Medschenko unter Druck

„Wie heißt das Kaff jetzt?“, rief Frank von der Rückbank aus nach vorne.

„Legatzk! Habe ich gesagt schon viele Male …“, erwiderte John Throphy genervt.

„Wie weit ist es denn noch?“, kam von Wilden.

„Vielleicht drei Kilometers“, brummte der Ire und beschleunigte sein Auto.

„Warum hat mich Artur nicht zu dem Treffen eingeladen? Das frage ich ihn gleich“, brummte Bäumer und warf Frank einen fragenden Blick zu.

„Weiß ich auch nicht. Wird wohl seinen Grund haben“, bemerkte der Dorfchef und richtete den Kragen seines Trenchcoats.

Der Wagen donnerte über eine ramponierte Kopfsteinpflasterstraße und bog nach links ab. Sie erreichten ein heruntergekommenes Dorf.

Bis auf eine alte Frau, welche langsam über die schlammige Hauptstraße humpelte, sahen sie niemanden. Nach etwa dreihundert Metern hielt der Wagen an und ein Mann in grauem Hemd winkte ihnen aus einer Seitengasse zu. Sie hatten ihr Ziel erreicht.

Wilden stieg als erster aus und sah sich um. Zerfallene Häuser, teilweise leerstehend, befanden sich zu beiden Seiten. Die Männer folgten ihm.

„Come in!“, sagte der Mann, begrüßte sie kurz und führte sie in ein Haus, dessen Putz an allen Ecken und Enden abbröckelte. Sie gingen eine Treppe hoch und kamen in einen großen Raum. Um die zwanzig Männer befanden sich hier, Artur Tschistokjow eilte ihnen entgegen.

„Ich grüße euch, Freunde!“, sagte er mit einem Lächeln und schüttelte ihnen die Hände.

Sie setzten sich an einen langen Holztisch und Artur begann mit seinen Ausführungen auf Russisch. Frank konnte nur die Hälfte verstehen, denn der blonde Mann redete schnell und undeutlich. Schließlich wandte er sich ihnen zu.

„Wir reden heute über die neue Regierung von Weißrussland, nach den Revolution“, erklärte er mit ernster Miene.

„Neue Regierung?“, fragte Kohlhaas verwundert.

„Ja, wenn wir Revolution machen und es funktioniert, dann brauchen wir neue Regierung in diese Land!“

„Aha?“, staunte Wilden.

„Das ist der Grund dieses Treffens?“, fragte Bäumer.

„Ja, richtig!“, antwortete der russische Rebell. „Ich will Herr Wilden und Frank auch in diese Regierung haben.“

„So, so …“, sagte Alf leicht beleidigt und nahm sich ein Glas Mineralwasser.

Artur Tschistokjow erklärte seinen russischen Mitstreitern noch einmal ausführlich, was Herr Wilden für die Freiheitsbewegung mit seiner Japanreise erreicht hatte. Der Dorfchef erntete bewundernde Blicke, einige der Anwesenden klatschten sogar.

Frank kannten sie mittlerweile. Er hatte Arturs Leben gerettet und war zum Oberbefehlshaber der wichtigsten Ordnertrupps aufgestiegen.

Der Anführer der Rus stellte sich vor Wilden und sagte: „Ich will, dass du wirst der „minister of foreign affairs“ von Weißrussland in meine Regierung!“

„Außenminister – sagt man in deutsch“, erläuterte Frank.

„Ja, der Außenminister von Weißrussland“, betonte Tschistokjow.

Der Dorfchef lächelte und bedankte sich im besten Russisch für das ehrenvolle Angebot.

„Frank, du sollst ein hohe General der Armee der Freiheitsbewegung werden. Bist du einverstanden?“

Kohlhaas war zunächst verunsichert und stockte. Er sah sich kurz nachdenklich um und nickte dann.

„Ja, okay!“, antwortete er und lächelte Artur zu.

„Gut, ich freue mich. Ihr seid gute Kämpfer“, bemerkte der Russe und wirkte zufrieden.

„Wen willst du denn noch in deinem Kabinett haben, Artur?“, erkundigte sich Herr Wilden und schaute zu den anderen herüber.

„Das ist Dr. Gugin. Früher er war auf die Universität in Minsk. Er war Dozent. Dr. Gugin wird Minister für Ökonomie!“

Ein älterer Herr mit eingefallenem Gesicht, aber wachen grauen Augen, erhob sich von seinem Platz und schüttelte ihnen die Hände.

„Peter Ulljewski wird Chef von geheime Polizei!“, sagte Artur und deutete auf seinen ältesten Freund, während Frank dem kantigen Straßenkämpfer zugrinste.

„Eine gute Idee!“, ließ der Dorfchef verlautbaren.

„Herr Juri Litschenko aus Wizebsk, er soll Minister für das Innere werden. Herr Gregori Lossov wird Minister für Defense … Verteidigung …“

Zwei Männer in mittlerem Alter standen auf und reichten ihnen die Hände. Jetzt stellte ihnen Artur noch etwa zehn weitere seiner Anhänger, welchen er führende Posten in seinem neuen, revolutionären Weißrussland versprochen hatte, vor.

„Na, herzlichen Glückwunsch!“, vernahm Frank von der Seite.

Bäumer schien sich, wenn man seinen Gesichtsausdruck richtig interpretierte, in dieser illustren Runde von Revolutionären wie das fünfte Rad am Wagen zu fühlen. Frank war das sichtlich unangenehm. Trotzdem war er stolz darauf, so ein Angebot bekommen zu haben.

