-Verlag, der auf Krimi-, Kampfsport- und SF-Titel spezialisiert ist. Als Science Fiction etikettiert, erscheint ›Valis‹ den meisten Anhängern von Dicks Büchern als schmutzige Chronik des totalen Zerfalls seiner Persönlichkeit.
»Dieses Buch hat nicht den geringsten literarischen Verdienst«, schrieb Luke Santini in ›Harper’s Magazine‹ in seinem Artikel ›A Crap Artist Craps Out‹ (›Eine Stußkanone hat ihr Pulver verschossen‹, November 1981). »Vielleicht hat es einen Wert für Studenten der Psychiatrie und des abnormalen menschlichen Verhaltens, aber als Kunstwerk ist es irgendwo zwischen U-Bahn-Graffiti und der fanatischen Bibelpropaganda der Wachtturm-Gesellschaft anzusiedeln.«
Banshee Books ernteten intensive Branchenkritik für die Veröffentlichung von ›Valis‹. Die Kritik galt eher dem Umstand, daß der Verlag die frühere Reputation des Autors ausbeutete, und nicht so sehr dem verworrenen Inhalt des Romans an sich.
Unter dem Vorwurf der aufrührerischen Verleumdung Präsident Nixons beschlagnahmte der Washingtoner Ausschuß für Medienzensur, gegründet in der ersten Amtsperiode des Regierungschefs, die 60.000 Exemplare der zweiten Auflage von ›Valis‹, bevor Banshee Books sie in den Handel bringen konnte …
»Cal!« rief Mr. Kemmings; nur selten nannte er jemanden beim Vornamen. »Ich kann Sie hier nicht so kauern lassen, mein Sohn.«
»Es ist okay, es ist okay. Nur noch zwei Minuten.«
Seit langem geht das Gerücht, Dick habe während seines vierzehnjährigen ›Schweigens‹ mindestens zwanzig unveröffentlichte Romane geschrieben. Verläßliche Experten messen diesem Gerücht wenig Bedeutung bei, aber manche räumen doch ein, daß Dick noch zwei oder drei ›absurdistische‹, ›surrealistische‹ oder ›quasi-spekulative‹ Romane im Stile von ›Nicholas and the Higs‹ und ›Valis‹ geschrieben haben könne.
Wenn dem so ist, haben literarische oder politische Unzulänglichkeiten verhindert, daß sie zum Druck gelangten. Wie Sprecher von Dicks Hauptverlag – Hartford, Brice – behaupten, hat niemand in ihrem Hause die angeblichen nichtrealistischen Romane zu Gesicht bekommen. 1979 hatte der Verlag das Manuskript von ›Valis‹ abgelehnt.
Wilhelm Pauls, Professor für zeitgenössische amerikanische Literatur an der California State University in Fullerton, nennt Dicks Tod »eine Tragödie für die amerikanische Literatur«.
»Er war kein Hemingway oder Faulkner«, sagt Pauls, »aber er war ein erstklassiges, wenn auch wunderliches Talent. Ich denke, er gehört auf eine Stufe mit Autoren wie Nathaniel West, John Purdy und D. Keith Mano.
Das wahrhaft Tragische an Dick waren diese verlorenen Jahre zwischen dem ›Higs‹-Roman und jener letzten Schizo-Katastrophe (›Valis‹), die jeder anständige Verleger besser den Erben des armen Mannes überlassen hätte, damit sie sie mit ihm begraben. Wäre er bei Verstand geblieben und hätte er weiter gearbeitet, wäre er vielleicht der führende amerikanische Autor der Nixon-Ära geworden. Unglücklicherweise ist es nicht so gekommen.«
Dick hinterläßt drei Kinder und fünf geschiedene Ehefrauen. Die Familie hat die Absicht, ihn in Fort Morgan in Colorado zu begraben, neben seiner Zwillingsschwester Jane C. Dick, die kurz nach der Geburt am 16. Dezember 1928 starb.
»Wer denn, Pickford? Wer aus Ihrer Familie ist gestorben? Und erfahren Sie das aus einer alten Zeitung?«
»Entschuldigung. Kein Familienmitglied. Ich wollte nicht …«
»Lassen Sie den Käfig nur, Junge. Ich mache das fertig.« Der Alte zog ihn beim Ellbogen hoch. »Nehmen Sie sich den Tag frei, Pickford. Morgen auch. Niemand soll aus einer alten Zeitung erfahren müssen, daß jemand, der ihm nahesteht, gestorben ist.«
»Es ist Philip K. Dick«, erklärte Cal. »Der Schriftsteller. Er ist seit fast drei Wochen tot, und ich habe es nicht gewußt.«
»Das ist eine Schande. Es ist grausam. Man hätte es Ihnen sagen müssen.«
»Aber ich bin nicht mit ihm verwandt. Niemand hätte auf die Idee kommen können, es mir zu sagen. Er hatte Tausende von Bewunderern, Mr. Kemmings.« Cal stand jetzt wieder; seine Hände waren grau von Druckerschwärze, und sein Herz pochte.
»Philip Craddock?«
»Philip K. Dick, Mr. Kemmings. Der Schriftsteller.«
»Nie von ihm gehört. Ich habe immer gern Murray Spillane gelesen. Tough Guy-Zeug. Aber nur zum Zeitvertreib.«
»Erinnern Sie sich an den Film Confessions of a Crap Artist? Mit Jack Lemmon als Jack Isidore? Dick hat das Buch geschrieben, nach dem der Film gedreht wurde.«
»Der ist doch uralt. Zwanzig Jahre.«
»Fünfzehn nur. Jedenfalls wissen Sie wohl, wer Philip K. Dick war. Sie kennen ihn. Der Film hat Preise gewonnen.«
»Wahrscheinlich. Und Mr. Dick war ein Freund von Ihnen?«
Cal war schwindelig. Vielleicht war er zu schnell aufgestanden, aber vielleicht lag es auch daran, daß er versucht hatte, den Nachruf auf den Schriftsteller zu begreifen, ehe er die Tatsache seines Todes verdaut hatte. Zu Hause in Colorado hätte ich es einen oder zwei Tage später gewußt. Da hatte ich Freunde, denen solche Dinge am Herzen lagen und die es mir erzählt hätten. Der Mann ist da begraben. Aber hier unten bin ich isoliert. Noch keine echten Freunde. Niemand, den ich kenne, der ebenso vertraut mit Dicks Sachen ist wie ich.
»Nehmen Sie sich den Nachmittag frei, Cal. Ich halte Sie nicht fest. Gehen Sie nur.«
»Ja«, sagte Cal. »Ist vielleicht besser.« Aber Mr. K.s grundehrlichen Protesten zum Trotz reinigte er das Aquarium noch zu Ende und machte es den Breschnew-Bären gemütlich. Erst dann hatte er das Gefühl, seine Windjacke nehmen und das ›Happy Puppy Pet Emporium‹ verlassen zu können, hinaus in den Hauptkorridor der West Georgia Commons Mall.
Einen halben Tag geschwitzt, einen ganzen Tag bezahlt, dachte er. Und ich bin ein trauernder Hinterbliebener. Da stirbt ein Mann, dem ich nie begegnet bin, einen ganzen Kontinent weit weg von hier, und ich bin ein trauernder Hinterbliebener.
Und, Herrgott, wie weh das tut!