17Lone Boys Datsun pfiff die 27. hinunter. Er und Tuyet waren schon oft mit den Kindern nach Callaway Gardens, südlich von Pine Mountain, zum Strand gefahren, und so war der Weg ihm vertraut. Heute aber, meilenweit von Pine Mountain entfernt, bog er nach rechts in eine von Schlaglöchern übersäte Landstraße und fuhr an der Brown Thrasher Barony vorbei.
Juiii! dachte er. Da ist aber ganz schön was los. Sieht aus wie am Ausverkaufstag bei ›Bill Heard Chevrolet‹ in Columbus.
Als er das große Sonnendach auf dem Rasen und all die Autos sah, die auf der Wiese westlich des doppelbreiten Wohnwagens der Bonners parkten, verflüchtigten sich seine Sorgen zum Teil. Der Gorilla hatte ihn nicht belogen. Hier war wirklich eine Beerdigungsparty im Gange, und Cal und seine Frau mußten unter denen sein, die hier den Umstand feierten … – äh, seiner gedachten –, daß ihre Mutter, sozusagen, den Löffel abgegeben hatte. Ihre Wohnung in der Stadt würde also leer und unbewacht sein.
Loan war sicher, daß niemand, der ihn kannte, ihn gesehen hatte, und er ließ das Gut hinter sich und fuhr in Richtung Pine Mountain, nicht auf der 27, sondern auf der Butt’s Mill Road. Um dem Innenstadtverkehr zu entgehen, bog er bei den heruntergekommenen Gemeindetennisplätzen ab und fuhr im Zickzack durch ein Viertel mit Holz- und bescheidenen Ziegelhäusern. So kam er von Osten, nicht von Westen, zum Reihenhaus der Bonner-Pickfords an der Chipley Street. Und sah den sibirischen Husky, die Nase auf den Vorderpfoten, angekettet im Vorgarten unter dem Magnolienbaum.
Leer, yeah.
Unbewacht – leider nicht.
Loan bog links in die King Avenue und parkte den Datsun hinter der alten ›Swish‹-Fabrik, die dem Reihenhaus gegenüber lag. Er trug eine schwarze Jacke und einen gelben Schutzhelm. Wenn ihn jemand sähe, würde er ihn hoffentlich für einen Telephonmonteur oder einen Landvermesser halten, für jemanden, der einfach offiziell genug aussah, um jeden Verdacht abzulenken. Er hatte die mit den Tranqs geladene Armeepistole unter der Jacke; sollte jemand allzu naseweis oder streitsüchtig werden – nun, dann würde er ihn vermutlich ebenfalls ins Land der Träume schicken können. Eine Aussicht, die es gleichwohl nicht vermochte, wie ein Alka-Seltzer seinen Magen zu beruhigen.
Die Hände in den Taschen schlenderte er auf der King Avenue südwärts und warf einen Blick auf den großen, silberschwarzen Hund, als er die Chipley Street überquerte und mit leisem Schrecken bemerkte, daß er ihn beobachtete. Blöd, dachte Loan. Du hättest vor ’nem Restaurant oder so was parken und dich dann von hinten ranschleichen sollen, damit dieser Monster-Wauwau dich gar nicht erst sehen oder wittern kann. Jetzt ist es zu spät, du Arschloch.
Azaleen blühten längs der King Avenue. Und Hartriegel. Mehrere Häuser hatten Beete vor der Veranda, auf denen es rosa und orange und purpurn loderte. Gott sei Dank war aber niemand da, der die lodernde Pracht beglotzte. Eine leere Straße. Lone Boy nutzte die Leere, um geschäftsmäßig um die Vermieterseite des Doppelhauses herumzustapfen und sich der Bonner-Pickford’schen Küchentür zu nähern.
Viking, wie sie ihren dicken Husky nannten, war außer Sicht und wohltuend still. Der einzige gute Wauwau, dachte Lone Boy, ist ein stiller Wauwau.
Er zog einen Taschenrechner hervor und hielt ihn an die Tür, als nehme er eine Amtshandlung vor. Dann studierte er das Schloß und überlegte, wie er hineinkommen könnte, ohne Aufsehen zu erregen. Er steckte den Rechner wieder ein und suchte in seiner Tasche nach einem Stück Draht, von einem Kleiderbügel abgekniffen, das er von LaGrange mitgebracht hatte. Er manövrierte diesen Draht, das spitze Ende voran, in das Schlüsselloch.
