Kontaktaufnahme

„Es brodelt seit heute Morgen an jeder Straßenecke“, bemerkte Artur und schaute seine acht Mitstreiter, die sich mit ihm in einem dunklen Kellerraum in Gorodok versammelt hatten, mit ernster Miene an.

„Ja, das stimmt. Wenn man die Leute in der Stadt so reden hört, könnte man denken, dass sie bald vor Wut auf die Straße gehen und protestieren werden“, erwiderte einer der Anwesenden.

„Die Leute reden heute so und morgen fügen sie sich doch wieder“, stöhnte Peter Ulljewski, Arturs treuer Mitstreiter.

„Trotzdem denke ich, dass wir jetzt noch mehr Zuspruch bei vielen Weißrussen bekommen werden. Jetzt muss die Struktur unserer Organisation verbessert und eine Öffentlichkeitsoffensive gestartet werden!“, sagte Tschistokjow und verschränkte die Arme vor der Brust.

„Du wolltest uns heute dein Zellensystem vorstellen“, antwortete der rothaarige Jegor aus Orcha.

„Ja, das werde ich jetzt auch tun. Ich habe mir in den letzten Wochen viele Gedanken gemacht, wie wir unsere Bewegung sicherer und vor allem effektiver aufbauen können.

Wir gründen überall im Land einzelne Untergruppen, welche weitgehend autonom voneinander agieren können und jeweils nur einen einzigen übergeordneten Vermittler beziehungsweise Ansprechpartner für Leute von außerhalb haben. Ihm sind sämtliche Mitglieder vor Ort zu unbedingtem Gehorsam verpflichtet. Jede örtliche Gruppe bekommt demnach ihren zuständigen Leiter, das ist klar. Diese verantwortlichen Personen bestimme ausschließlich ich.

Weiterhin können wir uns auch auf geheimen Internetseiten in verschlüsselten Foren absprechen und organisieren. Wer schon Mitglied bei uns ist, der wird einer lokalen Sektion zugeordnet.“

Peter holte einen Laptop aus seinem Koffer und schaltete ihn an. Artur erklärte weitere Details und seine Mitstreiter schienen von seinen Plänen angetan.

„Ich habe hier alle aufgelistet. Ansprechpartner, die Hierarchie und Organisation …“, erzählte Artur.

„Wenn also eine Zelle in der „Stadt X“ aufgedeckt und von den Behörden zerschlagen wird, dann können sie ihre Verbindungen zur Gesamtorganisation kaum oder gar nicht zurückverfolgen“, fügte Peter hinzu und kratzte sich am Bauch.

Dimitrij, der kaum 20jährige Mann aus Slonim meldete sich zu Wort: „Wenn wir die Sache so groß aufziehen, müssen wir aber auch verstärkt nach Spitzeln in den eigenen Reihen suchen.“

„Wer für die Bullen spioniert und von uns erwischt wird, den legen wir um!“, zischte Tschistokjow. „Wir müssen härter werden. In den letzten Wochen und Monaten sind einige Informationen durchgesickert, was ich mir nur durch Verräter erklären kann.

Es ist jetzt notwendig, auch unsere eigenen Leute schärfer im Auge zu behalten. Informanten, die für ein paar Globes den Behörden Dinge erzählen, gefährden unser aller Leben und da dürfen wir keine Gnade zeigen.“

Die anderen Männer nickten und Artur Tschistokjow strich sich durch seine blonden Haare. Dann grinste er und fuhr mit seinem Vortrag über die neue Organisationsstruktur fort.

„Alle Mitglieder der Freiheitsbewegung der Rus werden sich in Zukunft mit ihrem Leben dazu verpflichten, den Mund zu halten!“

„Und ich werde dafür sorgen, dass diese strikten Regeln unbedingt eingehalten werden, Artur!“, gelobte Peter und ballte kämpferisch seine breiten Fäuste.

„Was ist mit Waffen?“, fragte einer der Anwesenden dazwischen.

„Ist alles in Vorbereitung. Allerdings sehe ich noch keinen Grund, Gewalt anzuwenden. Wir brauchen sie nur, falls die Bullen unsere Leute angreifen. Ansonsten machen wir weiter öffentlichkeitswirksame Aktionen. Wir sind keine Guerillatruppe, sondern wollen eines Tages eine politische Massenbewegung werden!“, predigte Tschistokjow mit klarem Blick nach vorne.