„Wenn es hier jemals eine Revolution geben sollte, dann besorge ich dir auch eine wichtige Position“, beschwichtigte Kohlhaas seinen besten Freund.

„Ja, ja, mach du mal, großer Meister“, brummelte Bäumer und wandte sich ab.

„Wolltest du Artur nicht fragen …?“

Alf fuhr seinem Freund unwirsch ins Wort: „Nein! Vergiss es!“

Nach einer Stunde verabschiedeten sie sich wieder von den Russen und machten sich auf den Heimweg nach Ivas. Frank dachte über die Zukunft nach, während Alf schmollend aus dem Fenster starrte und Wilden den ihm ausgelieferten Mitfahrern in allen Details seine ersten Maßnahmen als „theoretischer Außenminister“ des neuen Weißrussland erläuterte.

Man sah dem Dorfchef die grenzenlose Begeisterung aufgrund des Angebotes von Artur Tschistokjow deutlich an. Frank selbst fühlte sich ebenfalls geschmeichelt, allerdings war er bezüglich des politischen Erfolges der Freiheitsbewegung keineswegs so zuversichtlich wie der Dorfchef.

Der sonnendurchflutete Juli des Jahres 2035 verging mit pausenloser Agitation. Artur Tschistokjow führte drei kleinere Kundgebungen im Westen des Landes durch. Es kam in den Kleinstädten zu keinen nennenswerten Zusammenstößen mit der örtlichen Polizei und Frank wuchs mehr und mehr in die Rolle des Anführers der bewaffneten Ordnertrupps hinein.

Zehntausende von Flugblättern und Zeitungen der Rus überschwemmten das Land, nahezu die gesamte Dorfjugend von Ivas und Tausende von russischen Aktivisten waren in Weißrussland und Litauen Tag und Nacht unterwegs. Wilden hatte die Männer vor Ort darauf eingeschworen, dass der Umsturz noch in diesem Jahr erfolgen musste.

Von Seiten der Bevölkerung ernteten die Rebellen jetzt zum größten Teil offene Sympathien. Die Anzahl derer, welche bei den Aktionen von der Polizei verhaftet wurden, nahm im Gegenzug spürbar ab. Häufig schauten die weißrussischen Beamten einfach weg und ließen die politischen Dissidenten ihr Werbematerial verteilen. Das war bereits ein großer Erfolg.

Zeitgleich spitzte sich die Lage im Land weiter zu. Im August wurden die Lebensmittelpreise gehörig erhöht und es kam zu Streiks und Unruhen in den Großstädten.

Die befürchtete Anhebung der Preise von Öl und Gas ließ aber noch auf sich warten. Sie war erst für den Monat Oktober geplant. Im Winter konnte diese bei Millionen Menschen verhasste Maßnahme tatsächlich zu einer revolutionären Stimmung führen.

Artur Tschistokjow und Wilden waren sich dessen jedenfalls absolut sicher und das rapide Anwachsen der Anhängerschaft der Freiheitsbewegung der Rus schien ihnen Recht zu geben.

Waren sie noch vor einiger Zeit eine kleine, überschaubare Truppe gewesen, so strömten jetzt Tausende von Menschen in ihre Reihen. Für Mitte August bereiteten die Rus schließlich erneut eine Massendemonstration in Gomel vor.

Es war ein wundervoller Herbsttag. Die grellen Strahlen der Sonne tauchten Gomel, jene weißrussische Großstadt, die vor einigen Monaten zur Zeugin blutigster Straßenkämpfe geworden war, in ein freundliches Licht.

Frank, Alf und Artur Tschistokjow trauten ihren Augen nicht. Sie standen inmitten eines gewaltigen Menschenmeeres. Der Rebellenführer versicherte ihnen, dass sich heute fast doppelt so viele Menschen im Stadtzentrum versammelt hatten, wie bei der letzten Demonstration.

„Das ist unglaublich. So viele Leute. Das sind bestimmt 30.000 oder sogar 40.000“, staunte Frank.

„Die Not treibt sie zu uns“, bemerkte Wilden trocken und musterte die Masse.

„Wenn sie uns heute nicht zusammenschießen, ist das ein schwerer Imageverlust für die Medschenko-Clique“, sagte Kohlhaas und starrte kampfeslustig auf einige Polizisten in der Ferne.

„Komm jetzt!“, brummte Alf und zog seinen Freund am Ärmel seines grauen Hemdes. Dann gingen sie zu den russischen Ordnern. Frank gab ihnen Anweisungen und die Männer verteilten sich. Anschließend wandte er sich an Bäumer: „Wir haben heute zwischen 2.000 und 3.000 bewaffnete Ordner hier. Diesmal laufen wir den Bullen nicht mehr so einfach vor die Flinte. Einige hundert Ordner haben sich fernab der Menge in kleineren Gruppen verteilt. Wenn es heute knallt, fallen sie den Bullen und GCF-Soldaten in die Flanke.“

„Gute Idee! Ich denke aber, dass es heute ruhiger verlaufen wird. Beide Seiten sind vorsichtiger geworden“, mutmaßte Alf.

Die Masse setzte sich in Bewegung und nahm Kurs auf das Rathaus der Großstadt. Sprechchöre donnerten trotzig durch die überfüllten Straßen und Hunderte von Drachenkopf- und Russlandfahnen wurden geschwenkt.