Bitte mach, daß sie keinen Riegel haben, betete er. Bitte, heiliger Herr Jesus, keinen Riegel.
Der sondierende Kleiderbügeldraht bog sich, und Loan fluchte; er hatte Mühe, ihn wieder herauszuziehen. Besorgt ließ er den Blick durch den Garten und den Durchgang zwischen dem Doppelhaus und dem benachbarten Holzhaus wandern. Niemand beobachtete ihn, aber er hörte den Verkehr, der sich zwei Straßen weiter durch die Stadt wälzte. Er stocherte noch ein wenig im Schloß herum; Schweiß rann ihm über die Rippen, und ein Schnurrbart aus Feuchtigkeit schimmerte an seiner Oberlippe.
Dann warf er den Draht erbittert weg. Ein anständiges FAZ hätte uns eine Einbrecherausbildung zukommen lassen, dachte er. Alte Hitchcock-Filme im Fernsehen anschauen, das allein brachte es einfach nicht.
Eine Heiz-Kühl-Einheit saß unter einem der hinteren Fenster der Wohnung. Lone Boy kletterte auf den Kasten, hebelte das leichte Fliegengitter vor dem Fenster los und warf es auf den Rasen. Das Fenster selbst war unverriegelt; Loan, der sein Glück nicht fassen konnte, öffnete es, indem er mit den Handballen oben unter den Rahmen schlug. Ratternd und knarrend hob sich das Fenster, und Loan konnte ins Schlafzimmer der Bonner-Pickfords schauen. Er lehnte sich über den Spalt zwischen dem Klimaaggregat und der Hauswand und betrachtete die Habe seiner Opfer. In verblüffender Weise erinnerte das Zeug ihn an den Schrott, den er und Tuyet besaßen: Billige Kiefernholzkommoden, ein Bücherregal aus Brettern und Ziegelsteinen, eine Hängelampe. Etcetera.
Beklau deinen Kumpel, ermunterte Lone Boy sich spöttisch. Geh rein und bestiehl deinen Freund aus dem Einkaufszentrum.
Ein anderer Teil seiner selbst sagte in aller Aufrichtigkeit: Geh einfach nach Hause, Le Boi Loan. Gib diese schmutzige Mission auf.
Aber wenn du’s nicht machst, du Arschloch, dann wirst du ›aufgefrischt‹, bei Miss Grace in ihrem Scheiß-FAZ.
Na schön. Und?
Was soll das heißen, ›und‹?
Kann das schlimmer sein als das hier? Schlimmer, als den Dieb zu spielen, um dir ein bißchen Zeit und Unannehmlichkeit zu ersparen?
Und Lone Boy, wie eine Brücke zwischen Haus und Kühleinheit schwebend, hatte das Gefühl, daß sein besseres Ich in dieser Stegreifdebatte die stärkeren Argumente vertrat. Er sollte dieses Fenster schließen, hinunterklettern und zu Tuyet und den Kindern nach Hause fahren. Ganz gleich, was für eine rächende Strafe Liberty Belle sich ausdenken würde – er würde sie eben akzeptieren müssen. Zumindest würde er dann nicht jeden Abend sein Gewissen betrügen müssen, um ein bißchen Schlaf zu finden …
Dann hörte er das Knurren. Zu seiner Rechten kam er um den Ostflügel des L-förmigen Doppelhauses herumgetappt, der ehrfurchtgebietende Viking. Loan mußte unter seinem Arm hindurch spähen, um den Husky zu sehen, aber das Knurren gab ihm zu verstehen, daß er etwas unternehmen müsse, denn sonst wäre er gleich Hundefutter. Er könnte hinunterspringen und rennen, aber er war sicher, daß Viking ihn einholen würde, bevor er die Straße erreicht hätte. Er würde am Blutverlust sterben; es würde nur so aus seiner Halsschlagader hervorsprudeln. Der Hund würde unterdessen breitbeinig über Loan stehen und angewidert Fleisch und Adern aus seiner Kehle reißen und hinunterwürgen.
Keine gute Wahl, entschied Loan.
Als Viking näher kam, eher pirschend als attackierend, begriff Loan, daß der Hund das Halsband nicht mehr trug, mit dem Cal ihn normalerweise an die Kette legte. Vike hatte es wahrscheinlich abgestreift, als Loan an das Fenster geschlagen hatte. Jedenfalls wurde das Knurren des Tieres bei jedem bedrohlichen Schritt, mit dem es sich der Kühleinheit näherte, immer tiefer und wilder.