„Gut, das wäre dann festgelegt. Wir fangen in den nächsten Tagen mit werbewirksamen Aktionen von Norden nach Süden und quer durch das ganze Land an. Die letzte Veranstaltung hat mich beflügelt, wir sind auf dem richtigen Weg“, beschwor Tschistokjow seine Zuhörer.

Diese murmelten ihre Zustimmung und der junge Anführer gab seine Anweisungen für neue Aktionen in den Städten weiter.

Sie redeten noch eine Weile und Arturs Getreue schienen ihm tatsächlich zu glauben, dass ihre wenige hundert Mann starke Gruppe eines Tages die große Revolution vom Zaun brechen konnte. Tschistokjow, welcher nach außen hin so entschlossen und stark wirkte, zweifelte jedoch im tiefsten Inneren am Erfolg seines politischen Kampfes im Untergrund. Doch was sollte er sonst tun? Eine Wahl hatte er schon lange nicht mehr.

„Ha! Genial!“, Thorsten Wilden schlug sich auf die Schenkel und stieß ein lautes Lachen aus. Fast wäre er vom Stuhl gefallen.

„Na, kann das einer lesen?“, fragte er in die Runde.

Frank versuchte, die kyrillischen Buchstaben auf dem Bildschirm zu entziffern: „Achtung, Bürger! Diese Zeitung … äh … die Zeitung …“

„Achtung, Bürger! Diese Zeitung belügt euch!“, rief Wilden aus und lachte erneut.

„Wahre Worte“, brummte Alfred Bäumer und nippte an seiner Bierflasche.

Wilden amüsierte sich prächtig. Die drei Männer saßen in seinem Wohnzimmer und schauten sich die Nachrichten im weißrussischen Fernsehen an. In der letzten Nacht hatten Unbekannte die weiße Fassade des Redaktionsgebäudes der großen Zeitung „Belorusskaya News Gazeta“ in Minsk mit einigen regierungs- und medienfeindlichen Parolen in riesigen, blutroten Lettern verziert. Mitarbeiter der Zeitung versuchten hastig, die unangenehmen Botschaften zu überstreichen, eine aufgeregte Reporterin berichtete mit piepsiger Stimme.

„Terroristen? Das hat die bescheuerte Reporterziege gesagt. Lächerlich! Weil sie eine Wand beschmiert haben, sind es jetzt schon Terroristen?“, empörte sich der Dorfchef.

„Da fiel wieder der Name Artur Tschistokjow. Übersetze das mal Thorsten“, warf Frank Kohlhaas ein.

Der ehemalige Unternehmer mit den grauen Schläfen spitzte die Ohren und versuchte, dem schnellen Geschnatter der Reporterin zu folgen. Nach einem kurzen Augenblick sagte er: „Die Polizei in Minsk vermutet, dass hinter dem „Anschlag“ auf das Pressegebäude Mitglieder der Freiheitsbewegung der Rus stecken. Sie ermitteln in alle Richtungen.“

„Ha, ha!“, prustete Alf, strich sich über seinen dunklen Bart und holte noch ein Bier aus dem Kasten.

Nachdem die Reporterin ihren Vortrag beendet hatte, wurde der Polizeipräsident der Stadt Minsk interviewt. Mit betretenem Gesicht gestand er, dass die Beamten bisher noch keine „heiße Spur“ hatten. Anschließend zeigten die Nachrichten noch, wie Sicherheitsleute ein gewaltiges Transparent, welches Unbekannte an einer Autobahnbrücke befestigt hatten, entfernten und in die Kamera grinsten.

„Für ein unabhängiges Weißrussland! Medschenko = Helfer der Ausbeuter!“, war auf dem Transparent zu lesen. Das gefiel den drei Rebellen aus Litauen und sie begannen, aufgeregt zu diskutieren.

„Es hat sich in den letzten Monaten einiges verändert. Hier in Litauen und im Nachbarland Weißrussland sind viele Leute allmählich sehr, sehr unzufrieden. Es brodelt richtig. Als ich vor drei Wochen in Wilna war, ist mir das verstärkt aufgefallen, als ich mit einigen Bewohnern der Stadt gesprochen habe. Die Anhebung der Verwaltungssteuer ist ein weiterer Schlag ins Gesicht der breiten Masse!“, erklärte Thorsten Wilden und hob den Zeigefinger wie ein Universitätsdozent.