Heute hatte sich in Gomel mehr als nur eine Masse von unzufriedenen Demonstrierenden zusammengeschlossen. Sie waren inzwischen eine kleine Armee, welche den örtlichen Polizeistreitkräften durchaus trotzen konnte.

Zeitgleich mit dem Aufmarsch in Gomel, welcher sämtliche im Osten des Landes stationierte Polizisten beanspruchte, führten Artur Tschistokjows Anhänger noch vier kleinere Kundgebungen in mittelgroßen Ortschaften durch.

Die Demonstranten marschierten etwa fünf Kilometer quer durch die Innenstadt zu einem riesigen Platz. Hier befand sich das Rathaus.

Artur Tschistokjow hielt eine fast zweistündige Rede und schrie seine üblichen Anklagen gegen das herrschende System heraus, während er gleichzeitig den Weißrussen eine glänzende Zukunft unter seiner Führung versprach. Die Polizei verhielt sich ruhig.

„Die machen nichts. Trotz Panzerwagen“, wunderte sich Frank und zog seinen Stahlhelm über.

„Vielleicht verläuft heute wirklich alles friedlich. Die werden sich auch überlegen, ob sie noch einmal so ein Gemetzel haben wollen“, antwortete Alf.

Ein ranghoher Polizist kam jetzt heran und bahnte sich seinen Weg durch die Menge. Einige Demonstranten pöbelten ihn an und machten Anstalten ihn anzugreifen. Artur Tschistokjow wies sie jedoch energisch zurecht und näherte sich dem Beamten.

„Was passiert da?“, schnaubte Kohlhaas und eilte mit Alf nach vorne.

Sie schoben einige Männer zur Seite und konnten jetzt etwas erkennen. Den beiden Rebellen aus Ivas fielen bei dem Anblick fast die Augen aus den Schädeln. Der Polizist schüttelte Artur Tschistokjow die Hand, lächelte und ging wieder zurück zu seinen Leuten. Der Anführer der Rus brüllte etwas in sein Megafon.

„Was?“, rief Alf.

“Artur hat den Befehl zum Abmarsch gegeben. Die Demonstration ist vorbei!“, übersetzte Frank.

„Wie jetzt?“

„Wir gehen nach Hause! Feierabend für heute!“

„Hä?“, sagte Alf verdutzt.

„Keine Schießerei, nichts! Wir ziehen ab!“

Die gewaltige Menschenmasse bewegte sich mit erstaunlicher Disziplin friedlich aus dem Stadtzentrum von Gomel heraus. Einige Polizeitrupps folgten ihnen und wirkten fast wie Begleiter.

Irgendwann löste sich die Menge auf und machte sich auf den Heimweg. Bis auf einige übereifrige Jugendliche, welche die Heimfahrt für Schlägereien und Beschimpfungen nutzten, gab es keine Zusammenstöße. Artur Tschistokjow verabschiedete sich am Ende dieses Tages von seinen Getreuen mit einem zufriedenen Lächeln. Der zweite Protestmarsch durch Gomel war geglückt.

„Warum haben die GCF-Soldaten nichts gemacht?“, fragte sich Bäumer und schnappte sich noch ein Bier.

„Ganz einfach, weil sie zu wenige waren. Die weißrussische Polizei hat ihnen ihre Unterstützung versagt. Alleine hätten sie uns diesmal nicht aufhalten können“, triumphierte Wilden.

„Im Fernsehen haben sie fast nichts über Gomel berichtet“, bemerkte Frank und saß wie ein König auf dem alten Bürostuhl in Wildens Arbeitszimmer.

„Was sollen sie auch berichten? Etwa dass sie uns nicht mehr Herr werden können? Ha, ha!“, stieß der Dorfchef aus und schlug sich auf die Schenkel.

„Da hast du Recht!“

Der ehemalige Unternehmer richtete sich vor Frank und Alfred auf. „Das war unser bisher größter Sieg! Das System hat in Gomel kapituliert. Ist euch das überhaupt klar?“

„Nun, vermutlich liegst du richtig, Thorsten“, erwiderte Frank. „Vielleicht haben sie diesmal wirklich vor unserer Masse den Schwanz eingezogen …“

„Das Wichtigste ist, dass die weißrussische Polizei nichts getan und sich mit Artur geeinigt hat“, ergänzte Alf.

Der Dorfchef hatte die Lage diesmal vollkommen korrekt eingeschätzt. Die Massenkundgebung in Gomel war ein unerwarteter Erfolg. War der letzte Aufmarsch noch von einem Blutbad begleitet gewesen, so waren sie jetzt weitgehend friedlich und mit der fast doppelten Menge an Teilnehmern durch die Großstadt gezogen.

Dies alles ließ die Erwartungen steigen. Frank, Alf und der Dorfchef diskutierten und tranken in dieser Nacht noch bis in die Morgenstunden. Sie beschworen den Erfolg ihrer revolutionären Bemühungen und spendeten sich gegenseitig Hoffnung und Zuversicht.

Irgendwann torkelten Kohlhaas und Bäumer laut singend durch das Dorf nach Hause. Polternd fielen sie in ihren Hausflur ein und krochen lallend in ihre Betten.

„Wir … wir … schaffen das schon, Alter …“, stieß Kohlhaas noch aus, während Alf im Nebenzimmer einen orkanartigen Rülpser ausstieß. Dann fielen den beiden die Augen zu.