Loan schloß die Augen. Was würde Daredevil in einer solchen Situation tun? Daredevil, Matthew Murdocks superheroisches Alter Ego, war natürlich blind, aber Vikings Knurren hätte ihn schon längst auf die Gefahr aufmerksam werden lassen. Vielleicht hätte Daredevil – mit seinen geschärften Sinnen und Reflexen – schon das verräterische Klingeln der Hundemarke oder sogar den Herzschlag des Tiers gehört, als der Husky sich von seinem Halsband befreite, und dann wäre er um das Haus herumgeschlendert, um sich mit dem Hund anzufreunden und ihm das Halsband wieder anzulegen und festzuzurren.
Hör mal zu, du Arschloch, du bist kein beschissener Matt Murdock, und du hast keine Superkräfte, dachte Loan, und er öffnete die Augen und sah, daß Viking zum Sprung ansetzte. Er wird dich mit dem Arsch ins Gras schmeißen, und du stirbst, während dir von seinen Eckzähnen das Gift in die Augen träufelt. Also tu jetzt etwas wenigstens halbwegs Gerissenes, Lone Boy, und … HAU AB!
Der einzige Fluchtweg führte durch das Fenster. Lone Boy schwang sich ins Schlafzimmer und verlor seinen Arbeitshelm, als er auf den Teppich rollte. Er rappelte sich auf und zerrte an der Pistole unter seiner Jacke. Viking war bereits auf die Kühleinheit gesprungen – Loan hörte das Kratz-kritz-kratzen der Krallen auf dem Blech – und kam nur eine oder zwei Sekunden später mit klaffendem Rachen durch das Fenster wie eine Explosion.
»Lieber Gott!« schrie Loan, und er stolperte rückwärts und stürzte in den Gang hinaus. Vielleicht zwei Schritt weit vor ihm stand eine eingelassene Tür halb offen. Loan hetzte darauf zu, schob sich zwischen Türrand und Rahmen. Gleichzeitig packte er den Türknauf an der Innenseite und warf die Tür ins Schloß.
Ein enges Badezimmer umgab ihn. Er drückte auf den Knopf am Türknauf und verriegelte die Tür. Viking krachte gegen die Türfüllung – eine aufrecht stehende Tafel aus fleckigem Ulmenholz – und warf sich immer wieder dagegen. Loan bekam seine Pistole frei, richtete sie auf die Tür, wich zurück, kletterte in die Wanne. Er zog den Duschvorhang zu und wartete, dankbar für das Versteck und einen Platz zum Luftholen – für den Fall, daß es dem Hund tatsächlich gelingen sollte, die Tür zu zersplittern.
Wenigstens bellt er nicht, dachte Loan. Er ist ein Knurrer. Aber ich hoffe bei Gott, daß die Nachbarn ihn nicht hören. Ich bin jetzt ein Klopfnicht. Ein Klopfnicht ohne Papiere. Wenn sie mich schnappen, werden sie sagen, ich bin ein dreckiger Einbrecher, ein Schurke und Phun Ky Cong. Und das ist das Ende meiner Horatio-Alger-Hoffnungen. O meine geliebte Tuyet, was suche ich bloß hier, verfluchte Scheiße?
Lone Boy schob die Pistole durch den Duschvorhang und wartete. Viking hatte aufgehört, gegen die Tür anzurennen. Ja, er hatte aufgehört zu knurren. Jetzt winselte er, kläffte wie ein Chihuahua und lief im Korridor auf und ab.
Windstille, gewissermaßen.
Es lullte Loan ein; schon nach kurzer Zeit ließ er den Pistolenlauf sinken und setzte sich auf den dreieckigen Sitz unter der Dusche. Eine kurze Rast, dachte er. Eine kurze Rast, und dann werde ich aufstehen und etwas gegen diese pelzige Bestie unternehmen.
KRESSH!
Loan rappelte sich wieder auf und richtete die Pistole auf die Tür. Der Hund hatte wieder angefangen, sich gegen die Türfüllung zu werfen.
Beim zweiten Anprall – KRAK! – schnappte der Knopf der Verriegelung auf. Beim nächsten Rammstoß – CHOK! – flog der Riegel aus der Halterung. Beim dritten – KLUDD! – krachte die Tür auf, und der Husky kam herein und flog Loan entgegen, ein Wirbel von schnappenden Zähnen und rötlich flirrenden Augen. Die Tür klappte zurück und traf Viking in die Seite. Er kläffte schrill, aber der Schlag verlangsamte seine Attacke nicht.