„Ja, das merken wir auch auf unseren Scanchip-Konten, obwohl sie glücklicherweise gefälscht sind und wir für unser Geld nicht arbeiten müssen. HOK sei Dank!“, sagte Frank.

„Die Situation scheint wirklich desolat zu sein. In Weißrussland ist die Armut noch schneller angewachsen als von mir erwartet. Mal sehen, wann hier die ersten Volksaufstände drohen“, kam von Bäumer, der langsam leicht beschwipst zu sein schien.

„Das kann man nicht so einfach sagen. Warten wir es ab“, gab Wilden zu bedenken. „Die Organisation von diesem Artur Tschistokjow gefällt mir jedenfalls. In den letzten Tagen haben die Medien ja fast täglich über solche Aktionen berichtet …“

„Wir sollten mal versuchen, mit denen Kontakt aufzunehmen. Vielleicht können wir uns vernetzen“, antwortete Frank.

„Hmmm …“, brummte Wilden und überlegte. „Das wäre sicherlich nicht verkehrt. Allerdings ist das sehr gefährlich. Wir kennen diese Leute nicht und ich will nicht, dass hier morgen polizeiliche Ermittler durch Ivas laufen.“

„War ja nur ein Gedanke“, erwiderte Kohlhaas.

„Wenn überhaupt sollten wir über das Internet einen Kontakt herstellen. Macht das aber nur zusammen mit HOK, denn er kennt die dafür nötigen Sicherheitsmaßnahmen“, erklärte der Dorfchef und nahm sich auch noch ein Bier aus dem Kasten.

„Also mich interessiert diese Gruppe auch. Man kann doch mal unverbindlich anfragen“, sagte Alf grinsend.

„Seid ja vorsichtig. Wir können durch so etwas in Teufels Küche kommen. Lasst das HOK erledigen!“, wies der ehemalige Unternehmer und das Oberhaupt der Dorfgemeinschaft von Ivas seine jüngeren Freunde mit scharfem Ton an.

Drei Tage später, der Monat April neigte sich seinem letzten Drittel zu, machten sich Frank und Alfred auf den Weg zu HOK, dem Computerspezialisten der Rebellensiedlung Ivas.

Es war schon Mittag, als sie an die Tür des verfallenen Hauses klopften, in dem der begabte Informatiker residierte. Es dauerte eine Weile, bis sie Anzeichen von Leben aus dem Hausflur vernahmen.

„Wer ist denn da?“, schallte es durch die Eingangstür.

„Wir, Frank und Alf. Mach mal auf, Dicker!“, tönte Kohlhaas und bollerte weiter gegen das Holz.

„Hach! Macht nicht so einen Terz …“, hörten die beiden Besucher, dann öffnete sich die Tür mit einem leisen Knarren.

„Was ist los, HOK? Du hast ja meterdicke Augenringe …“, stichelte Alf. Der füllige Computerexperte gähnte und blinzelte die beiden Männer an.

„Ach, war gestern noch lange vor dem Rechner. Kann ich euch helfen?“, schnaufte HOK.

„Dürfen wir reinkommen?“, bat Frank mit einem gewissen Nachdruck.

„Ach, ja! Sicher!“

Der Informatiker ging ins Haus. Frank und Alf trotteten ihm hinterher. Nach einem kurzen Aufenthalt in der Küche und einigen Tassen Kaffee begleiteten sie HOK in sein Arbeitszimmer, welches traditionell mit allem erdenklichen Krempel und zahlreichen Kisten vollgestellt war. Mittendrin stand ein Tisch mit einem großen Computer darauf.

Frank erklärte HOK ihr Anliegen und der etwas eigensinnige Cyber-Freak fuhr seinen Rechner widerwillig hoch.

„Gut, wegen mir, aber gleich esse ich erst einmal was“, gab HOK von sich, während das Brummen des Computers immer lauter wurde.

Einige Minuten später war der Mann wieder einmal in das Meer der Daten eingetaucht und schwamm wie ein glücklicher Fisch von einer illegalen Internetseite zur nächsten. Die Welt des Cyberspace war nun einmal sein Element und sobald er sie betreten hatte, fühlte er sich schnell wieder wohl.