Franks Geist nahm seinen Besitzer in dieser Nacht einmal mehr mit auf eine Traumreise. In der Tiefe des Schlafs breitete sich ein fremdartiges Bild vor dem inneren Auge des jungen Mannes aus. Er sah ein riesiges Raumschiff, dessen metallischer Körper nur schwach von den Sternen in der weiten Ferne erhellt wurde, es glitt lautlos durch den endlosen Weltraum.

Plötzlich konnte Frank das Innere des Sternenschiffs erblicken. Hier befanden sich Hunderte von Menschen. Es waren Soldaten, eingehüllt in perfekt anliegende Rüstungen aus einem matt glänzenden Material.

Die Gesichter der jungen Männer verrieten Furcht. Einige hatten ihre Augen verschlossen und schienen nachzudenken oder zu beten, andere blickten nervös umher und machten den Eindruck, als ob sie etwas Schreckliches erwartete.

Ein hünenhafter Mann mit einem künstlichen Arm, vernarbtem Gesicht und einer Stoppelfrisur kam zu den Soldaten und sprach: „Beruhigt euch, Männer, in einer Stunde erreichen wir den Orbit von Ryann III und werden zum Landeanflug ansetzen!“

Die Soldaten schwiegen und warfen ihm ängstliche Blicke zu. Der Mann, vermutlich ein Vorgesetzter, rief: „Ich sehe es euch an. Ihr habt Angst vor dem, was euch auf Ryann III erwartet. Die Rachnids sind furchtbare Gegner, aber sie sind nicht unbezwingbar. Wir müssen die Hauptstadt des Planeten unter allen Umständen halten. Daran führt kein Weg vorbei!“

„Stimmt es, dass die Rachnids Kreaturen haben, die größer als ein imperialer Geschützpanzer sind?“, fragte ein Blondschopf mit zitternder Stimme.

„Ja, mein Junge. Aber auch diese Viecher kann man töten!“ Der Mann klopfte ihm mit seiner metallischen Hand auf die Schulter.

Die jungen Soldaten nickten. Nach einer Weile erreichte das Raumschiff den Orbit des Planeten, dessen rötliche Atmosphäre bedrohlich leuchtete. Die Männer gingen in ihre Landungskapseln und wurden aus dem Sternenschiff herauskatapultiert. Wie Hagelkörner schnitten sie durch den feuerroten Himmel und schlugen schließlich auf der Planetenoberfläche auf.

Eine stählerne Luke öffnete sich mit einem dumpfen Rumpeln und die verängstigten Soldaten stürmten über eine Wüstenebene. Sie waren mitten auf dem Schlachtfeld gelandet. Um sie herum bedeckten unzählige tote Soldaten, Alienkreaturen und Panzerwracks den staubigen Boden.

Am Horizont zeichneten sich die Umrisse einer riesigen Horde insektenähnlicher Wesen ab. Zwischen den kleineren Kreaturen stapften schwerfällige, riesige Monster mit sensenartigen Klauen umher und stießen furchteinflössende Laute aus.

„Es sind so viele. Wie sollen wir gegen einen ganzen Schwarm von Rachnids standhalten?“, stöhnte ein Soldat und umklammerte voller Sorge sein Lasergewehr.

„Wir werden aushalten. Zusammen mit unseren Kameraden auf Ryann III. Dieser Planet darf den Aliens nicht in die Hände fallen. Er ist der Knotenpunkt des ganzen Sektors“, antwortete der Vorgesetzte mit versteinerter Miene.

Die Soldaten schwiegen und wichen den Blicken ihres Truppführers aus. Entsetzen und Furcht zeichneten ihre oft noch jugendlichen Gesichter und es verschlimmerte sich mit jeder verstreichenden Sekunde. Die furchterregenden Gegner näherten sich. Es waren Tausende. Zischende Kreaturen mit spitzen, blitzenden Zähnen und messerscharfen Klauen.

„Man kann immer siegen, wenn man ein mutiges Herz hat! Denkt an die Altvorderen, Männer! Denkt an Artur den Großen und Farancu den Tapferen!“, rief der Hüne mit donnernder Stimme und seine Männer blickten zu ihm auf.

„Artur der Große musste aber nur gegen andere Menschen kämpfen, nicht gegen diese verfluchten Rachnids“, bemerkte der Blondschopf mit einem gequälten Lächeln.

Der Anführer ging zu ihm und schaute ihm tief in die Augen. „Mein Junge, Artur der Große kämpfte vor Jahrtausenden gegen eine noch viel größere Übermacht als wir. Seine Feinde waren noch zahlreicher als es die Rachnids auf Ryann III sind. Er rettete die Völker des Lichts vor ihrem endgültigen Untergang, in einer Zeit, in der es fast keine Hoffnung mehr gab.

Nur sein eiserner Wille und sein mutiges Herz verliehen ihm die Kraft, in den vielen Stunden der finstersten Verzweiflung nicht aufzugeben. Gleiches gilt für Farancu den Tapferen, seinen General, welcher grundsätzlich gegen eine vielfache Überzahl ankämpfen musste.“

„Aber ich bin nicht Artur der Große oder Farancu der Tapfere“, antwortete der junge Soldat.

„Du kannst werden wie sie! Ihr alle könnt werden wie sie! Wenn Artur der Große nicht den Mut eines Löwen gehabt und seine Kämpfe bis zum Sieg ausgefochten hätte, dann würde es heute kein Imperium der Menschheit geben.