In panischer Hast feuerte Lone Boy einen Schuß ab. Ein Tranquilizer-Pfeil traf Viking an der Kehle; die Explosion unter dem Schlagbolzen grollte wie Donner im August. Betäubt schoß Lone Boy wieder und wieder, mindestens fünfmal, in panischem Schrecken ob des reißenden Drucks der Zähne an seinem Arm. Das Tier kam über ihm herunter und drückte ihn mit seinem Gewicht rückwärts gegen die Duschhähne; er versuchte, Widerstand zu leisten, gab aber bald auf und rutschte an der Kachelwand herunter wie ein Mordopfer in einem zweitklassigen Kriminalfilm. Einen Augenblick später stellte er zu seinem Erstaunen fest, daß er sich weder einen Rückenwirbel noch seinen verletzlichen Kürbisschädel gebrochen hatte.
Hey, Arschloch, du bist okay, aber du hast diesen bildschönen Hund mit Klopfnicht-K.O.-Tropfen vollgepumpt.
Lone Boy krabbelte unter dem Hund hervor. Anmutig wie ein Aal schlängelte er sich über die Kante der Wanne und beugte sich noch einmal hinüber, um sich Viking anzusehen. Aber die Augen des Husky waren bereits von einem Film überzogen wie die eines Reptils. Der Hund sah aus wie ein eleganter Pelzmantel, den man ohne weitere Umstände in die Wanne der Bonner-Pickfords geworfen hatte.
Du mußt jetzt deinen dürren kleinen Arsch in Bewegung setzen, sagte Loan sich. Wenn irgend jemand dein Bum-bum-bum gehört hat, bist du geliefert.
Und wenn du schon geliefert bist, kannst du dich auch bemühen, zu tun, was Miss Grace dir aufgetragen hat. Richtig? Yeah, richtig. Also sieh zu, ob du nicht Mister Pickfords belastenden Stapel Philip-K.-Dick-Samisdat-Manuskripte finden kannst, und dann schlepp sie zu Ihrer Majestät, so schnell du verdammt noch mal kannst. Mit schmerzenden Armen und etwas unscharfem Blick stolperte Lone Boy in dem Apartment umher und wühlte nach den Dickiana, die Miss Grace haben wollte. Er suchte in Bücherschränken, hinter dem Sofa, in Kommodenschubladen, in Wandschränken, unter Betten, in Küchenschränken und schließlich in der olivgrünen Kiste, in der Cal sie tatsächlich verwahrte. Er legte das bestickte Kissen, das auf der Kiste lag, beiseite, hob den Deckel und starrte – mit einer Art verwirrter Ehrfurcht – auf die Spiralhefter, die Cals kostbaren Besitz enthielten.
Jetzt bist du schon so weit gekommen, dachte er. Jetzt bring’s auch zu Ende und nimm sie alle – sie sind die Eintrittskarte zu Freiheit und Wohlstand für dich.
Loan holte eine Einkaufstüte aus der Küche – eine solide, mehrfach verwendbare – und füllte sie mit den Heftern, neun Stück insgesamt. Verrücktes Zeug. ›Now Wait for Last Year‹, ›Do Androids Dream of Ambitious Veeps?‹ Solches Zeug. Total hinüber. Zeug, das nur ein Roter oder vielleicht ein Rauschgiftsüchtiger aufbewahren würde.
Das war das Traurige an den geborenen U.S.-Bürgern. Viele von denen wußten nicht, was sie hatten.
Die Einkaufstüte mit den neun Spiralheftern war schwer. Loan trug sie vor dem Bauch, die Knie eingeknickt, und er ging vorn zur Haustür hinaus, als wohne er in dem Reihenhaus. Dann überquerte er wankend die Chipley Street, ging zur alten ›Swish‹-Fabrik und hinten herum zu seinem parkenden Wagen. Es war zwar noch Nachmittag und schmerzhaft hell, aber niemand beachtete ihn. Vielleicht waren alle immer noch draußen bei der aufgesetzten Leichenfeier auf dem Gestüt. In diesem Fall hatte Miss Graces Gorilla ihm einen prächtigen, prächtigen Tip gegeben.
Verdammt, dachte Lone Boy, als er heim nach LaGrange fuhr. Endlich frei. Großer allmächtiger Gott, ich bin endlich frei …