„He, he, he …“, gab HOK nach einigen Minuten von sich. „Da haben wir die Herrschaften ja. Schöne Seite!“

Eine weiße Fahne mit einem schwarzen Drachenkopf darauf erschien auf dem Bildschirm und die Losung „Freiheit für Weißrussland!“ leuchtete in großen Lettern auf.

HOKs Finger hüpften nun mit atemberaubender Geschwindigkeit über die Tastatur. Frank und Alfred staunten.

„Kontakt … Register … Login“, murmelte er.

Man konnte über diese Internetseite mit der Truppe von Artur Tschistokjow Kontakt aufnehmen, HOK meldete sich über eine verschlüsselte Verbindung an und erklärte: „Ich logge mich über Korea ins Netz ein, he, he!“

„Mach du mal“, kommentierte Frank die Szenerie und schob seine dunklen Augenbrauen nach oben. Bäumer grinste nur.

„Send Message …“, flüsterte der Informatiker vor sich hin und schickte eine Nachricht an die angegebene E-Mail-Adresse.

„Hallo,

wir sind eine politische Gruppe aus Litauen, die auch gegen die Weltregierung kämpft. Bitte antwortet uns, damit wir ein Treffen vereinbaren können.“

„Mal sehen, ob sich da einer meldet …“, brummte er.

„Sehr gut, HOK!“, sagte Alf. „Wir werden nur von dir aus mit dieser Organisation kommunizieren, alles andere ist zu unsicher.“

„Sicherheit im Internet und auch sonst wo in den endlosen Weiten des Datenverkehrs gibt es in Ivas nur beim Onkel HOK!“

Der füllige Mann lächelte stolz und machte den Rechner wieder aus.

„Wir machen uns wieder ab. Sag uns Bescheid, wenn du eine Antwort erhalten hast“, bat ihn Frank. Dann verließen Alf und er das Haus.

„Ja, sicher“, flötete HOK, schlurfte in die Küche, aß einige Brotscheiben und schmökerte für den Rest des Tages in einem dicken Buch voller Science-Fiction-Geschichten, welches er im Internet bestellt hatte.

Die Aussicht, demnächst einige Rebellen aus den benachbarten Regionen kennen zu lernen und mit ihnen vielleicht eines Tages sogar zusammenzuarbeiten, spornte Frank an, seine Englisch- und Russischkenntnisse noch ein wenig mehr auf Vordermann zu bringen.

In solchen Belangen gab es in Ivas nur einen wirklich kompetenten Ansprechpartner, Thorsten Wilden, den Dorfchef. Frank Kohlhaas stand am nächsten Tage früh auf und machte sich sofort auf den Weg zu Wildens Haus. Zudem war dort auch dessen Tochter Julia, welche Frank in den kommenden Tagen zum Essen einladen wollte. Eigentlich war sie sogar ein noch wichtigerer Grund, sich wieder öfter beim Oberhaupt der Dorfgemeinschaft sehen zu lassen.

Wilden war stolz darauf, dass seine umfassenden Sprachkenntnisse bei dem jungen Mann gefragt waren und ging mit Frank akribisch einige Lektionen eines alten, russischen Lehrbuchs durch. Anschließend redeten sie noch eine Weile.

„Ich bin mir da noch nicht so sicher, vielleicht sind diese Rus ja auch nur ein Haufen Spinner“, bemerkte Wilden.

„Nun, ich glaube das nicht. Wir werden ja sehen, ob da eine Reaktion auf unsere E-Mail kommt. Was soll schon passieren?“, erwiderte Frank.

„Gut, warten wir es ab“, sagte der Dorfchef und winkte Kohlhaas zu sich.

„Habe ich dir schon meine neue Bibliothek gezeigt, Frank?“

Dieser schüttelte den Kopf und folgte Wilden in einen Nebenraum, welcher wohl erst vor ein paar Wochen renoviert worden war. Große Bücherregale standen hier. Der ältere Mann durchwühlte einige Kartons, die randvoll mit Büchern gestopft waren und stellte noch einige Titel zu den anderen.

„Nicht übel!“, meinte Frank erstaunt und riss die Augen weit auf. So viele Bücher hatte er in seinem Leben noch nicht gesehen, da die Menschen seiner Generation in der Regel fast überhaupt nicht mehr lasen.