Denkt an ihn, den Heiligen Kistokov, den Retter der Menschen des Lichts, den Erlöser der Rechtschaffenden! Seine Nachfolger führten unsere Vorfahren zu den Sternen, aber ohne ihn, wäre das Licht auf Erden für immer erloschen und das Goldene Reich niemals gegründet worden. Heute herrschen wir über zahlreiche Planeten und werden uns niemals einer außerirdischen Spezies beugen.

Der heilige Artur hat Not, Angst und Verzweiflung besiegt! Und wir können es auch!“, rief der Mann seinen Soldaten entschlossen zu.

„Denkt an die Heldentaten der Ahnen, wenn diese Biester auf euch zustürmen. Habt keine Furcht! Folgt mir, Männer!“, brüllte der Truppführer und winkte mit seinem künstlichen Arm.

„Hätte Artur der Große nicht wenigstens Frieden bringen können?“, fragte der junge Soldat den Veteranen.

„Frieden? In der Finsternis dieser Gegenwart gibt es keinen Frieden! Frieden ist nur eine Illusion, Junge!“, rief ihm der Truppführer zu und aktivierte sein Lasergewehr. Die geifernde, fauchende Horde von außerirdischen Monstrositäten stürmte heran …

Frank schreckte auf und fuhr wie von der Tarantel gestochen aus seinem Bett hoch. Verwirrt blickte er sich um. Die seltsame Vision war fast aus seinem vernebelten Kopf verschwunden und lediglich sein schäbiges, dunkles Schlafzimmer war noch da.

„General Farancu … Farancu der Tapfere …“, murmelte er leise vor sich hin. „So ein Käse!“

Dann vergrub er seinen Kopf wieder unter der Decke und versuchte einzuschlafen, doch verwirrende Gedanken ließen seinen Geist in dieser Nacht nicht mehr zur Ruhe kommen. Irgendwann dämmerte es.

Vitali Medschenko, der Sub-Gouverneur des Unterverwaltungssektors „Weißrussland-Baltikum“, blickte aus dem Fenster seines prunkvoll eingerichteten Büros. Angespannt streifte sein Blick über die dicht befahrene Hauptstraße des Regierungsviertels von Minsk. Er wartete jetzt schon fast zwei Stunden auf seinen Gast.

In einer Ecke tickte eine alte, vergoldete Uhr laut vor sich hin und das penetrante Geräusch unterbrach wieder und wieder die Gedankenströme des Politikers. Irgendwann stellte er die Uhr in seinen Wandschrank, wo man ihr lästiges Ticken kaum noch vernehmen konnte.

Vor dem Regierungsgebäude hielt nun ein großes, schwarzes Auto und ein fein gekleideter Chauffeur öffnete dessen Tür, um einen Mann mittleren Alters mit glänzendem, dunklem Kraushaar aus der noblen Karosse aussteigen zu lassen. Der Besuch war angekommen.

Medschenko kratzte sich an seiner breiten Stirn und starrte mit seinen braunen Glubschaugen auf die Bürotür. Jetzt hörte man Schritte auf dem Gang, sie wurden lauter – der Besucher betrat den Raum.

„Herr Medschenko, entschuldigen Sie die Verspätung“, sagte der Gast formlos und setzte ein kaltes Lächeln auf.

„Ja, kein Problem, Herr Jewsonov!“, erwiderte der Sub-Gouverneur. „Setzen Sie sich!“

„Wie geht es ihrer Frau?“, fragte der Besucher.

„Gut, wir waren vor drei Wochen in Rom. Wunderschön dort. Mein Sohn und meine drei Töchter waren auch mit“, erzählte Medschenko und bot seinem Gegenüber einen Saft an.

„Nein, Danke!“, sagte und Jewsonov winkte ab.

„Waren Sie im März auf dem Logentreffen in Moskau?“, fragte der dickliche Sub-Gouverneur und grinste.

„Ja, natürlich …“, antwortete sein Gast nüchtern.

„Was kann ich für Sie tun?“

„Das können Sie sich doch wohl denken, oder? Wir verlangen eine Erklärung bezüglich einiger Ereignisse in Ihrem Verwaltungssektor“, gab Jewsonov zurück und setzte eine finstere Miene auf.

„Sie meinen die Demonstrationen dieses verrückten Störenfriedes Tschistokjow?“

„Ja, was sollte ich sonst meinen? Wir haben gehört, dass dieser Aufwiegler in Weißrussland ungestört riesige Protestmärsche durchführen kann.“

„Nun, das ist so nicht richtig, Herr Jewsonov …“

Der dunkelhaarige Mann faltete seine Hände und unterbrach den Sub-Gouverneur barsch. „Doch, das ist richtig! Unsere GSA-Agenten haben mir von Gomel berichtet. Über 30.000 dieser sogenannten Freiheitskämpfer sind durch die Straßen marschiert und Ihre Sicherheitskräfte haben sie gewähren lassen.“

Medschenko schluckte. „Das Verhalten der örtlichen Polizei wird noch untersucht. Es war ein einmaliger Vorgang. So etwas wird nicht wieder vorkommen.“

„Ein einmaliger Vorgang?“ Jewsonov warf dem Politiker einen stechenden Blick zu.

„Ja, das ist kein Grund, in Panik zu verfallen!“

„Ach, nein? Ist es nicht schon häufiger zu solchen Vorfällen gekommen? Ich habe das jedenfalls den GSA-Berichten entnommen.“

„Die Polizei war bei der Demonstration dieser Wirrköpfe in Gomel unzureichend vorbereitet“, erklärte der Sub-Gouverneur und krallte sich an seiner Stuhllehne fest.

„Unzureichend vorbereitet? Stimmt es, dass der Einsatzleiter der Polizei von Gomel die GCF-Trupps nicht unterstützt hat, keinen Feuerbefehl gegeben hat und sogar diesem Hund Tschistokjow die Hand geschüttelt hat? Stimmt es, dass er scheinbar eigenmächtig Absprachen mit diesen Leuten getroffen hat, nach dem Motto: „Wenn ihr euch friedlich verhaltet, dann tun wir es auch?“

Geben Sie mir eine Antwort, die mich überzeugt, Herr Medschenko. Ich bin den weiten Weg aus Moskau nicht aus Spaß gekommen. Nicht, um mir dummes Geschwätz anzuhören!“

„Es ist nicht leicht, diese Freiheitsbewegung mit unseren Mitteln einfach von heute auf morgen auszurotten. Wir brauchen Unterstützung, außerdem sind die Kassen leer“, stammelte Medschenko.

Sein Gegenüber stand auf und richtete seinen Zeigefinger wie die Lanze eines Turnierritters auf den Sub-Gouverneur. Für einige Sekunden fixierte er den korpulenten Politiker mit seinen öligen, dunklen Augen, so dass diesem der Atem stockte.

„Die GCF-Streitkräfte haben weltweit wichtigere Aufgaben, als sich um Regionen wie Weißrussland zu kümmern. Ich überlasse es Ihnen, diese Tschistokjow-Bande jetzt endlich mit allen Mitteln zu vernichten. Räumen Sie in den Reihen ihrer Polizei auf und machen Sie Sympathisanten dingfest. Verhaften und liquidieren Sie jeden, der sich öffentlich zu dieser lächerlichen Freiheitsbewegung der Rus bekennt.

Sie haben ausreichende Mittel, wenn Sie diese nur intelligent einsetzten. Wir, die GSA-Führung des Sektors ‚Europa-Ost’, verlangen endlich Resultate!“

„Ich werde mich bemühen, Herr Jewsonov“, brachte der korpulente Politiker nur heraus und fiel schnaufend in seinen gepolsterten Bürostuhl zurück.

„Es hat Konsequenzen für Sie, wenn Sie versagen! Einige Logenbrüder sind sehr unzufrieden mit ihrer Politik. Denken Sie daran und seien Sie froh, dass der Weltpräsident oder der ‚Rat der Weisen’ sich bisher noch nicht für die Vorgänge in Weißrussland interessiert hat“, zischte Jewsonov und nahm sich jetzt doch ein Glas Saft.

„Verlassen Sie sich auf mich“, sagte Medschenko leise.

„Wissen Sie, wir haben in Russland und den anderen Regionen des Sektors genug zu tun. Ihr beschissenes Weißrussland oder die baltischen Kleckerländlein sind der Hauptverwaltung in Moskau relativ egal.

Stellen Sie diese Rebellen samt ihrem Anführer Tschistokjow endlich ruhig und sorgen Sie dafür, dass in Zukunft wieder größere Geldsummen aus diesem Land gewonnen werden können“, befahl der GSA-Mann mit süffisantem Unterton.

„Ich werde mich anstrengen“, stieß Medschenko unsicher aus.

„Tun Sie das, wenn Sie weiter Sub-Gouverneur bleiben wollen. Meine Güte, diesen Haufen Chaoten und ihren Gassenredner Tschistokjow werden Sie doch noch versprengen können, oder?“

Herr Jewsonov grinste hämisch und ging zur Tür. Er nickte noch theatralisch, zog dann die Augenbrauen nach oben und verließ den Raum, ohne sich von Medschenko zu verabschieden.

Der füllige Politiker blieb allein in seinem Büro zurück und blickte ins Leere, dann schnappte er sich ein Telefon und tippte eine Nummer ein, ließ es aber nur einmal läuten. Blitzartig drückte er den Anruf wieder weg und legte das Telefon auf den Tisch. Medschenko stand auf, lehnte sich an seinen Schreibtisch und trommelte mit seinen speckigen Fingern auf dem Holz herum.

Weißrussland und das Baltikum wurden auch im folgenden Monat von einer Welle der politischen Agitation durch Artur Tschistokjows Volksbewegung erschüttert und es fiel Medschenko und seinem Machtapparat zunehmend schwerer, in den Städten und Dörfern den immer dreister auftretenden Rebellen Einhalt zu gebieten.

Frank und die anderen befanden sich pausenlos im Einsatz und erst gegen Ende August kehrten sie wieder nach Ivas zurück. Müde und erschöpft gönnten sie sich eine Woche Pause. Nur selten hatte Frank in letzter Zeit die Ruhe gefunden, um über sein Leben außerhalb der politischen Arbeit nachzudenken.

Heute jedoch war so ein Tag und der junge Mann konnte nicht behaupten, dass ihm die Ruhephasen immer gut taten. Sicherlich dienten sie vor allem der körperlichen Erholung, Geist und Seele wurden allerdings nicht selten von unangenehmen Fragen bezüglich seiner Lebensziele und der eigenen Zufriedenheit belastet.

Kohlhaas war wieder mehrere Stunden beim Dorfchef gewesen und hatte sich in dessen Arbeitszimmer Strategien und Pläne für eine gigantische Werbeoffensive im Herbst und Winter angehört. Wilden war kaum noch zu bremsen und seine Familie nahm ihn in dieser Zeit eher als ständig brabbelnden Schatten und weniger als fürsorglichen Vater wahr.