„Wenn du dir etwas ausleihen willst, dann brauchst du einfach nur vorbei zu kommen und zu fragen“, erklärte der Dorfchef. „Die Bücher sind sogar nach Themen geordnet. Geschichte, Politik, Wirtschaft und so weiter …“

„Das ist genau das Richtige für die kalten Wintermonate hier in Ivas. Ich komme darauf zurück. Wenn es so früh dunkel wird, schlafe ich ohnehin schlechter“, sagte Frank.

„Ach? Wieso denn das?“, wollte Wilden wissen und schaute verdutzt.

„Schon gut!“, gab sein junger Schüler zurück. „Das sind vermutlich Nachwirkungen meiner Holozellen-Gefangenschaft. Alpträume, Schlafstörungen – habe ich manchmal.“

Das Oberhaupt von Ivas blickte fragend umher. Jetzt fehlte ihm eine passende Antwort. „Das wird schon wieder“, sagte er lediglich.

„Wo ist Julia eigentlich?“, fragte Kohlhaas.

„Vermutlich unten bei ihrer Mutter. Ich war heute nach dem Frühstück nur im Büro oder hier, in meinem neuen Bücherreich“, gab Wilden zu verstehen.

„Gut, bis die Tage mal“, sprach Frank, drehte sich um und ging in die untere Etage, um Julia zu suchen.

Der junge Mann räusperte sich und lächelte, als sich die blonde Frau nach ihm umdrehte.

„Hallo, Frank! Na, hat mein Vater dich für heute entlassen?“, stichelte sie mit leuchtenden Augen.

„Äh, sozusagen. Er hat eine schöne Bibliothek …“, hauchte Kohlhaas und suchte verzweifelt nach einem guten Gesprächsthema.

„Ja, jetzt bekommen Mama und ich ihn noch seltener zu Gesicht“, erwiderte Julia.

„Kann ich mir vorstellen. Ich muss gleich wieder nach Hause. Wollte dich nur fragen, ob du mich mal zum Essen besuchen würdest?“, kam es von Kohlhaas.

„Klar, warum nicht? Wann denn?“

Der junge Mann überlegte, während Julia ihn mit erwartungsvoller Miene ansah.

„Am Dienstag. Gegen Abend. Ich koche etwas …“

„Gut! Ich komme so gegen 19.00 Uhr!“, antwortete die Tochter des Dorfchefs und machte den Eindruck, als ob sie die Unsicherheit ihres Gegenübers amüsiere.

Kohlhaas verabschiedete sich hastig und eilte nach Hause. Er war froh, dass sich seine Angebetete so unkompliziert hatte einladen lassen.

Frank und Alfred waren am folgenden Tag wieder bei HOK. Die E-Mail war von einem „Sergej“ beantwortet worden. Vermutlich war das nicht sein richtiger Name. Wenig später gingen sie mit der ausgedruckten Nachricht zu Wilden. Der Dorfchef kramte ein Russisch-Wörterbuch aus dem Schrank und bereitete sich darauf vor, seinen Freunden bei der Übersetzung des kurzen Textes behilflich zu sein. Dann las er vor:

„Vielen Dank für Eure Nachricht!

Wir freuen uns, dass Ihr Euch für die Freiheitsbewegung der Rus interessiert. Bevor wir uns mit Euch treffen, bitten wir um ein Telefongespräch. Ihr könnt uns unter der Nummer 0131/4458930 erreichen.

Grüße

Sergej“

Es herrschte kurzes Schweigen und Wilden kratzte sich grübelnd an seiner ergrauten Schläfe. Die drei anderen sahen ihn fragend an.

„Gut, kannst du uns eine nicht nachvollziehbare und sichere Telefonverbindung herstellen, HOK?“, fragte der Dorfchef den Informatiker.

„Natürlich! Das ist mein Standardprogramm!“, erwiderte der Informatiker. „Folgt mir!“

Sie gingen mit dem korpulenten Computerfachmann nach Hause und ließen sich in seinem Arbeitszimmer nieder. Wilden schnappte sich das Telefon, denn sein Russisch war mit Abstand am besten. HOK stellte auf Lautsprecher um.

Für eine halbe Minute dröhnte ein monotones Tuten durch den unaufgeräumten Raum, dann hob jemand ab.

Wilden fing sofort an, in atemberaubender Geschwindigkeit zu reden und die beiden Gesprächspartner tauschten sich über ein paar grundlegende Sachen aus. Der Dorfchef erzählte seinem Gegenüber am anderen Ende nicht, von wo aus er anrief. Nach einer halben Stunde hatten sie ein Treffen vereinbart, am 02.05.2033, in Wizebsk.