„Auf Wiedersehen, Thorsten! Bis morgen!“, sagte Frank leise und schloss die Tür des Arbeitszimmers. Dann ging er langsam die Stufen in die untere Etage hinab.

Bevor er das Haus verließ, warf er einen kurzen Blick in die Küche, wo Agatha Wilden und Julia saßen. Kohlhaas murmelte ein halblautes „Tschüß!“ und machte dann Anstalten zu gehen.

„Warte doch mal, Frank!“, vernahm er plötzlich hinter sich.

Julia folgte ihm in den Hausflur. „Wie läuft es denn bei dir?“

„Gut, vielen Dank für die Nachfrage!“

„Warum bist du in den letzten Wochen so komisch zu mir?“

„Bin ich komisch?“

„Ja, du siehst meistens glatt durch mich hindurch. Bist du sauer?“

Frank runzelte die Stirn. „Nein, alles bestens!“

„Du bist wütend wegen Viktor, oder?“, bemerkte Julia und sah ihn betrübt an.

„Was interessiert mich der Typ!“, knurrte Kohlhaas.

„Ich meine ja nur. Du kannst ruhig wissen, dass ich nicht mehr mit ihm zusammen bin …“, erklärte sie.

„Das ist ja deine Sache. Ich beschäftige mich zurzeit mit wichtigeren Dingen als irgendwelchen Liebschaften“, erwiderte er barsch.

„Nur, damit du es weißt …“

„Das wusste ich doch ohnehin!“

Julia strich sich durch ihre blonden Haare und wirkte verlegen. „Es war ein Fehler. Viktor hat sich wie ein Arschloch verhalten.“

Frank stockte kurz und lächelte. „Hätte ich dir vorher sagen können. Er ist ein Lackaffe. War mir schon klar, als ich ihn das erste Mal gesehen habe!“

„Hast du Lust mit mir morgen in Steffens Cafe zu gehen? Nur ein bisschen quatschen …“, fragte Julia.

„Morgen? Das wird schwierig. Vermutlich kommt Artur vorbei und wir wollen mit HOK etwas durchsprechen“, kam als nüchterne Antwort zurück.

„Naja, hätte mich gefreut!“, sagte die Tochter des Dorfchefs und ging mit trauriger Miene zurück in die Küche.

Frank blickte ihr hinterher und verharrte einen Augenblick in Stillschweigen. Dann rief er: „Äh, also wenn Artur nicht kommen sollte, dann melde ich mich eben kurz.“

„Ist gut!“, hörte er aus dem Nebenraum.

Kohlhaas lächelte in sich hinein, denn sein innerstes Selbst freute sich mächtig. Dieses Angebot wollte er dann doch nicht so leicht von sich weisen, wie er nach außen hin erscheinen ließ. Zufrieden ging er nach Hause.

Der Anführer der Rus kam am nächsten Tag nicht nach Ivas. Er war irgendwo in Weißrussland unterwegs und hatte sich ohnehin auch nicht angekündigt.

Frank war schon früh aufgestanden und stand jetzt bereits eine Stunde lang vor dem Spiegel im sanierungsbedürftigen Badezimmer seines Hauses. Draußen hörte er Alf schimpfen.

„Du bist schön genug! Jetzt lass mich auch mal rein, ich muss auf den Pott!“

Bäumer stürmte das Badezimmer, drückte seinen herausgeputzten Mitbewohner zur Seite und hatte kurz darauf endlich seine ersehnte Ruhe.

„Ich bin weg!“, rief ihm Frank aus dem Hausflur zu und verschwand.

Kohlhaas ging die staubige Straße hinunter und labte sich an den warmen Sonnenstrahlen, welche sein Gesicht sanft streichelten. Für einige Minuten versank er tief in Gedanken und überlegte, was er Julia heute alles sagen wollte. Er bog um die Ecke und erblickte das von leuchtenden Blumen umsäumte Haus der Familie Wilden. Julias Mutter öffnete die Tür und begrüßte ihn freundlich.

„Willst du zu Thorsten?“, fragte sie den jungen Mann. „Er ist mit John Thorphy unterwegs und kommt erst übermorgen wieder.“

Frank schüttelte den Kopf. „Nein, ich wollte zu Julia!“

Die hübsche Blondine erschien im Flur und lächelte ihm zu. „Wir gehen ins Dorf, Mama!“

Sie verschwanden. Frau Wilden warf den beiden einen nachdenklichen Blick hinterher.

„Schön, dass du doch noch gekommen bist“, bemerkte Julia und trottete neben dem schüchtern wirkenden Frank her.

„Naja, Artur hat abgesagt …“, brachte er nur kleinlaut heraus.

„So, so!“, bemerkte Julia grinsend.

Sie schwiegen eine Weile und kamen zum Dorfplatz. Einige Kinder spielten hier und kletterten auf dem mit Gestrüpp überwucherten Gedenkstein herum.

„Gehen wir zu Steffen!“, schlug die Tochter des Dorfchefs vor.

„Ja, gut!“, sagte Kohlhaas und suchte noch immer nach einem Gesprächsthema.

Julia war eine wahre Augenweide. Sie trug ihre blonde Haarpracht offen und diese fiel über die zarten Schultern. Fasziniert blickte Frank auf die vollen, roten Lippen der Schönheit, während diese mit forschem Schritt an ihm vorbeizog.