Für eine genauere Ortsangabe bat der Fremde um einen weiteren Anruf in zwei Tagen. Dann endete das Gespräch. Wilden fasste das Gesagte kurz zusammen und blickte anschließend erwartungsvoll in die Runde.

„Und? Was haltet ihr davon?“, wollte er von den anderen wissen.

„Was soll schon passieren? Ich halte es für sinnvoll, dass wir uns Mitstreiter in den benachbarten Regionen suchen. Weißrussland ist von hier immerhin nur einen Katzensprung weit entfernt“, bemerkte Alf.

„Vielleicht hast du Recht. Ich bin aber immer noch ein wenig unschlüssig. Der Name Ivas darf in keinem Fall bei dem Treffen genannt werden, verstanden?“, wies er die anderen mit ernster Miene an.

„Das versteht sich von selbst!“, sagte Frank mürrisch.

„Wer geht denn hin?“, fragte HOK und sah seine Gäste an.

„Ich komme auf jeden Fall mit“, gab Wilden zu verstehen.

„Ja, und für uns ist die Sache auch interessant. Immerhin sind wir ja nicht zum Spaß hier“, sprach Bäumer und fixierte Frank mit seinen hellblauen Augen.

„Gut, ich begleite euch auch …“, fügte Kohlhaas hinzu.

„Dann kümmere ich mich in den nächsten Tagen um die Details“, erklärte Wilden. „Anschließend sage ich euch Bescheid.“

Die Männer verließen HOKs Haus und gingen wieder nach Hause. Frank und Alfred waren voller Erwartung und hofften, bei dem Treffen, wenn es denn überhaupt zu Stande kommen sollte, nicht enttäuscht zu werden.

„Hoffentlich sind das nicht ein paar pubertierende Pseudo-Revoluzzer!“, sagte Frank beim Abendbrot.

„Das denke ich nicht“, erwiderte Alfred. „Die Fernsehberichte über die Freiheitsbewegung der Rus waren doch ganz vielversprechend. Wir werden es ja sehen. Wenn es nur Spinner sind, dann verschwinden wir wieder und die Sache ist gegessen.“

Die nächsten Tage vergingen wie im Flug. Heute galt es für Frank, Julia erst einmal das versprochene Abendessen zu servieren und sich möglichst von seiner Schokoladenseite zu zeigen. Immerhin war er mittlerweile fest entschlossen, ihr Herz zu gewinnen, auch wenn er sich meist nicht besonders geschickt in „Frauenfragen“ anstellte und das Themenfeld der Gefühle für ihn noch immer ein unbekanntes Territorium war.

Der junge Mann gab sich jedenfalls größte Mühe. Er hatte Spaghetti gekocht und präsentierte diese seiner Angebeteten mit einem Lächeln.

„Ah, das sieht lecker aus“, sagte Julia und begann mit ihrem Mahl.

Frank nahm sich einen Berg Nudeln aus dem dampfenden Topf in der Mitte des Tisches und blickte schüchtern zu der jungen Frau herüber.

„Es schmeckt dir also?“, bemerkte er.

„Ja, wirklich. Echt lecker!“

Frank langte nun auch kräftig zu und fing gehörig an zu schmatzen. Nach einigen Minuten fiel es ihm auf und er räusperte sich. Julia schmunzelte.

„Wir können ja auch mal nach Raseiniai fahren. Ist nicht weit von hier. Da gibt es ein Kino“, schlug Frank vor.

„Gerne. Hauptsache, wir kommen mal aus Ivas raus. Was wolltest du denn sehen?“, fragte sie.

„Äh … ja … weiß nicht. Irgendeinen Film. Da läuft ‚Der Berserker III’ nächste Woche an“, kam von Kohlhaas.

„Was ist denn das für ein Film?“

„Ach, vergiss es. Das ist wohl eher nichts für dich. Wir sollten was anderes sehen“, lenkte Frank ab.

„Ist das so ein Horror-Streifen?“

„Nun, ein bisschen Horror ist wohl dabei …“

„Ich mag solche Filme nicht, Frank! Lass uns etwas anderes gucken“, bemerkte die Blondine.

„Okay!“

„Wo ist denn Alf heute Abend?“, wollte sie wissen.

Frank überlegte. „Der ist bei Steffen deVries. Ich glaube, die wollten Skat spielen.“

„Kann ich noch etwas Salz haben, Frank?“

Kohlhaas sprang auf und eilte zum Küchenschrank. Verzweifelt suchte er das kleine Salzdöschen.

„Äh, gleich! Irgendwo war das doch …“

Julia schlug ihre schönen Augen auf und kicherte. „Schon, gut! Mach dich nicht verrückt. Es geht auch ohne …“

„Alf hat die Salzdose verzammelt. Dieser Trottel!“, knurrte Frank leise und setzte sich wieder an den Tisch.

Sie plauderten noch eine Weile und Frank genoss den Abend mit Julia. Offenbar konnte sie sein Essen tatsächlich ertragen.

Wenige Tage später fuhren sie nach Raseiniai ins Kino und sahen sich einen „Schmalzfilm“ an, wie Frank es formulierte. Aber der Inhalt des Streifens interessierte den jungen Rebellen ohnehin weniger. Hauptsache, Julia saß neben ihm. Ab und zu warf er der jungen Frau einen hastigen Blick zu und bewunderte ihre Schönheit. Nach der Kinovorstellung gab sie ihm zum Abschied noch einen Kuss auf die Wange, so dass er zufrieden heimwärts schlenderte und in dieser Nacht sogar von ihr träumte.

Artur Tschistokjow starrte auf den Bildschirm seines Laptops, welcher den ansonsten dunklen Raum ein wenig erleuchtete.

„Gruppe aus Litauen? So, so …“, brummte er und kniff die Augen zusammen. „Was meinst du, Peter?“

„Davon habe ich noch nie etwas gehört. Was soll da für eine Gruppe sein?“, erwiderte sein Freund misstrauisch.

„Wir hatten in den letzten Wochen so viele Neue, aber eine ganze Gruppe hat sich bei uns noch nie gemeldet“, sagte Tschistokjow leise.

„Willst du dich wirklich mit denen treffen? Vielleicht ist das eine Falle!“

„Was soll schon passieren? Ja, vielleicht ist es eine - oder auch nicht. Das kann bei jedem, den wir neu in unsere Reihen aufnehmen, passieren.“

Peter atmete tief durch und wirkte wenig begeistert. Dann bemerkte der kräftige Mann mit dem rotblonden Haar: „Aber die meisten der Neuen kommen durch Mund-zu-Mund-Propaganda zu uns. Sie sind Bekannte und Freunde von Leuten, die wir wenigstens kennen!“

„Das weiß ich auch. Trotzdem denke ich, dass wir es riskieren sollten. Wir brauchen noch viele weitere Mitstreiter, sonst dümpeln wir ewig auf unserem jetzigen Niveau herum.“

„Gut, dann treffe dich mit ihnen. Ich komme aber mit. Ich und ein paar weitere bewaffnete Männer.“

„Nein, du wirst die Freiheitsbewegung an meiner Stelle leiten, falls es doch eine Falle ist und sie mich schnappen! Verstanden?“, zischte Tschistokjow.

„Sag doch so etwas nicht …“, murmelte Peter unwirsch.

„Einer von denen hat mich gestern angerufen und wir haben einen Treffpunkt vereinbart, ich sage ihm jetzt definitiv zu. Basta!“

Der Anführer der Untergrundgruppe schickte HOK eine kurze E-Mail. Darin informierte er den Empfänger, dass er auf jeden Fall bereit war, das Treffen stattfinden zu lassen.

Der Rebell aus Wizebsk drehte sich um und schaute seinem langjährigen Gefährten in die Augen.

„Weißt du, alter Junge. Wir haben einen Weg beschritten, der uns entweder eines Tages den Sieg oder den Tod bringt. Es kann jeden Tag für uns so weit sein, dass sie uns fangen. Ich will nicht mehr nur ein kleines Häufchen von Unzufriedenen anführen. Ich will daraus eine Volksbewegung machen.

Wir haben doch noch viel vor. Wir müssen die Arbeiter in den Betrieben erreichen, sogar die Beamten und Polizisten. Wenn wir das schaffen wollen, wird es mit dem ewigen Versteckspiel ohnehin immer schwieriger. Hoffen wir, dass die soziale Situation in diesem Land bald so desolat ist, dass Chaos ausbricht. Das ist unsere einzige Möglichkeit, zum Erfolg zu kommen.“