„Na, was ist? Komm schon!“, sagte sie und Frank trottete ihr hinterher.

„Man verfällt ihr einfach. Was soll’s …“, dachte er bei sich. Sie überquerten den Dorfplatz und setzten sich auf die kleine Terrasse vor dem Cafe ihres belgischen Bekannten. Frank ließ sich auf einem Plastikstuhl nieder und schwieg.

„Ah, welch seltene Gäste!“, rief der gutmütige Steffen deVries und eilte nach draußen. „Was kann ich euch anbieten?“

Julia lächelte. „Einen Milchshake bitte!“

„Für mich auch“, sagte Frank.

Der Flame nahm ihre Bestellung auf und verschwand. Frank betrachtete nachdenklich die alte Kirche, welche die Dorfbewohner zum Versammlungshaus umgebaut hatten. Er wusste noch immer nicht genau, worüber er sich mit der Tochter des Dorfchefs unterhalten sollte.

„Was macht der politische Kampf?“, fragte sie.

„Gut, läuft alles!“, kam zurück.

„Mein Vater redet von nichts anderem mehr. Revolution hier und Revolution da“, bemerkte sie genervt.

„War doch noch nie anders, oder?“

„Stimmt!“

„Und was macht Viktor?“

Sie zögerte und strich sich durch die Haare. „Weiß nicht, habe nichts mehr von ihm gehört“.

„Habt ihr euch gestritten?“

„Sozusagen. Er meinte es nicht ernst!“

„Ich mochte den Kerl noch nie …“

Julia schlug die Augen auf. „Das habe ich gemerkt!“

Steffen deVries kam mit zwei Milchshakes zurück. Frank leerte sein Glas im Eiltempo und sagte für einige Minuten nichts.

„Ich dachte schon, dass der dich eines Tages mit nach Grodno nimmt und ich dich nie wiedersehe“, bemerkte Frank dann.

„Da brauchst du dir jetzt keine Sorgen mehr zu machen!“, erwiderte die junge Frau schmunzelnd.

„Sorgen? Ich meine ja nur“, flüsterte Kohlhaas kleinlaut.

„Ich verstehe schon, was du sagen willst.“

„Was hat er denn gemacht?“, wollte Frank wissen.

„Er ist ein Arsch! Nicht ehrlich eben“, erläuterte die Blondine.

„Ist Viktor fremdgegangen?“

„Ich glaube schon. Er war halt nicht der Richtige!“

„Geht mich ja auch nichts an.“

„Ist schon okay“, gab Julia zurück und schmunzelte wieder.

„Es ist jedenfalls schön, dass du wieder im Lande bist!“

„Ich wollte auch niemals aus Ivas weg. Hätte dich und die anderen viel zu sehr vermisst.“

Frank begutachtete die Kirche wieder, dann betrachtete er den mit Milchschaum bedeckten Boden seines Glases. Sie unterhielten sich noch über die eine oder andere Oberflächlichkeit. Nach einer Stunde verließen sie das Cafe und schlenderten noch eine Weile durch das Dorf.

„Bis die Tage. War schön mit dir zu plaudern. Das können wir ja demnächst öfter machen“, sagte sie und ging die Straße hinab.

„Ja, wir sehen uns!“, antwortete der junge Mann und machte sich ebenfalls auf den Heimweg. Bald hatte er sein Haus erreicht, schloss die Tür auf und verschwand im Inneren. Frank dachte an diesem Tag noch lange über Julia und sich nach.

Kohlhaas verschwand in den nächsten Tagen wieder und blieb fast den gesamten September in Weißrussland. Er lief sich die Hacken ab und verteilte in unzähligen Dörfern Zeitungen und Flugblätter, zusammen mit einem Teil der Dorfjugend von Ivas.

Ende des Monats zogen die Rus durch Bresk im Süden des Landes. Etwa 15.000 Anhänger hatte Tschistokjow mobilisieren können. Im Vorfeld der Veranstaltung war es zu gewalttätigen Zusammenstößen zwischen weißrussischen Jugendlichen und Einwanderern aus Kleinasien gekommen. Es gab zwei Tote und mehrere Verletzte. Die Demonstration selbst verlief jedoch störungsfrei und die örtliche Polizei ließ Artur gewähren. GCF-Soldaten tauchten gar nicht erst auf. Offensichtlich hatten Medschenko und seine Berater eingesehen, dass Druck und Terror nicht die intelligentesten Mittel gegen Tschistokjows Anhängerschaft waren.

Im Oktober führte die weißrussische Vasallenregierung, wie angekündigt, die Erhöhung der Öl- und Gaspreise durch. Eine Woge der Wut schwappte über das Land und die Freiheitsbewegung der Rus gewann einen bisher nie gekannten Popularitätsgrad in der Bevölkerung. Zudem kam es zu spontan organisierten Streiks von Metallarbeitern in Minsk und Nowopolozsk. Sub-Gouverneur Medschenko machte zum ersten Mal Zugeständnisse und stimmte einer leichten Lohnerhöhung für die Metallarbeiter zu.

„Wartet bis es richtig kalt ist, dann wird der Kessel explodieren!“, prophezeite Artur in diesen Tagen immer wieder.

Frank und die anderen machten weiter. Mittlerweile glaubte der junge Mann, dass die Situation im Land vielleicht doch eines Tages einen Volksaufstand möglich machen würde.